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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 5 Antworten
und wurde 904 mal aufgerufen
 Geschichte, Philosophie, Religion
Zettel Offline




Beiträge: 20.200

30.07.2006 16:37
Tugenden Antworten

Auf diesen schon etwas älteren Beitrag in Zettels Raum ist ein sehr interessanter Kommentar von Reader eingegangen mit dem Hinweis auf ein Buch, dessen Autorin, wenn ich das Zitat in Readers Beitrag richtig interpretiere, im Kapitalismus die besten Voraussetzungen für die Entwicklung von Bürgertugenden sieht.

Das ist auch meine Meinung. Es liegt im Grunde auf der Hand, wenn man die Lebensbedingungen in den entwickelten kapitalistischen Ländern mit denen in allen anderen Gesellschafts- und Wirtschaftssystemen vergleicht.


Warum sind dennoch so viele Menschen - gerade viele der Gebildeteren - so kapitalismuskritisch? Ich glaube, weil der Kapitalismus eines nicht vespricht, was viele sich erträumen: Den Himmel auf Erden.

Den suchen sie in säkularen Religionen wie denen von Marx und Hitler. Oder - neuerdings - immer mehr in einer Gesellschaftsordnung, die sozusagen die Bedingungen auf Erden am Himmel orientiert; also in einem Gottestaat.

Herzlich, Zettel

Reader Offline



Beiträge: 803

30.07.2006 17:40
#2 RE: Tugenden Antworten
In Antwort auf:
... Hinweis auf ein Buch, dessen Autorin, wenn ich das Zitat in Readers Beitrag richtig interpretiere, im Kapitalismus die besten Voraussetzungen für die Entwicklung von Bürgertugenden sieht.

So hatte ich es auch verstanden.

In Antwort auf:
Das ist auch meine Meinung. Es liegt im Grunde auf der Hand, wenn man die Lebensbedingungen in den entwickelten kapitalistischen Ländern mit denen in allen anderen Gesellschafts- und Wirtschaftssystemen vergleicht.

Mir fällt immer wieder auf, dass in deutschsprachigen Medien "Kapitalismus" oft in einem negativen Zusammenhang erwähnt wird. Jüngst von einem Schriftsteller, der ein osteuropäisches Land bereist hat, um dort die idyllischen Dorfszenen festzuhalten, bevor sie vom Kapitalismus zerstört werden. Wo er wohl war, als der reale Sozialismus herrschte und die Bagger des kommunistischen Tyrannen ein Dorf nach dem anderen dem Erdboden gleichmachten?

Hier noch zwei Zitate aus dem Buch:

In Antwort auf:
(Zitat) In his recent [b]book on the intellectual history of modern capitalism Jerry Muller notes that "the market was most frequently attacked by those who viewed its intrinsic purposelessness as leading to an intrinsic purposelessness in human life as such, and who sought radical alternatives on the left and right." That is indeed what the left and right believed, and still believe. They believe in the cultural critique of capitalism, a critique which once justified the Arts and Crafts movement and socialist realism on the left and the architecture and poetry of fascism on the right, .... I say that the cultural critique is mistaken.

In Antwort auf:
(Zitat) The triple revolutions of the past two centuries in politics, population, and prosperity are connected. They have had a cause and a consequence, I claim, in ethically better people. I said "better." Capitalism has not corrupted our souls. It has improved them.


Lieben Gruß von
R.r

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

30.07.2006 18:55
#3 RE: Tugenden Antworten
Dear Reader,

In Antwort auf:
Mir fällt immer wieder auf, dass in deutschsprachigen Medien "Kapitalismus" oft in einem negativen Zusammenhang erwähnt wird.

Aber Hallo! Noch bis vor vielleicht einem Jahrzehnt wurde der Begriff eigentlich nur mit negativer Konnotation verwendet. Wer etwas am Kapitalismus loben wollte, der sprach von der "Marktwirtschaft", oder noch besser von der "sozialen Marktwirtschaft". - Das war (und ist) halt Ausdruck der weitgehenden Meinungsdominanz, die diejenigen, die in ihrer Jugend eine Minderheit gewesen waren, allmählich in (fast) allen Lebensbereichen errungen hatten.


In Frankreich hat es ein solches Durchdringen der Gesellschaft mit Achtundsechziger-Ideologie übrigens nicht gegeben. Das dürfte teils daran gelegen haben, daß es in Frankreich immer eine intellektuell potente konservative Rechte gegeben hat; allseits geachtete Rechtsintellektuelle wie zB François Mauriac oder de Gaulles Kultusminister André Malraux.

Zweitens - und wahrscheinlich wichtiger - ist links sein in Frankreich sozusagen eine natürliche Phase in der Biographie eines Intellektuellen. Als Student ist man Trotzkist, war man früher Maoist, oder man sympathisiert mit der PCF. Wenn man die Uni oder - vor allem - eine Grande École absolviert hat, dann macht man Karriere und wird entweder konservativ oder Sozialdemokrat. Auch Malraux war in seiner Jugend Kommunist gewesen; so wie viele der heute so bekannten konservativen "Nouveaux Philosophes" wie André Glucksmann und Bernard-Henri Lévy.

Der Ideologie des "Mai 68", wie man das in Frankreich nennt, ist man dadurch sozusagen auf natürliche Weise entwachsen. Während in Deutschland diejenigen, die uns von 1998 bis 2005 regiert haben, gewissermaßen intellektuell in ihrer Jugend hängengeblieben sind.

In Antwort auf:
Jüngst von einem Schriftsteller, der ein osteuropäisches Land bereist hat, um dort die idyllischen Dorfszenen festzuhalten, bevor sie vom Kapitalismus zerstört werden. Wo er wohl war, als der reale Sozialismus herrschte und die Bagger des kommunistischen Tyrannen ein Dorf nach dem anderen dem Erdboden gleichmachten?

Ja, das ist wirklich seltsam. Natürlich war im Sozialismus vieles idyllischer als bei uns. Aus demselben Grund, aus dem es im hintersten Sizilien oder in den französischen Causses idyllisch ist: Weil der Fortschritt an diesen Gegenden vorbeigegangen ist.

Noch kurz vor der Wende hat mir jemand versichert, daß in der DDR der Umweltschutz viel besser sei als bei uns. Beweis: Dort gebe es noch zahlreiche Störche. Ja, von denen berichteten westliche Journalisten, die die DDR bereist hatten. Von der Luftqualität in und um Bitterfeld nicht.

In Antwort auf:
(Zitat) The triple revolutions of the past two centuries in politics, population, and prosperity are connected. They have had a cause and a consequence, I claim, in ethically better people. I said "better." Capitalism has not corrupted our souls. It has improved them.

Das ist auch meine Überzeugung. Ökonomisch egoistisch sind die meisten Menschen immer gewesen und werden sie auch immer sein (was nicht ausschließt, daß jeder auch seine altruistischen Seiten hat). Aber erst der Kapitalismus hat diesen ökonomischen Egoismus strengen Regeln unterworfen, ihn damit sozusagen versittlicht. So, wie die Demokratie dem politischen Machtkampf Regeln auferlegt hat.


Beides gehört eben zusammen, Demokratie und Kapitalismus - die ökonomische Freiheit des Bourgeois und die politische des Citoyen; beide gezügelt durch die Regeln der Demokratie und des Freien Marktes. Und damit diese Regeln akzeptiert und durchgesetzt werden, bedarf es eines Rechtsstaats.

Das ist die Ordnung, die sich gerade erst weltweit zu entwickeln beginnt. Wir leben nicht im Spätkapitalismus, sondern in der Frühzeit einer weltweiten Durchsetzung der Aufklärung.

Hoffe ich jedenfalls.

Herzlich, Zettel

Reader Offline



Beiträge: 803

30.07.2006 22:52
#4 RE: Tugenden Antworten

In Antwort auf:
Aber Hallo! Noch bis vor vielleicht einem Jahrzehnt wurde der Begriff eigentlich nur mit negativer Konnotation verwendet. Wer etwas am Kapitalismus loben wollte, der sprach von der "Marktwirtschaft", oder noch besser von der "sozialen Marktwirtschaft". - Das war (und ist) halt Ausdruck der weitgehenden Meinungsdominanz, die diejenigen, die in ihrer Jugend eine Minderheit gewesen waren, allmählich in (fast) allen Lebensbereichen errungen hatten.

So langsam begreife ich ja, was in Deutschland los war all die Jahrzehnte, ich hatte mir das nie so vorstellen können.
Irgendwie ist rechts und links in den USA doch was Anderes.

In Antwort auf:
Zweitens - und wahrscheinlich wichtiger - ist links sein in Frankreich sozusagen eine natürliche Phase in der Biographie eines Intellektuellen. Als Student ist man Trotzkist, war man früher Maoist, oder man sympathisiert mit der PCF. Wenn man die Uni oder - vor allem - eine Grande École absolviert hat, dann macht man Karriere und wird entweder konservativ oder Sozialdemokrat. Auch Malraux war in seiner Jugend Kommunist gewesen; so wie viele der heute so bekannten konservativen "Nouveaux Philosophes" wie André Glucksmann und Bernard-Henri Lévy.

Ja, das wußte ich und erwartete irgendwie, in Deutschland wäre die Entwicklung ähnlich.

In Antwort auf:
Ja, das ist wirklich seltsam. Natürlich war im Sozialismus vieles idyllischer als bei uns. Aus demselben Grund, aus dem es im hintersten Sizilien oder in den französischen Causses idyllisch ist: Weil der Fortschritt an diesen Gegenden vorbeigegangen ist.

Idyllisch mit rückständig verwechselt eben auch nur einer, der in so einer falschen Idylle nicht leben, vor allem nicht sein Brot verdienen muß.

In Antwort auf:
Beides gehört eben zusammen, Demokratie und Kapitalismus - die ökonomische Freiheit des Bourgeois und die politische des Citoyen; beide gezügelt durch die Regeln der Demokratie und des Freien Marktes. Und damit diese Regeln akzeptiert und durchgesetzt werden, bedarf es eines Rechtsstaats.

Amen.

Gutenacht,
R.r


Zettel Offline




Beiträge: 20.200

30.07.2006 23:50
#5 RE: Tugenden Antworten

Dear Reader,

In Antwort auf:
So langsam begreife ich ja, was in Deutschland los war all die Jahrzehnte, ich hatte mir das nie so vorstellen können. Irgendwie ist rechts und links in den USA doch was Anderes.

Ja, es ist eine seltsame Entwicklung in Deutschland; vielleicht schreibe ich mal in Zettels Raum eine kleine Serie darüber. Kurz zusammengefaßt meine Sicht:

  • Bis ungefähr 1966 war die Entwicklung in Deutschland ziemlich normal, dh sie entsprach der in den anderen demokratischen Rechtsstaaten. Das ganze politische Spektrum war in den Institutionen vertreten; und wie in vielen Ländern war die Rechte (CDU, FDP, DP, zeitweise BHE) überwiegend an der Regierung und war andererseits die Linke dominant im intellektuellen Leben - in den Verlagen, im Bereich der Kunst usw.

  • Die weltweite Jugendrevolte Ende der sechziger Jahre hatte in Deutschland eine sehr spezielle Ausprägung. Sie richtete sich nur anfänglich gegen das als verkrustet empfundene "Establishment", wie zB in den USA, nahm aber bald den Charakter einer Abrechnung mit dem sogenannten Faschismus an (gemeint war nicht der Faschismus, sondern der Nazismus). Unter erheblicher verdeckter Einflußnahme aus der DDR wurde dabei alles, was nicht links war, als "faschistoid", "präfaschistisch" und dergleichen gebrandmarkt. An den Universitäten war das besonders erfolgreich; so daß zum Beispiel die in der Wolle gefärbt liberalen, teilweise sogar sozialdemokratischen Professoren, die den "Bund Freiheit der Wissenschaft" gegründet hatten, in den Ruch des Rechtsextremismus gebracht wurden.

  • Eine weitere deutsche Besonderheit war die Unterwanderung der Partei der Grünen durch Linksextremisten. Als sich die diverse kommunistische Parteien wie die KPD/AO, die KPD/ML, der KBW, der KB usw entweder auflösten oder an Bedeutung verloren, gingen viele ihrer Mitglieder und Funktionäre in diese Partei und eroberten sehr schnell Schlüsselpositionen. Konservative Grüne wie Herbert Gruhl traten aus und gründeten die ÖDP, die aber keinen parlamentarischen Erfolg hatte.

  • Diese Kommunisten hatten damit das begonnen, was Rudi Dutschke als Parole ausgegeben hatte: Den "Langen Marsch durch die Institutionen". Und das taten auch diejenigen Linken, die keine Kommunisten gewesen waren. Manche haben dabei sicherlich ihre Ansichten mehr oder weniger geändert. Aber die Diskreditierung aller politischen Überzeugungen rechts von der SPD blieb erhalten. Man kann das daran sehen, daß noch heute bis in die TV-Nachrichten hinein Rechtsextremisten als "Rechte" bezeichnet werden und der Kampf gegen sie unter dem Etikett "Kampf gegen Rechts" läuft.

  • In Antwort auf:
    Idyllisch mit rückständig verwechselt eben auch nur einer, der in so einer falschen Idylle nicht leben, vor allem nicht sein Brot verdienen muß.

    Ich habe zufällig gestern eine Erzählung von Robert Gernhardt gelesen, die dazu paßt - "Geteiltes Land - gemischte Gefühle". Über den die Idylle bewundernden DDR-Besucher aus dem Westen heißt es da: "Es war nämlich, aber das mochte er nicht einmal sich selbst eingestehen, die Brille des Ethnologen, durch die er die Dörfer und Menschen betrachtete, stets auf der Suche nach Spuren erhaltener Unschuld und vorindustrieller Schönheit. Die Eingeborenen (...) wußten gar nicht, wie schön sie es hatten".

    Herzlich, Zettel

    Turbofee Offline



    Beiträge: 329

    31.07.2006 22:35
    #6 RE: Tugenden Antworten
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