Zitat Und es könnte sein, daß es nicht allein der Verlust der Naivität war.
Hmm. In einem Beitrag von vor gefühlt vier Wochen führten Sie aus, inwiefern SF märchenhafte, mythische Stoffe/ Themen aufgriffen, um sie mittels naturwissenschaftlicher "Erfindungen" umzusetzen. Meines Erachtens hat genau deshalb die SF-Literatur zwei Probleme:
1. Die Entmythologisiereung SÄMTLICHER Bereiche. Es gibt kaum mehr Mythen, die sich ins Technische übersetzen lassen.
Und 2. Die technischen Möglchkeiten heute, die ja, wie Sie im aktuellen Artikel schreiben, bei Weitem alles noch vor 50 Jahren Denkbare bei weitem überbieten. Wo Stanislav Lem noch philosophierte, inwiefern ein Mensch, bei dem jegliche Gleidmaßen und Organe durch neue ersetzt wurden (Wo ist denn nun sein ICH geblieben? Ist er noch derselbe?) hat die Transplanatationsmdedizin schon Vieles erreicht, was damals noch Zukunftsmusik war.
Insofern gehen SF sowohl die themenegebenden Stoffe aus, als auch das Fantastisch-Zukünftige in der Durchführung, weil wir das, was vor zwei Generationen noch Zukunftsmusik war, schon längst überholt haben.
Zitat von Bodu im Beitrag #2Wo Stanislav Lem noch philosophierte, inwiefern ein Mensch, bei dem jegliche Gleidmaßen und Organe durch neue ersetzt wurden (Wo ist denn nun sein ICH geblieben? Ist er noch derselbe?) hat die Transplanatationsmdedizin schon Vieles erreicht, was damals noch Zukunftsmusik war.
Wer die Erzählung nicht kennt, es handelt sich um eine frühe von SL, "Gibt es Sie, Mr. Jones?" Lem ist übrigens nicht der einzige, der das in den 60er Jahren, als die Transplantationsmedizin wie ein Feld der ungeahnten Möglichkeiten erschien, ebenso auf diese Idee verfallen sind. (Mit Variationen natürlich: wenn etwa ein Mensch durch Neuroimplantante mit einer Maschine, einem System "verschmilzt", zu dessen direkter Kontrollinstanz wird oder zu werden scheint: wird er dann zu etwas Neuem? Daß das interne neurologische Selbstbild hier auch auf künstliche Extensionen ausgedehnt wird, das zu zeigen ist ja eine der klassischen Versuchsanordnungen der Experimentalpsychologie, Stichwort "rubber hand") Wer den Text nicht gelesen hat: es handelt sich um einen Rennfahrer, dem subzessive nach jedem Unfall Extremitäten und innere Organe ersetzt werden (ich weiß jetzt nicht mehr, ob durch künstliche bzw. Prothesen oder durch Transplantation; aber das ist nebensächlich). Lem hat hier ein altes philosophisches Problem in die Form einer Parabel umgemünzt: die Frage des "Schiff des Theseus"; die Versuchsanordnung ist gute 2000 Jahre alt.
Das ist eine der kardinalen Spielwiesen für diese Literatur: das Gedankenexperiment. Am öftesten wohl in Sachen "Identitätstausch" durchgeführt (das ist natürlich ein klassisches phantastisches Motiv; in der SF wird dann statt eines Transfers mittels übernatürlicher Magie "Neuroimplantate" oder "Uploading" benutzt) oder die Frage "ist die Wirklichkeit-als-Wirklichkeit in Wirklichkeit eine Simulation?" Und falls ja: wie findet man es heraus? Leibniz hat das als philosophisches Erkenntnisproblem um 1700 formuliert, die SF hat das, nachdem sich das als technisch machbare Möglichkeit um 1900 herum abzuzeichenen begann, immer wieder aufgegriffen. (Hier bringt sogar das Medium Film oft gut und gar nicht so seichte Umsetzungen, von Fassbinders "Welt am Draht" über "The Matrix" bis "Inception"). der Natur nach sind solche Sondierungen nur eine kleine Ecke des Spielfelds; es könnte durchaus sein, daß nach Philip K. Dick, in Sachen paranoider Mise-en-âbime auf der einen und Greg Egan als Hochseilakrobatik in Sachen Ontologie auch dieser Bereich recht auserzählt ist.
Zitat weil wir das, was vor zwei Generationen noch Zukunftsmusik war, schon längst überholt haben.
In den meisten Bereichen ist aber das genaue Gegenteil der Fall: Warp-Drive, die Besiedlung des Alls, ubiquitäre Roboter, Nanotechnologie: all das steht nicht an. Die allermeisten Tropen, die typisch für die SF sind ("Bücher mit Raumschiffen auf dem Umschlag") - von Psi-Fähigkeiten (Telepathie als bescheidenste), diese Roboter, Zeitmaschinen, Parallelwelten (die, wenn man sie als Topos verwendet, ja irgendwie erreichbar sein müssen, und sei es nur per Sonde): all diese Versatzstücke lassen sich kaum noch mit gutem Gewissen literarisch verwenden. WENN man sie gebraucht, dann in einem zitathaften Sinn, gewissermaßen aus 2. Hand: die galaktischen Rebellen bewegen sich auf derselben Ebene wie ein heute geschriebener Sherlock-Holmes-Roman. (Bei Star Wars, das ganz bewußt von Anfang an an die alten Klischees der Space Opera der schlichten Art angeknüpft hat, war das von vornherein eingebaut.) Man kann der Umschlag von "ich drzähle mal eine Abenteuergeschichte im Dschungel der Galaxis" zu "wir tun mal so, als akzeptierten wir das Kaspertheater" zeitlich gut festmachen: ab 1967 erschienen die Earl-Dumarest-Romane von E. C. Tubb, erst bei Ace Books, dann bei DAW; der Held ist von der Erde entführt worden, sein Gedächtnis gelöscht; Band um Band sucht er nach der Erde, die nur noch ein Gerücht ist, an das niemand glaubt, er findet sie NIE. Ab ca. Bd. 10 wurde es auch hartgesottenen Dr-Kimble-Fans zuviel. 1975 erschien Fred T. Pfeils "Spectrum of a Forgotten Sun", das ganz bewußt diese alten Tropen, und NUR sie, aufgreift, aber eben nicht in parodistischer Weise, sondern als vollumfängliche Übung in Nostalgie. 1977 kam dann der erste Teil von Star Wars heraus.
Die Unmöglichkeit der ernsthaften Applikation gilt interessanterweise auch für "ernste" Motive, für die der Warnung vor zukünftigem Unheil. Nach dem Krieg war das der Atomschlag; die Vernichtung des Lebens auf der Erde. Es gab schon Anfang der 50er Jahre genügend Klagen von Lesern nach dem Motto: wir, wir wissen, daß es übele ist, wir haben es begriffen, wie können's nicht mehr hören! Die 70er Jahren waren die hohe Zeit der Warnung vor der Vernichtung der Umwelt: Verschmutzung, Überbevölkerung, Ressourcenerschöpfung. Dieser Komplex ist der einzige aus dem Bereich, der heute noch so bespielt wird/werden kann - ABER: die FfF haben nur schlichte Slogans und quasireligiöse Rituale. Sie würden aus allen Wolken fallen, wenn man ihnen eine jener Ausmalungen vom "Jahr 2000" in die Hände drücken würde, die zwischen 1968 und 1975 erschienen sind, John Brunners "The Sheep Look Up" und "The Stone That Never Came Down" etwa. Das kleine Problem bei solchen Umgüssen der "Grenzen des Wachstums" in ein literarisches Pamphlet von 400 Seiten ist: die waren auf dem Zeitraum 1990-2010 justiert und man kann nachschauen, ob die Welt mittlerweile erstickt und das Benzin restlos verbrannt ist. Generationen von Schulkids haben Gudrun Pausewangs "Die Wolke" ertragen müssen. Wer es wissen will, kann das mittlerweile mit dem RL, mit Tschernobyl und Fukushima abgleichen.
Das beeindruckt zwar die "ewigen Warner" nicht, aber diese Art von Texten sind ausschließlich negativ fixiert: sie können NUR warnen und die Zukunft schwarz malen. Und weil die geschilderte in Aussicht stehende Katastrophe ihr Dreh- und Angelpunkt ist, haben sie nichts anderes zu bieten.
Seit den 30er Jahren gab es alle 10 Jahre mal, an die "richtige literarische Avantgarde" anknüpfend, den Versuch, das Genre zu modernisieren, au courant zu bringen, ihm literarisch Gewicht zu verleihen, die alten Zöpfe abzuräumen. Am lautesten war das die New Wave der 1960er. Cyberpunk, 20 Jahre später, ist recht schnell versackt und hat hauptsächlich als Gestaltungweise die Übernahme der Atmosphäre der Schwarzen Krimis à la Raymond Chandler hinterlassen: hier ist das Genre tatsächlich ringsum von der technischen Entwicklung in den Senkel gestellt worden. Man muß sich nur mal die Zündmomente aus "Neuromancer" ins Gedächtnis rufen, Stand der Zukunft von 1984, zynisch und down und finster - der Eingangssatz: "The sky was the color of television, tuned to a dead channel." Nachgeborenen ist der Satz heute nur noch durch aufwendige Technik-Archäologie erklärbär. Der Moment, in dem die künstliche Intelligenz Wintermute "erwacht" und Case anruft: er geht durch die Flughafenlobby, und während er geht, klingelt einer der Fernsprecher nach dem anderen neben ihm, wieder und wieder... (Amor Towles hat übrigens im der Schlußszene von "A Gentleman in Moscow" genau auf dieses Tableau angespielt).
Der letzte solche Versuch war das Projekt der "Mundane Science Fiction", von Geoff Ryman so um 2005 als reines Gedankenexperiment lanciert. Das Ziel sollte sein, Texte zu erstellen, in denen nur das vorkommt, was in 50, 100, 200 Jahren tatsächlich, krass-konkret, ipso facto möglich sein wird - soweit sich das ausloten läßt: keine magische Technologie, nach heutigem Wissen keine Aliens, keine Zeitreisen. Was bleibt dann noch? (Der Witz erschließt sich erst, wenn man das Themenspektrum über den technologischen Hintergrund ausweitet: sind etwa Utopien erlauubt? Laufen die naturgesetzlich ins Totalitäre und/oder ökonomische Desaster? Das war nicht als literarisches Programm, sondern als Anregung zur Reflektion darüber gedacht. Es gibt aber einen Roman, der vollunfänglich dieses Programm einlöst: Kim Stanley Robinsons "Aurora" von 2015. Da geht es um die erste interstellare Expedition; mit einem Generationenraumschiff. KSR hat sein Möglichstes getan, um den Aufwand, die Zeiten, die technischen Lösungen durchzukalkulieren (ein paar Schoten hat jeder Leser gefunden, und jeder davon andere; die Machart regt ja an, darauf zu achten; das ist aber bei KSR seit "Red Mars" Standard). Und das endet in Vergeblichkeit, im Scheitern: die Sterne bleiben uns vorenthalten. Die in Aussicht stehenden Möglichkeiten sind gegenüber den Visionen vor 50 Jahren oder 100, mittlerweile überaus geschrumpft. (Wobei dieses "vor 50" ironisch ist: die Blumenkinder und Aussteiger und Alternativlinge sahen die Zukunft ja rabenschwarz und vergiftet; nur der Verzicht auf die moderne Technik und den Kapitalismus konnte die Erde retten; die Grünen und mittlerweile des gesamte Mainstream haben das vollumfänglich beerbt.)
"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #3die Frage des "Schiff des Theseus"; die Versuchsanordnung ist gute 2000 Jahre alt.
Die Frage interessiert mich. Wenn ich sie mal mit meinem Renault Mégane durchspiele, Erstzulassung 2009: vor vier Jahren neue Kupplung, heuer neue Bremsscheiben samt Radlager, von Wischblättern, Leuchtmitteln oder gar Winterrädern gar nicht zu reden. Und es (sie? er?) kam neulich wieder durch den TÜV, als das Auto, als das es damals zugelassen wurde. Also bleibt das Auto dasselbe, auch wenn noch so viele Teile ausgetauscht wurden. Andererseits, ... .
Das geht auch noch "closer to home". Als Beiseit findet sich in Büchern zur Biologie des menschlichen Körpers des öfteren die Anmerkung, daß ja sämtliche Zellen dieses menschlichen Körpers alle 7 bis 10 Jahre ersetzt werden. (Ganz exakt stimmt das nicht; es gibt Gewebe, gerade im ZNS, bei denen das nicht der Fall ist; die alte Faustregeln ist "abgestorbene Gehirnzellen werden nicht ersetzt", obwohl das auch nicht absolut zutrifft.) Man kann das auf der zellulären wie auf der molekularen Ebene spielen.
Zitat von Medium.comSome cells, in fact, never get replaced at all, remaining with us from birth until death. These include many of the neurons in our cerebellum (the part of the brain that controls balance and coordination), and the cells that make up the lenses in our eyes.
Other cells are replaced at varying rates: Red blood cells have a lifespan of just 70–120 days. Intestinal cells turn over every 10 years or so — but the epithelial cells (exposed to the inside of the intestine) only last about 5 days, while the other intestinal cells last around 16 years. Skeletal muscle cells last around 15 years. An average skin cell only lasts about 14 days before dying.
Die Frage läßt sich also entscheiden, indem man sie auf eine andere Ebene hebt (damit lassen sich ja die meisten Paradoxa aufdröseln), nämlich der funktionellen. Eine Institution, eine Behörde, eine Universität, die Royal Society bleibt die gleiche, auch wenn die Gründungsmitglieder nur noch im Geiste dort spuken, solange Satzung und Ausrichtung sich nicht diametral ändern. Für andere Netzwerke gilt dasselbe. Für das Individuum, mit Umfeld, Biographie, genetischer Information, Prägung, Persönlichkeitsstruktur und Interessenlage ditto. (Es wäre aber kein zünftiges philosophisches Paradox, wenn 3 verschiedene Nachdenker da nicht im Handumdrehen einen ganzen Turm von Babel an weiteren Umdrehungen und Ausdeutungen anbauen könnten.)
Was die Zellen in den Augenlinsen betrifft, kann ich seit einiger Zeit nicht mehr mitspielen, weil sie durch Artefakte ersetzt worden sind. Frage an die Experten: darf ich mich jetzt als Teilzeit-Androiden betrachten?
"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #5Was die Zellen in den Augenlinsen betrifft, kann ich seit einiger Zeit nicht mehr mitspielen, weil sie durch Artefakte ersetzt worden sind. Frage an die Experten: darf ich mich jetzt als Teilzeit-Androiden betrachten?
Diese Frage, ob rhetorisch oder sonstwie gestellt, kann ich nicht beantworten. Aber soweit ich flüchtig erkunden konnte, gäbe es eine Vollzeitstelle für Sie. Und nicht nur eine.
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