Du hast vollkommen Recht. Feuerbachs (Paul Johann Anselm Ritter von) Diktum: "Gib mir eine Zeile von deiner Hand und ich bringe dich an den Galgen" (zitiert nach: Ludwig Reiners [1951]: Der sichere Weg zum guten Deutsch, München: C. H. Beck, 147) gewinnt in der Twitter-Gesellschaft jedenfalls hinsichtlich des ersten Halbsatzes eine nahezu buchstäbliche Relevanz.
Aber ganz neu ist das nicht: Auch schon früher in der bundesrepublikanischen Geschichte, als es das Internet als Massenmedium noch nicht gab und an einen elektronischen Kurznachrichtendienst noch niemand dachte (der Kurznachrichtendienst hieß seinerzeit "Telegramm"), wurden einem längeren Text einzelne Passagen entnommen, um seinen Urheber zu desavouieren. Bei Hunt, dessen Rede ja wohl umfänglicher war als die drei inkriminierten Sätze, verhielt es sich wohl auch so.
Zitat von Noricus im Beitrag #2an einen elektronischen Kurznachrichtendienst noch niemand dachte (der Kurznachrichtendienst hieß seinerzeit "Telegramm")
Aber das war das Internet 1.0.
Zitat von Smithsonian Magazine, 1/1999"By the early 1870s," Standage writes, "the Victorian Internet had taken shape...." The story of telegraphy is vast and complex, and Standage could easily have written a book three or four times as long as The Victorian Internet. Wisely, he didn't. Nor does he feel compelled to point out each and every similarity that obtains between the telegraphic internet and its computer counterpart of today.
Wurde übrigens im 19. Jhdt. auch so gesehen; u.a. von Max Maria von Weber. Übrigens ist das Internet, ganz typisch, genau 18 Monate nachdem das erste Computerprogramm geschrieben wurde, schon zum Daddeln ("Spielen") mißbraucht worden. Schachclub Edinburgh gegen Royal Chess Club of London, ganzen Sonntag lang (der Hintergrund war, daß die Verwendbarkeit für Börse & freien Nachrichtenverkehr ausgetestet werden sollte statt nur für den Bahnverkehr, wo ein paar Codes hingereicht hätten). War im November 1844. Und Edinburgh hat gewonnen.
Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire
Wer meint, seine Meinung zu einem komplexen Sachverhalt in 140-Zeichen-Form in die Welt hinausposaunen zu müssen, darf auch gerne mit dem 140-Zeichen-Shitstorm leben. Zumal es sich dabei i.d.R. um Leute handelt, die
1. Medienprofis sind, die die Konsequenzen ihres öffentlichen Auftritts schon recht gut einzuschätzen wissen, und 2. selbst ganz gerne den Shitstorm antreiben, wenn es einen politischen Gegner trifft.
Normalverbraucher Fonzo - der kein politisches Amt anstrebt und keine Steuergelder einstreichen will - sieht sich das bunte Treiben dann an und schreibt seinen Kommentar dazu in Zettels kleinem Zimmer unter einem Pseudonym; nach dem Prinzip: Wichtig ist nur, WAS gesagt wird, nicht WER es sagt.
Zitat von F.Alfonzo im Beitrag #4 Wer meint, seine Meinung zu einem komplexen Sachverhalt in 140-Zeichen-Form in die Welt hinausposaunen zu müssen, darf auch gerne mit dem 140-Zeichen-Shitstorm leben. Zumal es sich dabei i.d.R. um Leute handelt, die
1. Medienprofis sind, die die Konsequenzen ihres öffentlichen Auftritts schon recht gut einzuschätzen wissen, und 2. selbst ganz gerne den Shitstorm antreiben, wenn es einen politischen Gegner trifft.
Dann war Justine Sacco ein Medienprofi ? Oder Tim Hunt ? Oder diese Dame ? Nein, lieber F. Alfonzo, keiner davon war das. So wie die allermeisten, die heute unter das Phänomen "Shitstorm" fallen. Es sind grade keine Medienprofis, denn solchen passieren solche "Fehler" in aller Regel nicht, im Gegenteil, die Opfer solcher Kesseltreiben sind in aller Regel Leute, die sich eben nicht dessen bewusst sind, was man aus ihren Worten machen würde.
Zitat Normalverbraucher Fonzo - der kein politisches Amt anstrebt und keine Steuergelder einstreichen will - sieht sich das bunte Treiben dann an und schreibt seinen Kommentar dazu in Zettels kleinem Zimmer unter einem Pseudonym; nach dem Prinzip: Wichtig ist nur, WAS gesagt wird, nicht WER es sagt.
Bis der liebe Fonzo dann mal den "Fehler" macht an der falschen Stelle dann doch mal etwas zu sagen und dafür unter den Moralmob zu geraten. Das kann schnell passieren, Tim Hunt hat auch nicht damit gerechnet als er seinen Witz machte.
Zitat von Noricus im Beitrag #2 Aber ganz neu ist das nicht: Auch schon früher in der bundesrepublikanischen Geschichte, als es das Internet als Massenmedium noch nicht gab und an einen elektronischen Kurznachrichtendienst noch niemand dachte (der Kurznachrichtendienst hieß seinerzeit "Telegramm"), wurden einem längeren Text einzelne Passagen entnommen, um seinen Urheber zu desavouieren.
Wenn man so will gab es das Phänomen des Aus-dem-Kontext-reissen schon seit Sokrates und vielleicht noch länger. Ich meine nur, dass durch die sozialen Medien, ihre Geschwindigkeit und Anonymität eine viel bessere Lynchatmosphäre ensteht als in früheren Zeiten. Ich kann mich erinnern, dass man auch immer wieder versucht hat Kohl Sachen in den Mund zu legen, die vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen waren. Nur gab es damals eher den Effekt der Gegenrede und es gab auch so etwas wie ein Presserecht. In Zeiten von Facebook und Twitter ist das zunehmend unbedeutend und es scheint mir eine ganz fatale Dynamik in Gang zu setzen, die auch weit über die eigentlich Welt der sozialen Medien hinausgeht.
OT. Kennt jemand den Namen David Mitchell? Wolkenatlas, die 1000 Nachmittage des Jacob de Zoet, The Bone Clocks. https://de.wikipedia.org/wiki/David_Mitchell So einer, der richtig schöne formale Herausforderungen mag, was die Struktur seiner Romane angeht. Und vor zwei Jahren...
Zitat von The New Yorker, July 23, 2014, 'The Great American Twitter Novel'It seems as if David Mitchell, the author of intricate, metafictional, time-twisting novels like “Cloud Atlas,” might be drawn to Twitter, which, seen in a certain way, is a massive, ever-expanding, self-referential catalogue of modern thought. Yet in a recent interview with the BBC, he took a dimmer view: “I don’t want to add to this ocean of trivia and irrelevance; it’s already vast and deep enough.” Mitchell said this at the very same time that he was promoting a new Twitter project: an original short story, titled “The Right Sort,” which was published in a series of more than two hundred and eighty tweets in the course of a week, ending this past Sunday.
Schön, das ist ein formales X-periment: eine Erzählung so in Sätzchen aufzustellen, daß sie in Einheiten zu je 140 Zeichen abgesetzt werden können. So wie manche Leute einen ganzen Roman in Sonetten abgefasst haben (so 1 Russe namens Puschkin oder so ähnlich). Und wenn man das zusammengerafft liest, wirkt das anders, als wenn es eine Woche lang alle 20 Minuten piept.
We get off the Number 10 bus at a pub called ‘The Fox and Hounds’. ‘If anyone asks,’ Mum tells me, ‘say we came by taxi.’ 8:00 AM - 14 Jul 2014
‘I thought lying was wrong,’ I say. Butter wouldn’t melt in my mouth. Mum gives me a look. ‘It’s called “creating the right impression”.’ 8:01 AM - 14 Jul 2014
A lorry rumbles by. ‘Besides,’ adds Mum, ‘if your *father* paid what the judge told him to pay, on time, we would travel more by taxi.’ 8:02 AM - 14 Jul 2014
Westwood Road’s not a run-down road, but it’s hardly posh either. Joined-up red-brick houses, like ours. Small drives. Dustbins. 8:03 AM - 14 Jul 2014
Not like you’d expect a Lady to live in. ‘Right,’ says Mum, double-checking the directions she wrote on an envelope. ‘This way.’ 8:04 AM - 14 Jul 2014
‘So we’re looking out for an alley called “Slade Alley”,’ says Mum. ‘On the left. And mind the puddles.’ Off we trudge. 8:05 AM - 14 Jul 2014
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Zitat von Noricus im Beitrag #2 Aber ganz neu ist das nicht: Auch schon früher in der bundesrepublikanischen Geschichte, als es das Internet als Massenmedium noch nicht gab und an einen elektronischen Kurznachrichtendienst noch niemand dachte (der Kurznachrichtendienst hieß seinerzeit "Telegramm"), wurden einem längeren Text einzelne Passagen entnommen, um seinen Urheber zu desavouieren.
Wenn man so will gab es das Phänomen des Aus-dem-Kontext-reissen schon seit Sokrates und vielleicht noch länger. Ich meine nur, dass durch die sozialen Medien, ihre Geschwindigkeit und Anonymität eine viel bessere Lynchatmosphäre ensteht als in früheren Zeiten. Ich kann mich erinnern, dass man auch immer wieder versucht hat Kohl Sachen in den Mund zu legen, die vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen waren. Nur gab es damals eher den Effekt der Gegenrede und es gab auch so etwas wie ein Presserecht. In Zeiten von Facebook und Twitter ist das zunehmend unbedeutend und es scheint mir eine ganz fatale Dynamik in Gang zu setzen, die auch weit über die eigentlich Welt der sozialen Medien hinausgeht.
Ich glaube, daß Dein Ärger hier in großen Teilen fehlallokiert ist. Insbesondere Twitter ist im Prinzip ein hochgradig selbstreferentielles, flüchtiges Medium. Und besteht wesentlich aus kleineren und größeren shitstorms. Ob daraus etwas existenzzerstörendes wird, hängt mMn ausschließlich an der Frage, ob die "klassischen" Medien das Thema aufnehmen und dann ebenso klassischen Kampagnenjournalismus betreiben, der vermutlich noch viel älter ist ist als Sokrates und in die Steinzeit zurückreicht (=Gerüchte)
Der von Dir zitierte Künast-tweet war seinerzeit am späten Abend abgesetzt worden. Am nächsten Morgen gegen 7.30 Uhr hatten bereits mehrere Medien vom angeblichen shitstorm geschrieben. Ich hab mir dann ausnahmsweise mal die Mühe gemacht, den auf twitter nachzulesen. Das waren etwa 60 Kommentare zu dem Zeitpunkt, viele kritisch oder sarkastisch, einige verteidigend. Völlig normales Geschehen auf diesem merkwürdigen Medium also. Die gesamte Debatte danach war eine klassische Mediendebatte und längst von den social media abgekoppelt. Es liegt in der Natur der Sache (da ich wenig auf Twitter unterwegs bin), daß ich in ausnahmslos allen Fällen, in denen ein shitstorm zu ernsten Konsequenzen für den Betreffenden geführt haben, davon aus den klassischen Medien erfahren habe, und eigentlich immer so, daß dann bereits eine längere Debatte (oder oft eben auch eine Kampangne) außerhalb der sozialen Kedien stattgefunden hat. Ich glaube, Twitter wird überschätzt und ist oft eher der "nützlicher Idiot" für die klassischen Medien. Die Kritik gebührt eher denen.
Herzliche Grüße, Andreas
"Man kann einen gesellschaftlichen Diskurs darüber haben, was Meinungsfreiheit darf. Oder man hat Meinungsfreiheit." (Christian Zulliger)
Zitat von Llarian im Beitrag #5Dann war Justine Sacco ein Medienprofi ? Oder Tim Hunt ? Oder diese Dame ?
Nun, zumindest bei Justine Sacco lässt sich die Frage eindeutig mit ja beantworten. Ich war damals schon der Meinung, dass die Kündigung durchaus gerechtfertigt war. Und zwar nicht wegen dem Inhalt ihres Tweets, sondern weil die Dame als "PR Consultant" tätig war und in dieser Funktion eigentlich wissen sollte, welche Folgen so etwas haben kann.
Aber grundsätzlich haben Sie natürlich recht. Ich habe mich zu stark auf Personen des öffentlichen Lebens beschränkt. Der Punkt ist nur: Der Twitter-Shitstorm ist kein neues Phänomen, und die meisten Leute sollten eigentlich schlau genug sein zu wissen, welche Folgen derartige Äußerungen haben können. Man wird dort zwangsläufig zu einer Person des öffentlichen Lebens, mit allen Vor- und Nachteilen.
Zitat von Llarian im Beitrag #5Bis der liebe Fonzo dann mal den "Fehler" macht an der falschen Stelle dann doch mal etwas zu sagen und dafür unter den Moralmob zu geraten. Das kann schnell passieren,[...]
...und hier widerspreche ich Ihnen eben: Mir kann das nicht passieren. Weil ich es weder als notwendig noch als sinnvoll erachte, Medien wie Twitter oder Facebook zu nutzen um politische Statements in die Welt zu tröten. Alleine schon deshalb, weil diese Plattformen dafür vom Aufbau her völlig ungeeignet sind. Aber eben auch, weil ich keine Lust habe, mich gegen Anschuldigungen irgendwelcher Aktivisten wehren zu müssen, so absurd sie auch sein mögen.
Sie veröffentlichen doch auch nicht unter Ihrem Klarnamen, richtig? Ich vermute mal aus genau diesem Grund.
Zitat von F.Alfonzo im Beitrag #4 Zumal es sich dabei i.d.R. um Leute handelt, die
1. Medienprofis sind, die die Konsequenzen ihres öffentlichen Auftritts schon recht gut einzuschätzen wissen, und 2. selbst ganz gerne den Shitstorm antreiben, wenn es einen politischen Gegner trifft.
Wie schon gesagt wurde: Das trifft eben nur auf einige von Llarians Beispielen zu.
Insbesondere bei Frau Künast gibt es keinen Grund zu Mitleid (die Affäre hat ihr ja auch nicht geschadet): Sie gehört selber zu den Leuten, die jeden aus den Kontext gerissenen Textschnipsel für die Diffamierung Anderer benutzt. Und der aktuelle Tweet mag zwar nachts und wenig durchdacht losgeschickt worden sein - aber wegen vieler anderer Künast-Äußerungen weiß man eben, daß er absolut in ihre Denkwelt paßt und deswegen die Kritik auch paßt.
Ansonsten sehe ich gar nicht, daß sich so viel geändert hätte. Einzelne Brocken aus dem Kontext zu reißen oder unbedachte Äußerungen zu skandalisieren war schon immer ein Mittel der politischen Auseinandersetzung (man denke da an "dann sollen sie doch Kuchen essen" und Marie Antoinette). Und früher gab es halt ein paar Zeitungskommentare anstatt einiger tausend Internet-Äußerungen - aber die hatten mindestens die gleiche Wirkung.
Und die Wirkung ist erst einmal nur, daß der Urheber etwas dumm dasteht und ihm das peinlich ist. Was so unangemessen nicht sein muß, wenn man eine dumme Bemerkung macht.
Weitere Wirkung gibt es m. E. in der Regel nur, wenn andere Gründe im Raum stehen und der Betroffene machtpolitisch schon längst unter Druck stand. Wer gut verankert ist, der überlebt locker auch einen Shitstorm. Wen aber "Parteifreunde" oder andere wichtige Strippenzieher schon länger loswerden wollten, der kann dann über einen Tweet stolpern. Die strittige Äußerung ist fast immer nur der äußere Anlaß, aber nicht die Ursache der Amtsenthebung etc.
Klatsch, Tratsch, Maulzerreißen, Geplapper. Das ist eine anthropologische Konstante. In der menschlichen Natur angelegt &, wenn die Überlegungen von Robin Dunbar Triftigkeit haben, die Grundwurzel in der Entwicklung der menschlichen Sprache (genauer: in der sich gegenseitig bestärkenden Koevolution von Sprache als Kommunikationsinstrument & umfassender humanoider Gruppendynamik).
Zitat von Dunbar, 'Grooming, Gossip, and the Evolution of Language', WaschzetteltextAnthropologists have long assumed that language developed in relationships among males during activities such as hunting. Dunbar’s original and extremely interesting studies suggest otherwise: that language in fact evolved in response to our need to keep up to date with friends and family. We needed conversation to stay in touch, and we still need it in ways that will not be satisfied by teleconferencing, email, or any other communication technology. As Dunbar shows, the impersonal world of cyberspace will not fulfill our primordial need for face-to-face contact.
Das erweitert die Ansätze aus den, nun, Feldforschungen der 70er & 80er Jahre; deren Ergebnisse laufen unter dem Begriff "grooming talk": Sprache nicht primär als Informationstransporter, sondern als soziale Fellpflege. Da haben sich angehende Akademiker in Clubkneipenbusbahnbüro pp. mal hingesetzt & notiert, worüber "die Leute" im RL denn wirklich kommunizieren. Ist dann ergänzt worden durch Sichtung alter Postkarten, Briefe, Telegramme, you name it. Und da stellt sich heraus, daß irgendwo zwischen 80-95% aller Humaninteraktion reichlich inhaltsfrei daherkommt & dieser sozialen Kohäsion dient. Und das führt natürlich im Zug der ausgelagerten Evolution als erweiterten Phänotyp (vulgo: Technologie) dazu, daß sich die Kommunikationskanäle darauf hin entwickeln. (Was dann mit der Zunahme einen selbstverstärkenden Sog erzeugt: klassisches Beispiel eines Baldwin-Effekts.)
Es könnte sein, daß mit der Ausweitung der kommunikativen Netzwerke gegenstrebige Effekte auftreten. Das folgenlose Verrauchen von Unflatstürmen in Zeiten des Weltnetzes wurde ja erwähnt. Als das noch auf Dorfklatsch beschränkt war, war die Wirkung für den Einzelnen (& vor allem: für DIE Einzelne), & das auf Dauer, wohl erheblich gravierender. Wobei: für die meisten Klatschzirkel dürfte diese "Reichweite" gleichgeblieben sein. Auch wenn die sich per Kollegen, Interessenzirkel, Fetzbuchgruppen mittlerweile über 5 Kontinente verteilen. Die Dunbar-Zahl lag im interaktiven Präkambrium bei 150 & soll mittlerweile auf 180 gestiegen sein. Das spricht eher für eine gut verdrahtete Konstante.
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Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #11Und da stellt sich heraus, daß irgendwo zwischen 80-95% aller Humaninteraktion reichlich inhaltsfrei daherkommt & dieser sozialen Kohäsion dient.
Da passen dann auch die meisten Shitstorms prima hinein. De facto sind die ja fast inhaltsfrei, es gibt sich ja auch niemand Mühe, den genauen Hintergrund zu recherchieren. Hauptzweck ist die soziale Kohäsion der Blase, die sich hier gegen irgendeinen äußeren Feind abgrenzt und damit gegenseitig bestätigt.
Als Spezialist für Jonathan Swift vorbestraft, kann ich es nicht unterlassen, auf den Ursprung des Schietsturms hinzuweisen. Gullivers Reisen, 1726, Buch IV.
Zitat von IV, 1. Des Erzählers erste Begegnung mit den Yahoos im Land der PferdeUpon the whole, I never beheld, in all my travels, so disagreeable an animal, or one against which I naturally conceived so strong an antipathy. So that, thinking I had seen enough, full of contempt and aversion, I got up, and pursued the beaten road, hoping it might direct me to the cabin of some Indian. I had not got far, when I met one of these creatures full in my way, and coming up directly to me. The ugly monster, when he saw me, distorted several ways, every feature of his visage, and stared, as at an object he had never seen before; then approaching nearer, lifted up his fore-paw, whether out of curiosity or mischief I could not tell; but I drew my hanger, and gave him a good blow with the flat side of it, for I durst not strike with the edge, fearing the inhabitants might be provoked against me, if they should come to know that I had killed or maimed any of their cattle. When the beast felt the smart, he drew back, and roared so loud, that a herd of at least forty came flocking about me from the next field, howling and making odious faces; but I ran to the body of a tree, and leaning my back against it, kept them off by waving my hanger. Several of this cursed brood, getting hold of the branches behind, leaped up into the tree, whence they began to discharge their excrements on my head; however, I escaped pretty well by sticking close to the stem of the tree, but was almost stifled with the filth, which fell about me on every side.
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Zitat von F.Alfonzo im Beitrag #9 Nun, zumindest bei Justine Sacco lässt sich die Frage eindeutig mit ja beantworten. Ich war damals schon der Meinung, dass die Kündigung durchaus gerechtfertigt war. Und zwar nicht wegen dem Inhalt ihres Tweets, sondern weil die Dame als "PR Consultant" tätig war und in dieser Funktion eigentlich wissen sollte, welche Folgen so etwas haben kann.
Das ist doch genau der Witz der Sache: Auch ein "PR Consultant" rechnet eben gerade nicht damit das ein blöder Witz dazu geeignet ist eine Existenz zu vernichten. Und wenn unsere Gesellschaft sich dahin bewegt, dass sie genau das als richtig, gerechtfertigt oder in Ordnung befindet, dann ist unsere Gesellschaft in einem beklagenswerten Zustand. In einer Gesellschaft, die sich eben noch ein bischen um Freiheit schert, darf es eben nicht solche Folgen haben. Die moralingetränkte Lynchgesellschaft ist jedenfalls ganz sicher kein Ort, an dem ich gerne leben möchte.
Zitat Der Twitter-Shitstorm ist kein neues Phänomen, und die meisten Leute sollten eigentlich schlau genug sein zu wissen, welche Folgen derartige Äußerungen haben können.
Twitter ist doch nur der Aufhänger der den Namen gibt. Hunt hat seine Bemerkung nicht auf Twitter gemacht. Die weiter oben zitierte Dame auch nicht, sie schrieb auf ihrer privaten Facebook-Seite. Der Moralinmob macht doch keinen Unterschied zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, der Unterschied interessiert diesen ohnehin nicht. Und ich denke schon, dass das neu ist. Oder können Sie mir ein Beispiel für einen vergleichbaren Fall nennen, der mehr als 25 Jahre alt ist ?
Zitat ...und hier widerspreche ich Ihnen eben: Mir kann das nicht passieren. Weil ich es weder als notwendig noch als sinnvoll erachte, Medien wie Twitter oder Facebook zu nutzen um politische Statements in die Welt zu tröten.
Bis Sie dann mal -ganz privat- einen Witz an der falschen Stelle machen oder in der Kneipe vielleicht etwas unsensibles von sich geben. Die meisten der hier genannten Personen sind auch davon ausgegangen, dass ihnen das nicht passieren kann. Es gibt eigentlich nur einen Weg sicher zu stellen, dass einem das nicht passiert: Einfach gar nichts mehr sagen. Ist dem Moralinmob ohnehin am liebsten.
Zitat Sie veröffentlichen doch auch nicht unter Ihrem Klarnamen, richtig? Ich vermute mal aus genau diesem Grund.
Nein, eigentlich nicht aus diesem Grund. Zumindest nicht ursprünglich. Zumal ich nicht der Illusion anheim falle, dass dieses Pseudonym mich wirklich schützen würde. Echte Anonymität ist verdammt schwer zu erreichen. Allerdings gebe ich zu, dass der Grund einem mehr und mehr in den Sinn kommt. Und ich finde das beängstigend.
Gibt es für das Problem nicht eine ziemlich einfache Lösung? Twitter/facebook-Zugang löschen nämlich. Wer braucht das denn? Gibt es dort wirklich nützliche Informationen? Mir sind die entgangen, allerdings war meine Zeit dort vergleichsweise kurz.Es lebt sich ausserhalb sinnfreien Geplappers ziemlich angenehm. Die Zeit für selbige "Medien" ist mit Sicherheit für andere,wie beispielsweise hier im Blog, wesentlich sinnvoller verbracht.Sollte sich die Erkenntnis bei mehr Menschen durchsetzen, dann erledigen sich diese Seiten von selber.Natürlich ist das ein frommer Wunsch, aber einer muss damit mal anfangen....
Zitat von Doeding im Beitrag #8Insbesondere Twitter ist im Prinzip ein hochgradig selbstreferentielles, flüchtiges Medium. Und besteht wesentlich aus kleineren und größeren shitstorms.
Zitat von Emulgator im Beitrag #16Wie arg drängen sich Muttersprachlern solche Wortspiele eigentlich auf (@Ulrich Elkmann)?
Weniger als man als Allochthonophoner meinen würde. Das Gezwitscher als Wortstamm ist natürlich als Wortwurzel omnipräsent, sowohl durch den Namen als auch das Symbolchen. Das Substantiv - "you're a twit" - neutralisiert die Sprengwirkung wg. Verpuffung, Die stehende Verbindung ist "upper class twit"; & als Schnöselmedium ist das Gezwitter a priori untauglich. Samuel Beckett machte in der deutschen Vokabel "Zweifel" die "2" aus; Germanen sind da eher mit Blindheit geschlagen.
Auch dieser Zeitgenosse wurde bislang nicht mit diesem Dekadenzphänomen in Verbindung gebracht ("Tweet and Lovely" (1959!)), obschon dessen Stammsatz "I tink I taw a puddy tat" von angelsächsischen Kulturpessimisten (u.a. S.J.Perelman & Evelyn Waugh) schon in den 50ern für die Regression der amerikanischen Kulturbanausie vom Infantilium ins Imbezilium verantwortlich gemacht worden ist.
Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #17Samuel Beckett machte in der deutschen Vokabel "Zweifel" die "2" aus; Germanen sind da eher mit Blindheit geschlagen.
Alle Germanen natürlich nicht: Wolfram von Eschenbach hat im Parzival
Zitat von Wolfram von Eschenbach, ParzivalIst zwîvel herzen nahgebûr das muoz der sêle werden sûr gesmehet unde gezieret ist, swâ sich parrieret unverzaget mannes muot, als agelstern varwe tout. der mâc dennoch wesen geil: wande an îm sint beidiu teil des himels und der helle.
ein bißchen versteckt die wortspielerische Lesung von "Zweifel" als "zwei Fell", also zweierlei Haut, wie das Schwarz und Weiß der Elster (und, später im Text, von Parzivals Halbbruder Feirefiz).
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