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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 17 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Noricus Offline



Beiträge: 2.362

24.11.2017 19:25
Spätherbstliche Elegie in Prosa Antworten

Es ist zweifellos vermessen, diesen bescheidenen Beitrag als literarisches Experiment zu bezeichnen. Aber nach all dem Politischen dürstete es den Verfasser dieser Zeilen, Poesie in Prosa zu verfassen. Sollte das Ergebnis missfallen, gelobt der Autor Besserung.

Werwohlf Offline




Beiträge: 997

24.11.2017 21:30
#2 RE: Spätherbstliche Elegie in Prosa Antworten

Es mag dem Alter geschuldet sein, aber ich goutiere solche Betrachtungen sehr. Irgendwann lernt man es zu schätzen, wenn jemand seine Augen aus dem Gewühl des - auch politischen - Alltags erhebt und dann, immer aus zugegebenermaßen höchst subjektiver Perspektive, das Leben an sich betrachtet.

Das hier vorliegende Exemplar spricht mir in vielem aus dem Herzen. Danke, lieber Noricus. So denkt man anscheinend, wenn man eine bestimmte Altersstufe überschritten hat. Auch ich muss zur Kenntnis nehmen, dass die Jahre hinter mir allerhöchster Wahrscheinlichkeit nach zahlreicher sind als die vor mir liegenden, und wenn ich so die diversen Todesmeldungen zur Kenntnis nehme, muss ich mich spätestens zehn Jahre von heute entfernt auf mein Ableben einstellen. Wobei ich den Tod nicht als stachellos empfinde, aber das diskutierte ich schon damals mit Zettel himself.

Es gibt ja glückliche Menschen, die in ihrem Leben genau das erreicht haben, was sie sich vornahmen. Meine Liebste gehört zum Beispiel dazu. Sie hat ihren Traumberuf ergriffen, (vor meiner Zeit) eine Familie mitgegründet und würde nach eigener Aussage wieder alles so machen wie geschehen. Bei mir fällt das Fazit etwas anders aus: Ich würde im Rückblick lieber einen anderen Beruf ergreifen, konnte selbst keine Familie gründen und würde auch sonst diverse Dinge im Nachhinein anders machen, wenn ich könnte. Aber ich will mich nicht beklagen: Alles in allem wurde es so schlecht auch nicht, und es gibt genug Anlässe, dankbar zu sein. Man weiß ja nie, wie sich die andere Entscheidung tatsächlich ausgewirkt hätte. Dieses Erschrecken, dass der geschätzte Noricus beobachtet, wenn jungen Menschen erwachsen werden, das habe ich allerdings nie erlebt - da war immer dieses schöne Gefühl, endlich selbst den eigenen Weg mitbestimmen zu können. Und vielleicht ist es dem oben Erwähnten zu verdanken, aber auch dieses Gefühl, es sei jetzt irgendwie alles gerichtet, hin zur großen Gleichförmigkeit, das habe ich ebenfalls nie gespürt - dazu hat sich in meinem Leben im Abstand von wenigen Jahren viel zu viel verändert, allein schon an den Wohnorten abzulesen. Aber mir ist auch klar, dass das eher die Ausnahme darstellt, auch wenn heutzutage vermutlich mehr Menschen ähnlich wechselhafte Phasen erleben als früher.

Aber eins ist auch klar: Unsere Zeit hier ist begrenzt, und wir haben die verdammte Aufgabe, aber auch die Chance, etwas aus ihr zu machen. Das sage ich ohne moralischen Zeigefinger, denn dieses "etwas" kann und soll sehr individuell sein. Wichtig ist nur, dass man am Ende nichts bereuen muss. Und da möchte ich, dem Herbst angemessen, den lieben Zimmerleuten mit auf den Weg geben, was Menschen, deren Leben vor dem Ende steht, vor allem nicht bereuen: Zu wenig gearbeitet zu haben, zu viel Zeit mit Menschen verbracht zu haben, an denen ihnen etwas liegt, und zu wenig darauf gegeben zu haben, was andere vielleicht denken mögen.

Auch der Herbst ist schön, und wenn wir es schaffen, jeden Moment als solchen aufzunehmen und zu genießen, trotz aller Widernisse, denen wir leider immer begegnen, dann trifft auch der stachelbewehrte Tod auf einen Menschen, der ihm erhobenen Hauptes begegnet.

--
Bevor ich mit den Wölfen heule, werd‘ ich lieber harzig, warzig grau,
verwandele ich mich in eine Eule oder vielleicht in eine graue Sau.
(Reinhard Mey)

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

25.11.2017 14:55
#3 RE: Spätherbstliche Elegie in Prosa Antworten

Lieber Noricus!

Die Linien des Lebens sind natürlich sehr verschieden.
Meines wurde früh, keine vier Jahre war ich alt , davon geprägt, dass mein Vater vom Blitz erschlagen wurde und eine Tante einen Spruch tat, den die Mutter uns kundtat, sobald wir denken konnten, damit wir uns von dieser Verwandten fernhielten: „Deinen Mann hat Gott geholt (=gestraft), meiner ist auf dem Feld der Ehre (in Rußland) gefallen.“ Es liegt nahe, darin einen der Gründe für meinen Beruf (Theologe) zu sehen.
Eine Frage ist: Im Alter bin ich klüger geworden und würde mit dem gleichen Wissen gerne noch einmal mit 18 anfangen. Beim Vermitteln an jetzige Andere in diesem jungen Alter bemerkt man, dass man die Erfahrungs-Zeit nicht allzu sehr überspringen kann. Wäre es anders, wäre die gegenwärtige Menschheit auf allen Gebieten viel klüger, als sie ist. Wissenschaft und Technik lassen sich so steigern, aber die politische, soziale und menschlich-moralische Kraft nicht. Nicht einmal aus den Fehlern der Elterngeneration lernt die nächste Generation entscheidend.
Vielleicht ist dies dem Pendel geschuldet, einem Trick der Natur, der sonst dadurch das Neue, eventuell Gegensätzliche findet?
Ich machte die Erfahrung, dass ich, wenn ich in einem guten Buch nach Jahren zum zweiten oder dritten Mal lese, Dinge herauslese, die ich früher nicht sah. Das einzelne Leben kann lernen, aber es kann diese Weisheit nicht auf Schüler eins zu eins übertragen.
Da ich das Glück habe, in einer Gemeinschaft leben zu können, erlebe ich freilich auch, dass der eine oder andere aus der übernächsten Generation, der gerade von der Schulbank auf die Uni wechselt, mich anzapft und verstehen kann, was ich in seinem Alter noch nicht verstand. Das ist eine große Freude. Ich sehe da eine Parallele zu der Förderung der Jugendlichen in der Antike, und man glaubte damals ja an ein Weiterleben in den geistigen Kindern.
Ich finde jedenfalls Ihre poetische Besinnung anregend. Danke!
Ludwig Weimer

Frankenstein Offline




Beiträge: 891

25.11.2017 23:21
#4 RE: Spätherbstliche Elegie in Prosa Antworten

Zitat von Werwohlf im Beitrag #2
Bei mir fällt das Fazit etwas anders aus: Ich würde im Rückblick lieber einen anderen Beruf ergreifen, konnte selbst keine Familie gründen und würde auch sonst diverse Dinge im Nachhinein anders machen, wenn ich könnte.

Zur Sache mit der Familie:

Meine Kinder haben mir eine Frage beantwortet, die ich mir eigentlich nie gestellt habe - nämlich die, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Die Antwort lautet: Ja, aber es nicht sicher, ob man das noch wirklich Leben nennen kann. Ohne einen wirklich sehr gut passenden Partner und solides soziales Umfeld würde ich das (die Gründung einer Familie) niemanden guten Gewissens empfehlen können.

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

26.11.2017 09:26
#5 RE: Spätherbstliche Elegie in Prosa Antworten

Ich setze meine Gedanken fort. Begreifen, was der Tod ist, konnte ich erst mit dem 60. Lebensjahr. In der Studentenzeit, als meinen Freunden und mir (Wohngemeinschaft in München)alles wegschwand: der Glaube an ein Weiterleben nach dem Sterben, der Begriff Gottes als einer existierenden transzendenten Person, so dass wir uns mit Hegel und Feuerbach fragten,ob er mehr sei als der falsche Name für das Wesen des Menschen, riskierten wir leichtsinnige Bergabenteuer mit dem Risiko, das Leben zu verlieren. Wir wussten damals nicht, was der Tod ist.
Gottlob war der Instinkt zum Überleben offensichtlich dennoch stärker.

Jetzt ist mir der Tod ein Trost: Wären wir langlebiger oder unsterblich, was wäre das für ein Leben? Alle Mozarts und Einsteins würden noch leben, wir Kleinen wären erdrückt durch die Genies. So aber haben wir einen Raum zur Entfaltung.
Dass es Schildkröten gibt, die läner leben als der Mensch, dass Bäume länger leben, dass welche bis zu 3000 Jahren und 120 Meter hoch leben können, relativiert uns, aber das beleidigt uns nicht.Dafür leben manche Mücken nur ein paar Stunden.
Es ist auch tröstlich, dass man nach 80-100 Jahren die Welt verlassen kann, denn sie hat sich dann so verändert, dass man sich nicht mehr wohlfühlt. Alles hat seine Zeit, heißt es in der Bibel. Dafür erlebt Dante nicht mein Jahrhundert. Er erlebte nur seines, aber er kannte alles vor ihm. Wir haben soviel nachzulesen, dass dieser Reichtum uns genügt. Ich werde den Versuch (bzw. das Scheitern) nicht mehr erleben, den Mars bewohnbar zu machen. Aber vielleicht werden wir Menschen es auch eine erhebliche Anzahl von Millionen Jahren schaffen zu überleben, wenn es die 'dummen' Saurier doch auch geschafft haben. Die Säugetiere und damit auch wir bekamen damals die Chance.

Nun fragen Sie mich: Sie sind doch katholischer Theologe, was denken Sie zum Glauben der Christen an das ewige Leben im Himmel, über die "Auferstehung des Fleisches"? Das gehört zu den nicht beweisbaren und hier und heute erfahrbaren Dingen. Darum mache ich nur eine Andeutung: Es gibt auch eine katholische Richtung (im Lexikon: Quietismus, Fenelon), nach der es erlaubt ist, zu denken: Ich will Gott umsonst lieben, nicht um eines Lohnes willen; auch wenn es keinen Himmelslohn gäbe. (Die Formel bezieht sich auf das Wort der drei Jünglinge im Feuerofen, Buch Daniel: König, wir beten dich nicht an, sondern lassen uns lieber verbrennen, selbst wenn Gott uns nicht rettet).

Grüße, Ludwig Weimer

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.000

26.11.2017 18:47
#6 RE: Spätherbstliche Elegie in Prosa Antworten

Lieber Noricus,

danke für diese Zeilen, die einen großen Teil meines Seelenlebens beschreiben.

Oft schaffe ich es nicht im Moment zu leben und dann überfällt mich die Larmoyanz der Gedanken an Kindheit und Jugend, ihre Geborgenheit und vor allem Unsterblichkeit, die ich misse wie sonst nichts im Leben.

Zitat
Wenn nichts dramatisch Gutes oder Schlechtes mehr passiert, verwaltet man sein Leben gleichförmig zu Ende

Dieser Gleichung fehlt ein Parameter: Das eigene Kind.

Zumindest in Teilen gibt es mir Geborgenheit und Unsterblichkeit zurück, welche vorher verloren war. Und es füllt soviel mit Liebe aus, das Gleichförmigkeit undenkbar ist.

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

nocheiner ( gelöscht )
Beiträge:

28.11.2017 10:12
#7 RE: Spätherbstliche Elegie in Prosa Antworten

Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #3
Die Linien des Lebens sind natürlich sehr verschieden.
Lieber Herr Weimer. Ich lese Ihre Beiträge immer gerne. Ihr letzter Beitrag, einmal fernab von Merkel et al., hat mir besonders gut gefallen. Er vermittelt Gelassenheit, und das tut manchmal gut. Ihnen und auch Noricus Dank dafür.

Mit besten Grüßen

nocheiner

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

28.11.2017 12:46
#8 RE: Spätherbstliche Elegie in Prosa Antworten

Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #5
Jetzt ist mir der Tod ein Trost: Wären wir langlebiger oder unsterblich, was wäre das für ein Leben? Alle Mozarts und Einsteins würden noch leben, wir Kleinen wären erdrückt durch die Genies.

Das ist eine sehr interessante Idee, über die ich eine Weile nachgedacht habe.

Aber dann bin ich doch skeptisch geworden. Denn es gibt ja zu jeder Zeit, auch aktuell, bedeutende Genies. Welche der aktuellen Genies in der Mozart-/Einstein-Klasse spielen wird ohnehin erst die Nachwelt wirklich urteilen können.
Aber ich habe nicht den Eindruck, daß mich irgendein lebendes Genie erdrückt oder mein Leben irgendwie negativ beeinflußt. Normalerweise ist der Einfluß von Genies eher positiv.

Und wenn nun alle Genies der Vergangenheit leben würden, dann würden ja ebenfalls noch alle Normalbürger der Vergangenheit noch leben - an der Relation würde sich also nichts ändern.

DrNick Offline




Beiträge: 809

28.11.2017 13:58
#9 RE: Spätherbstliche Elegie in Prosa Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #8
Aber ich habe nicht den Eindruck, daß mich irgendein lebendes Genie erdrückt oder mein Leben irgendwie negativ beeinflußt. Normalerweise ist der Einfluß von Genies eher positiv.


Das kann ich nur so unterschreiben: Wieso sollte ich mich "erdrückt" fühlen, wenn jemand auf irgendeinem Gebiet deutlich besser ist als ich selbst? (Inbesondere wenn dieses Gebiet eines ist, auf dem ich selbst nicht aktiv bin.)

Und selbst wenn man angesichts eines echten Genies eine Art von Minderwertigkeit empfindet, wüßte ich nicht, warum die zeitliche Nähe dieses Gefühl verstärken sollte - im Gegenteil: es ist doch noch erdrückender, wenn man sieht, wie genial jemand sein konnte, der sehr viel weniger Zwerge bzw. Riesen unter sich hatte als die heutige Menschheit.

Emulgator Offline



Beiträge: 2.870

28.11.2017 15:06
#10 RE: Spätherbstliche Elegie in Prosa Antworten

Zitat von DrNick im Beitrag #9
Das kann ich nur so unterschreiben: Wieso sollte ich mich "erdrückt" fühlen, wenn jemand auf irgendeinem Gebiet deutlich besser ist als ich selbst? (Inbesondere wenn dieses Gebiet eines ist, auf dem ich selbst nicht aktiv bin.)
Das sehe ich auch so. Doch noch ein anderer Gedanke: Wäre denn ein Mozart ein echter Konkurrent für z.B. einen Rachmaninov gewesen, selbst wenn Mozart die Neuerungen der Musikinstrumententechnik seit 1791 erlebt hätte? Sehen wir nicht bei allen Genies doch eine gewisse Begrenzung auf bestimmte "Gedankenmöglichkeiten"? Ist nicht damit die Endlichkeit des Erdenlebens, der Wechsel der Generationen und damit der Tod selber ein wesentlicher Antrieb für Fortschritt und Innovation?

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

28.11.2017 17:09
#11 RE: Spätherbstliche Elegie in Prosa Antworten

Zitat von Emulgator im Beitrag #10
Ist nicht damit die Endlichkeit des Erdenlebens, der Wechsel der Generationen und damit der Tod selber ein wesentlicher Antrieb für Fortschritt und Innovation?

Das würde ich auch unterschreiben. Es kann nichts Neues geben, wenn nicht das Alte auch Platz macht.

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

28.11.2017 17:39
#12 RE: Spätherbstliche Elegie in Prosa Antworten

Gut, das gleichzeitige Miteinander aller 'Größen' kann als solches keine Beeinträchtigung sein. Im Gegenteil. Die traditionelle Vorstellung von der Auferstehung der Toten geht ja in eine ganz ähnliche Richtung: dass wir nach dem Tod im Himmel mit allen versammelt sind und mit allen Großen reden können.Dieses mein Argument der Überfüllung an Genies stimmt nicht,es würde einen Egoismus und eine Neidhaltung enthüllen. Auf Erden soll es nach christlicher Sicht ja auch schon so sein wie im Himmel.

Mein Eingehen auf die traditionelle christliche Antwort zur Frage „Ewiger Tod oder ewiges Leben?“ bedarf ohnehin einer Fortsetzung.
Zunächst ergänze ich meine Andeutung zu der persönlich-ethischen Antwort von François Fénelon, des Philosophen und Bischofs aus der Zeit der Frühaufklärung wenigstens mit einem Zitat, die Übersetzung stammt von Matthias Claudius, um 1800:
„Ewigkeiten sind vor mir, und Ewigkeiten hinter mir, und zwischen beiden ist mir eine kleine Zeit zum Leben beschieden. Warum ich mehr an diese als an eine andre Ecke des Universums geheftet bin, das weiss ich nicht. Eins weiss ich, dass ich sterben muss, aber nicht, was denn weiter mit mir wird, ob ich dem Nichts oder einer erzürnten Gottheit in die Hände falle, und ewig zu Theil werde… Ich will mir aber damit die Zeit nicht verderben: ich will mir das künftige Glück und Unglück, wenn es, wie sie sagen, eins geben sollte, aus dem sin schlagen, und mich an dem Gegenwärtigen halten. Ich will die Sorge über die künftigen großen Begebenheiten und über die Ewigkeit eines künftigen Zustandes andern überlassen, und mich dem Tode vergnügt und lustig in die Arme liefern.“
(François Fénelon, Gedanken zur reinen Gottesliebe, hrsg. von Jean-Claude Wolf, Basel 2014: Schwabe reflexe 31)

In der neueren Zeit konnte sich 1) niemand mehr vorstellen, dass Leib und Seele des Menschen getrennt existieren können. Das aber hatte die alte neuplatonisch-religiöse Vorstellung vorausgesetzt: Beim Tod wandert die Seele entweder in den Himmel oder in die Hölle oder nach einer zeitlich begrenzten Frist aus dem Fegefeuer der Reinigung in den Himmel, während der Leib in der Erde schläft. Erst beim Jüngste Tag der Wiederkunft Christi zum allgemeinen Weltgericht ersteht er und beide werden wieder vereint.
2) Zudem sprachen selbst fromme katholische Exegeten ihre Erkenntnis aus, die Wiederkunft Christi sei kein historisches Datum, sondern bedeute, dass das Leben Jesu als richtendes Maß über alle aufgerichtet sei. Die Begründung dafür ist einfach: Wenn dieser Tag Lebende träfe, müsste jeder glauben und die Glaubensfreiheit wäre beseitigt.
Die modernen Theologen bezogen nun auch die Tatsache ein, dass es die Größe Relative Raum-Zeit nach dem Tod nicht mehr gibt und dass sie für Gott erst recht nicht existiert und folgerten: Der Augenblick des Todes ist zugleich die Ewigkeit. Damit waren sie aus dem Schneider, aber sie konnten die Hoffnung, den ewigen Lohn irgendwie bewusst zu erleben, nicht bedienen, klare: keiner hat eine Sprache dafür.
Jeder weiß, dass die Hölle gut zu schildern ist, aber der Himmel nicht. Selbst bei Dante steht nur eine Arena wie eine weiße Rose aus lauter Sitzplätzen zur Verfügung, auf welche die Engel wie Bienen rauf und runterfliegen. Von der Enttäuschung des Münchners im Himmel und seinem „ –luja sog i“ nicht zu reden.
Selbst seriöse Autoren wie Heinrich Heine konnten nur spotten:
„Wie man im Himmel lebt? Dort amüsiert man sich ganz süperbe, man hat alle möglichen Vergnügungen, man lebt in lauter Lust und Pläsir, so recht wie Gott in Frankreich. Man speist von Morgen bis Abend … ohne sich den Magen zu verderben, man singt Psalmen, oder man tändelt und schäkert mit den lieben, zärtlichen Engelein, oder man geht spazieren auf der grünen Halleluja-Wiese, und die weißwallenden Kleider sitzen sehr bequem, und nichts stört da das Gefühl der Seligkeit, kein Schmerz, kein Mißbehagen, ja sogar, wenn einer dem andern zufällig auf die Hühneraugen tritt und excusez! ausruft, schmerzt nicht, sondern au contraire, mein Herz fühlt nur desto süßere Himmelswonne“.
(Ideen. Das Buch le Grand (1826); in: Heines Werke 3. Band, hrg. von H. Holtzhauer, Weimar: Volksverlag 1958, 7)
Hilfreicher ist eine Wiederentdeckung in der exegetischen Wissenschaft, zu der auch Joseph Ratzinger viel beitrug. Dem ursprünglichen biblischen Christentum geht es um das Schon-Hier-und-Heute des Gottesreiches. Das war die theologische Leistung Jesu: Die Nähe Gottes nicht zeitlich zu verschieben, sondern gleichsam zu verräumlichen: Gott steht vor deiner Tür, du musst ihm aber aufmachen. Paulus sagte es so: Das ewige Leben beginnt mit der Taufe.
Ich will hier aber nicht in eine Vorlesung übergehen.

Ludwig Weimer

DrNick Offline




Beiträge: 809

28.11.2017 17:42
#13 RE: Spätherbstliche Elegie in Prosa Antworten

Zitat von Emulgator im Beitrag #10
Wäre denn ein Mozart ein echter Konkurrent für z.B. einen Rachmaninov gewesen, selbst wenn Mozart die Neuerungen der Musikinstrumententechnik seit 1791 erlebt hätte? Sehen wir nicht bei allen Genies doch eine gewisse Begrenzung auf bestimmte "Gedankenmöglichkeiten"?


Verdankt sich diese Begrenzung nicht v.a. der Tatsache, daß auch ein Genie nicht vollständig "legibus solutus" ist, sondern zu einem wesentlichen Teil auch immer ein Kind seiner Zeit? (Deswegen finde ich es auch immer sehr störend, wenn wirklich große Menschen der Vergangenheit daran gemessen werden, ob sie in bestimmten Punkten so denken, wie man heute halt so denkt. Wohlfeile Vorwürfe des Typs, Kant sei ein Rassist gewesen, Schopenhauer ein Sexist usw., fallen in diese Kategorie.)

Und wie Mozart auf technische und künstlerische Entwicklungen reagiert hätte, wäre er z.B. 1900 noch am Leben gewesen, ist eine sehr interessante Frage. Hätte er mit gewissen technischen Verfeinerungen genau dieselbe Art von Musik komponiert wie zu seiner realen Lebenszeit? Oder hätte er sich auf die neuen musikalischen Möglichkeiten z.B. nach Wagner eingelassen? Ich vermute letzteres.

Werwohlf Offline




Beiträge: 997

01.12.2017 00:42
#14 RE: Spätherbstliche Elegie in Prosa Antworten

Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #12
Hilfreicher ist eine Wiederentdeckung in der exegetischen Wissenschaft, zu der auch Joseph Ratzinger viel beitrug. Dem ursprünglichen biblischen Christentum geht es um das Schon-Hier-und-Heute des Gottesreiches. Das war die theologische Leistung Jesu: Die Nähe Gottes nicht zeitlich zu verschieben, sondern gleichsam zu verräumlichen: Gott steht vor deiner Tür, du musst ihm aber aufmachen. Paulus sagte es so: Das ewige Leben beginnt mit der Taufe.
Ich will hier aber nicht in eine Vorlesung übergehen.
Für mich liest sich das wie eine möglichst kunstvolle, weil biblischen Aussagen möglichst nicht widersprechende Formulierung des einfachen Satzes: Ein konkretes (als Person) Leben nach dem Tod ist Unsinn. Was ist eigentlich aus der Hoffnung geworden? Und dabei geht es gar nicht mal um "Lohn", denn dass es vor allem unsere Taten sind, die uns dann nach Art eines Punktesystems irgendwie für das ewige Leben qualifizieren würden, sollte gerade im Lutherjahr doch nicht mehr ernsthaft herangezogen werden.
Ich bevorzuge da eine Mischung aus Hoffnung und Rudi Carrell. Wenn es denn ewiges Leben gibt, und den Glauben daran, oder mindestens die Hoffnung danach erscheint mir bei aller raffinierten Exegetik dann doch schwer aus dem NT herauszuredigieren, dürfte es sich komplett unserer Vorstellungskraft entziehen.

--
Bevor ich mit den Wölfen heule, werd‘ ich lieber harzig, warzig grau,
verwandele ich mich in eine Eule oder vielleicht in eine graue Sau.
(Reinhard Mey)

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

01.12.2017 14:10
#15 RE: Spätherbstliche Elegie in Prosa Antworten

Ihre Kritik ist richtig bezüglich des Bemühens, der Bibel nicht zu widersprechen.Ich gehe davon aus, dass sie klüger ist als ich, und sie umfasst ja das Erfahrungswissen von vielen Glaubenden über mehr als ein Jahrtausend hinweg.

Zur Klärung:
Man kann ein Nein zum ewigen Leben ebensowenig beweisen wie ein Ja. In diesem Sinn sage ich auch ein Ja zu Carrells "Lass dich überraschen."

Alle Autoren des Neuen Testaments sind sich der Hoffnung darauf sicher. Ich verlor diesen Glaubend durch mein Theologie- und Philosophiestudium.
Erst dachte ich, damit ist kein Platz für mich in der Kirche mehr. Dann überlegte ich, dass die Juden von Abraham bis zu den Makkabäern an keine Auferstehung nach dem Tod dachten und doch groß im Glauben waren und bis heute durchhielten.Ich untersuchte daher, ob man auch katholisch sein kann, wenn man kein ewiges Leben erwartet, weil das heute viele so nüchtern sehen. Und vielleicht könnte man ihnen eine Alternative zeigen. Ich verglich es mit der Freiheit eines Paulus, Heiden ins Gottesvolk aufzunehmen ohne die Beschneidung. Kann man Christ sein ohne ...? Natürlich fand ich dann auch manche Autoren, die ähnlich formulierten, etwa Sören Kierkegaard ( in "Furcht und Zittern" und ganz ausführlich in der "Unwissenschaftlichen Nachschrift" zu den "Philosophischen Brosamen").

Fündig wurde ich bei der katholischen quietistischen Mystik, die bewusst auf einen Lohn für das Gott-lieben verzichtet, um die Liebe rein zu halten. Das ist eine ethische Haltung, mit der man dem Dogma grundsächlich nicht widerspricht, sondern dieses geradezu voraussetzt. Diese Mystiker, zu denen ein philosophisch bedeutsamer Erzbischof gehört (Fenelon), sagten: I c h will nicht in den Himmel, selbst wenn mich Gott reintun will. Es haben zudem manche, die meiner Kirche als Heilige gelten, gesagt, sie wollten lieber in die Hölle zu den Leidenden. Es konnte sich bisher auch niemand vorstellen, wie eine Mutter sich im Himmel freuen könnte, dass ihr 'missratener' Sohn in der Hölle ist.

Es gibt auch wichtige und lösbare Fragen:
Jesus war Jude und starb als Jude. Er glaubte ein Reich Gottes auf Erden, das schon da ist, aber noch wachsen wird. Dieses schon gegenwärtige Reich musste verbunden werden mit der jüdischen Vorstellung vom Gericht über die Völker, das zugleich die Erlösung der Juden wäre.
Was ist der Ort für dieses Reich? Offensichtlich nicht der Staat oder der Krieg der Zeloten gegen Rom. Jesus fing mit 12 Schülern an, seine Gedanken im jüdischen Gottesvolk zu verbreiten. Es ging um eine Einsicht und nicht um eine politische Tat, die fälschlich zum Hinrichtungsgrund wurde. Der Einwand der Juden, die Welt habe sich dadurch nicht verändert, folglich war auch Jesus ein falscher Messias, weicht aus. Alles passiert durch unser Mittun, Gott greift nicht anders ein.

Ich weiß, dass meine (konvertierte) Großmutter und meine Mutter jeden mühseligen Tag im Blick auf den Himmel bewältigten und mit Freude an die Ewigkeit dachten, meine - am Ende erblindete - Großmtter wollte dort alle zahllosen Sterne bereisen und sah keine Angst vor der langweiligen Ewigkeit; von dieser Vorfreude her nahmen sie das Maß für ihr Leben, das sehr nächstenliebend war.
Mir ist dieser Glaube so nicht mehr beschieden gewesen. Ich setze mutig auf die gleiche Sache mit meinem "Auch wenn nicht". So kann man mir nicht mit dem Opium-Vorwurf kommen, der mir schon in der Jugend den Gräberkult der Sippen fragwürdig machte.

Ludwig Weimer

nocheiner ( gelöscht )
Beiträge:

02.12.2017 18:47
#16 RE: Spätherbstliche Elegie in Prosa Antworten

Lieber Herr Weimer. Diese Passage von Thomas Mann kam mir in den Sinn, als ich Ihren zweiten Beitrag las.
Sterbebegleitung: Joseph spricht zu dem sterbenden Meier Mont-kaw:
(aus Thomas Mann – Joseph und seine Brüder).
„Friede sei mit dir!“ sprach er. „Ruhe selig, mein Vater, zur Nacht! Siehe, ich wache und sorge für deine Glieder, während du völlig sorglos den Pfad des Trostes dahinziehen magst und dich um nichts mehr zu kümmern brauchst, denke doch nur und sei heiter: um gar nichts mehr! Um deine Glieder nicht, noch um die Geschäfte des Hauses, noch um dich selbst und was aus dir werden soll und wie es sein mag mit dem Leben nach diesem Leben, - das ist es ja eben, dass alles dies und das Ganze nicht deine Sache und Sorge ist und keinerlei Unruhe dich deswegen zu plagen braucht, sondern du’s alles sein lassen kannst, wie es ist, denn irgendwie muss es ja sein, da es ist, und sich so oder so verhalten, es ist dafür bestens gesorgt, du aber hast ausgesorgt und kannst dich einfach betten ins Vorgesorgte. Ist das nicht herrlich bequem und beruhigend? Ist’s nicht mit Müssen und Dürfen heut wie nur jemals, wenn dir mein Abendsegen empfahl, doch ja nicht zu denken, du müsstest ruhen, sondern du dürftest?
Siehe, du darfst! Aus ist’s mit Plack und Plage und jeglicher Lästigkeit. Keine Leibesnot mehr, kein würgender Zudrang noch Krampfesschrecken. Nicht ekle Arznei, noch brennende Auflagen, noch schröpfende Ringelwürmer im Nacken……“

Mit besten Grüßen

nocheiner

Hanna Eiselt Offline



Beiträge: 23

02.12.2017 19:44
#17 RE: Spätherbstliche Elegie in Prosa Antworten

Gut, das gleichzeitige Miteinander aller 'Größen' kann als solches keine Beeinträchtigung sein. Im Gegenteil. Die traditionelle Vorstellung von der Auferstehung der Toten geht ja in eine ganz ähnliche Richtung: dass wir nach dem Tod im Himmel mit allen versammelt sind und mit allen Großen reden können.Dieses mein Argument der Überfüllung an Genies stimmt nicht,es würde einen Egoismus und eine Neidhaltung enthüllen. Auf Erden soll es nach christlicher Sicht ja auch schon so sein wie im Himmel.

Ich finde es bemerkenswert, dass Hr.Weimer einfach zugibt, wenn er etwas geschrieben hat, was nicht stimmig ist und dazu noch Egoismus oder Neidhaltung – Eigenschaften, die er anführt – auf sich nimmt! - So kann ein Dialog gelingen.

Hanna Eiselt

Hanna Eiselt Offline



Beiträge: 23

02.12.2017 19:52
#18 RE: Spätherbstliche Elegie in Prosa Antworten

Jeder weiß, dass die Hölle gut zu schildern ist, aber der Himmel nicht.

Dem ursprünglichen biblischen Christentum geht es um das Schon-Hier-und-Heute des Gottesreiches. Das war die theologische Leistung Jesu: Die Nähe Gottes nicht zeitlich zu verschieben, sondern gleichsam zu verräumlichen: Gott steht vor deiner Tür, du musst ihm aber aufmachen. Paulus sagte es so: Das ewige Leben beginnt mit der Taufe.


Dem ursprünglichen biblischen Christentum geht es um das Schon-Hier-und-Heute des Gottesreiches. Das war die theologische Leistung Jesu: Die Nähe Gottes nicht zeitlich zu verschieben, sondern gleichsam zu verräumlichen: Gott steht vor deiner Tür, du musst ihm aber aufmachen. Paulus sagte es so: Das ewige Leben beginnt mit der Taufe.



Wenn es stimmt, dass das Gottesreich im Schon-Hier-und-Heute erfahrbar ist, wäre da nicht der Himmel genauso gut zu schildern, wie die Hölle? Erleben wir denn hier auf Erden mehr Hölle als Himmel?

Wenn Himmel die Nähe Gottes bedeutet und Jesus, diese Nähe als hier und jetzt erfahrbar ausrief und er der Erste war, der dies behauptet hat – dann kann man daraus schließen, dass dieser Jesus, in dieser Nähe Gottes stand und eine solche Verbindung, Beziehung zu Gott haben musste, dass er dies sagen konnte und auch für andere spürbar war!

Muss dies nicht auch für jeden Christen – wenigsten hie und da gelten? Christen müssten demnach Himmels-Erfahrungen schildern können!
Ich würde sagen, es ist jegliche Erfahrungen von Glück. Vom Lotto Sechser angefangen – über, sich plötzlich zeigenden Lösungen nach schwierigen, sich nicht auflösenden Gedankengängen, die dann haargenau passen! - oder: in Begegnungen, die ganz stimmig sind..…Eigentlich ist Glück ja nichts spezifisch Christliches!
Ich denke, spezifisch Christlich ist es, wenn ich diese glücklichen Fügungen Gott zuschreiben kann und so meine eigene Beziehung zu Gott wächst – quasi als Bestätigung meiner Zustimmung, die ich in der Taufe gegeben habe.

Hanna Eiselt

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