Nicht daß sie oft nicht sehr sinnvoll sind, die Direktiven aus Brüssel, ist aus meiner Sicht das Übel. Sondern daß es sie überhaupt gibt. In Bereichen, die Brüssel nichts angehen.
In einem aktuellen Beispiel: Nicht daß eine Brüsseler Direktive auch das Land Berlin zwang, ein Seilbahngesetz zu schaffen, ist der Schildbürgersteich. Sondern schildbürgerhaft ist es, daß überhaupt Brüssel für Seilbahnen zuständig ist.
Dahinter steckt, behaupte ich, das Denken von Schildbürgern im ureigensten Sinn des Wortes. So, wie sie Karl Simrock beschrieben hat.
Bei so einer Sache wäre ich gerne an den Detaills interessiert. Abstrus ist ja schon die Haltung "Lieber Berliner Abgeordneten, wenn ihr das (oder ein ähnliches) Gesetz nicht unterschreibt, muss das Land Berlin leider XY Euro Strafe zahlen". Was ist denn? Das ist doch ein Witz, denn entweder haben wir die Kompetenz bzgl. Seilbahn nach Brüssel abgegeben oder nicht. Im ersten Falle wäre es ein Witz (oder Schildbürgerstreich) die Landesparlamente (oder nationalstaatlichen Parlamenten) zum Abnicken zu zwingen. Und im zweiten Falle wäre die Strafandrohung illegitim.
Wer aber hat die EU zur Seilbahnkompetenzen ermächtigt? Hat die das selber getan? Hat es das Land Berlin getan? Ich weiss es nicht.
Umso mehr kann ich aber jetzt die Bedenken von v. Arnim und Schachtschneider in der von Ihnen erwähnten Phoenix-Diskussion verstehen. Es darf nicht sein, dass EU die Kompetenz-Kompetenz erlangt.
Wenn ich es richtig sehe, dann rechtfertigt beruht die Richtlinie auf der EU Kompetenz für einen gemeinsamen Binnenmarkt (Artikel 95 EG Vertrag) und auf der Harmonisierung des "Rechts und Verwaltungsvorschriften zum Ausüben selbstständiger Tätigkeit" (Artikel 47 Abs 2 EG-Vertrag). Ich zitiere Artikel 47 (2):
In Antwort auf:(1) Um die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Tätigkeiten zu erleichtern, erlässt der Rat nach dem Verfahren des Artikels 251 Richtlinien für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise. (2) Zu dem gleichen Zweck erlässt der Rat gemäß dem Verfahren des Artikels 251 Richtlinien zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Tätigkeiten. Der Rat beschließt im Rahmen des Verfahrens des Artikels 251 einstimmig über Richtlinien, deren Durchführung in mindestens einem Mitgliedstaat eine Änderung bestehender gesetzlicher Grundsätze der Berufsordnung hinsichtlich der Ausbildung und der Bedingungen für den Zugang na
Das interpretiere ich als "die EU ermächtigt sich dieser Kompetenz selbst", denn für einen gemeinsamen Binnenmarkt ist die Regelung nicht erforderlich (genauer: nonsense) und mit der Ausübung selbstständiger Tätigkeit hat sie rein gar nichts zu tun.
Sie enthält aber auch gewisse Schmankerl, z.B. die Definition einer Seilbahn:
In Antwort auf:Im Sinne dieser Richtlinie sind Seilbahnen für den Personenverkehr Anlagen aus mehreren Bauteilen, die geplant, gebaut, montiert und in Betrieb genommen werden, um Personen zu befördern
Wenn Sie also morgen zur Arbeit fahren und bisher dachten, sie stiegen in ein Auto, ab heute wissen sie es: Es ist eine Seilbahn.
Das wirft auch eine andere Frage auf: Seit wann werden Gesetze mit Bussenandrohungen an öffentliche Stellen durchgesetzt? Wird das auch praktiziert, wenn Bayern sich nicht an Bundesgesetzgebung hält? Oder wie funktioniert es denn da? Ich habe jedenfalls noch nie gehört, dass der Bund einem Land mit Gefängnistrafen(!) oder Bussgeldern gedroht hätte. Ist das nicht eine Frage der Akzeptanz. Akzeptanz erreicht man dadurch, dass man die Sinnhaftigkeit einer Massnahme überzeugend darstellt, auf Gegenagumente eingeht und sich schlussendlich auf einen Kompromiss einigt, im gegenseitigen Einverständnis. Das alles fehlt beim Diktat von Brüssel. Das Paradoxe daran ist, dass unsere eigenen Vertreter in Brüssel Gesetze erlassen, die ihren eigenen Staat bestrafen. Aber vielleicht ist das so gewollt. Jedensfalls zieht die EU mit solchen Erlassen das Geld direkt aus den Geldbeuteln der Bürger, die nicht das Geringste dazu zu sagen haben: Das Gesetz wird Berlin aufoktroiert, die Bürger können sich nicht dagegen wehren. Die Bürger von Berlin haben auch nicht die Möglichkeit, ihre Landesregierung zur Übernahme des verordneten Gesetzes zu zwingen, sie wussten vermutlich gar nicht, dass so etwas überhaupt zur Diskussion stand. Ebenso wenig haben die Bürger die Möglichkeit, die Bezahlung des Bussgeldes zu verweigern, der Entscheid wird von wenigen Politikern gefällt, die das nicht weiter kratzt, denn es betrifft nicht ihre Privatkonten.
In Antwort auf:Wenn Sie also morgen zur Arbeit fahren und bisher dachten, sie stiegen in ein Auto, ab heute wissen sie es: Es ist eine Seilbahn.
Als ich heute morgen meine Enkeltochter im Kinderwagen ausfahren wollte, schrie sie ganz fürchterlich. Auf meine Frage, was denn los sei, sagte sie: "ich will nicht in eine Seilbahn einsteigen, ich habe Angst"
Zitat von vivendiDas wirft auch eine andere Frage auf: Seit wann werden Gesetze mit Bussenandrohungen an öffentliche Stellen durchgesetzt? Wird das auch praktiziert, wenn Bayern sich nicht an Bundesgesetzgebung hält? Oder wie funktioniert es denn da? Ich habe jedenfalls noch nie gehört, dass der Bund einem Land mit Gefängnistrafen(!) oder Bussgeldern gedroht hätte.
Da geht es noch ruppiger zu:
Zitat von GrundgesetzArtikel 37 (1) Wenn ein Land die ihm nach dem Grundgesetze oder einem anderen Bundesgesetze obliegenden Bundespflichten nicht erfüllt, kann die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates die notwendigen Maßnahmen treffen, um das Land im Wege des Bundeszwanges zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten. (2) Zur Durchführung des Bundeszwanges hat die Bundesregierung oder ihr Beauftragter das Weisungsrecht gegenüber allen Ländern und ihren Behörden.
Wahrscheinlicher ist freilich eine Klage des Bundes gegen das Land beim Bundesverfassungsgericht. Der Bundeszwang nach Art. 37 GG ist bislang noch nie angewandet worden; nichtmal gegen das aufmüpfige Bayern.
Der "wissenschaftliche Dienst des Bundestages" erläutert:
Zitat von Möglichkeiten des Bundeszwangs nach Art. 37 Grundgesetz – Einsetzung eines “Sparkommissars“?Im Übrigen erlaubt der Bundeszwang alle „notwendigen Maßnahmen“, ohne eine Eingrenzung festzulegen. Notwendige Maßnahmen sind danach alle zur Verfügung stehenden Machtmittel, die zur Durchsetzung der Pflichterfüllung des Landes erforderlich und nicht bloß zweckmäßig sind [39]. Unzulässig sind deshalb sämtliche Maßnahmen reinen Strafcharakters [40]. Des Weiteren können bestimmte Machtmittel durch andere Verfassungsbestimmungen ausgeschlossen sein, wie z.B. die Liquidation eines Landes (arg. Art. 29 GG) [41]. Zulässig ist dagegen die Einsetzung eines „Bundeskommissars“ [42] mit allgemeiner oder spezieller Vollmacht [43].
[39] Stern, S. 716; Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 37 Rn. 47. [40] Maunz, in: Maunz-Dürig, Art. 37 Rn. 54; Stern, S. 716 m.w.N. [41] Eine Auflistung zulässiger und unzulässiger Mittel des Bundeszwangs findet sich z.B. bei Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 37 Rn. 47 ff. m.w.N. [42] Zur Verwendung dieses Begriffs vgl. Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 37 Rn. 56, dort Fn. 5. [43] Vgl. statt vieler z.B. Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 37 Rn. 55.
Maunz, Theodor/Dürig, Günter, Grundgesetz, Loseblatt, München (zit.: Bearbeiter, in: Maunz/Dürig). Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, München 1984.
Auch das ist lustig, denn bei Bundesgesetzen, die die Länder betreffen, stimmt ja auch nur der Bundesrat zu. Und da reicht die Mehrheit. Außerdem sitzen im Bundesrat nur die Landesregierungen, nicht aber die Parlamente.
Das war mir auch noch nicht bewusst.
str1977
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15.07.2008 09:58
#8 RE: Zettels Meckerecke: Wo sind denn die Schildbürger?
Ein Seilbahngesetz für das Land Berlin ist natürlich überflüssig.
Die Berliner sind hier nicht die Schildbürger, sondern eher Bauernschlaue, die ein Problem einfach gelöst haben: ein Gesetz zu kopieren ist ja auch wirklich einfach und kostengünstig.
Den Föderalismus als das Übel hinzustellen ist nicht nur verfassungsfeindlich nervig (wenn auch symptomatisch). Normalerweise hört man das beim Schulsystem - immer wollen Kommentatoren den Zentralismus in Bereichen einführen, die ihnen wichtig sind, den Ländern nur noch unwichtiges belassen.
Aber die EU-Kommission zum Sündenbock zu stempeln geht doch zu weit: Sie sagen, sie kümmere sich um Dinge, die sie nichts angehen. Wer sagt denn, daß sie das nichts angeht? Wer hat ihr denn die Kompetenz in dieser Sache gegeben? Es waren die EU-Regierungen! Eine eindeutige Kompetenzabgrenzung gibt es leider noch immer nicht, auch da diverse Verträge ja abgelehnt wurden (was in diesem Blog bejubelt wurde).
(Das mit der Gurkenverordnung, die es zuvor in zwölfacher Ausführung gab, stimmt übrigens.)
Gruß, str1977
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Aber beide sind aus Stein gemacht.
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str1977
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15.07.2008 10:03
#9 RE: Zettels Meckerecke: Wo sind denn die Schildbürger?
Zitat von dirkAbstrus ist ja schon die Haltung "Lieber Berliner Abgeordneten, wenn ihr das (oder ein ähnliches) Gesetz nicht unterschreibt, muss das Land Berlin leider XY Euro Strafe zahlen". Was ist denn? Das ist doch ein Witz, denn entweder haben wir die Kompetenz bzgl. Seilbahn nach Brüssel abgegeben oder nicht. Im ersten Falle wäre es ein Witz (oder Schildbürgerstreich) die Landesparlamente (oder nationalstaatlichen Parlamenten) zum Abnicken zu zwingen. Und im zweiten Falle wäre die Strafandrohung illegitim.
Die EU ist durch die nationalen Regierungen via Ministerrat dazu ermächtigt worden, Richtlinien zu erlassen. Die müssen aber, da die EU keine staatliche Behörde ist, um Subsidiarität zu erreichen und die Regelung an die nationalen/regionalen Gegebenheiten anzupassen, von den jeweils zuständigen Gesetzgebern in Bundes- oder Landesrecht übersetzt werden. Die EU kann das Land nicht anweisen, etwas zu tun, daher hat sie allein ein finanzielles Druckmittel, der Vertragspflicht (um die handelt es sich) nachzukommen.
Gruß, str1977
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15.07.2008 10:14
#10 RE: Zettels Meckerecke: Wo sind denn die Schildbürger?
Zitat von vivendiSeit wann werden Gesetze mit Bussenandrohungen (sic!) an öffentliche Stellen durchgesetzt? Wird das auch praktiziert, wenn Bayern sich nicht an Bundesgesetzgebung hält? Oder wie funktioniert es denn da? Ich habe jedenfalls noch nie gehört, dass der Bund einem Land mit Gefängnistrafen(!) oder Bussgeldern (sic!) gedroht hätte.
Die Bundesrepublik ist ja auch ein Staat und hat in bestimmten Politikfeldern gegenüber Landesverwaltungen Weisungsbefugnis. Damit hatte z.B. ein damaliger hessischer Umweltminister namens Fischer zu kämpfen, da er in Atomfragen Dinge tun mußte, die ihm gar nicht schmeckten.
Hier handelt es sich aber um die Exekutive. Bei der Legislative ist es ganz einfach: wenn der Bund etwas machen will und die Kompetenz dazu hat (und nicht nur Kompetenz simuliert wie Frau Merkel neulich), dann macht er ein Gesetz. Wenn das Land etwas machen will, das Land.
Bei der EU ist das anders gelagert, eben weil sie kein Staat ist.
In Antwort auf:Das alles fehlt beim Diktat von Brüssel. Das Paradoxe daran ist, dass unsere eigenen Vertreter in Brüssel Gesetze erlassen, die ihren eigenen Staat bestrafen.
Das böse Diktat ist aufgrund der Beschlüsse des Ministerrats ergangen. Ich halte es für selbstverständlich, daß "unsere eigenen Vertreter in Brüssel Gesetze erlassen, die ihren eigenen Staat bestrafen", wenn sie sich vertragswidrig verhalten. Im Fall "Seilbahn" ist die Forderung absurd (und die Kommission dafür zu kritisieren) aber im allgemeinen ist ein solches Druckmittel völlig gerechtfertigt.
In Antwort auf:Jedensfalls zieht die EU mit solchen Erlassen das Geld direkt aus den Geldbeuteln der Bürger, die nicht das Geringste dazu zu sagen haben: Das Gesetz wird Berlin aufoktroiert (sic!), die Bürger können sich nicht dagegen wehren.
Das ist bei Gesetzen immer so, daß sie oktroyiert sind. Es wird auch nicht irgendwelchen Bürgern "Geld aus den Geldbeuteln" (hört sich für mich immer wie Taschendiebstahl an) gezogen sondern dem Land. Die Möglichkeit, die Zahlung eines Bußgelds zu vermeiden, wäre absurd.
Gruß, str1977
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15.07.2008 10:18
#11 RE: Zettels Meckerecke: Wo sind denn die Schildbürger?
Ganz recht, den großen Hammer des Bundeszwangs hatte ich oben noch vergessen.
Zitat von KalliasDer Bundeszwang nach Art. 37 GG ist bislang noch nie angewandet worden; nichtmal gegen das aufmüpfige Bayern.
Ein "aufmüpfiges Bayern" gibt es ja auch gar nicht. Nur weil die meisten anderen Bundesländer unfähig sind, ihre verfassungsmäßigen Rechte zu wahren und daher im Stechschritt einhermaschieren (wie z.B. bei Schulbüchern) macht das den einen Individualisten noch nicht zum Aufrüher.
Gruß, str1977
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RexCramer
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15.07.2008 11:41
#12 RE: Zettels Meckerecke: Wo sind denn die Schildbürger?
Zitat von str1977Aber die EU-Kommission zum Sündenbock zu stempeln geht doch zu weit: Sie sagen, sie kümmere sich um Dinge, die sie nichts angehen. Wer sagt denn, daß sie das nichts angeht? Wer hat ihr denn die Kompetenz in dieser Sache gegeben? Es waren die EU-Regierungen! Eine eindeutige Kompetenzabgrenzung gibt es leider noch immer nicht, auch da diverse Verträge ja abgelehnt wurden (was in diesem Blog bejubelt wurde). (Das mit der Gurkenverordnung, die es zuvor in zwölfacher Ausführung gab, stimmt übrigens.)
Subsidiarität wurde bereits im Maastrichter Vertrag als grundlegendes Prinzip formuliert:
In Antwort auf:4. Das Subsidiaritätsprinzip in den europäischen Verträgen
Der Europäische Rat von Maastricht einigte sich im Dezember 1991 auf die konkrete Formulierung des Subsidiaritätsprinzip, das durch den im Februar 1992 unterzeichneten Vertrag über die Europäische Union als Art. 5 (ex-Art. 3b) Eingang in den EGV fand:
"Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig. In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Die Maßnahmen der Gemeinschaft gehen nicht über das für die Erreichung der Ziele dieses Vertrages erforderliche Maß hinaus."
Im Vertrag von Amsterdam wird konkret auf die Anwendung eingegangen:
In Antwort auf:Die Europäische Kommission muss bei jeder Gesetzesinitiative nachweisen, dass sie die jeweilige Aufgabe besser lösen kann als die Regionen oder die Mitgliedstaaten. Der Vertrag von Amsterdam enthält im so genannten „Subsidiaritätsprotokoll“ rechtlich verbindliche Präzisierungen für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips. Damit das Handeln der Europäischen Union gerechtfertigt ist, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein:
- Die Ziele der Maßnahmen können nicht ausreichend durch die Mitgliedstaaten erreicht werden. - Sie können daher besser durch Maßnahmen der Gemeinschaft erreicht werden. Die Kommission muss künftig begründen, ob diese Voraussetzungen gegeben sind. Gleichzeitig wird klargestellt, dass Maßnahmen der Europäischen Union den Mitgliedstaaten so viel Raum lassen müssen wie möglich.
...
Gleichzeitig wird jedoch auch das Bestreben der Gemeinschaft deutlich, das Tätigwerden der Gemeinschaft auf die Ziele des Vertrags zu beschränken und die Entscheidungen über neue Maßnahmen so bürgernah wie möglich treffen zu lassen. Dieser Zusammenhang zwischen Subsidiaritätsprinzip und Bürgernähe wird auch durch die Präambel des EU- Vertrags besonders betont.
Der Satz "Die Ziele der Maßnahmen können nicht ausreichend durch die Mitgliedstaaten erreicht werden." sagt nicht, daß die Kommission dann tätig wird, wenn sie einen Mißstand erkennt, der durch die Mitgliedstaaten nicht behoben ist, sondern nicht behoben werden kann! Das ist die Bedingung. Die Kommission müßte also nachweisen, daß Seilbahngesetze nicht nur nicht ausreichend sind, sondern ohne Initiative der EU gar nicht befriedigend gestaltet werden können. Ich würde gerne einmal sehen, wie man das begründen will.
Weil es in der Vergangenheit Unfälle tatsächlich gegeben hat, sagt darüber noch überhaupt nichts aus, ob die EU es besser machen könnte.
Nicht nur Berlin, sondern sicher auch bspw. Bremen oder die Niederlande werden hocherfreut gewesen sein, daß bei all der Langeweile in den Parlamenten nun endlich wieder ein äußerst wichtiges Gesetz verabschiedet werden konnte angesichts der unzähligen Seilbahnen, die man an jeder Ecke trifft ... Wie hier gewährleistet wird, daß "Maßnahmen der Europäischen Union den Mitgliedstaaten so viel Raum lassen müssen wie möglich", wenn Gesetze beschlossen werden müssen, die gar nicht notwendig sind, sehe ich auch nicht. Man hätte ja wenigstens eine Klausel machen können, daß das nur dort gilt, wo auch Seilbahnen vorhanden sind bzw. wenn eine gebaut wird, dann so ein Gesetz beschlossen werden muß.
Wo hier die beschworene Bürgernähe sein soll, vermag ich nicht zu erkennen. Sollte man die Menschen vor Ort nicht mit was in Ruhe lassen, das sie nicht betrifft?
Der Pferdefuß ist hier die Formulierung, daß "die jeweiligen Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können." Und zwar ist es das "nicht ausreichend", das uns die Flut von Regelungen beschert. Denn daß ein Land, das bspw. schon aufgrund seiner Skigebiete viele Seilbahnen hat, auch ein dbzgl. Gesetz hat bzw. Sicherheitsstandards vorgibt, wird überall der Fall bzw. selbstverständlich sein. Kommt es nun zu einem Unfall, dann heißt das nicht, daß es keine Sicherheitsmaßnahmen gegeben hat, sondern diese eben "nicht ausreichend" waren. Das bedeutet zwar nicht, daß mehr Sicherheit nicht auch ohne die EU erreicht werden könnte, ebenso würde die EU kaum behaupten, daß alleine durch ihren Eingriff Unfälle zukünftig hundertprozentig ausgeschlossen werden können, aber es reicht aus, um den Sachverhalt so zu drehen, daß mehr Sicherheit möglich gewesen wäre (restriktivere Regelungen sind immer möglich), man aber "nicht ausreichend" tätig geworden ist und daraus abgeleitet werden kann, daß die EU handeln muß. Wenn irgendwo etwas passiert, läßt sich grundsätzlich immer begründen, daß bisherige Maßnahmen "nicht ausreichend" waren. So ist der Übernahme von Kompetenzen durch die EU Tür und Tor geöffnet.
Natürlich haben Sie recht, daß wir es zugelassen haben, wie die EU heute immer tiefer ins Leben der Bürger eingreift. Am Ende sind wir immer selbst schuld. Die Frage lautet: Wie lassen sich die Bürokraten noch aufhalten?
Zitat von str1977Aber die EU-Kommission zum Sündenbock zu stempeln geht doch zu weit: Sie sagen, sie kümmere sich um Dinge, die sie nichts angehen. Wer sagt denn, daß sie das nichts angeht? Wer hat ihr denn die Kompetenz in dieser Sache gegeben? Es waren die EU-Regierungen!
Man kann, lieber str1977, sich auch aufgrund einer Ermächtigung durch andere um Dinge kümmern, die einen nichts angehen. Angehen tun sie einen trotzdem nichts. Die Regierungen der EU zum Beispiel geht es nichts an, welche Programme ich auf meinen Rechner herunterlade. Sie wollen das aber - streng legal, also letztlich im Auftrag ihrer Wähler - reglementieren.
Nun gut. Sie sprechen ein wichtiges Problem an: Warum geben die EU-Staaten so geradezu bereitwillig Teile ihrer Souveränität an Brüssel ab? Nicht nur dort, wo es erforderlich ist (um zB nach außen gemeinsam europäische Interessen zu vertreten), sondern auch dort, wo es ganz unnötig, ja abwegig ist (wie bei der Seilbahn)?
Wissen Sie, lieber str1977, mir geht die Sache mit der Neufassung des Personenstandsgesetzes nicht aus dem Kopf. Da hat offensichtlich der Bundestag eine Änderung beschlossen, die nicht nur den meisten Abgeordneten, sondern sogar den zuständigen Leuten in den Spitzen der Regierungsfraktionen gar nicht bewußt war.
Ob das nicht die Spitze eines Eisbergs war?
Wer interessiert sich für ein Seilbahngesetz? Da entwerfen die fleißigen Bürokraten in Brüssel eine Direktive, sie geht ihren langen Marsch durch die Institutionen, und irgendwann wird das im Ministerrat als Punkt 37a der Tagesordnung abgesegnet, bevor man endlich zum Abendessen darf. Oder ins Bett.
Könnte es vielleicht sein, daß es den jeweiligen Regierungen so gar zupass ist? So viel als möglich auf die EU-Kommission abschieben zu können, um hinter her dem Bürger zu sagen: sorry, tut uns leid, aber daß Gesetz oder jene Vorgaben mußten wir hinsichtlich eines vereinten Europas erfüllen. Da sind wir nun mal alle gefordert!
Ja der Bürger mit Sicherheit, der Politiker nur begrenzt, denn ihm wird sein kleines Stückchen Machterhalt reichen, denn wer weniger entscheiden muß, kann auch weniger falsch machen, und für alles was falsch läuft, den Schwarzen Peter kann er jederzeit abgeben an die Eu-Kommission und die ist für uns Bürger so gut wie unerreichbar. Also endmündigt zum Wohle Europas.
Außerdem muß sich die EU mit einer Gesamteinnahme von 129,1 Mrd. Euro und davon mit ca.6% also ca. 7,7 Mrd. Euro ihre Finanzierung des EU-Verwaltungsapperates doch verdienen.
Und wieso haben wir die schleichende Wandlung unserer Politiker von gutbezahlten Dienern zu gutbezahlten Erziehern nicht rechtzeitig bemerkt?
♥liche Grüße Nola
Nola
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15.07.2008 15:53
#16 RE: Zettels Meckerecke: Wo sind denn die Schildbürger?
In Antwort auf:Zitat Zettel, ... mir geht die Sache mit der Neufassung des Personenstandsgesetzes nicht aus dem Kopf. Da hat offensichtlich der Bundestag eine Änderung beschlossen, die nicht nur den meisten Abgeordneten, sondern sogar den zuständigen Leuten in den Spitzen der Regierungsfraktionen gar nicht bewußt war.
Mir auch auch nicht. Was ist, wenn man sich dabei mehr gedacht hat, als das was für uns offensichtlich ist? Da fiele mir z.B. ein, wenn nun ein Paar mit Migrationshintergrund vom Imam getraut wird ohne vorherige standesamtliche Trauung, die Braut tatsächlich aus, wie Omni es erwähnte, Ostanatolien wäre, dann würde sie bestimmt nicht um ihre Rechte als Ehefrau wissen, wie sie sie eben hier in Deutschland per Gesetz hat. Das heißt sie würde sich nicht an den Staat wenden, egal was ihr passiert. Denkbar zumindest, daß noch viel mehr als bisher in Grauzonen verschwindet.
Schon bei der Einführung der Nichtraucherschutzgesetze haben wir sehen können, dass der Föderalismus oder gar das Prinzip der Subsidiarität in Deutschland wenig Freunde haben. Man hätte Ereiferung darüber, dass einem entweder die Freiheit zum Rauchen genommen oder man dem giftigen Qualm der Anderen schutzlos ausgeliefert wird, verstehen können. Doch nicht das war es, was unsere Mitbürger bewegte: Ein Flickenteppich machte ihnen die größte Sorge, die Vorstellung, man dürfe eventuell in Frankfurt etwas, was in München verboten sei. Man wisse doch gar nicht mehr, woran man sei, und jeder würde machen, was er wolle! Nein, das ist in Deutschland ebenso undenkbar, wie es bei französischen Bürokraten ist.
In Frankreich mag diese Abneigung gegenüber einer Machtaufteilung an der Ausbildung an den Eliteschulen der Bürokratie liegen, davon versteht ein Frankreich-Experte wie Zettel sicher mehr als ich. In Deutschland hingegen scheint mir dieses Denken mehr ein Nachbeben des Nationalismus zu sein, der hier immer noch den politischen Diskurs beherrscht - entweder in seiner klassischen Form, oder bei den meisten Anti-Nationalisten in einer merkwürdig auf die "Nation Europa" übertragenen Form. Nie wieder Flickenteppich, ein geeintes Deutschland (oder Europa), in dem alle den gleichen Gesetzen unterstehen, das ist hier das Ansinnen auch der Welt-Autorin, die sich im Übrigen, wie Zettel zurecht anmerkt, widerspricht. Einerseits die Regelungswut Brüssels zu kritisieren, es aber andererseits als "Überregulierung im föderalen Deutschland" zu bezeichnen, wenn der Bund nicht in jeder Frage die Gesetzgebungskompetenz beansprucht, ist schon widersinnig.
Föderalismus und Subsidiarität sind Prinzipien, die dabei helfen, das Interesse der Menschen an ihrer lebendigen Demokratie wachzuhalten. Je mehr sie in kleinen Gruppen entscheiden können, desto größer ihre eigene Entscheidungsbefugnis, und desto größer auch der inhärente Widerstand gegen totalitäre Bestrebungen. Dass beide Prinzipien mehr und mehr verunglimpft und in den Hintergrund gedrängt werden, lässt für beide Bereiche nichts Gutes hoffen.
danke für diesen - wie sagte man? Jungfernbeitrag? -, dem ich (fast) vollständig zustimme.
Zitat von freiburgerthesenMan wisse doch gar nicht mehr, woran man sei, und jeder würde machen, was er wolle! Nein, das ist in Deutschland ebenso undenkbar, wie es bei französischen Bürokraten ist.
Ja, das ist wirklich putzig. Ich habe damals darauf hingewiesen, daß in den USA nicht nur selbstverständlich jeder Bundesstaat, sondern sogar jede County, ja jede Community selbst entscheiden kann, wie es bei ihr mit dem Rauchen, mit Sexclubs usw. gehandhabt wird.
Zitat von freiburgerthesenIn Frankreich mag diese Abneigung gegenüber einer Machtaufteilung an der Ausbildung an den Eliteschulen der Bürokratie liegen, davon versteht ein Frankreich-Experte wie Zettel sicher mehr als ich. In Deutschland hingegen scheint mir dieses Denken mehr ein Nachbeben des Nationalismus zu sein, der hier immer noch den politischen Diskurs beherrscht - entweder in seiner klassischen Form, oder bei den meisten Anti-Nationalisten in einer merkwürdig auf die "Nation Europa" übertragenen Form.
Nationalismus, liebe(r) Freiburgerthesen, kann ich bei unseren Landsleuten eigentlich kaum entdecken; jedenfalls weitaus weniger als in Ländern, für die ich das a bisserl beurteilen kann - Frankreich, die USA, Holland. Ich glaube, es gibt in Europa kein Land mit so wenig Nationalismus wie in Deutschland; oder welches würde Ihnen einfallen?
Ich glaube, es hat eher etwas mit Sozialismus zu tun, in einem weiteren Sinn. In kaum einem Land wird "soziale Gerechtigkeit" so als ein Zauberwort verwendet, das alles rechtfertigt, wie in Deutschland. Wir haben - da spielt dann der Nationalsozialismus schon eine Rolle, aber als Sozialismus; da spielt natürlich vor allem der internationalistische Sozialismus eine Rolle - eine ausgeprägte Neigung zur Gleichmacherei in Deutschland, viel schlimmer als in Frankreich mit seiner Égalité.
Und dazu gehört eben auch dazu, daß alle gleich sein müssen darin, daß sie nicht rauchen dürfen, wo sie wollen. So, wie sie dasselbe verdienen sollen, egal, ob sie im immer noch rückständigen Osten oder in Bayern ihr Geld verdienen. Das jedenfalls, liebe(r) Freiburgerthesen, ist meine Erklärung.
Zitat von freiburgerthesenFöderalismus und Subsidiarität sind Prinzipien, die dabei helfen, das Interesse der Menschen an ihrer lebendigen Demokratie wachzuhalten. Je mehr sie in kleinen Gruppen entscheiden können, desto größer ihre eigene Entscheidungsbefugnis, und desto größer auch der inhärente Widerstand gegen totalitäre Bestrebungen. Dass beide Prinzipien mehr und mehr verunglimpft und in den Hintergrund gedrängt werden, lässt für beide Bereiche nichts Gutes hoffen.
Dem stimme ich Wort für Wort zu.
Ich habe es hier schon geschrieben, aber da Sie neu zu uns gestoßen sind, sage ich es noch einmal: Ich war mein Leben lang (naja, sagen wir, ab dem Alter von zehn ) ein überzeugter Europäer. Aber das, was jetzt zurechtgeschustert wird, ist nicht das Europa, das ich will. Ich sehe mich immer mehr im Lager der Euroskeptiker.
Die Begründung übrigens dafür, daß das Seilbahnwesen nur auf EU-Ebene geregelt werden kann, ist so schön, daß ich auf sie noch zurückkommen werde.
Herzlich, Zettel
PS: Willkommen im "kleinen Zimmer"! Besonders willkommen, da es auf dem Weg hierher ja a bisserl steinig gewesen ist.
Zitat von ZettelIch habe damals darauf hingewiesen, daß in den USA nicht nur selbstverständlich jeder Bundesstaat, sondern sogar jede County, ja jede Community selbst entscheiden kann, wie es bei ihr mit dem Rauchen, mit Sexclubs usw. gehandhabt wird.(...) Und dazu gehört eben auch dazu, daß alle gleich sein müssen darin, daß sie nicht rauchen dürfen, wo sie wollen. So, wie sie dasselbe verdienen sollen, egal, ob sie im immer noch rückständigen Osten oder in Bayern ihr Geld verdienen. Das jedenfalls, liebe(r) Freiburgerthesen, ist meine Erklärung.
Lieber Zettel,
ich glaube auch, dass das genau der Grund für die Empörung über die unterschiedlichen Regelungen ist. Und das in einem so heterogenen Land wie Deutschland (wir haben und ausführlich darüber unterhalten).
Ich habe lange überlegen müssen, um tatsächlich eine Regelung zu finden, die bei uns subsidiär gehandhabt wird. Aber dann ist mir endlich einer eingefallen: Das bayerische Autowaschverbot an Sonntagen!
Zitat von Bayerisches Feiertagsgesetz(1) An den Sonntagen und den gesetzlichen Feiertagen sind öffentlich bemerkbare Arbeiten, die geeignet sind, die Feiertagsruhe zu beeinträchtigen, verboten, soweit auf Grund Gesetzes nichts anderes bestimmt ist. (...)
(3) Diese Verbote (Absätze 1 und 2) gelten nicht (...) für den Betrieb von Autowaschanlagen an Sonn- und Feiertagen - ausgenommen Neujahr, Karfreitag, Ostersonntag, Ostermontag, 1. Mai, Pfingstsonntag, Pfingstmontag sowie Erster und Zweiter Weihnachtstag - ab 12.00 Uhr, wenn die Gemeinde dies in ihrem Gemeindegebiet durch Verordnung zugelassen hat.
Das heißt tatsächlich, dass eine Gemeinde bestimmen kann, ob sie das Autowaschen am Sonntag erlaubt oder nicht. Und es wird tatsächlich angewandt! In meinem Stadtgebiet z. B. ist es nicht erlaubt, 5 km weiter schon. Wenn das in Brüssel rauskommt...
Gruß Petz
RexCramer
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15.07.2008 21:58
#20 RE: Zettels Meckerecke: Wo sind denn die Schildbürger?
Zitat von Meister PetzIch habe lange überlegen müssen, um tatsächlich eine Regelung zu finden, die bei uns subsidiär gehandhabt wird.
die sogenannte Polizeistunde ist ein weiteres Beispiel: Während man in Bremen bis zum Abwinken feiern kann, habe ich früher nie verstanden, wenn in Gießen um Punkt 3 Uhr morgens die Musik aus und die Lichter angingen, wieso dann niemand protestiert hat und alle stumpf-friedlich ihre Jacken angezogen haben und nach Hause gegangen sind.
Zitat von freiburgerthesenSchon bei der Einführung der Nichtraucherschutzgesetze haben wir sehen können, dass der Föderalismus oder gar das Prinzip der Subsidiarität in Deutschland wenig Freunde haben.
Auch mich irritiert sehr, wie unbefangen seit kurzem zentralistische Positionen formuliert werden. "Flickenteppich", "Kleinstaaterei" - für solche Begriffe hätte man vor 20 Jahren, vielleicht auch vor 10 Jahren noch blankes Unverständnis geerntet.
Zitat von ZettelIch glaube, es hat eher etwas mit Sozialismus zu tun, in einem weiteren Sinn. In kaum einem Land wird "soziale Gerechtigkeit" so als ein Zauberwort verwendet, das alles rechtfertigt, wie in Deutschland. Wir haben - da spielt dann der Nationalsozialismus schon eine Rolle, aber als Sozialismus; da spielt natürlich vor allem der internationalistische Sozialismus eine Rolle - eine ausgeprägte Neigung zur Gleichmacherei in Deutschland, viel schlimmer als in Frankreich mit seiner Égalité.
Das glaube ich eher weniger; die Rede von der sozialen Gerechtigkeit bezieht sich durchweg auf das persönliche Einkommen, nicht auf Konformität des öffentlichen Lebens.
Hmhm, möglich wäre es freilich, daß sich die soziale Gerechtigkeit zum allgemeinen Konformismus ausgewuchert hat.
In diesem Sinne folgt jetzt eine Reihe weiterer Erklärungen, die womöglich ebensowenig unzweifelhaft sind.
• Nationalismus.
Zitat von freiburgerthesenIn Deutschland hingegen scheint mir dieses Denken mehr ein Nachbeben des Nationalismus zu sein, der hier immer noch den politischen Diskurs beherrscht - entweder in seiner klassischen Form, oder bei den meisten Anti-Nationalisten in einer merkwürdig auf die "Nation Europa" übertragenen Form.
Nicht so sehr ein Nachbeben, sondern eine Neuentwicklung. Dieser Neozentralismus ist ziemlich neu, und könnte als Folge der Wiedervereinigung und des Regierungsumzuges nach Berlin allmählich entstanden sein. Man trägt wieder Nation, und während wir unten fröhlich unsere Trikolore schwenken, baut man oben den Zentralismus aus. (Ich mag diese Erklärung nicht, da ich Wiedervereinigung, Regierungsumzug und Schwarzrotgold ganz gut finde, aber deswegen könnte sie ja leider dennoch zutreffen.)
• Pendelbewegung. Das föderalistisch-pluralistische Denken nahm in den späten 70er Jahren Fahrt auf und erreichte einen Höhepunkt in den frühen 90er Jahren, als alle Welt den Lokalpatriotismus hochleben ließ und der Nationalismus, der damals zu allerlei Bürgerkriegen führte, eine miserable Presse hatte. Nun geht es zurück in die entgegengesetzte Übertreibung.
• Neuautoritäre Politik nach 9/11. Was für eine Lust muss es für die Staatsleute gewesen sein, in der Folge von 9/11 nach Gutdünken neue Seiten aufzuziehen! Was ließ sich nicht alles durchsetzen! Es ist einfach schön, Macht auszuüben, und wenn es geht, dann tut man es. Wenn die Innenpolitiker mühelos ihre Otto-Kataloge durchsetzen, dann wollen die Verbraucherschutz-, Familien-, Gesundheits-, Rechtspolitiker usw. nicht zurückstehen. Und Machtzuwachs bedeutet, da der Bund stärker als die Länder ist, eben Zentralismus.
• Große Koalition. Im Moment sind sie richtig schön zerstritten, aber in den ersten Jahren haben sie es wohl durchaus ernst mit der Koalition gemeint, und wenn man 70% des Parlaments umfaßt, dann sind Werte wie Vielfalt, Region, Kleinteiligkeit, Autonomie u.dgl. nicht sehr hoch im Kurs. Sich zu einigen ist das Thema, jedes Opponieren, jeder Landesindividualismus stört dabei. Da werden die Länder auf Linie gebracht und die natürliche Opposition des Bundesrates gegen die Regierung fällt weg.
• Programmatische Leere. Wer Ideen verbreiten will und Überzeugungen hat, die er unter die Leute bringen will, braucht nicht unbedingt viel Macht; so jemand braucht nur Prominenz und die Gelegenheit zum Reisen (Bsp. Erhard). Wer indessen nicht mehr weiß, was er will, will immer noch die Macht; wer keine Ideen hat und nicht mal Überzeugungen, steht am liebsten auf der Brücke an den Machthebeln und betreibt eine Politik des starken Staates. (Bsp. Merkel.)
• Verschärfung der Gegensätze. Das ist jetzt ein etwas spekulativer Punkt. Spürt Ihr es nicht auch, dieses Anwachsen der politischen Gegensätze? Das Zentralisieren könnte ein Frühindikator für heftigere Konflikte sein. Denn neben den beiden Gründen, die Sie, liebe freiburgerthesen, angeführt haben, dienen Föderalismus und Subsidiarität nämlich drittens auch dem inneren Frieden, da sie den Einigungszwang reduzieren. Die Abneigung gegen den Föderalismus könnte also im Umkehrschluß mit einer erwachenden Lust an politischen Grundsatzkämpfen zu tun haben.
Etwas heikel, aber ich versuch's trotzdem: • "Verostung"; wir können ja beobachten, wie die Erinnerung an die ehemalige DDR eine ganz warme kuschelige Nostalgie hervorruft, während die alte Bundesrepublik kaum derartige Emotionen weckt - mir fällt nur die kurzzeitige Mode der Popliteratur ein, als sich dem Osten die Erinnerung an Markenprodukte entgegenhalten ließ. Nun ist ja die Politik sehr sensibel für alle kollektiven Identifikationen, da der Staat selbst, "das kälteste der kalten Ungeheuer", von sich aus unattraktiv ist und sich daher immer an wirkliches Leben und wirkliche Emotion anzuschmiegen sucht. So könnte es zu einer unausdrücklichen DDR-Orientierung der Politiker gekommen sein und in dem Zusammenhang zur Mode des zentralistischen Denkens. ------------------------
Zitat von freiburgerthesenFöderalismus und Subsidiarität sind Prinzipien, die dabei helfen, das Interesse der Menschen an ihrer lebendigen Demokratie wachzuhalten. Je mehr sie in kleinen Gruppen entscheiden können, desto größer ihre eigene Entscheidungsbefugnis, und desto größer auch der inhärente Widerstand gegen totalitäre Bestrebungen. Dass beide Prinzipien mehr und mehr verunglimpft und in den Hintergrund gedrängt werden, lässt für beide Bereiche nichts Gutes hoffen.
Zitat von RexCramerdie sogenannte Polizeistunde ist ein weiteres Beispiel
Lieber RexCramer,
die sogenannte Polizeistunde habe ich tatsächlich verdrängt, nachdem sie mir mein Studium in München teilweise ordentlich vermiest hat .
Allerdings gibt es hier eine bayernweite Regelung (die sogenannte Putzstunde zwischen 5 und 6 Uhr ist verpflichtend), aber die Ordnungsämter haben von sich aus die Möglichkeit, die Sperrstunde strenger zu handhaben.
wie so oft erweitern Sie den Universe of Discourse so überzeugend, daß mir ganz schwindelig wird.
Ja, alles, was Sie nennen, sind - jetzt, wo Sie's sagen - plausible Hypothesen. Nur meine lasse ich mir nicht so leicht ausreden .
Zitat von Kallias
Zitat von ZettelIch glaube, es hat eher etwas mit Sozialismus zu tun, in einem weiteren Sinn. In kaum einem Land wird "soziale Gerechtigkeit" so als ein Zauberwort verwendet, das alles rechtfertigt, wie in Deutschland. Wir haben - da spielt dann der Nationalsozialismus schon eine Rolle, aber als Sozialismus; da spielt natürlich vor allem der internationalistische Sozialismus eine Rolle - eine ausgeprägte Neigung zur Gleichmacherei in Deutschland, viel schlimmer als in Frankreich mit seiner Égalité.
Das glaube ich eher weniger; die Rede von der sozialen Gerechtigkeit bezieht sich durchweg auf das persönliche Einkommen, nicht auf Konformität des öffentlichen Lebens. Hmhm, möglich wäre es freilich, daß sich die soziale Gerechtigkeit zum allgemeinen Konformismus ausgewuchert hat.
Ich würde eher sagen, daß dahinter eine gemeinsame Einstellung steckt; eine "Attitüde", wie das heute die Sozialwissenschaftler aus attitude gemacht haben. Die, wie alle Einstellungen, sich in diversen konkreten Meinungen (opinions} ausdrückt.
Diese Einstellung hat in Deutschland eine lange Tradition. Sie hat ihren perfekten Ausdruck in Wilhelms "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche" gefunden. Auch auf der anderen Seite, bei Lasalle und seinen Genossen, wollte man die Volksgemeinschaft statt des Klassenkampfs. (Vielleicht kann man das bis ins germanische Erbe zurückverfolgen; jedenfalls ist ja in Schweden dieser Grundzug des "Volksheims" sehr ausgeprägt und hat, viel mehr als der Marxismus, diese spezifisch schwedische Variante des Sozialismus hervorgebracht).
Es ist, zugegeben, jetzt etwas kühn, wenn ich diese Grundeinstellung auch als die Wurzel zentralistischen Denkens interpretiere. Jedenfalls ist mein Eindruck, daß bei uns der Föderalismus weit weniger geschätzt als zB in den USA oder selbst im UK, wo die Schotten und die Waliser ja größten Wert darauf legen, keine Engländer zu sein. (Das einzige Mal, als ich unsere schottischen Freunde wirklich böse gesehen habe, war, als ein Deutscher sie als "you English" titulierte).
Ich höre es oft: Diese vielen Parlamente und Bürokratien kosten uns doch nur Steuergeld. Warum haben unsere Kinder in der Schule Schwierigkeiten, wenn wir umziehen?
Föderalismus wird, lieber Califax, in Detuschland nach meinem Eindruck von vielen nur als Erschwernis und als Geldverschwendung angesehen.
Ja, der süße Wein und das schöne Wetter. Und das schöne Wetter zum süßen Wein.
Klug und fleißig - Illusion Dumm und faul - das eher schon Klug und faul - der meisten Laster Dumm und fleißig - ein Desaster The Outside of the Asylum
Zitat von ZettelDiese Einstellung hat in Deutschland eine lange Tradition. Sie hat ihren perfekten Ausdruck in Wilhelms "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche" gefunden. Auch auf der anderen Seite, bei Lasalle und seinen Genossen, wollte man die Volksgemeinschaft statt des Klassenkampfs.
Ja, die lange Tradition. Viel älter, sogar sehr viel älter als die Freude am Föderalismus ist das Leiden an der Kleinstaaterei. Gravamina, Reichsreform, Glaubensspaltung, Landesherren, Duodezfürsten - man kann es den Liberalen und Sozialisten nicht verdenken, wenn sie von alledem genug hatten und einen Einheitsstaat wollten.
Der wahre Föderalismus beginnt ohnehin bei den Städten und ihren Bünden, nicht bei den Territorialstaaten. Für Bewohner zentralistischer Großstaaten wie Bayern oder NRW bedeutet Föderalismus nicht Vielfalt und Subsidiarität, sondern bestenfalls Abwehr des Bundes.
Im Grundgesetz (als Leser von Zettels kleinem Zimmer hat man es ja dauernd zur Hand) finde ich eine Inkonsequenz zwischen Art. 79(3), der die Gliederung des Bundes in Länder und deren Mitwirkung an der Gesetzgebung für unabänderlich erklärt, also zum Rechtsgut höchsten Ranges, und dem Art. 28(1), der den Ländern eine republikanische, demokratische, soziale und rechtsstaatliche Verfassung vorschreibt, alles, was der Bund auch hat, nur mit Ausnahme des Föderalismus. Die Gemeinden haben lediglich ein Recht auf "Selbstverwaltung" (Art. 28(2)).
Der Föderalismus ist demnach gar kein verfassungspolitisches Prinzip, sondern offenbar nur ein Spezialfall, der das leidige Verhältnis des Kaisers zu den großen Reichsständen (heute: Bundes zu den Ländern) regelt, und an dem seit über 600 Jahren herumreformiert wird.
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