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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 14 Antworten
und wurde 1.880 mal aufgerufen
 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Noricus Offline



Beiträge: 2.362

20.08.2016 21:02
Marginalie: Der Beifang der Inklusion Antworten

Wenn man als bekennend linke Doktorandin und Universitätsdozentin die Lektüreliste der abzuhaltenden Seminare bunter gestalten möchte und dabei ausgerechnet auf Yukio Mishima stößt, so hat dies doch einen gewissen humoristischen Reiz. Warum macht man eigentlich so viel Aufhebens um den Menschen hinter den Buchstaben? Das Werk zählt.

Eine Marginalie.

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 13.550

20.08.2016 23:48
#2 RE: Marginalie: Der Beifang der Inklusion Antworten

Noricus in ZR:

Zitat
Ein interessantes Projekt wäre es, analog zu anonymisierten Bewerbungen den Buchdeckel und die Titelei eines Werks zu verblenden, damit dieses rein aufgrund seiner literarischen Qualität und nicht wegen irgendwelcher nebensächlicher Eigenschaften seines Autors geschätzt oder verrissen wird.



Michael Klonovsky:

Zitat
Die Zugehörigkeit zum intellektuellen Pöbel manifestiert sich in keiner Eigenschaft deutlicher als in der Unfähigkeit, die literarische Qualität eines Textes zu würdigen, dessen inhaltliche Tendenz einem zuwider ist.



Zitat von Noricus im Beitrag #1
Warum macht man eigentlich so viel Aufhebens um den Menschen hinter den Buchstaben? Das Werk zählt.


In diesem Fall: Dezidiert nicht. Mishima ist seine Persona, seine Rolle. Nichts gegen das Thema Mishima. Zum einen hat er dem allseits geschätzten Philip Glass Gelegenheit gegeben zu zeigen, daß er tatsächlich zustimmungsfähige Musik verfertigen kann: https://www.youtube.com/watch?v=_dpY4dC6IoY. Zum anderen zählt Mishima auch in Japan nicht zu den geschätzten Vertretern des Modernismus (wie etwa Jasunari Kawabata oder Junichiro Tanizaki), sondern, wenn überhaupt, als Gestalt, Figur, als Selbstinszenierung. Übrigens interessant, daß selbst in Japan vielen Kommentatoren entgeht/entgangen ist, an welcher Gestalt sich Mishima, mindestens seit Anfang der 60er, also mit dem Bodybuilding, mit dem Gewaltkult, der Wehrsportgruppe, orientiert hat: Gabriele d'Annunzio. Gilt, zumindest in Teilen, schon für das literarische Werk ab 1955, also mit dem "Tempelbrand" ("Unbedingtheit des Entschlusses", literarisches fin-de-siècle kombiniert mit grellem Nietzscheanismus). Als zeitgenössischer Autor hatte sich YM spätestens mit dem Bildband 薔薇刑/Bara-kei, 1963, ins Aus gekickt (Ächz).

Zitat
so hat dies doch einen gewissen humoristischen Reiz



Vor allem, weil man bei Gestalten wie Mishima oder eben d'A. die ganze Strichliste der Theweleitschen "Männerphantasien" abarbeiten kann, was bei funktionsfähigeren Originalvertretern im RL, nicht im Second life der medialen Selbstbespiegelung, schwieriger fällt.

YM steht für Japan exemplarisch für das, was man im Ochsident eher mit Papa Hemingway verbindet: den Rollenspieler, Abteilung machomacho, der zwar auch Bücher absondert, aber ansonsten posiert & "Haltung verkörpert". Und da war G.d'A. vor ihm da: Dandy, Salonlöwe in allen Illustrierten, Selbstinszenierungen, die jede Grenze zur Peinlichkeit souverän Lichtjahre hinter sich lassen. Die ersten Romane als vermeintliche Bestandsaufnahme der Modernisierung, & gleichzeitig bis ins Grelle überschminkte Feiern der bis zu Gewalt & Selbstauslöschung gehenden Reaktion gegen diese betongraue Entzauberung (Le Vergine delle Rocce, Il Fuoco, Il Piacere), gerade auch mit dem Feiern elementarer Gewaltausbrüche. Und zudem (was ja für Papa H nicht gilt), die ebenso grelle Betonung des Sexuellen; nicht zuletzt das Absondern eines riesigen Ausstoßes an Titeln, pro Jahr 2-3, um "im Geschäft zu sein". (Übrigens: "Schwulsein" ist bei YM, & das auch erst nach dem Umschlag, inszeniert: als Protesthaltung, als elementarst denkbare "Rebellion" gegen "bourgeoise Erwartungen", nicht als etwas, das einem nun mal gegeben ist & nicht dem man, mehr oder weniger gelungen, leben muss. Und das von Leuten, deren Aufenthalt mittenmang des Jetsets auf dem Geschäftsmodell beruht, sich als Engfang terrible in Szene zu setzen.)

Nun gilt ja traditionell (wenn das das rechte Wort ist) die Aufnahme mancher Werke in einen Lesekanon nicht nur, oder nicht primär, der Qualität des Werks, sondern, um dem Lesenden (oder besser: Studierenden/Studierenmüssenden: hedonistische Leser bedürfen keines Kanons) fremde Kosmen aufzuschließen, ihnen ungewohnte, oft schlicht unverständliche Weltsichten zu präsentieren. Dante dürfte so ein Fall sein: daß jemand mit der Divina commedia mitgeht, dürfte wohl seit gut 500 Jahren ausgeschlossen werden. Hölderlin wohl auch. Und wenn ich das bei Salingers Hintritt richtig gesehen habe, gilt das id USA für den "Fänger im Roggen" mittlerweile flächendeckend. Bei Mishima haben wir schon zu Lebzeiten einen solchen Fall. Die frühen Romane führen extreme Lebensentwürfe vor; der Hintergrund ist das sich rasend verwestlichende Japan der Nachkriegszeit. Für die vier Bände des "Meers der Fruchtbarkeit", 69/71, ist das gekippt. Das ist auf, hunderten über hunderten von Seiten, eine Einführungsvorlesung (und zwar eine ziemlich klischeehafte) in das, was YM so als "traditionelle japanische Kultur" vorschwebte (& ja, mit ganz viel Wertschätzung dessen, was YM dann, neben seinem Abgang, den Ruf als Erzreaktionär gesichert hat: Ständegesellschaft, Kadavergehorsam, Tenno-Anbetung). Direkt in 2. Person an seine japanischen Leser addressiert, die "ja keinerlei Ahnung mehr von solchen Dingen" hätten. Solcher Extremismus ist für einen Außenstehenden ja immer schwer zu beurteilen (wie sieht etwa, im umgekehrten Fall, ein Leser aus Ostasien Old Germany, wenn er es allein aus der Perspektive von Hölderlins Hyperion oder, als modernes Pendant, Rolf Dieter Brinkmann kennt? Den Fall hats übrigens gegeben, bei Chon Hye-Rin. Oder Österreich nur aus Thomas Bernhard? - oder, sagt der Kleine Zyniker, aus jedem anderen österreichischen Autor seit Karl K.) - aber es könnte sein, daß die immer noch rudimentäre Wertschätzung dieses Zyklus im Westen der Illusion geschuldet ist, mit dem Querlesen dieser Titel einen halbwegs a) umfassenden & b) fundierten Einblick id japanische Kultur nehmen zu können. (Nicht, daß das unmöglich wäre: für die USA reicht doch ganz bestimmt 1 Blick in Michael Moore... )



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Doeding Offline




Beiträge: 2.612

21.08.2016 08:00
#3 RE: Marginalie: Der Beifang der Inklusion Antworten

Zitat von Noricus im Beitrag #1
Wenn man als bekennend linke Doktorandin und Universitätsdozentin die Lektüreliste der abzuhaltenden Seminare bunter gestalten möchte und dabei ausgerechnet auf Yukio Mishima stößt, so hat dies doch einen gewissen humoristischen Reiz. Warum macht man eigentlich so viel Aufhebens um den Menschen hinter den Buchstaben? Das Werk zählt.

Eine Marginalie.


Ich vermute, lieber Noricus, daß man das als linke Doktorandin ganz gut ohne geistige Verrenkungen (jedenfalls über die ohnehin vorhandenen hinaus) hinbekommt. Mishimas Rechtsnationalismus war ja dezidiert antiwestlich bzw. richtete sich gegen die Verwestlichung Japans und steht somit unter dem gleichen "Schutz durch Exotik" wie die ja gleichfalls stockkonservative Verhüllungspraxis im Islam. Eine linke Entscheidungsregel für Konfliktfälle, die da lautet: antiwestlich schlägt reaktionär.

Herzliche Grüße,
Andreas

"Man kann einen gesellschaftlichen Diskurs darüber haben, was Meinungsfreiheit darf. Oder man hat Meinungsfreiheit." (Christian Zulliger)

DrNick Offline




Beiträge: 809

21.08.2016 09:24
#4 RE: Marginalie: Der Beifang der Inklusion Antworten

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #2
Zum einen hat er dem allseits geschätzten Philip Glass Gelegenheit gegeben zu zeigen, daß er tatsächlich zustimmungsfähige Musik verfertigen kann: https://www.youtube.com/watch?v=_dpY4dC6IoY.


Das macht mich doch ein wenig neugierig. Mir schien Glass immer so ziemlich der einzige "zeitgenössische Komponist" zu sein, dessen Musik für fast jeden zustimmungsfähig ist. Er durfte ja zahlreiche ziemlich mainstraimige Filme untermalen, und auch seine Opern wie z.B. Akhnaten sind allenfalls thematisch ein wenig sperrig - musikalisch hingegen alles andere als unzugänglich.

Doeding Offline




Beiträge: 2.612

21.08.2016 09:48
#5 RE: Marginalie: Der Beifang der Inklusion Antworten

Zitat von DrNick im Beitrag #4
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #2
Zum einen hat er dem allseits geschätzten Philip Glass Gelegenheit gegeben zu zeigen, daß er tatsächlich zustimmungsfähige Musik verfertigen kann: https://www.youtube.com/watch?v=_dpY4dC6IoY.


Das macht mich doch ein wenig neugierig. Mir schien Glass immer so ziemlich der einzige "zeitgenössische Komponist" zu sein, dessen Musik für fast jeden zustimmungsfähig ist. Er durfte ja zahlreiche ziemlich mainstraimige Filme untermalen, und auch seine Opern wie z.B. Akhnaten sind allenfalls thematisch ein wenig sperrig - musikalisch hingegen alles andere als unzugänglich.



Ich empfinde das Stück als ausgesprochen Glass-typisch und kann offen gestanden gar nichts von seinem sonstigen Kompositonsstil abweichendes erkennen. Geht leicht ein, hinterläßt aber auch nichts.

Herzliche Grüße,
Andreas

"Man kann einen gesellschaftlichen Diskurs darüber haben, was Meinungsfreiheit darf. Oder man hat Meinungsfreiheit." (Christian Zulliger)

Dennis the Menace Offline




Beiträge: 459

21.08.2016 12:17
#6 RE: Marginalie: Der Beifang der Inklusion Antworten

Man kann sich auch einfach an den Text der Autorin halten.

Da ist das Inklusionsprogramm umschrieben mit:

weiß, männlich, heterosexuell, christlich - als das bisher Exkludierende. Gut, an anderer Stelle kommt zu christlich noch der Weißwurstgenuss hinzu (ohne pretzel) - nu ja, und überhaupt mag das Ganze ja eh 'n bissle arg schräg sein (vermutlich nicht unabsichtlich), aber weitere Kriterien lese ich da nu nich - im Text.

Von daher ist etwaig Dazugedachtes wie links/rechts, moralisch irgendwie gut/weniger gut (Beispiel Goethe), nationalistisch-sonstwie böse/weltoffen pp (Yukio Mishima), also das, was Noricus anspricht, ja durchaus interessant - hat aber mit dem Anliegen der Autorin nichts zu schaffen, jedenfalls gibt das der Text nicht her. Von daher geht die Konfrontation Mishima versus linksgut=eigentlich doch oppositionell zur Autorin nebst der eventuellen Vermutung, selbige müsste diesbezüglich mal auf Wiki nachgucken, eher ins Leere.

Klar, sie verortet sich als links; indessen außerhalb des "Programms", und das mit angenehmer Selbstironie - etwas, was man bei griesgrämigen Konservativen mitunter vermißt. Gut, es gibt auch überreichlich griesgrämige Linke, da muss man, wenn man schon mal in GB ist, z.B. nur an den komischen Onkel denken, der als Vorsitzender momentan Labour ruiniert. Zu der Sorte scheint Pollatschek indessen nicht zu gehören.

Womöglich ist Griesgrämigkeit ja überhaupt ein viiiiiiiiel größeres Problem als das allseits beliebte Links/rechts-Ding.


lich
Dennis

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

21.08.2016 16:51
#7 RE: Marginalie: Der Beifang der Inklusion Antworten

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #2

Michael Klonovsky:

Zitat
Die Zugehörigkeit zum intellektuellen Pöbel manifestiert sich in keiner Eigenschaft deutlicher als in der Unfähigkeit, die literarische Qualität eines Textes zu würdigen, dessen inhaltliche Tendenz einem zuwider ist.



Kunstwerke sollten meines Erachtens nach künstlerischen (ästhetischen) Kriterien bewertet werden. Zu diesem Zweck müsste man streng genommen zuerst definieren, was künstlerische, in casu: literarische Qualität ist: Man kann diesen Begriff freilich auf Formales beschränken, etwa den Schreibstil, die Kohärenz der Erzählung etc., oder auch inhaltliche Aspekte mitberücksichtigen. Ein objektiv richtiges Urteil wird es nicht geben, weil die Einschätzung der literarischen Qualität eines Textes letztlich eine Geschmacksfrage ist.

Gleichwohl: Die politische Einstellung eines Autors, die in seinem Werk keinen Niederschlag findet, ist sicherlich kein Kriterium für literarische Qualität. Bei sich im Werk manifestierenden politischen Tendenzen muss man m.E. differenzieren: Je nach Einzelfall sorgen sie für eine qualitative Beeinträchtigung des Werks (etwa weil die politische Tendenz in holzschnittartigen Gesinnungskitsch ausartet), sind für dessen Qualität belanglos oder sorgen gerade für das ästhetisch Reizvolle an dem zu untersuchenden Opus (etwa wenn sich der Erzähler in einer gekonnten Polemik ergeht).

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #2
Zitat von Noricus im Beitrag #1
Warum macht man eigentlich so viel Aufhebens um den Menschen hinter den Buchstaben? Das Werk zählt.


In diesem Fall: Dezidiert nicht.
[/quote]

Ich hatte eigentlich auch das Allgemeine im Auge und muss mich dennoch präzisieren: Für die ästhetische Bewertung eines Werks ist der Autor irrelevant, da man diese Beurteilung autonom aus dem zu untersuchenden Text gewinnen sollte. Für die literaturwissenschaftliche Einordnung sind Fragen nach bestimmten Eigenschaften des Urhebers dagegen durchaus von Bedeutung bzw. können dies sein.

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #2
Übrigens interessant, daß selbst in Japan vielen Kommentatoren entgeht/entgangen ist, an welcher Gestalt sich Mishima, mindestens seit Anfang der 60er, also mit dem Bodybuilding, mit dem Gewaltkult, der Wehrsportgruppe, orientiert hat: Gabriele d'Annunzio.


Das war auch mir entgangen. Danke für den Hinweis, den ich absolut schlüssig finde.

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

21.08.2016 17:39
#8 RE: Marginalie: Der Beifang der Inklusion Antworten

Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #6
Man kann sich auch einfach an den Text der Autorin halten.

Da ist das Inklusionsprogramm umschrieben mit:

weiß, männlich, heterosexuell, christlich - als das bisher Exkludierende. Gut, an anderer Stelle kommt zu christlich noch der Weißwurstgenuss hinzu (ohne pretzel) - nu ja, und überhaupt mag das Ganze ja eh 'n bissle arg schräg sein (vermutlich nicht unabsichtlich), aber weitere Kriterien lese ich da nu nich - im Text.

Von daher ist etwaig Dazugedachtes wie links/rechts, moralisch irgendwie gut/weniger gut (Beispiel Goethe), nationalistisch-sonstwie böse/weltoffen pp (Yukio Mishima), also das, was Noricus anspricht, ja durchaus interessant - hat aber mit dem Anliegen der Autorin nichts zu schaffen, jedenfalls gibt das der Text nicht her. Von daher geht die Konfrontation Mishima versus linksgut=eigentlich doch oppositionell zur Autorin nebst der eventuellen Vermutung, selbige müsste diesbezüglich mal auf Wiki nachgucken, eher ins Leere.

Klar, sie verortet sich als links; indessen außerhalb des "Programms", und das mit angenehmer Selbstironie - etwas, was man bei griesgrämigen Konservativen mitunter vermißt. Gut, es gibt auch überreichlich griesgrämige Linke, da muss man, wenn man schon mal in GB ist, z.B. nur an den komischen Onkel denken, der als Vorsitzender momentan Labour ruiniert. Zu der Sorte scheint Pollatschek indessen nicht zu gehören.

Womöglich ist Griesgrämigkeit ja überhaupt ein viiiiiiiiel größeres Problem als das allseits beliebte Links/rechts-Ding.


lich
Dennis


Ich stimme Ihnen eigentlich in fast allem zu, auch darin, dass Pollatscheks humoristische Reflexion ihres Linksseins (auch mich) für sie einnimmt.

Intention meines Textes ist weder Linkenbashing noch Schadenfreude à la: "Die hat noch nicht mal nach Mishima gegoogelt." Es geht mir um die Sinnlosigkeit derartiger Kriterienlisten überhaupt.

Woher soll man wissen, dass ein weißer, männlicher Autor tatsächlich heterosexuell und christlich war? Weil er den Bund der Ehe eingegangen und Mitglied einer Kirche war? Weil es in seinen Werken keine auf Homosexualität oder Antichristentum hinweisenden Themenbezüge gibt? Wie ist z.B. Thomas Mann hinsichtlich des Kriteriums "schwul" und Voltaire in puncto "christlich" einzuordnen? Was würde sich am Gesamtwerk Shakespeares ändern, wenn die Literaturwissenschaft eines Tages den schlagenden Beweis dafür findet, dass Elisabeth I. oder Anne Hathaway oder einer anderen Frauensperson der Bardinnenruhm gebührt (oder am Werk Brechts, wenn sich der Verdacht erhärtet bzw. die Einsicht durchsetzt, dass Brechts Frauen eine Co-Autoren-Nennung verdient hätten)?

Wie dem auch sei: Man findet unter den weißen, männlichen, heterosexuellen, christlichen Autoren eine solche Bandbreite an Weltsichten, dass ein "Lauter Weißwürste!" doch die Frage aufwirft, ob das Werk im Vordergrund steht oder aber bestimmte Eigenschaften des Autors. Man verstehe mich nicht falsch: Es ist verdienstvoll, wenn Pollatschek ihr bislang unbekannte Autoren liest und diese in ihre Seminare integriert. Aber - das muss natürlich passen. Hinsichtlich ihres Dissertationsthemas konzediert Pollatschek, dass es sich dabei um ein exklusives (!) Feld weißer, männlicher Autoren handelt. Und bei manch anderem Thema wird die Einbeziehung nichtweißer, nichtmännlicher Autoren eher gut gemeint als durch literaturwissenschaftliche Argumente gerechtfertigt sein.

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 13.550

21.08.2016 22:13
#9 RE: Marginalie: Der Beifang der Inklusion Antworten

Zitat von DrNick im Beitrag #4
Er durfte ja zahlreiche ziemlich mainstraimige Filme untermalen


De gustibus. Auf den Mars paßt seine Musik jedenfalls ausgezeichnet: kleinteilig, repetitiv, "fraktal" (von jedem Punkt aus unübersichtlich): https://www.youtube.com/watch?v=XRCIzZHpFtY Bei Tonspuren hilft es, den Film wegzudenken & den reinen Klang laufen zu lassen. Da macht sich der Mishima recht gut; bei "Kooyanisqatsi" eher weniger & bei #2, "Powerkatze", noch weniger. Kann Kippeffekte nach sich ziehen, am frappantesten wmg. bei "The Fountain": grottiger Film, herrliche Musik. https://www.youtube.com/watch?v=P9QnsJbjeTw
Da ist man dankbar, wenn man auf das optische Beiwerk verzichten kann. Greift übrigens der technischen Erfindung weit voraus: der erste Soundtrack-Tonsetzer war bekanntlich Richard Wagner (dessen Charakteristika von con brio, flächendeckender Tonalität bis Leitmotiv das Metier einfürallemal grundiert haben). Was wärs schön, wenn man auf das Bayreuther Brimborium verzichten könnte & statt dessen so etwas geboten kriegte: https://www.youtube.com/watch?v=Ty80gJfKDlE



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

22.08.2016 12:02
#10 RE: Marginalie: Der Beifang der Inklusion Antworten

Zitat von Noricus im Beitrag #1
Warum macht man eigentlich so viel Aufhebens um den Menschen hinter den Buchstaben? Das Werk zählt.

Mit dieser Position habe ich mir jahrelang meine Deutschnote versaut ;-)

Natürlich kommt es ab und zu vor, daß Aspekte aus der Biographie des Autors interessant sind. Aber ansonsten sollte der Autorenname nur als Empfehlung/Warnung dienen, damit man von der Lektüre eines Werks darauf schließen kann, ob man sich mit weiteren Texten beschäftigen sollte.

Für das Verständnis und die Interpretation eines Texts ist m.E. auch nur dieser Text selber relevant, nicht irgendwelche biographischen Hintergründe.

hubersn Offline



Beiträge: 1.342

22.08.2016 13:55
#11 RE: Marginalie: Der Beifang der Inklusion Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #10
Zitat von Noricus im Beitrag #1
Warum macht man eigentlich so viel Aufhebens um den Menschen hinter den Buchstaben? Das Werk zählt.

Mit dieser Position habe ich mir jahrelang meine Deutschnote versaut ;-)


Ich war auch immer Teil der (recht kleinen) Fraktion, die auf dem Stamdpunkt beharrte, dass der Autor es möglicherweise doch genau so gemeint hat, wie er es geschrieben hat...was es da teilweise für Interpretationsansätze gab, vermutlich hätten sich die Autoren im Grab umgedreht.

Oft waren deshalb meine Interpretationen auch eher kurz, und ich habe gerne dann auch erwähnt, dass der Text einfach nicht mehr hergibt

Gruß
hubersn

--
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Emulgator Offline



Beiträge: 2.833

22.08.2016 17:57
#12 RE: Marginalie: Der Beifang der Inklusion Antworten

Zitat von Noricus im Beitrag #1
Warum macht man eigentlich so viel Aufhebens um den Menschen hinter den Buchstaben? Das Werk zählt.
Ja, aber gewöhnlich hat fast jeder Mensch nur eine (oder in seltenen Fällen bis ca. fünf) geniale Ideen, die seinen Lebensunterhalt finanzieren. Der Rest ist alltägliche Klein- und Variationsarbeit, beispielsweise die Niederschrift des fünften Beziehungsromans nach dem ungefähr gleichen sprachlichen und dramaturgischen Schema. Philip Glass lebt auch im Grunde nur von einem einzigen Musikstil.
Praktisch ist die einzige auskömmliche Idee so etwas ähnliches wie die Berufswahl an sich. Und es ist kein Wunder, daß diese Idee eng verwoben mit dem übrigen soziokulturellen Rahmen ist. Insofern ist die Ignoranz gar nicht so verkehrt, unter dem Namen des Menschen nur ein sich grob wiederholendes Werk zu verstehen. Meistens reicht das aus. Viel besser: Diese Vorstellung wird durch sich selber sogar zutreffend.
Jeder hat beispielsweise eine Vorstellung, wie ungefähr ein "Picasso" aussieht (deformierte Figuren und Augen an den falschen Stellen und aus der falschen Perspektive). Gemessen am Werkumsatz ist das eine ausreichende Vorstellung. Daß Picasso auch mal "richtig" gemalt hat in einem ganz anderen Stil, ist damit ein exzentrisches Expertenwissen, mit dem man eher aneckt. Genauso ist Sting natürlich nur "The Police" und sein solo-Rock-Œuvre. Man denkt da nicht an Lautenmusik aus dem 16-17 Jh.

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 13.550

22.08.2016 19:23
#13 RE: Against "Against Interpretation" Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #10
Zitat von Noricus im Beitrag #1
Warum macht man eigentlich so viel Aufhebens um den Menschen hinter den Buchstaben? Das Werk zählt.

Mit dieser Position habe ich mir jahrelang meine Deutschnote versaut ;-)


Das ist ja auch eine völlig andere Baustelle.

In den beiden Haltungen zeigen sich die beiden Pole der Literaturinterpretation, die das Herangehen an Texte (sicherheitshalber: "Texte", *Texte*. "Was ist ein 'Text'?" Privilegiert das nicht ganz-übel die Literarität, wenn nicht gar den Logozentrismus überhaupt, vor allen anderen Weisen möglicher Kommunikation? Die zudem der Vorteil verminderter Ambivalenz auszeichnet: "Isch masch disch XYZ", "Ich halt jetzt die Luft an, bis mir was passiert" kürzen interpretatorische Aporien hinsichtlich Intentionalität erfreulich ab) auszeichnet, seitdem das unter die erlaubten Zeitvertreibe ausgenommen wurde.

- Den rein textimmanenten Ansatz vs. den, der ihn nur an Ausfluß/Ausdruck/Resultat freizulegender Anlässe, Einflüsse, ob nun persönliche Obsessionen oder "Klassenbewußtsein" (womoglich gar noch, gut Marcusisch, "zugerechnetes"). In praxi driften beide Extrempositionen, puritanisch-calvinistisch zugespitzt, in die eigene Parodie ab. Vor allem liefern sie keinerlei anregende, erhellende oder auch nur interessante Resultate. Man kann das an den Interpretationen sehr schön sehen, mit denen die etwas wilderen Strukturalisten, Post-Strukturalisten, Post-post-S. à la Derrida von ihren Argonautenzügen zurückgekehrt sind. Im einen Fall wird das Werk wegeskamotiert; im andern die Wirklichkeit.

Eine von Borges' bekanntesten Erzählungen, "Pierre Menard, auctor del Quijote" spielt exemplarisch damit: P.M., der seinen ganzen Ehrgeiz darin setzt, das Werk Cervantes' noch 1x zu generieren; aber nicht als Abschreibe-Kopie, sondern indem er als Autor des 20. Jahrhunderts sich geistig in das geistige Universum des 16. versetzt, um, was heute exzentrisch, exotisch ist, mit jener passgenauen Schlichtheit beschreiben zu können, die damals lakonisch die Wirklichkeit in Worte fasste, & der schon an der Auftaktpassage En un lugar de la Mancha, de cuyo nombre no quiero acordarme, no ha mucho tiempo que vivía un hidalgo de los de lanza en astillero, adarga antigua, rocín flaco y galgo corredor. Una olla de algo más vaca que carnero, salpicón las más noches, duelos y quebrantos los sábados, lentejas los viernes, algún palomino de añadidura los domingos, consumían las tres partes de su hacienda... gnadenlos scheitert. Das Wegkürzen der "Wirklichkeit", der sogenannten, führt zu einer Nichtüberprüfbarkeit aller Interpretationsansätze (das ist was Anderes als das beliebte Schibboleth, daß es die richtige Interpretation nicht gebe. [Der Zyniker:] Aber sischa gibts die. Durchaus bei gefühlten 66,666% aller Texte.[/])

Fängt schon mit den ältesten Texten los, die wir überhaupt haben (d.h., die als "literarische Texte" überhaupt auffassbar sind; die "Pyramidentexte" sind älter - vielleicht; aber das sind liturgische/kosmogonische Texte; die sind zwar auch mehrdeutig schillernd, aber auf andre Weise): den "Klagen des Lebensmüden", Altägypten, 12. Dynastie, ~1900 v.Chr., erste Zwischenzeit. Die älteren Interpretaten, Adolf Erman & Consorten, sehen das als individuelle Reaktion des Schreibers auf die komplett zusammengebrochene Ordnung, also "Dichtersmann"; Assmann & Co. neigen dazu, das als rein stilisierte Versatzstücke zu deuten, bei Gelegenheit einer Leichenfeier von der Stange bestellbar & je nach Zahlkräftigkeit mit mehr Geheul vorgetragen, ohne jede Spiegelung der Zeitläufte.

Ganz ohne Kontext macht keinen Spaß: Wiederum älteres Beispiel, wg. "klassisch": Louise Labé (1526-66), deren Sonette Rilke übersetzt hat. Die heutige Forschung neigt (nicht zuletzt als Stachel wider den Femininienismus) durchaus zu den Annahme, daß es die Dame überhaupt nicht gegeben hat, sondern es sich um einen Scherz der ausnahmslos ♂-Kollegen gehandelt hat ("wie müßte eine Frau dichten, wenn sie denn dichtete?"). Vollkommen belanglos. Aber was 1 Sonett ist, dessen Regeln & die gleich nach Petrarca einsetzenden Bemühungen, diese steifste & unlebendigste aller Gedichtformen aufzulockern: darum kommt man nicht herum. Zudem Kontextwissen zu den Zeitumständen & der Art von Text: es ist 1 kleiner Unterschied, ob ein Priester den Satz "Introibo ad altare dei" spricht, oder Buck Mulligan, wenn er sich am Auftakt des Joyceschen "Ulysses" die Bartstoppeln aus dem Gesicht kratzen will. Aber zur Deutung des Zweiten ist die Kenntnis des Ersten unerläßlich.


Zitat von Emulgator im Beitrag #12
Genauso ist Sting natürlich nur "The Police" und sein solo-Rock-Œuvre. Man denkt da nicht an Lautenmusik aus dem 16-17 Jh.


Bei Sting liegt der Witz ja darin, daß er für 95% des Publikums überhaupt kein Name ist, je etwa zur Hälfte "längst nicht mehr" & "die Beatles? kenn ich nich..."; daß er für das zwischen 1980-85 musikalisch sozialisierte Segment "Tea in the Sahara" & "Moon over Bourbon Street" ist & weiter nichts; & den auf ihn Kaprizierten diese Episode zwar geläufig, aber 1 Ausreißer ist. Und daß er allen unangenehm als singender Oberlehrer mit Grünstich ist. Geht aber auch umgekehrt: Im Fall Julian Cope haben Sachen wie "Krautrocksampler" & die Megalithbegehungen das musikalische Präkambrium völlig verschüttet.



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

22.08.2016 21:51
#14 RE: Marginalie: Der Beifang der Inklusion Antworten

Zitat von hubersn im Beitrag #11
Zitat von R.A. im Beitrag #10
Zitat von Noricus im Beitrag #1
Warum macht man eigentlich so viel Aufhebens um den Menschen hinter den Buchstaben? Das Werk zählt.

Mit dieser Position habe ich mir jahrelang meine Deutschnote versaut ;-)


Ich war auch immer Teil der (recht kleinen) Fraktion, die auf dem Stamdpunkt beharrte, dass der Autor es möglicherweise doch genau so gemeint hat, wie er es geschrieben hat...was es da teilweise für Interpretationsansätze gab, vermutlich hätten sich die Autoren im Grab umgedreht.


Ich bin, lieber hubersn, ein großer Fan des offenbar Roman Polanski zugeschriebenen Diktums: "Wenn ich eine Botschaft hätte, würde ich sie mit der Post schicken." Will heißen: Manchmal ist eine Zigarre einfach eine Zigarre. Einfache Erklärungen sind bisweilen ungeheuer schlüssig ...

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 13.550

08.09.2016 22:16
#15 RE: Marginalie: Der Beifang der Inklusion Antworten

Später Nachtrag zu Mishima: hier sein Auftritt vor den Soldaten der japanischen Selbstverteidigungskräfte am 25.11.1970, wie ihn das japanische TV damals aufgezeichnet hat:
https://www.youtube.com/watch?v=bprGPmEwiw0
hier die "Ansprache" etwas vollständiger (& Archivaufnahmen der Tate no Kai): https://www.youtube.com/watch?v=6VhZ5k2PDfk

Und ein Interview von 1970 (auf Englisch!) https://www.youtube.com/watch?v=DPAZQ6mhRcU

Zitat
You can easily find two contradictionary characteristics to our Japanese culture - or Japanese character. One is elegance; one is brutality. But these two characteristics are very tied together, combined. our brutality, I think, comes from our emotion. It is never recognized, or systematized, like [the] Nazis' brutality, and, I think, the brutality might come from our feminine aspect and elegance comes from our nervous side. We are sometimes too sensitive of our refinement or elegance or sense of beauty and sometimes we are tired of it, and we need sometimes a sudden explosion to make us free from it.



Lt. seinem Biographen John Nathan hat Mishima etwa 10 Minuten gesprochen; die japanischen Zeitungsberichte nennen 5 Minuten. Der Inhalt war weitgehend identisch mit dem "Manifest", das M. früh am Morgen an vier Zeitungen verschickt hatte & von der Asahi Shinbun am nächsten Tag abgedruckt wurde (englische Übesetzung: https://miscdotmisc.wordpress.com/2014/0...imas-manifesto/)



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

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