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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 19 Antworten
und wurde 2.339 mal aufgerufen
 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Kallias Offline




Beiträge: 2.310

19.11.2016 21:19
Postfaktisch - die gefühlte Realität Antworten

Immer wieder tauchen neue Schimpfwörter auf - dieses Jahr das "post-faktische Zeitalter". Ludwig Weimer macht sich in seinem neuen Beitrag darüber her.

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

20.11.2016 17:44
#2 RE: Postfaktisch - die gefühlte Realität Antworten

Si enim fallor, sum. (Augustinus)- Wenn ich mich nämlich täusche, bin ich.

Cogito, ergo sum. (Descartes) - Ich denke, also bin ich.

Machen wir uns einfach einen Spaß daraus:

Cogito, ergo fallor. - Ich denke, also täusche ich mich.

Fallor, ergo cogito. - Ich täusche mich, also denke ich.

Si enim fallor, cogito. - Wenn ich mich nämlich täusche, denke ich.

Si enim cogito, fallor. - Wenn ich nämlich denke, täusche ich mich.

Wären das nicht allesamt schöne Wahlsprüche für die post-truth era?

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.560

20.11.2016 18:51
#3 RE: Postfaktisch - die gefühlte Realität Antworten

Zitat von Noricus im Beitrag #2
Si enim fallor, cogito. - Wenn ich mich nämlich täusche, denke ich.
Si enim cogito, fallor. - Wenn ich nämlich denke, täusche ich mich.


Da gabs doch, scio ut nescio, so einen ollen Griechen namens Sokrates...?

Die böse Frau Xanthippe heißt,
Die ihren Mann am Halstuch reißt.
Sie goß das volle Nachtgefäß
Hinunter über Sokrates.
Da sprach der Weise sehr verlegen:
"Aufs Donnerwetter folgt der Regen."
(Wedekind)

Wenn ich mich recht erinnere, ist die prinzipielle Mögrichkeit des Illtums auf der Beobachterseite seit Kuhn & Popper so etwas wie die Grundbedingung der Wissenschaft. Aber ich mag mich irren.



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Daska Offline




Beiträge: 245

20.11.2016 22:26
#4 RE: Postfaktisch - die gefühlte Realität Antworten

Erst mal dankeschön für die gewohnt gediegenen Gedanken.

- Dieses stellt ja in Ihren Beiträgen ein immer wieder auftauchendes Motiv dar: die gelebte Praxis.

Zitat
Ich denke, dass die alte Pilatusfrage, was Wahrheit sei, nur durch eine andere Frage zu beantworten ist: wie Pilatus lebte und wie Jesus lebte und wie ich.

Im Zusammenhang mit der Wahrheit: Stellt da der zitierte Satz nicht eine Scheinlösung dar? Denn: Nach welchem Maßstab bemesse ich denn das Leben von Pilatus, Jesus, wem auch immer? Z.B. wie folgt?

Zitat
wie Pilatus

Ein Lokalpolitiker vor über 2000 Jahren sichert sich durch ein Fehlurteil im Rahmen seines Berufes einen bleibenden Sitz im kollektiven Gedächtnis der Christenheit. Das muss ihm mal einer nachmachen!

Zitat
wie Jesus

Jesus ohne Christus ist wie Heiligabend ohne Weihnachten.

Zitat
wie ich

Dreimal mutig:
1) Sich einzureihen in die Trias Pilatus - Jesus - ich;
2) Die eigene Existenz in die Waagschale werfen bei der Frage: Was ist Wahrheit?;
3) Und das ganze in einem Blog zur Diskussion zu stellen.

Wahrhaft mutig, zumal jegliche Selbsteinschätzung unter dem Vorzeichen der Selbsttäuschung stehen und damit recht postfaktisch daherkommen kann, wie Sie ja uns allen ins Gedächtnis rufen: Fallor ergo sum ...

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

20.11.2016 23:57
#5 RE: Postfaktisch - die gefühlte Realität Antworten

Danke Daska.
Das "wie ich" ist ein den, also alle Leser einschließendes, ja allgemein-menschliches.
Es wiederholt auch nicht das Zeitwort "wie lebte", sondern leiht es von den Toten und versetzt jeden und mich damit in den Status des abgeschlossenen, zu beurteilenden Lebens. "Weltgericht" meint ja wohl den Doppelblick: Was hast du (hier wieder: alle Iche) von dem Leben, wie du es lebtest gehabt, und was hat die Menschheit von dir gehabt?
Mit Pilatus und Jesus ist auf zwei gelebte Leben als Bandbreite des Maßes hingewiesen: schlaue Anpassung bis Sterben für seine Wahrheit.

Sokrates hat übrigens dasselbe für die philosophische Wahrheit getan wie Jesus für die jüdische. Die Athener entließ er nicht aus der Schuld an dem Tod. Sie dachten, er würde auswandern. Ohne diese Entscheidung des Sokrates hätte es wohl solche weltgeschichtlich-groß wirkenden Schüler wie Platon und Aristoteles nicht gegeben. Diese gelebte Praxis darf jedem Vorbild sein, ohne Hochmut.
Sokrates war allerdings im Unterschied zu Jesus schon ein alter Mann.
Ob es sich im Alter leichter stirbt, weiß ich noch nicht.

Grüße, Ludwig W.

Frank2000 Offline




Beiträge: 3.432

21.11.2016 02:16
#6 RE: Postfaktisch - die gefühlte Realität Antworten

Post-Faktisch. Aha.

Was geradezu widerlich ist, ist die These von öffentlichen Personen, sie wüssten was Wahrheit sei und wären nötigenfalls bereit, mit staatlichen Sanktionen diese "Wahrheit" zu erzwingen.
Man beachte folgende aktuelle Aussage von Kauder:

"Wir müssen weiter diskutieren, ob die Betreiber der Plattformen nicht mehr tun müssen, um das Netz nicht nur von rechtswidrigen Inhalten frei zu halten, sondern von Lügen generell gerade in der politischen Debatte."
https://www.welt.de/debatte/kommentare/a...it-Schluss.html

Das eine solche Aussage nicht dazu führt, dass der entsprechende Politiker vom Hof gejagt wird, sagt viel über die Situation im Land aus.
Kauder fordert Zensur - ganz offen - und greift damit so ganz nebenbei noch das Grundgesetz an. Denn für den Fall, dass einige das vergessen haben sollten: selbst für den Fall, dass Menschen tatsächlich lügen würden -also bewusst die Unwahrheit über falsifizierbare Phänomene erzählen- Lügen ist schlicht und einfach ERLAUBT. Punkt, aus, Ende. Lügen ist ein Menschenrecht; das hat die ständige Rechtsprechung immer und immer wieder bestätigt. Es ist gibt lediglich Ausnahmen von dieser Regel - aber grundsätzlich kann ich Lügen, so viel ich will.

Tatsächlich wird es bei den von Kauder angesprochenen Fällen aber eher so sein, dass die Menschen gar nicht lügen - die glauben einfach was anderes.

Denn würde man Lügen tatsächlich eng auslegen: man müsste ja die Mehrheit der Menschheit wegen Lügen verklagen. Die meisten religiösen Menschen lügen in dem Sinne. Erfundene Geschichten und Mythen, die die Realität verdrehen... im engen Sinn erfüllt das doch das Kriterium "Lüge" im Kauderschen Sinn, oder nicht?

Es gibt natürlich endlos Menschen, die bewusst Lügen. Die meisten Politiker, Vorgesetzten, ... ach, eigentlich lügen alle. Immer. Es wird mehr gelogen als die Wahrheit gesagt.

Kauder ist ein wirklich ekelhafter Menschen und bedient voll den Mythos, den auch Merkel für sich beansprucht: wer gegen Merkel ist, der ist post-faktisch- eben ein Lügner, den man mit allen Mitteln der Staates verfolgen und Mundtot machen muss.

___________________
Kommunismus mordet.
Ich bin bereit, über die Existenz von Einhörnern zu diskutieren. Aber dann verlange ich außergewöhnlich stichhaltige Beweise.

dirk Offline



Beiträge: 1.538

21.11.2016 10:54
#7 RE: Postfaktisch - die gefühlte Realität Antworten

Zitat von Frank2000 im Beitrag #6
Post-Faktisch. Aha.
[...]
Kauder ist ein wirklich ekelhafter Menschen und bedient voll den Mythos, den auch Merkel für sich beansprucht: wer gegen Merkel ist, der ist post-faktisch- eben ein Lügner, den man mit allen Mitteln der Staates verfolgen und Mundtot machen muss.


Die Chuzpe ist, dass der Habitus die Ablehnung von Merkel oder der Zuspruch fuer AfD, Trump etc ist beruhe auf "Post-Faktischem" gerade das Musterbeispiel post-faktischer Politik ist. Man versucht ein Narrativ zu erzeugen, eine Schublade aufzumachen, ein Etikett auf etwas zu kleben und ignoriert dabei alles was diesem widerspricht. Merkel sagt im 21. Jahrhundert lassen sich keine Grenzen mehr sichern. Hmm, hat ueber tausende Jahre geklappt, klappt in den meisten anderen Laendern und wehe wenn Orban oder wer auch immer die Balkanroute abriegelt, was ja eigentlich, glaubt man Merkel, gar nicht ginge. Aber post-faktisch? Das sind die anderen!

dirk Offline



Beiträge: 1.538

21.11.2016 11:12
#8 RE: Postfaktisch - die gefühlte Realität Antworten

Zitat von dirk im Beitrag #7
Zitat von Frank2000 im Beitrag #6
Post-Faktisch. Aha.
[...]
Kauder ist ein wirklich ekelhafter Menschen und bedient voll den Mythos, den auch Merkel für sich beansprucht: wer gegen Merkel ist, der ist post-faktisch- eben ein Lügner, den man mit allen Mitteln der Staates verfolgen und Mundtot machen muss.


Die Chuzpe ist, dass der Habitus die Ablehnung von Merkel oder der Zuspruch fuer AfD, Trump etc ist beruhe auf "Post-Faktischem" gerade das Musterbeispiel post-faktischer Politik ist. Man versucht ein Narrativ zu erzeugen, eine Schublade aufzumachen, ein Etikett auf etwas zu kleben und ignoriert dabei alles was diesem widerspricht. Merkel sagt im 21. Jahrhundert lassen sich keine Grenzen mehr sichern. Hmm, hat ueber tausende Jahre geklappt, klappt in den meisten anderen Laendern und wehe wenn Orban oder wer auch immer die Balkanroute abriegelt, was ja eigentlich, glaubt man Merkel, gar nicht ginge. Aber post-faktisch? Das sind die anderen!


Und das ist Absicht. Die Damen und Herren sind sich sehr wohl bewusst, dass sie es sind die post-faktisch agieren. Nun fuerchten SIe, dass sie mit der Realitat konfrontiert werden, dass Ihr Luegengebaude - pardon, ich meine ihre sozial konstruierte Parallelwelt - als solche entlarvt wird. Und was tun sie dagegebn? Sie werfen genau das, was sie selbst tun den anderen vor und entwerten somit den Vorwurf. Entleeren ihn von allen bedeutsamen Inhalten. Exakt das, was vorher schon bei Begriffen wie "Gewalt, "Gleichberechtigung" etc geschehen ist. Ziel ist es, die sprachlichen Moeglichkeiten der Opposition zu zerstoeren ihre Kritik auszudruecken. Orwell at his best

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

21.11.2016 12:26
#9 RE: Postfaktisch - die gefühlte Realität Antworten

Zitat von dirk im Beitrag #8
Die Damen und Herren sind sich sehr wohl bewusst, dass sie es sind die post-faktisch agieren.

Das glaube ich nicht.
In einigen Punkten lügen sie bewußt (wie das in der Politik fast unvermeidlich immer wieder vorkommt). Aber viele grundlegende "postfaktische" Falschdarstellungen entsprechen völlig dem Weltbild dieser Leute und sie glauben selber daran.

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

21.11.2016 12:55
#10 RE: Postfaktisch - die gefühlte Realität Antworten

Zitat von Kallias im Beitrag #1
Immer wieder tauchen neue Schimpfwörter auf - dieses Jahr das "post-faktische Zeitalter". Ludwig Weimer macht sich in seinem neuen Beitrag darüber her.
Leider stimmt die Augustinus-Quelle nicht. In Buch 11, Kapitel 26 geht es um die Messung der Zeit.

Kallias Offline




Beiträge: 2.310

21.11.2016 13:08
#11 RE: Postfaktisch - die gefühlte Realität Antworten

Zitat von Emulgator im Beitrag #10
Leider stimmt die Augustinus-Quelle nicht. In Buch 11, Kapitel 26 geht es um die Messung der Zeit.
Sind Sie sich sicher, lieber Emulgator, dass Sie auch im Gottesstaat nachgeschlagen haben? Ich finde die Stelle dort ohne weiteres im Abschnitt 26 ("Das Abbild der höchsten Dreifaltigkeit in der Natur auch des noch nicht beseligten Menschen") des 11. Buchs.

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

21.11.2016 13:15
#12 RE: Postfaktisch - die gefühlte Realität Antworten

Zitat von Kallias im Beitrag #11
Zitat von Emulgator im Beitrag #10
Leider stimmt die Augustinus-Quelle nicht. In Buch 11, Kapitel 26 geht es um die Messung der Zeit.
Sind Sie sich sicher, lieber Emulgator, dass sie auch im Gottesstaat nachgeschlagen haben? Ich finde die Stelle dort ohne weiteres im Abschnitt 26 ("Das Abbild der höchsten Dreifaltigkeit in der Natur auch des noch nicht beseligten Menschen") des 11. Buchs.
Huch! Tatsächlich! Hätte mir ja auch auffallen können, daß Augustinus bekannte, die Zeit unwissend zu messen.

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

21.11.2016 17:03
#13 RE: Postfaktisch - die gefühlte Realität Antworten

Da ich zufällig in den Roman von Clive Staples Lewis „Die böse Macht“ (That Hideous Strength), Teil drei der Perelandra-Trilogie von 1945, hineinlas, fielen mir aus gegebenem Anlass drei Stellen auf, wo er inhaltlich unser Thema „Postfaktisch“/„post-truth“ erstaunlich aktuell berührt.
Ich teile die Stellen mit, zitiert nach den Übersetzern Schnack und Günther in der Hegner-Ausgabe von 1954 und nicht nach der Brumm-Übersetzung von 1981.
In diesem Roman geht es um die Gefahr, dass verrückte Wissenschaftler ohne Ethik experimentell versuchen, die Erde und den Menschen künstlich verbessern zu können.


„Die Anspielungen des primitiven Alten blieben für Mark unverständlich; er wusste nichts vom Leben eines Tramps auf der Landstraße, obwohl er einmal einen recht glaubwürdigen Artikel über das Vagabundentum geschrieben hatte.“ (296)

Im Kapitel „Erziehung zur Objektivität“ (!):
„‘Sie meinen also‘, antwortete Mark, ‚es sei sinnlos, die Frage zu stellen, ob die Welt in der Richtung dessen strebt, was wir >böse< nennen?‘ ‚Das ist vollkommen sinnlos‘, entgegnete Frost, ‚das Urteil, das Sie da fällen wollen, ist bei genauer Betrachtung nichts anderes als Ausdruck eines Gefühls. Selbst Huxley konnte es nur durch rein gefühlsmäßige Ausdrücke wie >gladiatorenhaft< oder >bedenkenlos< bezeichnen.‘“ (278)

„‘Natürlich haben Sie das Recht auf Ihre eigene Ansicht‘, sagte Jane beiläufig, doch auch etwas verwirrt.
Die Frauen fingen an zu lachen, als MacPhee mit etwas erhobener Stimme erwiderte: ‚Frau Studdock, ich habe keinerlei Ansicht – über nichts auf der Welt. Ich stelle Tatsachen fest und zeige die Folgerungen auf. Erlaubte sich jedermann weniger Ansichten‘, und er sagte es mit betontem Abscheu, ‚gäbe es nicht so viel eitles Geschwätz und gedrucktes Zeug in der Welt.‘“ (141)

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.560

21.11.2016 18:22
#14 RE: Postfaktisch - die gefühlte Realität Antworten

OT (oder vllt. auch nicht)

Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #13
Clive Staples Lewis „Die böse Macht“ (That Hideous Strength)


Da hängt eine hübsche Anekdote dran, die Arthur C. Clarke berichtet. Der Ende der 40er Jahre J.B.S. Haldane aufsuchte, als der ein Semester eine Gastprofessur in Oxford innehatte. Beide schwangen natürlich auf gleicher Wellenlänge: Wissenschaften, die Aussichten der Raumfahrt, die Ausmalung der Zukunft & verzettelten sich ausgiebig. Als Haldane Clarke weit nach 2 Uhr morgens zum Ausgang des Colleges geleitete, bleib er an einer Tür stehen, hinter der hektisches Schreibmaschinengeklapper hörbar war & fragte: "Do you know who that is? That is Professor Lewis. He has a full teaching schedule - but he just cannot help it. He just has to put me into his next novel, as a detestable villain."

Haldane hielt sich - und das wohl ganz zurecht - für das Urbild des Weston in Out of the Silent Planet & für die "Wissenschaftler ohne Ethik" in That Hideous Strength - nicht nur generell als Symbol einer blind morallos operierenden Wissenschaft, sondern speziell als Vertreter einer vorsätzlichen Skrupellosigkeit. McPhees "weniger Ansichten" findet sich in leichter Abwandlung etwa in "Daedalus, or Science and the Future" (1923) & "Of Possible Worlds" (1927) - immer als Begründung, was Wissenschaft eigentlich von bloßer opinio unterscheide. Haldanes ostentativer Marxismus & seine heftigen Angänge gegen jede Art von Religion überhaupt taten das ihrige dazu.

Zitat von Denim and Tweed Blog, 27 October 2010
Lewis derived the scientists' ideology, and one of the evil scientist characters in particular, from the writings and person of the evolutionary geneticist J.B.S. Haldane—which is not surprising, since Haldane was something of the Richard Dawkins of his day, a visible public advocate for the scientific worldview.



http://www.denimandtweed.com/2010/10/jbs...ified-head.html

Soweit mir bekannt. Ich stelle aber überrascht fest, daß Lewis sich hier bis in Einzelepisoden des Buchs hat anregen lassen ("überascht" dann doch weniger, weil man beim näheren Nachgraben immer wieder auf solche Übereinstimmungen stößt).

Zitat von D.& T.
What is surprising, though, is that Lewis may have had a perfectly good reason to connect Haldane to an artificially resurrected head: five years before the publication of That Hideous Strength, Haldane had narrated a film depicting just such an experiment. The film, "Experiments in the Revival of Organisms," depicts a series of blood transfusion procedures developed by a Soviet medical researcher, including the (apparent) revival of a dog's severed head. It's a fascinating cultural artifact in its own right, but it's even more interesting as an element in Haldane's personal history of mixing his scientific work with politics.



Ganz speziell zur Fehde Haldane : Lewis: Ersterer hat die 3 Romane in einer sehr polemischen Rezension in The Modern Quarterly, Autumn 1946 verrissen ("Auld Hornie, F.R.S." *), mit einer Fortsetzung "God and Mr. C.S.Lewis" im Rationalist Annual fürs Jahr 1948. Beide nachgedruckt in Everything Has a History, 1951 (S. 248-58 & 259-67). Lewis' Antwort auf no. 1 ist erst postum im Band Of Other Worlds, 1966 veröffentlicht worden. Zu dem Komplex Lewis & die Naturwissenschaften: Richard Jeffery, “C. S. Lewis and the Scientists,” The Chronicle of the Oxford University C. S. Lewis Society, 2:2 (Mai 2005).

Das Problem mit Lewis' Einlassungen über Ziele & Einstellungen der Wissenschaft liegt darin, daß man hier einen Blinden von der Farbe reden hört. Angesichts der polemischen Haltung etwa Haldanes (oder auch anderer aus seinem Umkreis, etwa H.G.Wells) ist das zwar im Einzelfall nachvollziehbar, trifft aber schon auf den größten Teil der tätigen Forscher nicht zu. Wer sich etwa die "Verbesserung", ob nun von Erde oder Mensch (nicht, daß das irgend Ziel einer namhaften Zahl gewesen wäre oder ist, es sei denn im zufällig-inkrementalen Sinn: etwa einen schnelleren Kochtopf zu hinterlassen. Oder den Autoklaven) zum Ziel nimmt, tut das ja aus dem genauen Gegenteil von Verantwortungs- & Morallosigkeit. In aller Regel ist auch der Vorwurf der Hybris fehl am Platz, da die beteiligten Wissenschaftler selbst am besten um ihre Grenzen und Beschränkungen wissen. Gerade in den drei Bänden der "Space trilogy" - dem Mars-Roman "Out of the Silent Planet", der Venus/Eden-Episode "Perelandra" & THS, springt einen naturwissenschafltich denkenden & mit Naturgesetzen vertrauten Menschen fast auf jeder Seite die Ahnungslosigkeit des Verfassers an, der allein in Symbolik & Emblematik zu denken scheint (bei einem durch-&-durch-Mediävisten vielleicht weniger überraschend) - etwa bei den sicher 50 Meter hohen Ozeanwellen gleich auf Auftakt des Venusromans: der Planet ist halt um so vieles näher an der Sonne, da gibt das stärkere Gezeiten. Die Szene ist von traumverlorener Berücktheit; allein die Begründung zieht subito den Stecker (Fictio: Perelandra besteht NUR aus Ozean; mit Ausnahme eines winzigen Inselchens, das dann als Bühne des - abgewendeten - zweiten Sündenfalls dient. Factio: "Während der Tidenhub im offenen Meer nur wenige Zentimeter beträgt...". Solargezeiten = 1/4 der lunaren; Zunahme der solaren Tide wg. 1/3 AE geringerer Entfernung = *~1,5). Mir selbst ist das in der Szene so gegangen, als Weston mit den seehundähnlichen Hrossi im Marskanal badet: die Schwerkraft auf dem Mars beträgt nur ein Drittel der irdischen, also taucht er ein Drittel so tief unter & kann keine Schwimmzüge ausführen. Von jemandem, der Archimedes' Prinzip des Auftriebs nicht ansatzweise begriffen hat, läßt man sich - irgendwie - weniger gern die Leviten in Sachen Sündhafte Wissenschaft lesen. Ja, ist nickelig, aber so funktioniert Lektüre nun mal.

Lewis selbst bewegt sich also, nicht tief untergetaucht, ganz im Postfaktischen.




* wo Haldane auch nicht allzuviel von der SF hält.

Zitat von Auld Hornie, F.R.S.
It is interesting to see how Mr. Lewis's ideology has affected his writing. He must obviously be compared with Wells and Stapledon, rather than with the American school of "scientifiction," which is a somewhat lower form of literature than the detective story. The criteria for fictional writing on scientific subjects are similar to those for historical romance. The historical novelist may add to established history. He must not deny it. He may describe the unknown private life of Hal o' the Wynd or Fair Rosamund. He must not contradict what little is known about them without sound reason given. In a scientific romance new processes or substances may be postulated, for example Cavorite, which is opaque to gravitation, or animals which reproduce by clouds of pollen. But apart from special cases our existing knowledge of the properties of matter should be respected. Wells occasionally broke this rule; for example, the giants in The Food of the Gods would have broken their legs at every step; but much may be forgiven a pioneer. Stapledon is much more scrupulous. Lewis's contempt for science is constantly letting him down. I wish he would learn more, if only because if he did so he would come to respect it.



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Dennis the Menace Offline




Beiträge: 459

21.11.2016 22:33
#15 RE: Postfaktisch - die gefühlte Realität Antworten

Zitat von Herrn Weimer im Blog
Meinungen, die durch Einbildung oder durch die Werbung oder durch politische Propaganda verbreitet wurden, stammen gar nicht aus der Erfahrung der Wirklichkeit, sondern waren Lügen und werden z. T. hartnäckig gegen diese geglaubt, z. B. Verschwörungstheorien.



Hmm.....es kann aber auch den Fall geben, dass etwas NICHT aus der Erfahrung der Wirklichkeit stammt und trotzdem keine Lüge ist. Oder sind Ideale und arbiträr Gedachtes Lügen? Die Empirie erzählt uns nicht alles über diese Welt, insbesondere wenig bis nichts darüber, was uns gewöhnlich am brennendsten interessiert: Die Zukunft und was da alles noch so kommt. Man könnte auch beispielsweise fragen: Kann ein Wollen aus Freiheit gelogen sein? Die Kategorie mit dem Faktischen/der Wahrheit und so passt also nicht immer so doll.

Zitat von Herrn Weimer im Blog
Gefühle verändern also die Fakten oder erschaffen Unwahrheiten.



Ein rezeptorisches System bezüglich des Zeugs da draußen braucht's aber allemal, damit wir die FAKTEN überhaupt sinnlich erfassen und anschließend kognitiv verwurschteln können. Und wenn uns dieses System betrügt? Und insoweit wie dieses System "Gefühl" heißt, bedeutet das übersetzt: Fehler? Dann darf man aber beispielsweise auch nix SCHÖN finden oder gar heiraten, zum Beispiel. Auch politisch ist nicht einzusehen, wieso es überhaupt Wahlen geben soll, wenn doch alles empirisch völlig klar, also so faktisch ist, so wie Sonne, Mond und Sterne. Dann machen wir doch einfach das, was faktisch richtig ist und die Sache hat sich. Wie kommt es aber, dass in der Denkungsart politikbezüglich der eine die Dinge so und der andere anders sieht? Zum Beispiel über Frau Merkel (soll bleiben/muß weg), obwohl es nur eine Frau Merkel gibt? WÄHLEN wird als großes demokratisches Ding gefeiert. Das verweist schon begrifflich auf eine, ich sach mal, gewisse Faktizitätsferne (wieso gibt's eigentlich keine Volksabstimmung über das Gravitationsgesetz?), derer man sich aber keineswegs schämen muss.

Zitat von Herrn Weimer im Blog
Mit dieser verspäteten Einsicht in die Alltagswelten der Unter- und Mittelschicht erklärt man jetzt auch die unzutreffenden Vorhersagen des Wahlsiegers in den USA. Die Klugen täuschten sich.



Glaub ich nitt (=halte ich für unwahr ). Die haben einfach ihre Wünsche in die Welt implantiert. Das ist grundsätzlich kein Skandal. Jeder macht das jeden Tag.

Zitat von Herrn Weimer im Blog
Ich denke, dass die alte Pilatusfrage, was Wahrheit sei, nur durch eine andere Frage zu beantworten ist: wie Pilatus lebte und wie Jesus lebte und wie ich.

Huch, auch nur eine gefühlte Wahrheit (?) von.........Ludwig Weimer



Wieso "nur", lieber Herr Weimer? Wenn man sich aus dem Gemischtwarenladen der Wahrheitskonzepte, den die Philosophie so präsentiert (an allen wird obendrein mit guten Gründen rumgemäkelt), ein Konzept aussuchen soll, das irgendwie nett ist und gut zu mir passt: Warum sich nicht einfach auf das Gefühl verlassen oder, ich sach mal, auf meinen eigenen philosophischen Hobbykeller? Dagegen spricht eigentlich nix, wenn ich dadurch in der Tat in der Wahrheit zu leben vermag. Die Vernunft hat den Wackelpudding namens Wahrheit noch nicht an die Wand genagelt, also die wahre Wahrheit, also die ganz, ganz wahre, noch nicht entdeckt .

lich
Dennis

Daska Offline




Beiträge: 245

22.11.2016 06:04
#16 RE: Postfaktisch - die gefühlte Realität Antworten

Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #5
Mit Pilatus und Jesus ist auf zwei gelebte Leben als Bandbreite des Maßes hingewiesen: schlaue Anpassung bis Sterben für seine Wahrheit.

Na ja, Pilatus ist es immerhin gelungen, zu erfüllen, was sein Auftrag war: In Jerusalem keinen Krieg ausbrechen zu lassen. Zumindest zu Lebzeiten.
Jeshua ben Marjam ist es nicht gelungen zu erfüllen, was sein Auftrag war: Israel neu zu sammeln. Zumindest zu Lebzeiten.
Ich will mit dieser Argumentation aufzeigen: Wenn es keine objektive Wahrheit gibt, gibt es auch keinen Maßstab, das Tun Jesu als besser zu qualifizieren als das von Pilatus. Dass Jesus für seine Wahrheit starb, während es Pilatus gelang zu überleben? War Marie Curie die bessere im Vergleich zu Albert Einstein, weil sie an den Folgen ihrer Forschung starb?

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.007

22.11.2016 09:38
#17 RE: Postfaktisch - die gefühlte Realität Antworten

Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #15
Auch politisch ist nicht einzusehen, wieso es überhaupt Wahlen geben soll, wenn doch alles empirisch völlig klar, also so faktisch ist, so wie Sonne, Mond und Sterne. Dann machen wir doch einfach das, was faktisch richtig ist und die Sache hat sich. Wie kommt es aber, dass in der Denkungsart politikbezüglich der eine die Dinge so und der andere anders sieht?

Lieber Dennis,

wenn man so argumentiert sitzt man dem zeitgeistigem Mißverständnis auf, welches in meinen Augen gleichzeitig das Unbehagen ist, das sich durch die Diskussion über das "Postfaktische" manifestiert. Dieses Mißverständnis (möglicherweise ist es auch mehr als das, dazu gleich noch ein paar Sätze) lautet: Politik dient der Wahrheitsfindung, bzw. hat die Aufgabe der Wahrheit Geltung zu verschaffen. Das ist Unsinn. Politik ist Interessensausgleich, sonst nichts und auch bei einer objektiv eindeutig feststehenden Wahrheit kann es legitime, diametrale Interessen geben.

Zu dem Punkt ob dies ein Mißverständnis ist folgende Gedanken:
Ich vermute nein, es ist kein Mißverständnis. Es ist wohl eher eine systematische Eigenart menschlichen Zusammenlebens. Ludwig Weimer beklagt in seinem Text ja (in meinen Augen völlig zu Recht), dass die Religion (das Christentum) seinen absoluten Wahrheitsanspruch aufgibt. Zu Recht deswegen, weil keine Religion ohne diesen Anspruch sein kann.

Historisch betrachtet hat man nun immer wieder erlebt, dass der Glaube (die Kirche) großen Einfluß auf die Politik nahm, mitunter völlig dominierte bzw. an ihre Stelle trat. Die Säkularisation trat dem entgegen, trennte Staat und Kirche.

Diese Säkularisation existiert aber heute nur noch, wenn man sie über offen auftretende Religionsgemeinschaften (Kirchen) definiert. Sie funktioniert nicht, wenn man den Begriff der Religion weiter fasst (was man in meinen Augen sollte), nämlich als den Anspruch auf „absolute Wahrheit. Wie gesagt hat Ludwig Weimer in meinen Augen völlig zu Recht die „Zerfaserung des christlichen Wahrheitsmonopols“ beklagt, weil ohne Wahrheit keine Religion sein kann. Der Umkehrschluß ist aber auch richtig: Die Frage nach (ontologischer) Wahrheit ist Religion.

Was wir daher nach meiner Meinung derzeit beobachten, ist eine Entsäkularisierung unserer Gesellschaft. Nur findet sie nicht dadurch statt, dass eine Religionsgemeinschaft die Politik beginnt zu dominieren sondern dadurch, dass die politischen Interessengruppen zu Religionsgemeinschaften (Im Sinne eines Wahrheitsanspruchs) werden.

Möglicherweise ist die Ausrichtung an einer Wahrheit ein tiefes Bedürfnis des Menschen im Hinblick auf seine soziale Organisationsstruktur und daher versucht sie immer wieder „hinein zu finden“. Ich habe das in unterschiedlichen Beiträgen der Vergangenheit immer wieder mal thematisiert in Zettels Raum: Der Mensch ein durch und durch religiösen Wesen mit dem Bedürfnis nach Wahrheit. Ich glaube genau das ist es auch, wenn man in der Politik immer wieder von Pseudoreligionen, wie Klimareligion, Gaia Schamanismus oder dergleichen spricht - wenn die moralische Wahrheit Begründung von Politik wird.

In meinen Augen dreht sich die Diskussion über das „Postfaktische“ genau um diesen Kern: Den Wiedereinzug des Religiösen in die säkulare Gesellschaft. Man hat nur einen neuen Begriff um das Phänomen zu beschreiben, weil man es nicht klar sieht in meinen Augen.

Der beschriebene Sachverhalt ist in meinen Augen übrigens auch der Ursprung der Anfälligkeit von Menschen für totalitäre Systeme, die ja nichts anderes als „weltliche Religionen“ sind. Absoluter Wahrheitsanspruch eben.

Genau aus diesen Aspekten heraus, habe ich auch immer mehr das Gefühl, das es mit der Aufklärung gar nicht so weit her ist heutzutage, wie die meisten glauben. Man fühlt sich ja den dunklen Zeiten des Mittelalters und der totalitären Systeme längst entwachsen. Aber man ist es nicht, weil man schon wieder beginnt Politik (Interessenvertretung) und Religion (Wahrheit) gleich zu setzen und genau das ist (wenn konsequent umgesetzt) der Quell vieler gesellschaftlicher Katastrophen der Vergangenheit gewesen, über die man heute gerne ungläubig den Kopf schüttelt.

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

Dennis the Menace Offline




Beiträge: 459

22.11.2016 22:28
#18 RE: Postfaktisch - die gefühlte Realität Antworten

Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #17
.....Dieses Mißverständnis (möglicherweise ist es auch mehr als das, dazu gleich noch ein paar Sätze) lautet: Politik dient der Wahrheitsfindung, bzw. hat die Aufgabe der Wahrheit Geltung zu verschaffen. Das ist Unsinn. Politik ist Interessensausgleich, sonst nichts und auch bei einer objektiv eindeutig feststehenden Wahrheit kann es legitime, diametrale Interessen geben......


Dank für die ausführliche Replik. Bin ganz einverstanden mit diesem und weiteren Argumenten in Ihrem Beitrag.

Man könnte jetzt aber darüber beckmessern, was INTERESSEN politisch gedacht eigentlich sind. Eine Abgrenzung zum Wahrheitsbegriff ist plausibel, indessen sind die großen, traditionellen politischen Systeme Liberalismus, Konservativismus, Sozialismus mit diversen Unterformen sowie auch Vermischungen wohl zumindest nah am Begriff IDEAL und sind außerdem: Kinder des Zeitalters, das im Allgemeinen als Aufklärung umschrieben wird.

Für die Vorstellung, wie die öffentlichen Angelegenheiten aussehen sollten, damit sie mir gefallen, und weswegen ich zu dieser Partei (falls die existiert) ja und zu jener nein (das geht immer leichter) sage, scheint mir der Begriff INTERESSE zu schwach. Manche träumen den Traum von "ideologiefreier" Politik, der indessen nur darauf beruht, von der eigenen Ideologie zu behaupten, sie wäre keine. Aber man denkt in diesen Angelegenheiten allemal in größeren Systemen, die mehr repräsentieren als private Vorteile und somit über den Begriff INTERESSE hinauszureichen.

Gut, die Wahrheit ist eine andere Liga. Sie gewinnt ihre Kraft dadurch, dass sie alternativlos und zwingend daherkommt, respektive so empfunden wird - und das ist in der Politik in der Tat nitt gerade konstruktiv, denn jenseits der Pyrenäen ist die Wahrheit eine andere - für den expliziten Christen Pascal, also von Paris aus gesehen, aber das stimmt eigentlich immer - insbesondere von Frankfurt aus nach Offenbach gesehen .

lich
Dennis

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.007

25.11.2016 11:31
#19 RE: Postfaktisch - die gefühlte Realität Antworten

Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #17
Möglicherweise ist die Ausrichtung an einer Wahrheit ein tiefes Bedürfnis des Menschen im Hinblick auf seine soziale Organisationsstruktur und daher versucht sie immer wieder [...] Der Mensch ein durch und durch religiösen Wesen mit dem Bedürfnis nach Wahrheit


Vielleicht noch eine Ergänzung zu diesem Gedanken, die den Drang des Menschen zur Religion möglicher Weise plausibel macht:

Ich bin durch Zufall auf ein Gespräch mit Norbert Bolz gestoßen in dem er - ausgehend von seiner Formulierung "die Religion hält die Wunde des Sinns offen" - die These vertrat, dass aller Sinn nur religiöser Natur sein kann, da der Mensch unmöglich aus sich selbst heraus Kriterien für ein gelungenes Leben entwickeln kann. Diese Kriterien können nur von außen an ihn herangetragen werden und damit stellt sich natürlich die Frage nach der (moralischen /ethischen) Legitimität dieser Kriterien für ein gelungenes Leben. Das führt nun unweigerlich zur Religion. Ein, so erscheint mir, einleuchtender Gedanke.

Wenn man weiter in Betracht zieht, dass das "Bewußtsein über sich selbst" bzw. die Selbstreflektion vielleicht der wesentliche "geistige Kern" des Menschen ist, ergibt sich daraus, dass der Mensch unmöglich diesen Fragen ausweichen kann und damit zwangsläufig religiös ist. Man könnte also vielleicht die wundervolle Formulierung "die Religion hält die Wunde des Sinns offen" von "hinten denken": "Religion ist eine Notwendigkeit des Menschen aus seiner Fähigkeit zur Selbstreflektion."

Dies würde erklären, warum es den Menschen immer wieder zu ethischen und moralischen Maßstäben als seinen Handlungsmaximen zieht. Und so erscheint es mir so klar wie folgerichtig / zwangsläufig, dass in dem Maße, wie sich die Kirchen aus dem Leben der Menschen zurückziehen, neue ethische und moralische Maßstäbe Einzug halten, von wem auch immer sie kommen. Und genauso zwangsläufig finden diese Maßstäbe, wenn sie akzeptiert sind, dann Einfluß in die Gesellschaft und werden damit zum Maß für die Politik.

Insofern erscheint mir ein säkularer Staat streng genommen als eine Utopie, zumindest wenn man Religion in dem Maße versteht, wie sie „die Wunde des Sinns“ offen hält, in dem Maße wie sie ethischer und moralischer Taktgeber ist. Unterschiede kann es wohl lediglich darin geben, wie Ethik und Moral institutionalisiert ist. Wie man heute aber auch sieht, braucht es eine Institution wie die Kirche nicht, um ein für die Politik verbindliches Moralkorsett zu erschaffen.

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

25.11.2016 22:47
#20 RE: Postfaktisch - die gefühlte Realität Antworten

Die Bestimmung der Religion, die Wunde des Sinns offen zu halten, erinnert mich daran, zu versuchen, mit einem ‚Begriff‘ auch zu definieren, wie sich die biblische Religion ihre Aufgabe vorstellte.

Welches Wort könnte hier den ethischen Maßstab wiedergeben? Ich denke, es müsste das Wort Freiheit sein. Denn der Sinn des Exodus, der Flucht aus dem ägyptischen Staat der Fleischtöpfe war für die Israeliten die Freiheit, in einem freien Land ihrem Gott dienen und ihre demokratisch-brüderliche Sozialordnung leben zu können.

Die Freiheit zur Selbstentfaltung als Raum für freies Denken und Experimentieren war für sie das hohe Gut. Sie kamen in ihrem schmalen Landzipfel durch ihr befreites Denken zu dem religionskritischen Gedanken, dass der große Schöpfer des Himmels und der Erde ganz anders sei als die Götter der großen Weltmächte. Und später, als sie im Exil saßen, durch ihre innere Freiheit auf den Gedanken, dass die Götter der Völker gar keine Existenz hätten, dass sie Nichtse seien.
Natürlich wollten sie in ihr Land zurück und verteidigten diesen Wunsch bis zur Unsinnigkeit des letzten Aufstands gegen die Römer. Dann brauchten sie das eigene freie Land für 1800 Jahre gar nicht mehr, scheinbar.

Ihre Ethik der Brüderlichkeit als Antwort auf die Wunde des egoistischen Menschen reizte zum Widerspruch, weil sie die menschliche Natur zu überfordern schien. - Vielleicht das tiefste Motiv für den rassischen Antisemitismus?

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