Das Folgende sorgsam auseinanderzufalten würde einige Slalomfahrten durch Natur- & Kunstgeschichte, Abteilung Nettes Curiositäten=Cabinett, erfordern, m.a.W. einen meiner assoziativen Tauchausflüge in die entlegenen Ecken der Bibliothek. Da ich aber zeitnah kurz auf den Anlaß hinweisen möchte, nur ganz kurz in drei Stichworten angerissen.
(a) Zufällig stolpere ich gestern über die Tatsache, daß eines der Kleinodien im nahegelegenen Natur- und Kulturmuseum "De Museumsfabriek" im niederländischen Enschede, 2008 aus der Zusammenlegung dreier disparater Sammlungen entstanden (Lokalgeschichte, Naturgeschichte, Industriegeschichte + Volkssternwarte) eine der drei in den Niederlanden vorhandenen Xylotheken aus dem Anfang des. 19. Jahrhunderts unter seinen Schätzen verwahrt: eine Sammlung von Holzbüchern, in Form von Schachteln in Buchform, in deren Innern Samen, Früchte, getrocknetes Laub und eine detaillierte Beschreibung der Art verwahrt werden. Alle drei Sammlungen sind zwischen 1802 und 1808 durch den Nürnberger Botaniker Franz Anton von Stuivenberg angefertigt worden und von Louis Bonaparte, von 1806 bis 1810 Regent des von seinem älteren Bruder geschaffenen Königreichs der Niederlande 1809 an die Universitäten von Leyden, Franeker & Hardwijk geschenkt worden, um sich bei den Holländern lieb Kind zu machen. Die Hardwijker Sammlung, die aus 147 Bänden besteht, ist 1949 an das damalige naturkundliche Museum in Enschede als Dauerleihgabe gekommen.
(b) Judith Schalansky, deren essayistische Tour d'horizon "Verzeichnis einiger Verluste" (2018) nicht nur für mich eine der großen stilistischen Entdeckungen in der deutschsprachigen Literatur der letzten Jahre war, hat sich unlängst für ihren Langessay in Buchform "Schwankende Kanarien" ziemlich einhelliges Lob von Seiten der Kritik eingefahren.
Zitat Auf die Frage, was die Vogelgesangstheorie "Singing for Sex" und der "Stimmfühlungslaut" mit Kunst zu tun hat, kann Judith Schalansky beredt Antwort geben. Für den Essay "Schwankende Kanarien" erhält sie am 16. Juni in Frankfurt den "Wortmeldungen Ulrike Crespo Literaturpreis" 2023.
In ihrem ausgezeichneten Text geht Schalansky von jenen Kanarienvögeln aus, die einst Bergarbeiter vor dem Sauerstoffabfall in den Minen warnten, und fragt, mit welchen Dramaturgien oder Erzählmustern Literatur heute als ökologisches Frühwarnsystem fungieren könnte.
(c) Judith Schalansky ist der (generisches Maskulinum!) letzte und bislang einzige deutsche Autor, der für die "Framtidsbiblioteket" (auch international verständlicher als "Future Library" geläufig) in der Nähe von Oslo einen Text abgeliefert hat: "Fusseln und Splitter: Eine Chronik" (2022). Das Projekt ist 2014 von der schottischen Künstlerin Katie Paterson begonnen worden. Jedes Jahr wird ein (einigermaßen renommierter) Autor um einen Text von 80 bis 100 Seiten Länge gebeten, angefangen mit Margaret Atwood und David Mitchell. Die Texte werden in einem Safe der Stadtbibliothek Oslo verwahrt und sollen zum 100. Jahr des Projekt veröffentlicht werden. das Holz für das Papier dieser Ausgaben soll aus einem Fichtenwäldchen geschlagen werden, das nördlich von Oslo angelegt worden ist. Es handelt sich also um eine literarische Wette auf die Zukunft und die Hoffnung, daß es die Darreichungsform "Buch" in einem Jahrhundert immer noch geben wird. (Was zumindest für bibliophile Ausgaben durchaus berechtigt sein dürfte. Die großen Bibliotheken werden sich nicht ausflösen, selbst wenn der größte Teil des in ihren verwahrten kulturellen Gedächtnisses mittlerweile in Sekundenschnelle auf elektronischem Weg verfügbar ist).
Stichwort "Främtidsbiblioteket": die amerikanische Autorin Peng Shepherd, die sich "im Genre" im vorigen Jahr mit ihrem zweiten Roman "The Cartographers" einen Namen gemacht hat, hat vor zwei Jahren mit der SF-Erzhälung "The Future Library" dieses Projekt zum zentralen Thema genommen.
Zitat More than a hundred years from now, an arborist fighting to save the last remaining forest on Earth discovers a secret about the trees—one that changes not only her life, but also the fate of our world. Inspired by the real-life Framtidsbiblioteket, a long-term literary and environmental public art project underway in the Norwegian wilderness.
Zitat Peng Shepherd’s eco-horror tale, “The Future Library,” hits close to home, utilizing the real Future Library as inspiration for the near-future death of humanity. When arboriculturalist Ingrid Hagen discovers a precious, preternatural secret about the trees in the Future Library, she is not only ignored, but actively silenced for fear that the trees’ new abilities will wreck the project’s profits. As Ingrid rots in jail and the Earth rots everywhere, humanity’s search for a quick, easy fix denies the obvious answers that have always been at our fingertips. The consumerist nature of humanity’s endless curiosity knows no bounds in Shepard’s narrative, but the nature of Ingrid’s character postulates that individuals can value life over the products it can manufacture, and that they can make a difference. Shepherd’s use of Ingrid’s first person perspective controls information to the reader with a familiar yet efficient structure. Ending with a rhetorical question may be a bit much for some readers, but the overall ending is impactful, tying up a love story between Ingrid and her wife, and of an arborist and her forest. Ingrid’s direct appeal to the reader adds much-needed hope to an otherwise depressing narrative set in a worst-case what-if scenario. To double the eco-horror of this piece, read about the real Forest of the Future and note all the real names used in Shepherd’s setup.
PS. Sollte jemand einwenden, ein solcher Text wie der von Frau Schalansky würde doch allem diametral zuwiederlaufen, was ich an dieser Stelle seit Jahren vehement betone, hätte dieser Jemand absolut recht. Aus einer der "How dare you?"-lastigen Besprechungen (der kleine Zyniker merkt an, daß bis 1989 im "N.D." stets zu lesen war, daß Umweltverschmutzung überhaupt nur westlich des Schutzwalls existieren würde):
Zitat Ein solches Bändchen ist auch »Schwankende Kanarien«, ein langer Essay von Judith Schalansky, in dem die Autorin eine der gewichtigen Fragen der Zeit verhandelt: Es geht um die von der kapitalistischen Produktion geschaffene Umweltverschmutzung und den damit einhergehenden Klimawandel. Dieses Problem bedarf dringend einer Lösung, weil es die natürlichen Grundlagen des Lebens auf der Erde bedroht. Das Fatale an der Sache: Die Auswirkungen der Klimaänderung richten sich nicht nur gegen ihre Verursacher, gegen jene, die ihre 300 Prozent Profit einstecken, sondern auch gegen jene, die diesen Profit erwirtschaften ― gegen uns alle; sie machen vor keinem halt, sie nehmen keine Rücksicht auf Klasse und Stand und Verantwortlichkeit; für sie sind Grenzen nichtig.
Konservative und Liberale machen uns gern weis, es sei doch nicht so schlimm. So schlecht steht es um die Luft zum Atmen nicht. Und die Wirtschaft! Und unser aller Wohlstand! Wenn erst mal in jedem Haus Erdwärme für zipfelmützige Gemütlichkeit sorgt und jeder ein Elektroauto fährt, wird sich das Klima schon reparieren. Die Temperaturen werden dorthin sinken, wo sie herkommen, und es wird sein wie früher, als pünktlich am Heiligabend der Zug zwischen Berlin und Karl-Marx-Stadt bei Mittweida im Schnee steckenblieb.
Die Frage, die im Raum steht, lautet: Befinden wir uns an einem Punkt, an dem die Entwicklung in eine neue Richtung gelenkt werden kann? An einem Punkt, an dem das System kollabiert, eine Art ausstirbt, ein Gewässer umkippt? Oder sind wir längst am Point of no Return angekommen oder stehen kurz davor? An jenem Punkt, an dem egal ist, was wir tun, weil nichts mehr zu retten ist? Woran erkennen wir, wie es um die Dinge steht?
Damit sind explizit Leute wie ich gemeint: es gibt tatsächlich keine "Klimakrise", das fünfte Artensterben findet nicht statt & die Ozeane werden nicht überschwappen. Aber ohne diesen Unterton sind solche Essays, die sich gegen die seelenlose Technik und für die gefährdete Natur (die äußere wie die der Innerlichkeit) nicht zu haben: es ist der Gattung eingeschrieben - und zwar schon länger, als die meisten dieser Erweckungsprediger ahnen: nämlich spätestens seit Thoreaus "Walden." Auf der anderen Seite steht: Optimismus, in technischer wie in ökologischer Hinsicht, mag in der Sache vollkommen richtig liegen. Aber er produziert keine literarisch gehaltvollen Texte.
"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire
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