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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 18 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Noricus Offline



Beiträge: 2.362

01.06.2017 21:55
Fußnoten zum Begriff der Leitkultur Antworten

Wie der Begriff der Leitkultur in diesem Land diskutiert wird, ist bedauerlich. Keine Gastbeitragskontroversen in der FAZ, keine akademischen Auseinandersetzungen, höchstens eine Phrasendrescherrunde bei Anne Will. Sie sind faul und satt geworden, unsere Intellektuellen. Ein Denkanstoß.

nocheiner ( gelöscht )
Beiträge:

02.06.2017 09:45
#2 RE: Fußnoten zum Begriff der Leitkultur Antworten

Als ich gestern Abend diesen interessanten und lesenswerten Beitrag las, dachte ich, dass bis zum Morgen die erste Seite voller Diskussionsbeiträge sein wird. Vielleicht sind wir müde geworden, dieses Thema zu diskutieren. Ihnen, lieber Noricus, aber auf jeden Fall vielen Dank dafür. Mir ist bewusst geworden, dass es sich ja eigentlich um zwei Leitkulturen handelt. Die eine, die wir im Laufe unseres Lebens und unserer gemeinsamen Geschichte aufgenommen haben. Da gibt es mit Sicherheit Unterschiede in den einzelnen Individuen aber wohl doch auch viel Gemeinsames, das uns prägt. Auch diese Leitkultur lebt und ist im Laufe der Zeit Veränderungen unterworfen. Dafür sorgt schon die Globalisierung. Was unsere Kultur geprägt hat, ist m.E. sehr schön in dem Buch von Neil MacGregor mit dem Titel (Original in Englisch) "Deutschland - Erinnerungen einer Nation" nachzulesen. Diese "Leitkultur" müssen wir uns eigentlich nicht erst herstellen, sie existiert bereits, oder sollte man sagen existierte bereits, denn sie ist dabei zu verblassen. Der Gegenentwurf des Chores - um in Ihrem Bild zu bleiben - ist dagegen weitgehend ein Kunstprodukt, konstruiert, vielen von uns fremd, aber halt auch eine "Leitkultur", nach der wir in Zukunft leben sollen.

Mit besten Grüßen

nocheiner

DrNick Offline




Beiträge: 809

02.06.2017 10:12
#3 RE: Fußnoten zum Begriff der Leitkultur Antworten

Zitat
Eine freie Gesellschaft ist notwendigerweise diversifiziert und in gewissem Maß auch desintegriert. ... Eine Gesellschaft, die sich über die Verfassung des Staates streitet, ist selbstverständlich in hohem Maße instabil.



Das ist ja ziemlich genau das Böckenförde-Problem, und die Lösung für dieses Problem liegt m.E. auf der Hand: Es muß in bezug auf grundlegende Fragen des Zusammenlebens ein hohes Maß an gesellschaftlicher Homogenität geben. Und weil der Staat auf die fundamentalen Werthaltungen der Bürger keinen nennenswerten Einfluß hat, muß z.B. dafür gesorgt werden, daß nur Menschen auf Dauer in diesem Land leben, die unsere grundlegenden Werte teilen.

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.007

02.06.2017 12:18
#4 RE: Fußnoten zum Begriff der Leitkultur Antworten

Interessant bei dem Thema Leitkultur ist in meinen Augen, dass er von Bassam Tibi geprägt wurde, als jemand der von "aussen" in unsere Gesellschaft kam. Auch der von mir sehr geschätzte Hamed Abdel Samad hat ja gesagt, dass er sich so sehr eine Gebrauchsanweisung für die "Freiheit" (dieser Gesellschaft) gewünscht hätte, mit der er (anfänglich) nicht zurecht kam und verbindet diesen Wunsch mit dem Begriff "Leitkultur".

Leitkultur ist demnach in meinen Augen, ob man das schön findet oder nicht, eng mit dem Thema islamische Zuwanderung verknüpft.

Vielleicht ist unsere Leitkultur nicht mehr als die individuelle Freiheit und in Verbindung mit dem was die Freiheit historisch immer wieder bedrohte, die Säkularität unserer Gesellschaft. Mir kam der Gedanke beim Schauen des zweiten Teils (ab ca 32:30) der außergewöhnlich guten Arte Produktion "Europas Muslime" und einem Interview mit einem ehemaligem Großmufti. Ich kann die beiden Teile (Teil 1 Teil 2) dieser Dokumentation nur jedem empfehlen. Sie berührt.

Individuelle Freiheit und Säkularität erscheinen mir als ein überzeugendes Konzept für eine Leitkultur, für die es wohl aber keine Gebrauchsanweisung geben kann, so wie es sich Samad gewünscht hätte.

Das Grundgesetz ist keine Leitkultur, auch wenn das manchem naheliegen mag. Es ist das (abstrakte) Regelwerk unserer (individuellen) Freiheit und wer lernt Dinge schon nach einem (abstrakten) Regelwerk.

Handlungsanweisungen können auch Keine Leitkultur sein, da freiheitliches Handeln bzw. Denken und Handlungsanweisungen inhärente Widersprüche sind.

Wer die Freiheit begreifen will, muß wie jeder Lernende offen sein für das neue. Das kann nicht verordnet werden. Das kann nur vorgelebt werden, von denen, welchen man vertraut. Daher teile ich auch Samads Einschätzung, dass eine Reformation einer unfreien Gesellschaft nur von innen kommen kann, ausgehend von dem Denken der Menschen.

Mutige Menschen die dieses oft auch sehr schmerzhafte Denken (Ich verweise hier auf eine kurze Passage mit Hamed Abdel Samad im ersten Teil der Dokumentation ab ca 48:50 ) wagen, wie zum Beispiel Samad oder auch der interviewte Großmufti, brauchen mehr Rückhalt in unserer Gesellschaft. Dann hat sich der Wunsch nach einer Leitkultur sicher irgendwann erledigt.

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

02.06.2017 14:12
#5 RE: Fußnoten zum Begriff der Leitkultur Antworten

Zitat von Noricus im Beitrag #1
Wie der Begriff der Leitkultur in diesem Land diskutiert wird, ist bedauerlich.

Das liegt m. E. in erster Linie daran, wie die Diskussion regelmäßig begonnen wird. Nämlich so wie von Dir beschrieben von jemand mit politischen Intentionen, die er durch die vorgeschobenen Leitkultur durchsetzen will. Entsprechend dann auch die Reaktion der Gegenseite (die übrigens höchst unglaubwürdig ist, weil die selbstverständlich ihre eigene Vorstellung von "Leitkultur" haben, nur nicht so nennen).

Ich würde mal sagen: Kultur propagiert man nicht, die hat man. Oder man hat sie nicht, dann hilft auch die Forderung danach nicht.

Selbstverständlich gibt es in Deutschland eine Leitkultur. Die man aber nicht exakt definieren oder gar in Regeln gießen kann. Das Grundgesetz kodifiziert einige Aspekte dieser Kultur, kann sie aber selbstverständlich nicht ersetzen.

Aber Leitkultur kann nicht wirklich Gegenstand von politischen Debatten sein, weil man die eben nicht verordnen oder per Parlamentsbeschluß installieren kann. Die hat sich historisch entwickelt und verändert sich beständig. Politische Entscheidungen oder andere Veränderungen in den Rahmenbedingungen (z. B. technischer Fortschritt) können einzelne Aspekte der Leitkultur beeinflussen, aber diese Auswirkungen sind selten vorhersehbar oder gar planbar.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

02.06.2017 14:19
#6 RE: Fußnoten zum Begriff der Leitkultur Antworten

Zitat von DrNick im Beitrag #3

Zitat
Eine Gesellschaft, die sich über die Verfassung des Staates streitet, ist selbstverständlich in hohem Maße instabil.

Ich würde im Gegenteil sagen: Es ist völlig normal, daß sich eine Gesellschaft über ihre Verfassung streitet. Das ist "instabil" nur in dem Sinne, daß völlige Stabilität Stillstand bedeuten und jeden Fortschritt verhindern würde.
Natürlich gibt es ein Ausmaß von Streit, die zu viel wäre und den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet. Aber dazu braucht es schon viel.

Zitat:Das ist ja ziemlich genau das Böckenförde-Problem


Dieses Problem hat mich nie überzeugt. Unsere Gesellschaft produziert (über die Erziehung der nächsten Generation) beständig die Werte, auf denen sie beruht.

Zitat
Es muß in bezug auf grundlegende Fragen des Zusammenlebens ein hohes Maß an gesellschaftlicher Homogenität geben.


Richtig. Und diesen Konsens muß es VOR einer Verfassung geben, das Grundgesetz kann das nicht ersetzen.

Zitat
Und weil der Staat auf die fundamentalen Werthaltungen der Bürger keinen nennenswerten Einfluß hat, muß z.B. dafür gesorgt werden, daß nur Menschen auf Dauer in diesem Land leben, die unsere grundlegenden Werte teilen.


Das ist schwierig bis unmöglich. Weil ja die Menschen, die auf Dauer in diesem Land leben, beständig neue Ideen entwickeln. Von denen immer wieder welche auch den gesellschaftlichen Grundkonsens berühren bzw. verändern.
Die Geschichte eines Landes besteht eigentlich zu einem großen Teil daraus, daß grundlegende Werte über Bord geworfen und durch neue Werte ersetzt werden.

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

02.06.2017 14:36
#7 RE: Fußnoten zum Begriff der Leitkultur Antworten

Zitat von nocheiner im Beitrag #2
Diese "Leitkultur" müssen wir uns eigentlich nicht erst herstellen, sie existiert bereits, oder sollte man sagen existierte bereits, denn sie ist dabei zu verblassen.


Das ist richtig. Und deshalb ist es immer wieder erstaunlich, dass diejenigen Politiker, welche die Leitkultur thematisieren, den Eindruck erwecken oder diesem jedenfalls nicht entgegentreten, dass die Leitkultur unserer Gesellschaft aufoktroyiert werden müsse. Gerade für konservative Politiker wäre es gewinnbringend, die historisch gewachsene und - wie Sie zutreffend schreiben - nicht für alle Zeiten unveränderliche Leitkultur, der m.E. außerhalb linker Multiplikatorenkreise doch noch eine erkleckliche Anzahl von* Menschen in diesem unserem Lande anhängt, dem linken Sozialtechnologie-Experiment aus dem ideologischen Reagenzglas gegenüberzustellen.

*EDIT: Ein überflüssiges n getilgt, denn mit Lindsey hat die Präposition ja nichts zu tun.

nocheiner ( gelöscht )
Beiträge:

02.06.2017 15:43
#8 RE: Fußnoten zum Begriff der Leitkultur Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #5
Ich würde mal sagen: Kultur propagiert man nicht, die hat man. Oder man hat sie nicht, dann hilft auch die Forderung danach nicht.

Wenn man dann erwachsen ist. Auch Kultur muß erlernt werden. Zunächst einmal wird Kultur im Elternhaus, in der Schule und im Freundeskreis vermittelt. Was liest man? Besuchen die jungen Menschen das Theater/Konzerte/die Oper? Über was wird im Familienkreise gesprochen? Lernen die Kinder ein Musikinstrument? Das muss nicht alles so hoch gestochen sein. Es geht selbstverständlich auch ein oder zwei Nummern kleiner. Letztendlich liegt es aber zunächst im Verantwortungsbereich der Familie, der Schule, des Umgangs. Und dann spielen die durch die Politik geschaffenen Rahmenbedingungen schon eine Rolle.
P.S. Ich habe in meinem ersten Beitrag oben über "EDIT" zwei kleine Tippfehler verbessert. Ich wusste nicht, dass man dies unten im Text angeben muss. Ich werde mich in Zukunft daran halten.

Mit besten Grüßen

nocheiner

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

02.06.2017 15:57
#9 RE: Fußnoten zum Begriff der Leitkultur Antworten

Zitat von nocheiner im Beitrag #8
Auch Kultur muß erlernt werden. Zunächst einmal wird Kultur im Elternhaus, in der Schule und im Freundeskreis vermittelt.

Völlig richtig. Und das findet täglich statt, und bei der Erziehung der nächsten Generation wird die Leitkultur automatisch weitergegeben.
Da ist eigentlich nichts, was von einer politischen Diskussion besonders beeinflußt werden würde.

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.007

02.06.2017 16:21
#10 RE: Fußnoten zum Begriff der Leitkultur Antworten

Zitat von nocheiner im Beitrag #8
Letztendlich liegt es aber zunächst im Verantwortungsbereich der Familie
Ich denke vor allem der Familie. Und da komme ich noch einmal auf die individuelle Freiheit zurück: Wer dazu erzogen wird die individuelle Freiheit des anderen zu achten, wird ein anderer Mensch sein als der, welcher in irgendeinem "Überlegenheitsdünkel" erzogen wurde. - Und solcher Überlegenheitsdünkel erstreckt sich von richtiger Abstammung über richtige Religion und Einstellung bis hin zur richtigen Ernährung. Menschen, welche das Individuum anhand anderer Kriterien beurteilen als an seinem Umgang mit anderen Menschen, werden auf kurz oder lang unangenehm.

"Was du nicht willst das man dir tu', das füg' auch keinem anderen zu", reicht als Leitkultur mehr oder weniger aus. Durch Großeltern wurde das auch gerne verkürzt durch den Satz "Das tut man nicht." weiter gegeben. Wie man mit anderen Menschen umgeht, wie man sie behandelt lernt man in der Familie, von den Menschen welchen man bedingunglos vertraut, welche man bedingungslos liebt. Zu glauben so etwas werde gleichberechtigt von Schulen bzw. Bildungsstätten vermittelt ist meines Ermessens schon ein Stück weit den Gesellschaftsingenieuren auf den Leim gegangen.

Hat man den Wert der individuellen Freiheit verinnerlicht, kann man die Bildung dazu recht einfach jederzeit nachholen. Umgekehrt ist das allerdings nur sehr viel schwerer möglich.

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

nocheiner ( gelöscht )
Beiträge:

02.06.2017 16:37
#11 RE: Fußnoten zum Begriff der Leitkultur Antworten

Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #10
Und solcher Überlegenheitsdünkel erstreckt sich von richtiger Abstammung über richtige Religion und Einstellung bis hin zur richtigen Ernährung. Menschen, welche das Individuum anhand anderer Kriterien beurteilen als an seinem Umgang mit anderen Menschen, werden auf kurz oder lang unangenehm.

Ich hofffe, mit meinem Beitrag nicht falsch verstanden worden zu sein. Es geht mir nicht um die Erziehung zu einem Überlegenheitsdünkel. Entscheidend ist für mich aber die Familie, dann auch Schule und Umfeld. Sicher kann man vieles an Kultur nachholen. Und dass man den Mitmenschen respektiert, in seiner Individualität achtet ist für mich eigentlich selbstverständlich. Auch das sollte zunächst in der Familie, später in der Schule vermittelt werden. Ich habe keine Probleme mit Ihnen, Nachdenken-schmerzt-nicht, überein zu stimmen.

Mit besten Grüßen

nocheiner

DrNick Offline




Beiträge: 809

02.06.2017 16:40
#12 RE: Fußnoten zum Begriff der Leitkultur Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #6
Dieses Problem hat mich nie überzeugt. Unsere Gesellschaft produziert (über die Erziehung der nächsten Generation) beständig die Werte, auf denen sie beruht.


Ja, zum Glück. Wenn eine Gesellschaft auf einem halbwegs stabilen Wertefundament beruht, dann werden diese Werte im allgemeinen unproblematisch auf die nächste Generation vererbt. Es ist also z.B. kein ständiger Wertimport aus der religiösen Sphäre nötig, was Böckenförde ja manchmal (und, soweit ich sehe, zu Unrecht) als eigentliche Pointe unterstellt wird.

Zitat von R.A. im Beitrag #6
Das ist schwierig bis unmöglich. Weil ja die Menschen, die auf Dauer in diesem Land leben, beständig neue Ideen entwickeln. Von denen immer wieder welche auch den gesellschaftlichen Grundkonsens berühren bzw. verändern.
Die Geschichte eines Landes besteht eigentlich zu einem großen Teil daraus, daß grundlegende Werte über Bord geworfen und durch neue Werte ersetzt werden.



Wenn neue und gute Ideen innerhalb einer Gesellschaft zu einem Teil eines modifizierten Grundkonsenses werden, ist das eine feine Sache.

Keine gute Idee ist es hingegen, z.B. Menschen ins Land zu lassen, die die Idee im Kopf haben, daß man auf Nahrungsmittelverzehr im Fastenmonat mit dem Einsatz eines Messers reagieren sollte.

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

02.06.2017 18:47
#13 RE: Fußnoten zum Begriff der Leitkultur Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #6

Zitat
Eine Gesellschaft, die sich über die Verfassung des Staates streitet, ist selbstverständlich in hohem Maße instabil.

Ich würde im Gegenteil sagen: Es ist völlig normal, daß sich eine Gesellschaft über ihre Verfassung streitet. Das ist "instabil" nur in dem Sinne, daß völlige Stabilität Stillstand bedeuten und jeden Fortschritt verhindern würde.
Natürlich gibt es ein Ausmaß von Streit, die zu viel wäre und den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet. Aber dazu braucht es schon viel.



Im heutigen Deutschland steht die freiheitliche demokratische Grundordnung - mit den bekannten Ausnahmen - außer Streit. In der Weimarer Republik und in der heutigen Türkei waren/sind dagegen auch die Grundprinzipien der Verfassung umkämpft. Eine gefährliche Destabilisierung im Unterschied zu der von Dir beschriebenen Dynamik beginnt genau dort, wo man sich nicht einmal über die Verfassungsfundamente einigen kann. Weil dies - so könnte man es weiterdenken - darauf hindeutet, dass in einer Gesellschaft auch die Leitkultur, aus welcher der Geist der Verfassung entspringt, umstritten ist.

Zitat

Zitat
Das ist ja ziemlich genau das Böckenförde-Problem


Dieses Problem hat mich nie überzeugt. Unsere Gesellschaft produziert (über die Erziehung der nächsten Generation) beständig die Werte, auf denen sie beruht.




Witzigerweise habe auch ich beim Verfassen dieses Artikels an das von DrNick aufs Tapet gebrachte Böckenförde-Paradoxon gedacht. Dieses besagt nichts anderes, als dass der liberale Staat die Voraussetzungen, auf denen er beruht, nicht garantieren kann, weil er, wenn er dies täte, kein liberaler Staat mehr wäre. Böckenförde war - so wie Du - der Ansicht, dass der Erhalt dieser Voraussetzungen aus der Gesellschaft kommen müsse, jedoch der liberale Staat nicht in diesem Sinne auf die Gesellschaft einwirken könne, ohne seine Freiheitlichkeit zu verlieren.

Wenn Du weiter unten in Deinem Beitrag schreibst:

Zitat
Weil ja die Menschen, die auf Dauer in diesem Land leben, beständig neue Ideen entwickeln. Von denen immer wieder welche auch den gesellschaftlichen Grundkonsens berühren bzw. verändern.
Die Geschichte eines Landes besteht eigentlich zu einem großen Teil daraus, daß grundlegende Werte über Bord geworfen und durch neue Werte ersetzt werden.



dann ist es doch gerade nicht ausgemacht, dass die Gesellschaft ihre Zustimmung zu den Voraussetzungen der Existenz eines liberalen Staates ad aeternam vitam perpetuiert. Ebenso verhält es sich mit der liberalen Gesellschaft an und für sich. Auch diese kann die Voraussetzungen, auf denen sie beruht (die Leitkultur), nicht mit Zwang durchsetzen, widrigenfalls sie nicht liberal wäre.

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

02.06.2017 18:54
#14 RE: Fußnoten zum Begriff der Leitkultur Antworten

Zitat von DrNick im Beitrag #3
Und weil der Staat auf die fundamentalen Werthaltungen der Bürger keinen nennenswerten Einfluß hat, muß z.B. dafür gesorgt werden, daß nur Menschen auf Dauer in diesem Land leben, die unsere grundlegenden Werte teilen.


Hier würde der linke Chor einwenden: Warum nur hat der Staat auf die fundamentalen Werthaltungen der Bürger keinen nennenswerten Einfluss? Dies ist ja nicht notwendigerweise so. Und genau deshalb versuchen alle totalitären Ideologien, diesen Einfluss auszuüben, dies meistens mit partiellem Erfolg.

Das entsprechende Konzept geht auf Rousseau zurück, den die Diskrepanz zwischen der volonté générale und der volonté de tous ja immer gewurmt hat und der diese Lücke dadurch schließen wollte, dass eine mit Gesinnungsterror durchgesetzte Bürgerreligion für eine Einmütigkeit des politischen Willens (oder sollte ich besser schreiben: Wollens) sorgt. Parallelen zu unserem linken Chor sind ganz und gar nicht zufällig.

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.007

02.06.2017 20:14
#15 RE: Fußnoten zum Begriff der Leitkultur Antworten

Zitat von nocheiner im Beitrag #11
Ich hofffe, mit meinem Beitrag nicht falsch verstanden worden zu sein.
Ganz und gar nicht. Entschuldigen Sie, wenn das was ich schrieb so klang. Ich wollte nur Ihren Verweis auf die Familie herausstellen und ihn betonen. Das war nicht als Kritik an Ihnen gemeint.


Zitat von nocheiner im Beitrag #11
Es geht mir nicht um die Erziehung zu einem Überlegenheitsdünkel.
Das habe ich auch nicht so verstanden. Ich wollte nur allgemein benennen, was der individuellen Freiheit nach meiner Meinung entgegen steht und wo man es typischer Weise heutzutage findet - obwohl es die Betroffenen nie so sehen würden.


Zitat von nocheiner im Beitrag #11
Und dass man den Mitmenschen respektiert, in seiner Individualität achtet ist für mich eigentlich selbstverständlich.
Absolut. Und genau das glaube ich würde als "Leitkultur" ausreichen, da es der Kern unseres gesellschaftlichen Konsens ist. Nicht wenige teilen ihn dennoch nicht und widersprechende, neu hinzukommende Auffassungen von aussen können natürlich auch nicht in beliebger Menge und beliebig kurzer Zeit verdaut werden, ohne das dieser gesellschaftliche Konsens gefährdet wird. Nur deswegen gibt es meines Ermessens auch die Diskussion um die Leitkultur. Man erkennt nur meist ihren Kern nicht. Oder will ihn nicht erkennen.

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

06.06.2017 10:39
#16 RE: Fußnoten zum Begriff der Leitkultur Antworten

Zitat von Noricus im Beitrag #13
Dieses besagt nichts anderes, als dass der liberale Staat die Voraussetzungen, auf denen er beruht, nicht garantieren kann, ...

Das ist zwar richtig. Aber was Böckenförde übersieht: Das kann kein Staat!
Die Gesellschaft ist die wesentliche Basis, der Staat nur abgeleitet. Wenn Politiker versuchen, mit staatlichen Machtmitteln die Gesellschaft in eine Richtung zu lenken, scheitern sie gewöhnlich.
1990 hat gezeigt: Auch der sozialistische Staat hat es nicht geschafft, seine eigenen Voraussetzungen zu garantieren. Die französische Revolution hat gezeigt: Der monarchische Staat konnte das auch nicht.

Man kann mit diktatorischen Mitteln eine gewisse Zeit verhindern, daß sich die gesellschaftlichen Vorstellungen bei der Verfassung des Staats durchsetzen - aber am Ende genügt Zwang nicht.

Krischan Offline




Beiträge: 642

06.06.2017 13:28
#17 RE: Fußnoten zum Begriff der Leitkultur Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #16

Man kann mit diktatorischen Mitteln eine gewisse Zeit verhindern, daß sich die gesellschaftlichen Vorstellungen bei der Verfassung des Staats durchsetzen - aber am Ende genügt Zwang nicht.


Lieber R.A., das ist ein Evidenz-Schluss aus der Geschichte. Richtig muss es wohl lauten: Auf Dauer konnte das bisher kein Staat. Gleichwohl gibt es literarische Gedankenexperimente, die die generelle Möglichkeit sehr wohl nahelegen, als bestes Beispiel fällt mir da die "Brave New World" ein.
Und ich bin überzeugt davon, dass es auch irrelevant ist, ob das generell geht oder nicht - für einen gewissen, überschaubaren Zeitraum kann sehr wohl der Staat in seinen Gliederungen den Volkswillen lenken. In China geschieht das recht effizient. Ich behaupte: Solange dieser Zeitraum über die erwartete Lebenszeit der Machthaber hinausweist, ist der Zweck erfüllt.

Freundlichst,
Krischan

Deutsche Wurst - alles andere ist Käse.

Dennis the Menace Offline




Beiträge: 459

07.06.2017 01:01
#18 RE: Fußnoten zum Begriff der Leitkultur Antworten

Scheint jedenfalls was sehr Deutsches zu sein.

Die fünf Artikel "in anderen Sprachen" die Wiki zum deutschen Artikel anbietet, heißen entweder auch "Leitkultur" oder bieten eine offenbar als so schräg empfundene Übersetzung, dass der deutsche Begriff in Klammern nicht fehlt.

In Vietnam hat sich das - insofern man mal Wiki als leitkulturell durchgehen lässt - anscheinend auch schon rumgesprochen, indessen fehlt noch Frankreich und noch so einiges näher liegende. Die anderen da draußen haben anscheinend lediglich Kultur, die Franzosen womöglich sogar nur so was Läppisches wie Civilisation, wie schon Thomas Mann (vom 1. Weltkrieg leitkulturalisiert, später wurde die Leitung mehrfach ausgewechselt) despektierlich beanstanden zu müssen glaubte,

aber so watt wie LEITKULTUR - dett macht uns so schnell keener nach - obschon erst in den 90er Jahren erfunden und seitdem "viral". Vorher lebte es sich auch ohne Leitkultur ganz gut , obwohl Hegemon natürlich schon immer ein attraktiver Job war.

Zitat von Wikipedia
Leitkultur is a German concept

Hmmm

Die Verwandtschaft zum wesentlich älteren LEITMOTIV ist wohl der Grund für diese neumodsiche (naja, 20 Jahre) gequälte Wortschöpfung. Auch urdeutsch, aber im Gegensatz zum Kulturdingens ganz gut erklärbar und international als Fremdwort geläufig, wenngleich nur bildungsbürgerlich bei Musikinteressierten (evtl. auch Literatur et al.).
lich
Dennis

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

07.06.2017 08:28
#19 RE: Fußnoten zum Begriff der Leitkultur Antworten

Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #18
In Vietnam hat sich das - insofern man mal Wiki als leitkulturell durchgehen lässt - anscheinend auch schon rumgesprochen, indessen fehlt noch Frankreich und noch so einiges näher liegende.


In ihrer Berichterstattung über die seinerzeit von Merz angestoßene Leitkulturdebatte verwendete die französische Presse den Ausdruck culture de référence, was ich als eine eher gelungene Übersetzung erachte.


Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #18
aber so watt wie LEITKULTUR - dett macht uns so schnell keener nach - obschon erst in den 90er Jahren erfunden und seitdem "viral".


Wohl nicht erst in den 90er-Jahren erfunden, sondern damals so benannt. Zuvor sprach man eben einfach von "der/unserer Kultur".

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