ich wollte schon gestern etwas zu dem Thema schreiben, habe dann aber keinen Ansatz gefunden. Es gibt viele Ansätze 'Heimat' zu beschreiben, ich glaube aber, dass 'Heimat' jeder Mensch ein bisschen anders empfindet. Da sind irgendwie alle Elemente drin, die Sie beschrieben haben, wie aber will man emotionale Beziehungen in ein einheitliches Format packen? Meine Eltern sind beispielsweise von der Stadt auf das Land umgezogen als ich vier Jahre alt war. Ich habe zu dem Ort nie etwas entwickelt, was ich als ausgeprägtes Heimatgefühl sehen würde, wenn ich aber mal von Auslandsreisen zurückgekommen bin, dann habe ich die Region wieder gesehen wie einen Jungbrunnen, habe auch alles bewusster wieder wahrgenommen als im sonstigen Alltag. Meine Geschwister haben auch alle einen unterschiedlichen Heimatbezug entwickelt.
Dann sehe ich beispielsweise an meiner Frau, die kurz nach der Wende in den Westen ging, und die zwar wegen der 'Enge', wie sie sagt, nie zurückgehen wollte, sie aber trotzdem mit zunehmendem Alter gerne in die Heimat reist, wo sie diese dann völlig verändert 'inhaliert'.
Ich sehe es an einem Freund, der in jüngeren Jahren die halbe Welt bereiste, in Deutschland seine (spätere) brasilianische Frau kennen lernte, zwanzig Jahre in Südamerika lebte, immer häufiger hierher zurückgekommen ist, die erwachsenen Kinder jetzt zur deutschen Ausbildung für ein paar Jahre mitgebracht hat und hier vorübergehend? wieder wohnt. Die Frau geht in Brasilia weiter ihrem Beruf nach und kümmert sich um ihre Eltern. Nur, so kosmopolitisch der Freund scheint, die Heimat ist für ihn ein unglaublich starker Magnet, und das scheint mit zunehmendem Alter stärker zu werden.
Ich kann das nicht analysieren, nur an beobachteten Beispielen beschreiben.
Beim Studium hatte ich einige Vietnamesen gekannt. Von denen die zum Studium gekommen waren hatten die meisten den Wechsel nach Deutschland problemlos geschafft, einige hatten aber stark mit Heimweh gekämpft. Als nach dem Fall Südvietnams Flüchtlinge kamen die nicht die obere Bildungsschicht waren, hat sich der Prozentsatz derer erhöht, die große Schwierigkeiten hatten hier Wurzeln zu schlagen. Ich denke, Heimweh und Heimat sind verwandt.
Alle diese Beobachtungen sagen mir, dass 'Heimat' sehr individuell ist. Wenn das so ist, wird es auch nur eine unscharfe Definition geben können.
Ein wunderschöner, zum reflektieren anregender Text, lieber Noricus!
Mir scheint, daß mir aufgrund mehrerer Umzüge während meiner Kindheit die Verbundenheit mit einem bestimmten "Flecken Erde" vorenthalten geblieben ist. Früher hätte ich gesagt "Niedersachsen", aber der Weg von der kleinen Harzgemeinde über die in der Nazizeit am Reißbrett entstandene Retortenstadt Salzgitter schließlich nach Hannover ist wiederum ein mit Blick auf die jeweiligen Lebensräume weiter gewesen. Zuhause bin ich nun seit vielen Jahren im Sauerland ("Zuhause ist da, wo man die Todesanzeigen liest"; Sibylle Berg). Heimatliche Gefühle hatte ich zumeist wenn es mich mal in die Welt verschlagen hat ("Nur wer fortgeht, kann heimkommen"; Luis Trenker), und sie beziehen sich letztlich auf den gesamten deutschen Sprach- und Kulturraum, mit Betonung auf den Sprachraum. Ich glaube, Heimat entsteht z. T. eben auch über ihr Gegenstück, die Fremde. So gesehen hat bereits der Flughafen Frankfurt in der Vergangenheit Gefühle von Heimkommen, von Zugehörigkeit ausgelöst...
Wo ist das Foto entstanden?
Nochmals danke für den Text und herzliche Grüße, Andreas
"Man kann einen gesellschaftlichen Diskurs darüber haben, was Meinungsfreiheit darf. Oder man hat Meinungsfreiheit." (Christian Zulliger)
vielen lieben Dank für deine Gedanken. Vor allem aber auch für den Link auf den Text von Martenstein. Ich wußte gar nicht, dass er Mainzer ist. Selbst ein gebürtiger Mainzer, aufgewachsen etwas außerhalb im Herzen Rheinhessens, um dann die Studienjahre in Mainz zu verbringen, habe ich noch nie eine so treffende Beschreibung meiner selbst gelesen:
Ja das ist Reinhessen. Und für mich Heimat. Vor allem, dass sich kleinbürgerlich und tolerant nicht ausschließen, dass ist das Besondere an meiner Heimat.
Und darin münden auch die ergänzenden Gedanken zu deinen, welche mir noch in den Sinn kamen. Heimat ist Gewohnheit und die ins Erwachsenenleben verlängerte Geborgenheit der Kindheit.
Für mich macht sich diese "verlängerte Geborgenheit" an vielen Dingen fest. An Familienstrukturen, geprägt von dieser herzlichen, kleinbürgerlichen Toleranz. Aber auch an Orten und Ereignissen. Als sechsjähriger habe ich mein erstes eigenes Geld bei der Traubenlese verdient, als Jugendlicher bin ich durch die Weinberge mit ihrer süßen Trester- und Traubenschweren Luft gejoggt. Ich habe jetzt noch den Dieselgeruch in der Nase, wenn die Traktoren abend an der Kelter die Maische entluden und wir danach müde und geschafft nach der Traubenlese beisammen saßen. Wenn ich im Herbst morgens in meinem Bett aufwachte, hörte ich als erstes die Starenschußapperate knallen und wenn ich im Frühjahr abends die Sonne untergehen sah, hatte ich eine sanfte Hügellandschaft, wie in der Toscana vor Augen.
Sobald ich heute auf dem Weg zu meinen Eltern wieder den ersten Weinberg von der Autobahn aus sehe, weiß ich: Ich bin wieder Zuhause. In meiner Heimat. Hier finde ich auf ewig die sorgenfreie Geborgenheit meiner Kindheit. Und manchmal habe ich dabei eine Träne im Auge.
Herzlich
nachdenken_schmerzt_nicht
"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu
Zitat von Doeding im Beitrag #3 Wo ist das Foto entstanden?
Lieber Andreas,
zunächst einmal: Schön, von Dir zu lesen!
Der Standort, von dem ich das Bild aufgenommen habe, ist ein idyllisches Fleckchen im Grenzgebiet zwischen Berchtesgadener und Salzburger Land. Etwa in der Bildmitte sieht man den Obersee und dahinter das Südende des Königssees. Die durch ihre Höhe auffallenden Berge im Hintergrund sind (links) der Große Hundstod (der heißt wirklich so) und (rechts) der Watzmann.
Zitat von Doeding im Beitrag #3Ein wunderschöner, zum reflektieren anregender Text, lieber Noricus!
Dem schließe ich mich gerne an !
Zitat von Doeding im Beitrag #3Mir scheint, daß mir aufgrund mehrerer Umzüge während meiner Kindheit die Verbundenheit mit einem bestimmten "Flecken Erde" vorenthalten geblieben ist. Früher hätte ich gesagt "Niedersachsen", aber der Weg von der kleinen Harzgemeinde über die in der Nazizeit am Reißbrett entstandene Retortenstadt Salzgitter schließlich nach Hannover ist wiederum ein mit Blick auf die jeweiligen Lebensräume weiter gewesen. Zuhause bin ich nun seit vielen Jahren im Sauerland ("Zuhause ist da, wo man die Todesanzeigen liest"; Sibylle Berg). Heimatliche Gefühle hatte ich zumeist wenn es mich mal in die Welt verschlagen hat ("Nur wer fortgeht, kann heimkommen"; Luis Trenker), und sie beziehen sich letztlich auf den gesamten deutschen Sprach- und Kulturraum, mit Betonung auf den Sprachraum. Ich glaube, Heimat entsteht z. T. eben auch über ihr Gegenstück, die Fremde. So gesehen hat bereits der Flughafen Frankfurt in der Vergangenheit Gefühle von Heimkommen, von Zugehörigkeit ausgelöst...
Interessant, lieber Andreas, wie sehr das meinem Empfinden gleicht. In Berlin geboren, als kleines Kind nach Niedersachsen gezogen, dort studiert und dann etwas in Deutschland und Europa herumgezöggelt, mit Verwandten in Westfalen und Schwaben. Und jetzt wohnhaft in Baden. Wo ist meine Heimat? Keine Ahnung. Ich war neulich zu einem Jahrgangstreffen mal wieder in den vertrauten niedersächsischen Gefilden. Klar kommt da schnell wieder Vertrautheit auf, aber interessanterweise kein Heimatgefühl. Das habe ich am ehesten in der Stadt, von der ich am wenigsten bewusst mitbekommen habe, in Berlin - allein schon der Sound und die Patzigkeit der Leute dort lässt mir das Herz aufgehen, vielleicht weil mich das an meine Mutter und das Kreuzberg meiner Großeltern erinnert. Aber ist das nun meine Heimat? So richtig nicht, auch wenn die Straße, in der wir damals wohnten, genau so hieß
So habe ich nun, ach, mich durch diverse deutsche und ein paar europäische Landstriche geschlagen, auch viel von der Welt gesehen, und als Zugewinn an Klugheit blieb übrig: Meine Heimat ist Deutschland, egal wo da. Das, was mir an Heimat wichtig ist, der gemeinsame kulturelle Hintergrund (und da denke ich weniger an Schiller und Goethe als an Otto und Loriot...), die Selbstverständlichkeit der zu beachtenden Regeln und last but not least das vertraute moderne Straßenbild (dessen drastischer Wechsel bei fast jeder innereuropäischen Grenzüberschreitung verblüfft, trotz des alten Unterschieds von Reetdach- zu bayerischem Bauernhaus), die bekomme ich in jedem Landesteil, und mit den Eigenarten könnte ich überall blendend leben.
Mir scheint auch fast, als habe die lokale Unrast auf die geistige abgefärbt: Ich habe schon diverse Gedankengebäude bewohnt, kann aber davon keins als wahre Heimat empfinden. Und das einigende Band fehlt hier - könnte man Individualismus als solches bezeichnen?
Familie? So gut wie nicht vorhanden. Eigene nincs, und nahe Verwandte sind physisch vor allem ferne. Peer Group? Ich fühle mich bei IT-Nerds eigentlich ganz wohl, weil ich deren meist trockenen Humor mag, bin aber selbst keiner. Mit den Kreisen, die meiner Profession (und dem Außenbild dieser) entsprechen, möchte ich hingegen eher weniger zu tun haben, weil ich das meiste Gehabe dort verachte.
Aber ein schrecklicher Gedanke drängt sich mir auf: Ist meine Heimat vielleicht gar das Netz?
-- Bevor ich mit den Wölfen heule, werd‘ ich lieber harzig, warzig grau, verwandele ich mich in eine Eule oder vielleicht in eine graue Sau. (Reinhard Mey)
Lieber Noricus, und lieber nachdenken schmerzt nicht,
am 25. 1. habe ich hier im kleinen Zimmer in einer Antwort auf Emulgator den autobiogr. Satz geschrieben: "Ich war ein eigenartiger Patriot: Meine Herzensheimat war als Gymnasiast das alte Griechenland, dann wurde es das alte Israel ..." Ich fühle mich angeregt, dies zu ergänzen: Wenn wir Studenten 1964-1967 in den schweizer oder intalienischen Bergen in Hütten nach der Herkunft gefragt wurden, haben wir uns so geschämt, Deutsche zu sein, dass wir logen: in Italien sagten wir: Österreicher, in Östereich sagten wir: Schweizer. Dabei hatte ich auch 20 Jahre eine Kindheit und Jugend mit innigster unterfränkischer Heimaterfahrung und hatte nicht einmal ein Problem mit meinem Vater: der war gegen die Nazis, wechselte seinen Beruf (Polizist) und war Weinhändler - baute auch selbst Wein an - und Versicherungsagent geworden. Nach seinem frühen Tod 1943 war ich der einzige Mann im Haus ( mit Mutter und 4 Schwestern) und übernahm die entsprechenden Buben-Arbeiten im Stall, im Wald, auf den Feldern. Mit 10 Jahren, die Fortsetzungsromane in der Lokalzeitung "Volksblatt" lesend, wurde für mich der Magnet: werde in jedem Fall in München studieren, nah bei den Bergen. Las mit 17-19 die Romantiker und liebte heiß die Natur, ganz pantheistisch. Nach dem Abitur , verabschiedete ich mich buchstäblich von meinen Lieblingsapfelbäumen, legte die Hand an ihren Stamm und sagte im Herzen: Tut mir leid, ich muss in die Stadt, ich muss in der kranken Gesellschaft leben, ich will wissen, woran das liegt, muss ihr Teil werden. Die erste Zeit kam ich noch in den Ferien nachhaus und half weiter, innerlich war ich schon im alten Orient und im alten Israel, weil mich die Bibel beschäftigte. Schon genoss ich die lieblichen Hügel Unterfrankens wie ein fremder Tourist, für mich begannen Berge jetzt erst bei den Drei Zinnen und beim Großvenediger. Die "Heimat" wurden Bücher: Feuerbach, Hegel, Kierkegaard, Nietzsche, aber auch, im Bett, Hölderlin und Stifter, Handke.
Heimat ist für mich ein Begriff für die Denk- und Wertewelt. Die lokale Heimat ist mir zum Herkunfts- und Auszugsland geworden, teils Paradies der Kindheit, teils - ich will es mit Thomas Bernhard sagen - leider auch übliche Hölle. Mit Grüßen Ludwig Weimer
Zitat von Noricus im Beitrag #1Was ist Heimat? Ein Ort, ein Gefühl, eine Menschengruppe, ein geistiges Umfeld?
Eine sehr gute Frage! Mir war nicht bewußt, daß man "Heimat" eigentlich nicht in andere Sprachen übersetzen kann. Ist offenbar so etwas typisch Deutsches wie "Gemütlichkeit".
Das englische "home" meint ja eher das Elternhaus, "my country" oder die patria-Varianten der romanischen Sprachen sind eher "Vaterland". Und "Heimat" ist irgendwie dazwischen, so zwischen Stadtviertel und Region.
Und da kann man durchaus mehrere Heimaten haben. Bei mir ist erstaunlicherweise die Jugendzeit am wenigsten relevant. Der Ort wo ich die ersten 20 Jahre meines Lebens verbracht habe, ist mir nicht Heimat. Ich erinnere mich gerne an einige Orte, Menschen, Erlebnisse - aber wir waren dort immer die Zugereisten und der Kontrast zu den Einheimischen war immer klar. Die wesentliche Heimat ist daher der Ort, in dem ich seit dem Studium lebe, in dem ich meine Frau (und meinen Fußballverein) gefunden habe und in dem meine Kinder aufgewachsen sind. Und daneben fühle ich mich noch Gegenden heimatlich verbunden, in denen ich nie gelebt habe: Der Heimat meiner Familie mütterlicherseits, die ich oft besucht habe und wo ich noch reichlich Verwandte habe. Und erstaunlicherweise sogar die Heimat meiner Familie väterlicherseits, in der ich nur zweimal wenige Tage war und wo nur noch wenige entfernte Verwandte wohnen, zu denen wir keinen Kontakt haben. Aber durch die Familiengeschichte und die lebendigen Erzählungen von Großmutter, Vater und Tante fühle ich mich da heimischer als dort, wo ich aufgewachsen bin.
Zitat von Werwohlf im Beitrag #6 Aber ein schrecklicher Gedanke drängt sich mir auf: Ist meine Heimat vielleicht gar das Netz?
Eine wirklich interessante Vorstellung, lieber Werwohlf. Ich vermute, daß eine Art "Beheimatung" im Netz tatsächlich möglich ist - im Sinne einer Parallelexistenz als Pseudonym, wie Du es ja zweifellos seit vielen Jahren so hältst. Hängt man dagegen mit dem bürgerlichen Namen mit drin, scheint dies weniger möglich zu sein -ein echter Nachteil dieser Variante, wie mir inzwischen scheint. Bestimmte innere Distanzierungen und humoristische Rettungsinseln sind dann weniger möglich, und Verdrießlichkeiten schlagen viel mehr auf die "reale" Person durch, was dann zuweilen zu ausgeprägten Rückzugsverhalten führen mag ;)
Ansonsten fand ich die Parallelen zu Dir ebenfalls witzig. Sozusagen eine "Beheimatung im Unbehaustsein".
Herzliche Grüße, Andreas
"Man kann einen gesellschaftlichen Diskurs darüber haben, was Meinungsfreiheit darf. Oder man hat Meinungsfreiheit." (Christian Zulliger)
Zitat von Doeding im Beitrag #9Ich vermute, daß eine Art "Beheimatung" im Netz tatsächlich möglich ist - im Sinne einer Parallelexistenz als Pseudonym, wie Du es ja zweifellos seit vielen Jahren so hältst. Hängt man dagegen mit dem bürgerlichen Namen mit drin, scheint dies weniger möglich zu sein -ein echter Nachteil dieser Variante, wie mir inzwischen scheint. Bestimmte innere Distanzierungen und humoristische Rettungsinseln sind dann weniger möglich, und Verdrießlichkeiten schlagen viel mehr auf die "reale" Person durch, was dann zuweilen zu ausgeprägten Rückzugsverhalten führen mag ;)
Ein interessanter Punkt: Ich schrieb ja oben, dass meine Eltern irgendwann von der Stadt auf das Land umgezogen waren, damals eine Gemeinde mit 1000-2000 Einwohnern. Da wusste eigentlich Jeder von Jedem, auch Eskapaden, Jugendsünden, Ehestreitigkeiten, unterschiedlichste bis extreme politische Einstellungen, usw., d.h. ähnlich einem offenen Netz, mit dem Unterschied, dass dies Mund zu Mund Information war, und nichts, das in der Regel zehn Jahre später nachlesbar war. Die Menschen konnten in diesem Umfeld gut zusammenleben und auch zusammenarbeiten. Wo ist der Unterschied zum Netz?
Vermutlich spielt eine Rolle, dass man Menschen, die man in ihrer Gesamtheit erlebt auch anders beurteilt, als aus ein paar Zeilen. Des Weiteren spielt sicher eine Rolle, dass man sich bewusst ist, dass man selbst kein Engelchen ist. Drittens dürfte die Vergangenheit gegenüber dem Aktuellen zurückfallen, und wenn nichts in schwarz auf weiß dokumentiert ist, kann man Altes nicht so einfach wieder in Erinnerung rufen. Das hieße, die Menschen können durchaus nicht-anonym miteinander auskommen, es sind wohl einige Attribute des Netzes, die den Unterschied ausmachen. Ich hatte mich beispielsweise in den Anfangszeiten der Foren auch mal mit Foristen persönlich getroffen, auch bis spät in die Nacht diskutiert. Danach war der Umgang verändert, irgendwie verständiger.
Zitat von Martin im Beitrag #10Das hieße, die Menschen können durchaus nicht-anonym miteinander auskommen, es sind wohl einige Attribute des Netzes, die den Unterschied ausmachen. Ich hatte mich beispielsweise in den Anfangszeiten der Foren auch mal mit Foristen persönlich getroffen, auch bis spät in die Nacht diskutiert. Danach war der Umgang verändert, irgendwie verständiger.
Natürlich ist das so, wenn andere Ebenen der Kommunikation dazu kommen. Selbst, wenn man diese dann soäter im Netz nicht mehr hat, fühlt man sich sicherer darin, die Aussagen des Anderen zu interpretieren, weil man eben mehr von dessen Persönlichkeit erfahren hat.
Was das Netz aber leistet, ist, Menschen mit gleichen Ansichten zusammenzuführen. Die vielgescholtene Filterblase ist in diesem Sinn ja auch so eine Art "Heimat" - ein - wenn auch virtueller - Raum, in dem man sich "zu Hause" und verstanden fühlt. Und so, wie es jedem mal gut tut, die Grenzen des eigenen Sprengels zu verlassen, so ist auch der hin und wieder praktizierte Ausbruch aus der Filterblase eine sinnvolle Sache. Hinterher kann man dann mit neuen Erkenntnissen wieder zurückkehren. Durch das Netz ergeben sich so auch ganz neue "Heimaten": Wo man früher noch dachte, man sei der einzige Mensch mit einer bestimmten Meinung oder Vorliebe, findet man jetzt meist problemlos mehrere Gleichgesinnte, dank der Überwindung der räumlichen Grenzen und dank der möglichen (für die meisten nicht aufzulösenden) Anonymität. Auch das ist natürlich Fluch und Segen zugleich, von einer übergeordneten Warte aus betrachtet, aber subjektiv dürfte es bei vielen die beschriebenen "Heimatgefühle" auslösen...
-- Bevor ich mit den Wölfen heule, werd‘ ich lieber harzig, warzig grau, verwandele ich mich in eine Eule oder vielleicht in eine graue Sau. (Reinhard Mey)
Zitat von Werwohlf im Beitrag #11 Was das Netz aber leistet, ist, Menschen mit gleichen Ansichten zusammenzuführen. Die vielgescholtene Filterblase ist in diesem Sinn ja auch so eine Art "Heimat" - ein - wenn auch virtueller - Raum, in dem man sich "zu Hause" und verstanden fühlt. Und so, wie es jedem mal gut tut, die Grenzen des eigenen Sprengels zu verlassen, so ist auch der hin und wieder praktizierte Ausbruch aus der Filterblase eine sinnvolle Sache. Hinterher kann man dann mit neuen Erkenntnissen wieder zurückkehren. Durch das Netz ergeben sich so auch ganz neue "Heimaten": Wo man früher noch dachte, man sei der einzige Mensch mit einer bestimmten Meinung oder Vorliebe, findet man jetzt meist problemlos mehrere Gleichgesinnte, dank der Überwindung der räumlichen Grenzen und dank der möglichen (für die meisten nicht aufzulösenden) Anonymität. Auch das ist natürlich Fluch und Segen zugleich, von einer übergeordneten Warte aus betrachtet, aber subjektiv dürfte es bei vielen die beschriebenen "Heimatgefühle" auslösen...
Nun ja, ich weiß nicht so recht, wo hier der Unterschied zu überregionalen Arbeitsgruppen politischer, firmeninterner, Themenbezogener Natur? Ich habe jahrelang in Gruppen gearbeitet, bei denen ich einige Leute nur per Stimme am Telefon kannte. Da spielt sich eine gewisse Vertrautheit ein, aber es kommt bei Weitem nicht dem unmittelbaren Kontakt nahe. Da fehlt noch einiges zu einem Heimatgefühl. Der menschlichen Sensorik fehlen da einige Daten.
Zitat von Martin im Beitrag #12Nun ja, ich weiß nicht so recht, wo hier der Unterschied zu überregionalen Arbeitsgruppen politischer, firmeninterner, Themenbezogener Natur? Ich habe jahrelang in Gruppen gearbeitet, bei denen ich einige Leute nur per Stimme am Telefon kannte. Da spielt sich eine gewisse Vertrautheit ein, aber es kommt bei Weitem nicht dem unmittelbaren Kontakt nahe. Da fehlt noch einiges zu einem Heimatgefühl. Der menschlichen Sensorik fehlen da einige Daten.
Kommt eben darauf an, ob man schon vorher eine "Heimat" hatte, wie wichtig einem die jeweilige Thematik ist und wie einsam man sich damit vorher fühlte. Wenn du glaubst, du seist praktisch der Einzige mit solchen Gedanken, ist das Finden einer Gemeinschaft von Leidensgenossen schon ein Riesen-Ding.
-- Bevor ich mit den Wölfen heule, werd‘ ich lieber harzig, warzig grau, verwandele ich mich in eine Eule oder vielleicht in eine graue Sau. (Reinhard Mey)
am 25. 1. habe ich hier im kleinen Zimmer in einer Antwort auf Emulgator den autobiogr. Satz geschrieben: "Ich war ein eigenartiger Patriot: Meine Herze(t)nsheimat war als Gymnasiast das alte Griechenland, dann wurde es das alte Israel ..."
Heimat ist für mich ein Begriff für die Denk- und Wertewelt. Die lokale Heimat ist mir zum Herkunfts- und Auszugsland geworden, teils Paradies der Kindheit, teils - ich will es mit Thomas Bernhard sagen - leider auch übliche Hölle. Mit Grüßen Ludwig Weimer
Lieber Herr Weimer, am 25. 1. dieses Jahres haben Sie nicht nur diese Sätze eines eigenartigen Patrioten geschrieben, sondern sie verwiesen auch auf den Diogetbrief, genauer: auf einen Satz daraus, den Sie mit den Augen Nietsches gelesen haben woll(t)en: bodenständig: "Bleibt der Erde treu!" - Jetzt, wo Sie sich noch einmal in neuem Zusammenhang - eben zum Thema "Heimat" äußern, erinnere ich mich daran. - Nun ist seinerzeit eher verhüllt geblieben, was Sie mit dem Zitat gemeint haben könnten. Sicher hatten Sie das im Sinn, was Sie nun mit "ein Begriff für die Denk- und Wertewelt" umschreiben. Zum besseren Verständnis für die Leser des kleinen Zimmers darf ich den Passus aus dem sog. Diognetbrief zitieren, in dem sich das Zitat befindet.
Zitat Der Brief an Diognet
5,1 Die Christen nämlich sind weder durch Heimat noch durch Sprache noch durch Sitten von den übrigen Menschen unterschieden. 5,2 Denn sie bewohnen weder irgendwo eigene Städte noch verwenden sie eine abweichende Sprache noch führen sie ein absonderliches Leben. 5,3 Wahrlich nicht durch irgendeine Einbildung oder Träumerei vorwitziger Menschen ist ihnen diese Lehre ersonnen worden, auch machen sie sich nicht zum Kämpfer einer menschlichen Lehre wie manche andere. 5,4 Und sie bewohnen griechische und nichtgriechische Städte, wie es ein jeder zugeteilt erhalten hat; dabei folgen sie den einheimischen Bräuchen in Kleidung, Nahrung und der übrigen Lebensweise, befolgen aber dabei die außerordentlichen und paradoxen Gesetze ihres eigenen Staatswesens. 5,5 Sie bewohnen ihr jeweiliges Vaterland, aber nur wie fremde Ansässige; sie erfüllen alle Aufgaben eines Bürgers und erdulden alle Lasten wie Fremde; jede Fremde ist für sie Vaterland und jede Heimat ist für sie Fremde. 5,6 Sie heiraten wie alle und zeugen Kinder, jedoch setzen sie die Neugeborenen nicht aus. 5,7 Sie haben gemeinsamen Tisch, kein gemeinsames Lager. 5,8 Sie sind im Fleische, aber sie leben nicht nach dem Fleisch. 5,9 Auf Erden halten sie sich auf, aber im Himmel sind sie Bürger. 5,10 Sie gehorchen den bestehenden Gesetzen und überbieten durch ihre eigene Lebensweise die Gesetze. 5,11 Sie lieben alle und werden von allen verfolgt. 5,12 Sie werden verkannt und verurteilt, sie werden getötet und dadurch gewinnen sie das Leben. 5,13 Arm sind sie und machen doch viele reich; an allem leiden sie Mangel und zugleich haben sie Überfluß an allem. 5,14 Mißachtet werden sie und in der Verachtung gerühmt; verlästert werden sie und doch für gerecht befunden. 5,15 Geschmäht werden sie und segnen; sie werden verhöhnt und erweisen Ehre. 5,16 Obwohl sie Gutes tun, werden sie wie Übeltäter bestraft; mit dem Tode bestraft, freuen sie sich, als ob sie zum Leben geboren würden.
Aber ich möchte ergänzen: Ich hatte aufgrund meiner Geschichte nie ganz das Erlebnis "Heimat" verspürt, wie es viele Menschen prägt und wie Sie es auch als Ihren frühen oder früheren Lebensraum andeuten. Ich verließ im Januar des letzten Jahres des 2. Weltkriegs zusammen mit meinen Schwestern und meiner Mutter im Alter von 7 Jahren mein Geburtsland und bin rein geographisch gesehen nie mehr so recht sesshaft geworden. - Ein Erlebnis aus der Zeit der Evakuierung blieb mir im Gedächtnis: Während eines Zwischenaufenthalts und einer ca. 6-wöchigen Einquartierung in einem sächsischen Bauernhof ließ meine Mutter meine erst zweijährige und eine etwas ältere Schwester und mich an einem Sonntagmorgen allein zurück, um - wie ich später erfuhr - in einem kilometerweit entfernten Ort, im damals eisigkalten Winter, eine katholische Messe zu besuchen. Dieses Faktum, das sich auf uns Kinder übertrug, erkannte ich - auch erst später - als grundsätzlich stabilisierend in meinem ansonsten entwurzelten Leben.
Wenn mir ein Wort den Zugang zu seiner Bedeutung verwehrt, weil es nicht mehr als Begriff aufgefasst werden will, der eine zugängliche Wirklichkeit beschreibt, dann hilft mir bisweilen zum besseren Verständnis, das Gegenteil zu definieren. Heimatvertrieben bedeutet: Was Du einst als goldene Zukunft annehmen wolltest, wird über Nacht zur schwarzen Vergangenheit. Heimat wäre demnach ein in Stein gemeißelter Sehnsuchtsort, umfriedet durch den berühmten garstigen Graben, der nicht anders als durch ein Wurmloch betreten werden könnte, verblassende Erinnerung an eine goldene Zeit, die möglicherweise niemals wirklich so war, außer im Bekenntnis der einstigen Mitheimatlinge.
-- Bevor ich mit den Wölfen heule, werd‘ ich lieber harzig, warzig grau, verwandele ich mich in eine Eule oder vielleicht in eine graue Sau. (Reinhard Mey)
Zitat von Werwohlf im Beitrag #16https://twitter.com/Varg_I_Veum/status/826871072515555329
Nur ist es erfahrungsgemäß solches junges Gemüse mit Eierschalen hinter den Ohren, das am lautesten "kalte Heimat aus Beton" fiept, wenn der Nestwärme der umhüllenden Ideologie ausfällt & es sich erweist, daß das Vorweisen Schöner Seelen unter den Bedingungen eines freien Marktes unerfreulich wenig ausmünzbare Solidarität freisetzt.
"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire
Zitat von Daska im Beitrag #15Was bedeutet das Wort Heimat für mich?
Wenn mir ein Wort den Zugang zu seiner Bedeutung verwehrt, weil es nicht mehr als Begriff aufgefasst werden will, der eine zugängliche Wirklichkeit beschreibt, dann hilft mir bisweilen zum besseren Verständnis, das Gegenteil zu definieren. Heimatvertrieben bedeutet: Was Du einst als goldene Zukunft annehmen wolltest, wird über Nacht zur schwarzen Vergangenheit. Heimat wäre demnach ein in Stein gemeißelter Sehnsuchtsort, umfriedet durch den berühmten garstigen Graben, der nicht anders als durch ein Wurmloch betreten werden könnte, verblassende Erinnerung an eine goldene Zeit, die möglicherweise niemals wirklich so war, außer im Bekenntnis der einstigen Mitheimatlinge.
Die (auto)biographischen Beiträge sind eine Basis für das Nachdenken über unsere grundsätzlich gestellte Frage, was der Begriff „Heimat“ heute meint.
Unter meinen Zetteln in der Schublade muss eine Notiz liegen für einen Aufsatz, den ich zu schreiben mal vorhatte: über den Charakter europäischer Länder. Ich hatte im Auto von George Steiner im Rundfunk einen Vortrag gehört, in dem er auf faszinierende Weise Mythen und Epen deutete. Er sagte etwa: Europa – das bedeutet Wissenschaft, verkörpert in der Schlauheit des Odysseus, der Troja nach 10 Jahren doch noch mit dem Scheinopfer des Holzpferds eroberte; Europa hat, wie sein griechischer Obergott zeigt, als ‚Wert‘ Sex mit Gewalt: Raub der Europa in Stiergestalt. (Nebenbei: 10 Jahre blieb Troja stehen, weil Achill aus Zorn im Zelt saß, dass der Oberfeldherr ihm die Kriegsbeute, die hübsche Briseis abpresste, beider Verhalten gehört auch zum Europastil).
Ich dachte im Anschluss daran weiter nach: Was offenbaren dann die germanischen Mythen und Epen? Was geschieht im Nibelungenlied? Soweit ich mich erinnerte: Rache im Streit um den Mord an Siegfried, um die Ehre bis zum Tod fast aller; Heirat bloß, um einen Rächer mit großem Heer zu finden. Vom damals jungen Christentum am Rhein nur Allzumenschliches: Streit, wer die Ehre hat, die Domtüre als erste zu durchschreiten, heidnisches Opfer an der Donau: der Kaplan wird ertränkt, damit der Rachezug gelänge. Die gleiche Todessucht bei Hitler, der den Sieg oder den Tod des deutschen Volkes wollte. Puh, ist das unser Nationalcharakter? Selbst das Kudrunlied aus dem Mittelalter mit dem versöhnlichen Mädchen kommt ohne Wates rächendes Schwert nicht aus. Ich habe eine alte Ausgabe aus der Nazizeit (ein Bändchen in grauem Leinen., Deutsche Bibliothek Verlag Berlin, Leipzig o.Jg) , in der das Vorwort von einem Prof. Eugen Wolbe am Schluss Wate zitiert: „Lasst das Klagen, denn Ihr macht sie nicht wieder lebendig, die den Tod gefunden. Doch wenn einst die Jugend dieses Landes zu Männern herangewachsen sein wird, dann kommt der Tag der Rache!“ (Satz gesperrt gedruckt); und der Verfasser endet mit: „Es ist, als spräche der alte Kämpe zu dem Geschlecht unserer Tage …“ (S. 22)
Ich dachte nun daran, einen Vergleich zwischen Odysseus und Abraham zu schreiben, und damit bin ich bei unserem Thema und dem Thema des Odyssee-Epos: die lange Irrfahrt der Heimkehr. Der König von Ithaka will heim auf seine armselige Insel und zu seiner Penelope, zu seinem auf einer Baumscheibe festgemachten Bett. Selbst die bezaubernde Kirke verlässt er dafür wieder, die Sirenen hört der Schlaue am Mastbaum und dem Schwur festgezurrte, aber sie hindern ihn nicht an der süßen Heimatsehnsucht. Sein Wert „Heimkehr“ wurde zum überall gebrauchten Fremdwort Nostalgie. Ein zu Tränen rührender Mann. Danke, Homer! Und nun Abraham, der Kontrast. Ihn treibt es – jüdische Legenden deuten die knappen Genesisworte aus – in die Fremde, zuhause als Ketzer, Atheist erkannt; er streift durch die Welt und sucht eine Antwort auf sein Gottesproblem: Weiß irgendjemand mehr und Besseres? Er verlässt die Religion seines Vaterhauses und wird Religionskritiker. (Diesen Teil der Frage habe ich meinen Studenten mitgeteilt: Mit welchem Recht durfte, musste Abraham den Glauben seines Vaters verlassen?) In Israel kauft er als Heimatloser einen Grabplatz für seine Frau Sara. Das ist sein ganzer Besitz, der bis heute die Welt bewegt, den die Unverständigen „Besetzung Palästinas“ nennen. Thomas Mann hat in seinem Josephsroman die Leistung dieses Anfängers „Gottesarbeit“ betitelt. Historisch war es sicher nur ein kleiner Schritt, in der biblischen Sage ist das spätere Erfahrungswissen eingewandert und hat seine Gestalt zum „Vater des Glaubens“ (auch für die Christen) gemacht.
Theologisch ist das Thema Heimkehr unerschöpflich. Es reicht von der Heimkehr des Verlorenen Sohnes, dem der Vater ein Fest bereitet (wobei der eigentlich Verlorene der knurrende Bruder ist!), bis zum neuplatonisch-christlichen Großbild der Erlösung als Heimkehr der Seele aus dem Gefängnis der materiellen Welt in die ewige Heimat bei dem einen Gott, der Geist ist. Heimkehr als Ende der Geschichte – das ist fast schon antijüdisch, unbiblisch; biblisch ist die Verbindung des Himmels zusammen mit der Erwartung einer neuen Erde, auf der Gerechtigkeit wohnt (2 Petr 3,13).
Also nochmals: Auch das ist eine Wurzel Europas. Vor Athen (Philosophie und na ja Demokratie im Anfang) und Rom (Straßenbau und Recht) Jerusalem (Aufklärung als Glaube statt der falschen Heimat in menschengemachter Religion).
Theologisch ist das Thema Heimkehr unerschöpflich. Es reicht von der Heimkehr des Verlorenen Sohnes, dem der Vater ein Fest bereitet (wobei der eigentlich Verlorene der knurrende Bruder ist!), bis zum neuplatonisch-christlichen Großbild der Erlösung als Heimkehr der Seele aus dem Gefängnis der materiellen Welt in die ewige Heimat bei dem einen Gott, der Geist ist. Heimkehr als Ende der Geschichte – das ist fast schon antijüdisch, unbiblisch; biblisch ist die Verbindung des Himmels zusammen mit der Erwartung einer neuen Erde, auf der Gerechtigkeit wohnt (2 Petr 3,13).
Also nochmals: Auch das ist eine Wurzel Europas. Vor Athen (Philosophie und na ja Demokratie im Anfang) und Rom (Straßenbau und Recht) Jerusalem (Aufklärung als Glaube statt der falschen Heimat in menschengemachter Religion).
Ludwig Weimer
Greift man das Stichwort "Heimkehr" auf, so lassen sich unzählige Dichtwerke bedeutender Autoren finden, die diesen Titel tragen oder sich inhaltlich mit der Heimkehr beschäftigen. Ich greife nur Heinrich Heines Gedichtsammlung heraus, die diesen Titel trägt Heine war in mehrfacher Hinsicht die Heimat oder was man Heimat nennen kann oder will verlorengegangen. Die deutsche Heimat versagte man ihm durch Ausweisung. Seine biblisch-fundierte Heimat verlor er zeitlebens nicht. Äußerlich gesehen aber sehr wohl: durch seinen staatspolitisch bedingten Übertritt aus dem Judentum zum protestantischen Christentum und durch seine darauf folgende Ablehnung durch die jüdischen Gesellschaft: Familie, Synagoge und - was ihn doppelt treffen musste: die paradoxe Ablehnung durch die christliche Staatsmacht. Dass man ihm eine Frau aus jüdischem Haus, die er in jungen Jahren liebte, vorenthielt und damit ein Stück Heimat versagte, kommt hinzu. Dass er überall aneckt mit seiner überaus scharfen Aufdeckung der Wahrheit, macht ihn zu einem wahrhaft Heimat-losen, rückt ihn aber - wenn man es so sehen darf - in seiner Standhaftigkeit in die Nähe eines biblischen Hiob.
5 Gedichte möchte ich aus der Sammlung zitieren: Das erste wegen Heines´ unvergleichlichen Stilempfindens und der Leichtigkeit in seiner Dichtung. Die 4 anderen wegen der beachtenswerten Behandlung des Gegenstands, der in aufeinanderfolgenden Gedichten hervortritt:
Zitat von Noricus im Beitrag #18"Weh dem, der keine Heimat hat", liebe Daska?
Wosollidosong? Ja und nein. Ja, denn zu bedauern sind die Heimatlosen. Nein, nicht "Weh den Vertriebenen", sondern "Weh den Vertreibenden", lieber Noricus.
So viel Lyrik. Wenn ich etwas zufügen will, muss ich in den Gedichten kürzen und mich auf die wesentlich-thematischen Zeilen begrenzen und dann wohl auch andeuten, in welchem Sinn das Thema "Heimat" im betreffenden Text die Gedankenwelt erweitert. Da hab ich den Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803), z. B.
"Der Zürchersee
Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht, Auf den Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht, Das den großen Gedanken Deiner Schöpfung noch einmal denkt." (Da sind Naturreligion und Stolz des mesnchlichen Selbstbewusstseins als Geist, der sie reflektieren kann, versammelt. Es folgen Strophen über die Wanderung/Reise der Jünglinge mit Mädchen und Bilder der Stadt Zürich vor den Alpenhöhen. Dann die Themen Göttin Freude, Lenz und Lenz der Herzen, dann der rechte Weingenuss, dann die Freude am Ruhm, an Musik und Lied, an der Liebe. Das Süßeste aber sei die Freundschaft und es läuft auf die Sicht hinaus, dass Freunde, auch wenn sie in der Welt verstrut sind, zusammen eine Heimat bilden:) "Wäret ihr auch bei uns, die ihr mich ferne liebt, In des Vaterlands Schoß einsam von mir verstreut, Die in seligen Stunden Meine suchende Seele fand;
O, so bauten wir hier Hütten der Freundschaft uns! Ewig wohnten wir hier, ewig! Der Schattenwald Wandelt uns sich in Tempe, Jenes Tal in Elysium!" (Das paradiesische Tempetal ist der Eingang zu Griechenland vom Norden her.) Heimat ist hier also Vaterland + Freundschaftskreis.Romantik ist mit humanistischer Bildung verbunden.)
Griechenland war auch das Sehnsuchtsland Friedrich Hölderlins (1770-1843). Als Liebeskranker kommt er in die Heimat zurück:
"Die Heimat
Froh kehrt der Schiffer heim an den stillen Strom, von Inseln fernher, wenn er geerntet hat; So käm auch ich zur Heimat, hätt ich Güter so viele, wie Leid geerntet." (Er redet den Fluß, die Wälder, Berge seiner Heimat an, ob sie ihm Ruhe bringen, sein Herz heilen, der Mutter Haus, die Geschwister und ahnt:) "Der Liebe Leid, dies heilet so bald mir nicht" (Der berühmte Schluss lautet:) ".... Ein Sohn der Erde Schein ich; zu lieben gemacht, zu leiden."
Da braucht man nicht viel Erklärung. Ich hab noch ein Gedicht und zwar von Justinus Kerner (1786-1862). Da ist das moderne Thema schon leitend, die irrende Suche, das Nichtmehrfinden einer Heimat. Es reimt sich aber noch, sucht nach einer Form und die finde ich etwas kindlich, den Schluss zu sentimental. Also bittesehr, mit Gruß und Vorletztjahrhundertkuss von Ludwig Weimer sein volles Gedichtlein:
"Alte Heimat
In einem dunklen Tal Lag jüngst ich träumend nieder, Da sah ich einen Strahl Von meiner Heimat wieder.
Auf morgenroter Au War Vaters Haus gelegen, Wie war der Himmel blau! Die Flur wie reich an Segen!
Wie war mein Heimatland Voll Gold und Rosenhelle! Doch bald der Traum verschwand, Schmerz trat an seine Stelle.
Da irrt ich weit hinaus Ins öde Land voll Sehnen; Noch irr ich, such das Haus, Und find es nicht vor Tränen."
Wenn der Name Justinus Kerner genannt ist, dann darf das "Volkslied" In einem kühlen Grunde des Josef von Eichendorf nicht fehlen. Sein Erstherausgeber J. Kerner, so ist bei Wiki zu lesen, hat es unter dem Titel "Lied" herausgegeben, bevor es zu dem Volkslied schlechthin geworden ist. Ja, und hat man erst einmal gegoogelt, dann stößt man auf die Comedian Harmonists als Interpreten dieses und weiterer herzzerreißender Lieder, die einmal erklangen - auch - vor den Ohren der sentimentalen Henker jener, die nach und nach verschwanden ... Heimat - deine Sterne!
Hier fand ich "In einem kühlen Grunde" gleich in drei Sprachen:
Zitat Das zerbrochene Ringlein
Melodie - Melodie - Friedrich Glück, 1814 (1793-1840)
Joseph von Eichendorff, 1810 (1788-1857)
In einem kühlen Grunde, Da geht ein Mühlenrad, |: Mein Liebchen ist verschwunden, Das dort gewohnet hat. :| 2. Sie hat mir Treu' versprochen, Gab mir ein' Ring dabei, |: Sie hat die Treu' gebrochen, Das Ringlein sprang entzwei. :|
3. Ich möcht' als Spielmann reisen Wohl in die Welt hinaus |: Und singen meine Weisen Und geh' von Haus zu Haus. :|
4. Ich möcht' als Reiter fliegen Wohl in die blut'ge Schlacht, |: Um stille Feuer liegen Im Feld bei dunkler Nacht. :|
5. Hör' ich das Mühlrad gehen, Ich weiß nicht, was ich will; |: Ich möcht' am liebsten sterben, Da wär's auf einmal still. :| 1. In frigida convalle Rota molaris it, Amata ibi degens Nostra evanuit. 2. Pollicita mi fidem Mi dedit annulum, Fide sed ista laesa, Fractum est vinculum.
3. Nunc ludens proficiscor In orbem maximum Et canto meos modos De domo ad domum.
4. Nunc in cruentam pugnam Eques citus volem, Obscura nocte circum Mutos ignes cubem!
5. Cum audio molarem, Ignoro quid faciam - Gratissimum est mori, Ut semper sileam.
Convalle in rorata, En, rota crepitat; Puella mi amata Hic iam non habitat. Que fides erat pacta Donato anulo, Ab illa iam est fracta Cum dono aureo.
Cum lyra peragrare Nunc velim ultima Et cantica cantare, Adire ostia!
Nunc volem datis loris In atrox proelium, Ad ignes cubem foris Obscura nocte tum!
Cum crepant rotae tortae, Quid velim, nescio; Ac si occumbam morte, Sit quies subito.
Die (auto)biographischen Beiträge sind eine Basis für das Nachdenken über unsere grundsätzlich gestellte Frage, was der Begriff „Heimat“ heute meint. Ludwig Weimer
Ich möchte mich auch nochmals einmischen und mitteilen, was mir zum Thema Heimat eingefallen ist. – Mir kommt vor: Heimat ist dort, ist der Ort, wo das Wesen eines Menschen Übereinstimmung empfindet mit der umgebenden Welt. Deshalb empfindet man Heimat oft dort, wo man aufgewachsen ist, eben dort, wo man von dieser Umwelt geprägt wurde, was einen Teil seines Wesens ausmacht. – Den Ort zu finden, wo sein eigenes Wesen Übereinstimmung findet mit der realen Umwelt aber bedeutet meist – wie bei Odysseus zitiert – eine lange Irrfahrt. Das zitierte „Großbild der Erlösung“ sehe ich ein bisschen anders: Im Verhältnis Schöpfer und Geschöpf ist - obwohl zwei getrennte Wesen - das Geschöpf total von dem Schöpfer erkannt. Jesus von Nazareth war der Mensch - kann man im Glauben sagen - der neben seiner Lehre durch sein Leben und Sterben als Mensch, kann man sagen- uns übrigen Menschen den Zugang zu dem eröffnet hat, der uns erschaffen hat. Wo mehr kann ich übereinstimmen und bin ident als bei ihm, meinem Schöpfer und das nicht nur nach unserer Zeit, am Ende meines Lebens, sondern potentiell in jeder Zeit und an allen Orten. Ich denke da an das Gebet und kann es auch hie und da erfahren. - Im zitierten Brief an Diognet ist dies für die Christen gut aufgezeigt: Auf Erden halten sie sich auf, aber im Himmel sind sie Bürger. Sie gehorchen den bestehenden Gesetzen und überbieten durch ihre eigene Lebensweise die Gesetze. Arm sind sie und machen doch viele reich; an allem leiden sie Mangel und zugleich haben sie Überfluß an allem.
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