Die meisten Deutschen haben vermutlich schon einmal davon gehört; aber ich könnte mir denken, daß es vielen nicht in seinem ganzen Umfang geläufig ist: Nicht Deutschland allein überfiel im September 1939 Polen, sondern es handelte sich um einen gemeinsamen deutsch-sowjetischen Angriffskrieg. Dazu in dem Artikel einige Einzelheiten.
Dem kann man komplett zustimmen mit einer kleinen Anmerkung: Dann sollte man "deutsch-russischer" Überfall sagen, denn das entspricht den historischen Kontinuitäten. Und nur das macht klar, warum die Polen (völlig zu Recht) vom heutigen Rußland ebenfalls eine Entschuldigung verlangen.
natürlich wäre es schon lange an der Zeit, die historischen Fakten eindeutig zu nennen, aber es ist Dir sicher genauso klar, was dann für ein Aufheulen durchs Land gehen würde! Es ist zwar im Laufe der Zeit vieles wieder möglich geworden, die Bezeichnung "Mädel" etwa hätte in meiner jungen Erwachsenenzeit heftige Entrüstung hervorgerufen und ist heute wieder geläufig, aber die Totalitarismustheorie wird immer noch eisern als solche bezeichnet. Der Standardeinwand lautet, das (was eigentlich genau?) könne man doch nicht vergleichen (mit was und wieso eigentlich nicht?). Solange solch zentrale Denkfigutren weiterbestehen wird es auch keine deutschen Vertriebenen geben dürfen; wir entschuldigen uns lieber bei irgendwelchen Potentaten für Dinge, die wir (Lebenden) den dort (Lebenden) nicht angetan heban!
Zitat von ZettelWäre es nicht an der Zeit, daß wir auch in Deutschland unsere Terminologie endlich dieser historischen Wahrheit anpassen?
Ja, wäre es. Aber, machen wir uns mal nix vor ... die Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Es gibt, was den 2.WK und seine Vorgeschichte angeht, ja noch einige interessante Details, die zunehmend aus der Allgemeinsicht verschwunden sind. Man kann sie zwar bei Historikern nachlesen, aber in der Schule werden sie z.B. nicht gelehrt. Ich war z.B. sehr schockiert, als mir meine Oma von polnischen Übergriffen auf die deutsche Minderheit in Polen vor dem 2.WK erzählte. Leider war ich da noch zu klein, um Einzelheiten zu behalten. Aber die Polen? Die, die der wahnsinnige Hitler einfach so überfallen hatte? Ich konnte es nicht glauben.
Irgendwie scheint es mir, als ob das Siegerdiktat die vollständige "Schuldübernahme" verlangt hat, woraufhin die Deutschen im Gegenzug ihr Land wieder aufbauen durften und kein zweites "Versailles" zu befürchten hatten.
Verdammt heikles Thema ... und das noch nach 70 Jahren.
Gruß, Calimero
---------------------------------------------------- ... und im übrigen sollte sich jeder, der sich um die Zukunft Sorgen macht, mal zehn-, bis zwanzig Jahre alte Sci-Fi-Filme ansehen.
Zitat von R.A. Dann sollte man "deutsch-russischer" Überfall sagen, denn das entspricht den historischen Kontinuitäten. Und nur das macht klar, warum die Polen (völlig zu Recht) vom heutigen Rußland ebenfalls eine Entschuldigung verlangen.
Ich habe mir das beim Schreiben überlegt, lieber R.A., und sogar beim Korrekturlesen ein "russisch", das mir untergekommen war, korrigiert.
Ich habe mich für "sowjetisch" entschieden, weil ich auf die Kumpanei zwischen Nazis und Kommunisten aufmerksam machen wollte. Deshalb auch die Titelvignette. Ein demokratisches Deutschland hätte Polen ebensowenig überfallen wie ein demokratisches Rußland.
Andererseits gebe ich Ihnen Recht (und deshalb habe ich eben überlegt): Der sowjetische Griff nach Polen steht natürlich in einer historischen Kontinuität. Ostpolen war unter den Zaren ein Teil des Russischen Reichs gewesen und erst durch den Frieden von Brest-Litowsk verlorengegangen. Und natürlich steht auch das heutige Streben Putins nach einer Wiederherstellung des Einflusses von Rußland in Osteuropa in dieser Tradition.
George Friedman hat übrigens aktuell in Stratfor einen interessanten Artikel über Rußland, in dem er unter anderem meint, zu den Zielen Putins gehörten die Wiedergewinnung der Ukraine und die Neutralisierung Polens als Puffer zwischen Deutschland und Rußland. Polens Angst ist wohl berechtigt.
Vielleicht schreibe ich darüber noch etwas in ZR - im Augenblick häufen sich mal wieder die Themen.
Zitat von Thomas Pauli... aber die Totalitarismustheorie wird immer noch eisern als solche bezeichnet. Der Standardeinwand lautet, das (was eigentlich genau?) könne man doch nicht vergleichen (mit was und wieso eigentlich nicht?).
Vergleichen kann man bekanntlich alles mit allem; insofern ist dieser Einwand natürlich albern.
Den Kommunisten und ihren fellow travellers ist es in der Tat lange Zeit gelungen, die offensichtlichen Gemeinsamkeiten zwischen der nazistischen und der kommunistischen Spielart des Totalitarismus zu leugnen.
Wo es gar nicht ging, hat man einfach gesagt: Ja, aber unter Stalin war das eine Verirrung des Kommunismus, während es unter Hitler genau das war, was die Nazis wollten. Nur, daß die Kommunisten sich überall und immer verirren, seit es sie gibt.
Ansonsten: Ich bin nicht so pessimistisch wie du, lieber Thomas. Wäre ich es, dann würde ich ZR nicht schreiben. Ich vertraue wie ein naiver Jüngling auf die Kraft der Aufklärung.
Zitat von CalimeroAber, machen wir uns mal nix vor ... die Geschichte wird von den Siegern geschrieben.
Wenn sie Kommunisten sind, ja. Dort wurde ja die Geschichte alle paar Jahre umgeschrieben, je nachdem, was gerade der aktuellen Linie entsprach.
Im demokratischen Rechtsstaat sehe ich das nicht. Hier ist ja die Geschichtsschreibung Sache von Historikern, und die sind unabhängige Wissenschaftler. Nur hinken die Schulen hinter der Wissenschaft her, und das, was die Lezte zu wissen glauben, ist oft noch nicht einmal auf dem Stand der Schulen.
Zitat von CalimeroIch war z.B. sehr schockiert, als mir meine Oma von polnischen Übergriffen auf die deutsche Minderheit in Polen vor dem 2.WK erzählte. Leider war ich da noch zu klein, um Einzelheiten zu behalten. Aber die Polen? Die, die der wahnsinnige Hitler einfach so überfallen hatte? Ich konnte es nicht glauben.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden solche Übergriffe sicherlich heruntergespielt. Man kann ja auch mit einigem Recht argumentieren, daß sie angesichts der Monströsität von Hitlers Verbrechen vergleichsweise geringfügig waren.
Es gab dann, ab den siebziger Jahren, eine deutsch-polnische Schulbuchkommission, die vieles aufgearbeitet hat. Vieles muß noch aufgearbeitet werden.
Ich bin, lieber Calimero, seit langem der Meinung, daß ein objektiver Blick auf die Geschichte (dh einer, der so objektiv ist, wie es geht) erst dann möglich ist, wenn die letzten der Beteiligten tot oder jedenfalls im Greisenalter sind. An den Verbrechen der Nazis konnten alle beteiligt gewesen sein, die Geburtsjahrgang 1925 oder später waren, rund gerechnet. Die sind jetzt also Mitte achtzig. Die Zeit ist reif für eine Historisierung dieser Zeit.
Und genau dasselbe gilt für die Opfer, auf allen Seiten. Man kann von niemandem, der unter den Nazis gelitten hat, eine kühle, objektive Betrachtung ihrer Taten erwarten. Man kann es von niemandem erwarten, der unter den Kommunisten gelitten hat. Da wird die Zeit bis zur Historisierung also noch einmal vierzig Jahre länger dauern.
Zitat von CalimeroIrgendwie scheint es mir, als ob das Siegerdiktat die vollständige "Schuldübernahme" verlangt hat, woraufhin die Deutschen im Gegenzug ihr Land wieder aufbauen durften und kein zweites "Versailles" zu befürchten hatten.
In der DDR hat es sicherlich ein Siegerdiktat gegeben. Die Verbrechen der Sowjets waren ja bis zu deren Ende mit Ausnahme dessen, was man dem "Stalinismus" zuschreiben konnte, weitgehend tabu.
Für die Bundesrepublik würde ich das nicht so sehen. Natürlich mußten wir die deutsche Schuld übernehmen. Die meisten Deutschen haben das aber nicht auf Druck der Amerikaner und der Briten getan, sondern aus eigener Einsicht.
Aber es gibt auch da eben eine gewisse Spanne, wo es erforderlich und auch möglich ist. Die jetzt heranwachsende Generation der, sagen wir, um 1990 Geborenen ist so weit weg von den Untaten der Nazis, daß sie keine Schuld mehr empfinden kann. Allerdings sollte sie umso mehr über die Ursachen des Nazismus und des Kommunismus lernen.
Beim Nazismus geschieht es ja auch. Beim Kommunismus sind wir jetzt so weit, daß die SPD sich den Kommunisten schon fast an den Hals wirft. Leuten, auf deren Parteitagen jene Sarah Wagenknecht stets eine der besten Stimmenzahlen erhält, die Stalins "Leistungen" nicht genug preisen konnte.
Zitat von CalimeroVerdammt heikles Thema ...
Und deshalb ein Thema, das man nur dann vernünftig diskutieren kann, wenn man so sachlich und fair diskutiert, wie es hier im Forum die Regel ist.
Phoenix überträgt die Feier in Danzig. Leider quasseln dazu ein Reporter und ein Historiker dummes Zeug. Aber wenn man den Ton abschaltet, ist es sehenswert.
Bis eben hat Tusk die Gäste einzeln begrüßt. Bemerkenswert: Ein dreifacher Kuß mit der Kanzlerin. Was nicht daran lag, daß sie eine Frau ist. Bei anderen Frauen gab es das nicht; und andererseits gab es auch bei Männern, denen Tusk sich offenbar nahestehend fühlte, Umarmungen.
Für die deutsch-polnische Versöhnung könnten Tusk und Merkel einmal das sein, was Adenauer und de Gaulle für die deutsch-französische Versöhnung waren.
Zitat von ZettelIch habe mich für "sowjetisch" entschieden, weil ich auf die Kumpanei zwischen Nazis und Kommunisten aufmerksam machen wollte.
Dann paßt aber das "deutsch" nicht - man müßte dann "Nazi-Kommunisten-Überfall" schreiben. Es war das nazistische Deutschland, das kommunistische Rußland - und beide Länder stehen heute noch in der jeweiligen Tradition, so sehen das ja auch die Polen.
Zitat von ZettelFür die deutsch-polnische Versöhnung könnten Tusk und Merkel einmal das sein, was Adenauer und de Gaulle für die deutsch-französische Versöhnung waren.
Ich würde mir das sehr wünschen. Es ist schmerzhaft und skandalös, wie wenig dieses wichtige Nachbarland in Deutschland geschätzt wird, wie wenig darüber berichtet wird, wie sehr immer noch Vorurteile und Geringschätzung üblich sind (Schröder war da ein besonderer Tiefpunkt).
Eine echte Versöhnung mit Polen (bisher gab es nur oberflächliche Lippenbekenntnisse) wäre ein weiterer wichtiger Grund, daß schwarz-gelb die Wahl gewinnen sollte. Mit Steinmeier und Genossen ist das nicht möglich, Brandts Vermächtnis ist da längst vergessen.
Zitat von ZettelIch habe mich für "sowjetisch" entschieden, weil ich auf die Kumpanei zwischen Nazis und Kommunisten aufmerksam machen wollte.
Dann paßt aber das "deutsch" nicht - man müßte dann "Nazi-Kommunisten-Überfall" schreiben.
Nicht ganz, lieber R.A. "Deutsch" und "Sowjetisch" liegen schon auf derselben Ebene. Denn der eine Staat hieß "Deusches Reich" und der andere "Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken", abgekürzt Sowjetunion.
Rußland war, formal gesehen, damals eine der Teilrepubliken. Wenn ich "Rußland" geschrieben hätte, dann hätte ich also etwas Ungenaues geschrieben, um die Kontinuität der nationalen Politik hervorzuheben. Jetzt habe ich halt formal korrekt "sowjetisch" geschrieben, um den totalitären Charakter hervorzuheben.
Für Deutschland wäre das nur gegangen, wenn Hitler sein Land "Nationalsozialistisches Deutsches Reich" genannt hätte. (Warum hat er das eigentlich nicht getan??)
Zitat von ZettelFür die deutsch-polnische Versöhnung könnten Tusk und Merkel einmal das sein, was Adenauer und de Gaulle für die deutsch-französische Versöhnung waren.
Ich würde mir das sehr wünschen. Es ist schmerzhaft und skandalös, wie wenig dieses wichtige Nachbarland in Deutschland geschätzt wird, wie wenig darüber berichtet wird, wie sehr immer noch Vorurteile und Geringschätzung üblich sind (Schröder war da ein besonderer Tiefpunkt). Eine echte Versöhnung mit Polen (bisher gab es nur oberflächliche Lippenbekenntnisse) wäre ein weiterer wichtiger Grund, daß schwarz-gelb die Wahl gewinnen sollte. Mit Steinmeier und Genossen ist das nicht möglich, Brandts Vermächtnis ist da längst vergessen.
Zitat von CalimeroIch war z.B. sehr schockiert, als mir meine Oma von polnischen Übergriffen auf die deutsche Minderheit in Polen vor dem 2.WK erzählte. Leider war ich da noch zu klein, um Einzelheiten zu behalten.
Sie könnten diesbezüglich den einschlägigen Geschichtsrevisionisten Generalmajor a.D. Gerd Schultze-Rhonhoff konsultieren, der dies mal in einem längeren Vortrag auf Einladung der Stadtsparkasse München ausgeführt hat. Von diesem abgesehen ist mir niemand bekannt, der sich dem Thema angenommen hätte. Wahrscheinlich war Ihre Großmutter auch eine Geschichtsrevisionisten im Vorgriff oder hat sich diese Übergriffe einfach ausgedacht... (j/k)
Zitat von CalimeroIrgendwie scheint es mir, als ob das Siegerdiktat die vollständige "Schuldübernahme" verlangt hat, woraufhin die Deutschen im Gegenzug ihr Land wieder aufbauen durften und kein zweites "Versailles" zu befürchten hatten.
Die Deutschen durften ihr Land wieder aufbauen, weil ein starkes Deutschland in der NATO allen anderen Optionen vorzuziehen war. Ein starkes Deutschland, welches an etwas anderes als die Alleinschuld glaubt und daraus natürlichen Revanchismus kultiviert, wäre wohl nicht im Sinn der West-Alliierten gewesen... Und im Deutschen Interesse wohl ebenso wenig. Wäre das ganze Schauspiel womöglich irgendwann von vorne losgegangen. Aus dieser Perspektive kann ich diese Schuldzuweisung und bereitwillige Übernahme gut verstehen, auch wenn ich sie aus historischer Sicht für abwegig halte.
Zitat von ZettelFür die deutsch-polnische Versöhnung könnten Tusk und Merkel einmal das sein, was Adenauer und de Gaulle für die deutsch-französische Versöhnung waren.
Ich würde mir das sehr wünschen. Es ist schmerzhaft und skandalös, wie wenig dieses wichtige Nachbarland in Deutschland geschätzt wird, wie wenig darüber berichtet wird, wie sehr immer noch Vorurteile und Geringschätzung üblich sind (Schröder war da ein besonderer Tiefpunkt). Eine echte Versöhnung mit Polen (bisher gab es nur oberflächliche Lippenbekenntnisse) wäre ein weiterer wichtiger Grund, daß schwarz-gelb die Wahl gewinnen sollte. Mit Steinmeier und Genossen ist das nicht möglich, Brandts Vermächtnis ist da längst vergessen.
Eine echte Versöhnung mit den Polen wäre heute, vor dem Hintergrund eines zusammenwachsenden Europa, nötiger denn je. Es mag in Deutschland da starke regionale Unterschiede geben, was das Polenbild angeht. Hier im Ruhrgebiet etwa, wo es die Kaminskis, Kowalskis und so weiter im Dutzend gibt, hat es da nie Probleme gegeben. Im Osten, wo man es nicht mit assimilierten Polen sondern dem Original zu tun hat, scheint das anders zu sein.
Letztlich, und ich glaube an diesem Punkt schreiten Sie zu schnell voran, ist das Bild in Deutschland doch noch um Dimensionen besser, als es umgekehrt der Fall in Polen ist. Was es dort, aus welchen Gründen auch immer, noch an antideutschem Ressentiment gibt, hätte ich in Zeiten europäischer Integration schlicht nicht für möglich gehalten. Solange man in Polen an Vorhaltungen mehr interessiert ist als an Versöhnung, und dies ist mein Eindruck, den etwa auch die aktuelle Rede des gemäßigten Präsidenten Tusk gefestigt hat, werden die Dinge so bleiben wie sie sind.
Womöglich haben Sie ein ganz anderes Verständnis des Begriffs Traditionslinie als ich. Ich sehe in außenpolitischer Hinsicht, und übrigens nicht nur da, keine einzige Traditionslinie des Reichs fortgesetzt.
Zitat von Zettel"Deutsch" und "Sowjetisch" liegen schon auf derselben Ebene.
Jein.
Ich verstehe natürlich, was Sie meinen. Und das ist formal auch korrekt.
Aber das reine Abheben auf die Staatsbezeichnung wird der Sache hier m. E. nicht gut gerecht.
Es gibt einerseits die nationale Komponente, und da geht es um Deutschland und Rußland (und die "Teilrepublik" Rußland war natürlich der agierende Kern der SU).
Oder man hebt auf die Regimes ab, dann geht es um Nazis vs. Sowjets/Kommunisten.
Daß nur auf einer Seite die Politik auch zu einer Umbenennung des Staates geführt hat, halte ich für sehr nebensächlich, das lenkt eigentlich von den wesentlichen beiden Aspekten ab (nämlich einerseits der nationalen Kontinuität und andererseits die totalitären Gemeinsamkeiten).
Nun ja, eigentlich sind wir uns ja einig.
In Antwort auf:(Warum hat er das eigentlich nicht getan??)
Ich würde mal sagen, weil ihm die angebliche Kontinuität zum Kaiserreich (und zum alten Reich) so wichtig war. Während die Kommunisten ja umgekehrt so tun wollten, als würden sie etwas völlig Neues machen.
Zitat von HajoEin starkes Deutschland, welches an etwas anderes als die Alleinschuld glaubt und daraus natürlichen Revanchismus kultiviert, wäre wohl nicht im Sinn der West-Alliierten gewesen... Und im Deutschen Interesse wohl ebenso wenig. Wäre das ganze Schauspiel womöglich irgendwann von vorne losgegangen. Aus dieser Perspektive kann ich diese Schuldzuweisung und bereitwillige Übernahme gut verstehen, auch wenn ich sie aus historischer Sicht für abwegig halte.
Bis zum letzten Halbsatz stimme ich Ihnen zu, lieber Hajo.
Aber in welcher Hinsicht sehen Sie die deutsche Alleinschuld als historisch abwegig an?
Ich verstehe Sie so, daß sie die Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg meinen. (Also nicht die Schuld am Holocaust). Hier muß man nun aus meiner Sicht zweierlei unterscheiden: Erstens Faktoren, die eine Fortsetzung des Weltkriegs (denn das war der Zweite Weltkrieg) begünstig haben. Zweitens politische Entscheidungen, die zu diesem Krieg führten.
Was die Faktoren angeht, gebe ich Ihnen Recht. Die meisten dieser Faktoren lassen sich auf das Diktat von Versailles zurückführen.
Dazu gehörten die Auflagen, die Deutschland akzeptieren mußte (Beschränkungen der Reichswehr, Reparationen, Entmilitarisierung des Rheinlands usw.). Sie mögen für die Jahre unmittelbar nach Kriegsende angemessen gewesen sein; aber als Dauerzustand mußten sie dazu führen, daß Deutschland sich ungerecht behandelt fühlte.
Dazu gehörte das Verbot für Österreich, sich Deutschland anzuschließen - in krasser Verletzung des Nationalitätenprinzips, das doch die Grundlage der neuen Friedensordnung sein sollte.
Dazu gehörten vor allem auch die anderen Verletzungen des Nationalitätenprinzips. Überwiegend von Deutschen besiedelte Gebiete im Sudetenland, in Oberschlesien usw. hatten keine Möglichkeit, sich dem Reich anzuschließen.
Diese Faktoren begünstigten das Hochkommen des Nationalsozialismus. Sie führten vor allem auch dazu, daß Hitlers Forderungen im Ausland (vor allem in England) auf ein gewisses Verständnis stießen.
Aber das ändert, lieber Hajo, nichts daran, daß ohne die Kriegspolitik Hitlers diese Faktoren wirkungslos geblieben wären. Er wollte nicht den Weltkrieg, aber er nahm diesen als Risiko in Kauf. Was er wollte, das war freie Hand für einen deutschen Raubkrieg gegen Polen, Osteuropa, Rußland; so, wie er die Tschechoslowakei zerstört hatte. Dazu eine deutsche Hegemonie in Westeuropa; dafür wollte er gern den Engländern ihr Imperium lassen.
Selten ist die Alleinschuld an einem Krieg so klar erkennbar wie die Hitlers am Zweiten Weltkrieg.
Zitat von ZettelMan kann von niemandem, der unter den Nazis gelitten hat, eine kühle, objektive Betrachtung ihrer Taten erwarten.
Ich habe nicht unter den Nazis gelitten, auch meine Eltern nicht mehr. Aber eine kühle, objektive Betrachtung ihrer Barbarei kann ich mir auch nicht abringen, und ich habe auch überhaupt keinen Ehrgeiz diesbezüglich.
-- Ultramontan – dies Wort beschreibt vorzüglich die katholische Mentalität: mit einem kleinen Teil des Bewusstseins nicht Deutscher, nicht Zeitgenosse, nicht Erdenbürger zu sein. - Martin Mosebach, Spiegel 7/2009
Zitat von ZettelAber das ändert, lieber Hajo, nichts daran, daß ohne die Kriegspolitik Hitlers diese Faktoren wirkungslos geblieben wären. Er wollte nicht den Weltkrieg, aber er nahm diesen als Risiko in Kauf. Was er wollte, das war freie Hand für einen deutschen Raubkrieg gegen Polen, Osteuropa, Rußland; so, wie er die Tschechoslowakei zerstört hatte. Dazu eine deutsche Hegemonie in Westeuropa; dafür wollte er gern den Engländern ihr Imperium lassen. Selten ist die Alleinschuld an einem Krieg so klar erkennbar wie die Hitlers am Zweiten Weltkrieg. Herzlich, Zettel
Das er seinen heiligen Krieg gegen den Bolschewismus führen wollte, also eine Aggression wider der SU aus Gründen der Weltanschauung ihm eine Herzenssache gewesen ist, steht denke ich außer Frage. Diesen Fall 1:1 auf Polen zu übertragen halte ich für gewagt, umso mehr als Polen zwei westliche Bündnispartner hatte, deren kulturschaffende Leistungen bei ihm großen Anklang gefunden haben und dieser Fall auch die Fortsetzung des großen europäischen Kriegs bedeuten mußte. Zur gleichen Zeit ist großes Interesse auf der polnischen Seite daran dokumentiert das Reich in einen Krieg zu verwickeln.
Weiterhin möchte ich anmerken, daß die Siegermächte in Versailles, allen voran der gute Herr Wilson aus Washington, der hier die Fäden in der Hand hielt, genau wußten was sie taten, als sie zwei Millionen Deutsche vom Reich abtrennten und die Deutsche Frage aus der Taufe hoben. Jeder wußte, daß dieser Vertrag lediglich einen Waffenstillstand für die nächsten 20 Jahre bedeuten konnte. Stalin wollte in den späten 30ern die Mine unter Europa zünden, wie er selbst sagte, die Wilson anno 19 gelegt hatte, wie ich dazu ergänze. Im Ergebnis haben die USA und die SU Europa unter sich aufgeteilt, was nicht möglich gewesen wäre, wenn die Mine, also die Deutsche Frage, nicht vorher alles kurz und klein geschlagen oder in die Abhängigkeit von den USA getrieben hätte.
Vor diesen Überlegungen meine ich, daß er der Auslöser, nicht aber die Ursache war. Ganz schön provokant, nicht wahr?
Zitat von ZettelMan kann von niemandem, der unter den Nazis gelitten hat, eine kühle, objektive Betrachtung ihrer Taten erwarten.
Ich habe nicht unter den Nazis gelitten, auch meine Eltern nicht mehr. Aber eine kühle, objektive Betrachtung ihrer Barbarei kann ich mir auch nicht abringen, und ich habe auch überhaupt keinen Ehrgeiz diesbezüglich.
Aber ein Historiker muß, lieber Gorgasal, diesen Ehrgeiz haben.
Bei mir ist es etwas anders als bei Ihnen: Einerseits habe ich den Krieg zwar nur insofern erlebt, als ich als Dreijähriger mit in den Luftschutzkeller mußte, an dessen Atmosphäre ich mich noch gut erinnere; auch soll ich sehr geschickt darin gewesen sein, die Sirene zu imitieren.
Aber meine Eltern und Großeltern haben diese Zeit natürlich nur allzu unmittelbar erlebt; also führt für mich ein Strang von oral history dorthin.
Andererseits will ich schon kühl und objektiv analysieren; auch, was solche Verbrechen angeht. Man muß das meines Erachtens, weil Empörung und Entsetzen ja (aus meiner Sicht jedenfalls) nicht zu vernünftigem Handeln führen.
Zitat von HajoDas er seinen heiligen Krieg gegen den Bolschewismus führen wollte, also eine Aggression wider der SU aus Gründen der Weltanschauung ihm eine Herzenssache gewesen ist, steht denke ich außer Frage.
Das war nach meiner Kenntnis nachrangig, wenn es überhaupt eine Rolle spielte. Ich glaube, dazu muß ich etwas ausholen und zunächst einmal sagen, daß ich es höchst bedauerlich finde, daß "Mein Kampf" nicht leicht zu erwerben ist. Jeder halbwegs an Zeitgeschichte Interessierte muß es gelesen haben. Ich habe Hitler erst verstanden, als ich es gründlich gelesen hatte.
Hitler dachte überhaupt nicht in Termini von Weltanschauungen. Er sah die Weltgeschichte ausschließlich als eine Auseinandersetzung zwischen Rassen. Welche Weltanschauung diese jeweils hatten, war ihm im Grunde egal. ER hatte die einzige wahre und richtige; alle anderen waren falsch, und basta.
Die Kommunisten waren für ihn Konkurrenten, aber wirklich gehaßt hat er den Marxismus nicht. Gehaßt hat er die Juden. Den Marxismus sah er als eine jüdische Erfindung an, um die Völker zu zersetzen, indem er ihnen erstens ihren Nationalismus nahm, indem er zweitens Klassenkämpfe entfachte und indem er drittens die Kultur zersetzte. Ebenso sah er den Kapitalismus als eine jüdische Erfindung mit ähnlichen Zielen an. Es war ja eine in sich geschlossene paranoide Weltsicht.
Was nun seine Entschlossenheit anging, Krieg im Osten zu führen, so hat diese so gut wie nichts mit dem Kommunismus zu tun. Er hätte exakt dasselbe getan, wenn noch die Zaren geherrscht hätten. Seine einschlägigen Ideen dürften auch mindestens zum Teil schon vor der Oktoberrevolution entstanden sein (siehe Brigitte Hamanns "Hitlers Wien", wo die Entstehung von Hitlers Weltanschauung sehr detailliert nachgezeichnet wird).
Hitlers Überlegung war die folgende:
Deutschland - und das war für ihn die "germanische Rasse" - hat ein naturgegebenes Recht, kraft seiner rassischen Überlegenheit eine Großmacht zu sein.
Dazu muß es an Bevölkerung wachsen.
Das kann es aber nur, wenn es mehr Menschen ernähren kann.
Diese können aber nicht auf dem jetzigen (also damaligen) Boden des Deutschen Reichs ernährt werden. (Der moderne Ackerbau hatte damals ja noch nicht begonnen; für Hitler war die fruchtbare Agrafläche der entscheidende das Bevölkerungswachstum begrenzende Faktor).
Deutschland hat also nur die Möglichkeiten, entweder auf Bevölkerungswachstum zu verzichten (was für ihn nicht in Frage kam) oder Lebensmittel zu importieren (was ebenfalls nicht in Frage kam, weil es Abhängigkeit vom Ausland bedeutet hätte) oder sich neues Ackerland zu verschaffen.
Dieses, so Hitler, steht im dünn besiedelten und fruchtbaren Osten reichlich zur Verfügung. Also muß Deutschland sich nach Osten ausdehnen. Dazu muß ein Eroberungskrieg geführt werden. (Wenn ich mich richtig erinnere - ich habe es jetzt nicht noch einmal nachgelesen - , dann sprach er immer nur vom Osten, ohne zwischen Polen, der Ukraine, Weißrußland und Rußland zu unterscheiden).
Die Eroberung dieses "Lebensraums" im Osten war die Achse, um die sich Hitlers Außenpolitik drehte. Vor allem Himmler hat das dann noch mit Bedeutung angereichert, indem er darauf herumritt, daß die Germanen ja vor der Völkerwanderung in just diesem Raum gesiedelt hatten, indem er eine Siedlerromantik à la Wilder Westen propagierte usw.
Hitlers Problem war, wie er dieses Ziel würde erreichen können, ohne daß es zu einem neuen Weltkrieg kommen würde. Diesen wollte er - auch darüber gibt es ausführliche Überlegungen in "Mein Kampf" - unbedingt vermeiden. Der "Zweifrontenkrieg" war geradezu seine Angstvorstellung.
Dazu wollte er England ein großzügiges Angebot machen: Anders als Wilhelm II würde Hitlers Deutschland kein Kolonialreich anstreben (es würde ja das in Osteuropa haben) und den Engländern die Weltmeere und fast den ganzen Globus überlassen. Nur müßten sie ihm dafür freie Hand bei seinem Ostlandritt lassen.
Er hielt das für ein faires Angebot (viele in der britischen Oberschicht übrigens auch) und konnte es kaum fassen, daß die Briten nicht darauf eingehen wollten. Er hatte das nicht verstanden, was Churchill dazu schrieb: Daß England niemals eine einzige Hegemonialmacht auf dem Kontinent dulden werde. Hitlers Pläne waren für die Engländer ebenso unnannehmbar wie seinerzeit die Bonapartes.
Auch gegen Frankreich wollte Hitler keinen Krieg führen. Was er in der Rede vom 1.September 1939 dazu sagte, ist durchaus glaubhaft: Deutschland baue den Westwall. Dessen Verlauf zeige klar, daß es keine Ansprüche auf Elsaß-Lothringen erhebe. Was hätte Hitler auch mit Weinbaugebieten anfangen sollen, wo er für seine deutsche Bevölkerungsexplosion riesige Weizenanbauflächen brauchte?
Ob er seinen Krieg gen Osten würde starten können, ohne daß England und Frankreich eingreifen würden, hat Hitler sozusagen schrittweise getestet. Alles, was er bis 1939 tat, waren Herausforderungen, waren Tests der Entschlossenheit, ihm entgegenzutreten. Aber man ließ ihn immer wieder gewähren, opferte sogar die Tschechoslowakei für ihn, ließ ihn Österreich anschließen.
Da war er sicher, daß es auch mit dem Polenfeldzug gut gehen würde. Es ging aber nicht gut. Unter anderem, weil Chamberlain zwar keine ängstliche Taube, wohl aber ein Gentleman war, der an die Einhaltung von Versprechen glaubte. Daß Hitler ihn in München schamlos belogen hatte, war für ihn das Signal, ihm künftig nichts mehr durchgehen zu lassen.
Entschuldigen Sie, lieber Hajo, daß das jetzt a bisserl lang geworden ist.
Zitat von GorgasalAber eine kühle, objektive Betrachtung ihrer Barbarei kann ich mir auch nicht abringen, und ich habe auch überhaupt keinen Ehrgeiz diesbezüglich.
Aber ein Historiker muß, lieber Gorgasal, diesen Ehrgeiz haben.
Ich habe auch die größte Hochachtung vor Leuten, die Auschwitz wissenschaftlich bearbeiten können, ohne dabei wahnsinnig zu werden. Ich könnte das nicht.
Zitat von ZettelAndererseits will ich schon kühl und objektiv analysieren; auch, was solche Verbrechen angeht. Man muß das meines Erachtens, weil Empörung und Entsetzen ja (aus meiner Sicht jedenfalls) nicht zu vernünftigem Handeln führen.
Ich analysiere auch gerne kühl und objektiv die Wirtschaftspolitik der Nazis, oder auch die soziale Situation, aus der heraus sie überhaupt an die Macht kamen, um derlei Fehler in Zukunft vermeiden zu helfen. Und ich bin mir nicht ganz sicher, inwiefern eine kühle Analyse von Auschwitz bei vernünftigem Handeln hilft. Ich bin da ganz unaufgeklärt der Meinung, dass man diese Bestialitäten gar nicht so genau analysieren muss, um zu entscheiden, dass (und wie) man dagegen vorgehen muss.
Aber das ist jetzt alles zugegebenermaßen recht unkonkretes Schwätzen, das gebe ich gerne zu.
-- Ultramontan – dies Wort beschreibt vorzüglich die katholische Mentalität: mit einem kleinen Teil des Bewusstseins nicht Deutscher, nicht Zeitgenosse, nicht Erdenbürger zu sein. - Martin Mosebach, Spiegel 7/2009
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