Viel war in den letzten Monaten vom Anstand die Rede, dessen Boden insbesondere Donald Trump in seinem Präsidentschaftswahlkampf verlassen haben soll. Die seitdem gehörten Appelle, doch endlich wieder anständig zu sein, sind scheinheilig, weil sie von jenen kommen, die in der jüngeren Vergangenheit gerne einmal fünfe gerade sein ließen, wenn es nur gegen bzw. um die richtigen Ziele ging.
Dem öffentlichen Diskurs fehlt es nach Ansicht des Verfassers nicht an Anstand (was ist das eigentlich?), sondern an Fairness.
Da es gerade so schön zu diesem neuen Thread passt: Hier die Begründung für meine Kündigung bei XIng, die ich heute veranlasst habe.
Zitat Heute kündige ich meinen Account bei XIng. Obwohl die Post inzwischen deutlich mehr bei LinkedIn abgeht, habe ich XIng immer die Treue gehalten. Auslöser für meinen Entschluss ist nun allerdings die Posse um den Weggang von Herrn Tichy. Herr Tichy ist ersichtlich Opfer eines Shitstorms geworden, der in keinem Verhältnis zu dem eigentlichen Vergehen steht – ein Vergehen, für dass sich Herr Tichy im Übrigen entschuldigt hat und das in keiner Weise etwas mit seiner Arbeit bei XIng zu tun hatte. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier ein Vorwand gesucht wurde, um gezielt gegen Herrn Tichy zu feuern – und das offenbar mit Erfolg und ohne jegliche Gegenwehr durch XIng. Ich – und wahrscheinlich auch so manch anderer Nutzer – hätte sich sicher ein deutlicheres Zeichen der Unterstützung für einen namhaften deutschen Publizisten erwartet. So aber nehme ich zur Kenntnis, dass es offenbar kein Interesse bei XIng gibt, langjährige, mitten im Berufsleben stehende und politisch liberal-konservativ denkende Mitglieder zu halten, die die Arbeit von Herrn Tichy für wichtig erachten – ohne seine Meinungen freilich in allen Punkten zu teilen. Daraus ziehe ich meine Schlüsse.
Zitat von Noricus im Beitrag #1Dem öffentlichen Diskurs fehlt es nach Ansicht des Verfassers nicht an Anstand (was ist das eigentlich?), sondern an Fairness.
Eine sehr schöne Darstellung. Auch wenn im Zuge der PC-Kultur auch in den USA da inzwischen große Defizite entstanden sind - bei der Diskussionskultur könnten die Deutschen viel von den Angelsachsen lernen.
Etwas anders sehe ich nur den Punkt mit der "Waffengleichheit". Erstens einmal gibt es die schon im Strafrecht nicht. Wenn es 20 Ermittler braucht, um einen Mörder zu überführen, dann werden die auch eingesetzt. Und deswegen bekommt er noch lange keine 20 Verteidiger. Und auch in der öffentlichen Diskussion kann es keinen Anspruch auf "Gleichberechtigung" geben. Wenn jemand meint, die Erde wäre doch eine Scheibe - dann hat er weder ein Recht auf einen Artikel in der FAZ noch generell auf gleiche Repräsentation mit den 999 999 anderen Leuten, die das gegenteilig sehen.
Es ist schlicht eine journalistische Entscheidung, welche Positionen berichtenswert sind und welche nicht (Nebenbei: Die meisten sind es nicht). Und es ist eine Frage der verlegerischen Klugheit, dabei keine Positionen wegzulassen, die die Kundschaft interessieren könnten.
100% Zustimmung. Es ist mehr als entlarvend, wenn Begriffe wie "Fairness", aber auch "Rechtsstaatlichkeit", "freie Meinungsäußerung", ... diskreditiert werden. Also alle Begriffe diskreditiert werden, die irgendwie messbar sind und auch dem ungeliebten Gegner ("Populisten", "Rechten", "Neoliberalen", ...) zur Verfügung stehen würden.
Statt dessen werden ausschließlich Begriffe eingeführt, die unbestimmt und allein mittels Marktmacht formbar sind. Denn das schöne an "Anstand" ist ja aus Sicht der Machthaber, dass tatsächlich die "Mehrheit" den Begriff "Anstand" formt. Was gestern Anstand war, kann heute altbacken sein und es können neue Anstandsformen entstehen. Der Begriff Anstand eignet sich also perfekt, um politische Neulinge zu diskreditieren, weil beim Anstand IMMER die Mehrheit Recht hat.
___________________ Kommunismus mordet. Ich bin bereit, über die Existenz von Einhörnern zu diskutieren. Aber dann verlange ich außergewöhnlich stichhaltige Beweise.
Zitat von Noricus im Blog...eine Frage weniger des Anstandes, sondern vielmehr eines gesetzestreuen Betragens darstellt. Es dürfte jedermann einleuchten, dass es nicht nur unanständig, sondern vielmehr hochgradig kriminell ist, Asylbewerberunterkünfte anzuzünden...
Wobei ja die Wiederbelebung der "Anständigkeit" (nachdem der Begriff in den 60ern ja ziemlich systematisch als Merkmal des überkommenen Muffs diskreditiert worden war) ja in diesem Zusammenhang gestartet wurde, mit Schröders Aufstand der Anständigen. Die Präjudizierung wurde wie zwei Jahre später in Sebnitz in Kauf genommen. Insofern darf man seitdem die alleinige Geltung der Gesinnungsethik vor der Verantwortungsethik in der deutschen Politik festgestellt werden.
"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire
Zitat von Noricus im Beitrag #1Dem öffentlichen Diskurs fehlt es nach Ansicht des Verfassers nicht an Anstand (was ist das eigentlich?), sondern an Fairness.
Was Anstand ist? Für meinen Sprachgebrauch sind es Tischmanieren, sich nicht unpassend zu entkleiden, nicht über Tote zu lästern usw. Anstand bei dem einen verhindert Anstoß bei dem anderen. Für manche ist Anstand, wie @Ulrich Elkmann erinnert hat, mit Mief/Muff verbunden. Unanständig zu sein ist jedenfalls bei weitem nicht so arg zu ächten wie richtig unmoralisches Verhalten. Wenn ich den Begriff Anstand in einem ganz anderen Kontext höre (eben wie bei Kanzler Schröder), dann frage ich mir unwillkürlich, ob der Sprecher mit der Sprache oder mit seinen Gedanken nicht umzugehen weiß.
Der "Anstand" sollte sich in der öffentlichen Diskussion spätestens mit dem ersten Aufstand seiner Jünger erledigt haben.
-- Bevor ich mit den Wölfen heule, werd‘ ich lieber harzig, warzig grau, verwandele ich mich in eine Eule oder vielleicht in eine graue Sau. (Reinhard Mey)
Zitat von R.A. im Beitrag #3Etwas anders sehe ich nur den Punkt mit der "Waffengleichheit". Erstens einmal gibt es die schon im Strafrecht nicht.
Doch. Sie hat nur eine andere Bedeutung als die von Dir angeführte. Die Waffengleichheit stellt nicht auf numerische Gleichheit, sondern auf eine Gleichheit der prozessualen Möglichkeiten ab.
Zitat von R.A. im Beitrag #3Wenn es 20 Ermittler braucht, um einen Mörder zu überführen, dann werden die auch eingesetzt.
Ja, natürlich. Das hängt mit der spezifischen Beweislastverteilung im Strafverfahren zusammen. Wenn der Schuldbeweis nicht gelingt, ist freizusprechen, auch wenn kein einziger Entlastungsbeweis existiert. Dies klingt vielleicht paradox, kommt in der Praxis aber recht häufig vor, nämlich dann, wenn sich die belastenden Beweismittel in entscheidenden Punkten widersprechen oder auf sehr dünnem Eis bewegen. Das verstehen auch viele Juristen nicht, die dann groß und breit betonen, dass der Freispruch ja nur im Zweifel und aus Mangel an Beweisen ergangen sei.
Zitat von R.A. im Beitrag #3Und auch in der öffentlichen Diskussion kann es keinen Anspruch auf "Gleichberechtigung" geben. Wenn jemand meint, die Erde wäre doch eine Scheibe - dann hat er weder ein Recht auf einen Artikel in der FAZ noch generell auf gleiche Repräsentation mit den 999 999 anderen Leuten, die das gegenteilig sehen.
Da hast Du schon Recht. Es gibt aber einen Unterschied zwischen der flat earth theory und einer monatelangen Debatte über einen Sachbuch-Bestseller.
Zitat von Noricus im Beitrag #1Dem öffentlichen Diskurs fehlt es nach Ansicht des Verfassers nicht an Anstand (was ist das eigentlich?), sondern an Fairness.
Was Anstand ist? Für meinen Sprachgebrauch sind es Tischmanieren, sich nicht unpassend zu entkleiden, nicht über Tote zu lästern usw.
Frank2000 hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das Verständnis dessen, was Anstand ist, von der Mehrheit und damit vom Zeitgeist geprägt wird. Bei den Tischmanieren und der Einschätzung, welches Entkleiden als unpassend zu gelten hat (man vergleiche die Bademode von heute mit früher), ist dies auch ziemlich offensichtlich.
Zeitlos stilvolle Verhaltensweisen würde ich eher mit dem Etikett Takt bezeichnen.
Alexander
(
gelöscht
)
Beiträge:
15.01.2017 21:04
#10 RE: Der Aufstand um den Anstand und das Hauptgebot der Fairness
Zitat von R.A. im Beitrag #3Etwas anders sehe ich nur den Punkt mit der "Waffengleichheit". Erstens einmal gibt es die schon im Strafrecht nicht. Wenn es 20 Ermittler braucht, um einen Mörder zu überführen, dann werden die auch eingesetzt. Und deswegen bekommt er noch lange keine 20 Verteidiger.
Den Unterschied zwischen Ermittlern und Anklägern kennen Sie aber schon?
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