Mit der Duzerei habe ich mich in ZR schon gelegentlich befaßt - es ist ja ein im Internet immer aktuelles Thema. Diesmal unter dem Gesichtspunkt der linguistischen Pragmatik.
Mit diesem Thema sprechen Sie mir (wie sonst oft) aus dem Herzen. An die Duzerei zwischen allenfalls oberflächlich Bekannten kann ich mich beim besten Willen nicht gewöhnen und komme dadurch, da sie sich im akademischen Bereich inzwischen weit verbreitet hat, mitunter in mir etwas peinliche Situationen. Im englischsprachigen Hochschulwesen hat man stattdessen die allgemeine Angewohnheit, sich auf dritte Personen mittels ihres Vornamens zu beziehen; auch das fand ich, daran gewöhnt, mir Leute per Nachnamen zu merken, anfangs ziemlich verwirrend. "David said...": ist das nun David der Portier oder David der Fellow of the Royal Society? Der Kontext entscheidet hier vieles.
Ich möchte aber doch darauf hinweisen, daß Thomas Mann vielleicht den Namen der Frau Stöhr erdacht hat, die Figur als solche aber ältere literarische Vorbilder hat, beispielsweise Henry Fieldings Mrs Slipslop in "Joseph Andrews", die aus derselben Motivation vollkommen analoge sprachliche Fauxpas begeht.
Zitat von Fluminist Im englischsprachigen Hochschulwesen hat man stattdessen die allgemeine Angewohnheit, sich auf dritte Personen mittels ihres Vornamens zu beziehen; auch das fand ich, daran gewöhnt, mir Leute per Nachnamen zu merken, anfangs ziemlich verwirrend. "David said...": ist das nun David der Portier oder David der Fellow of the Royal Society? Der Kontext entscheidet hier vieles.
Ja, das kenne ich. Und die Rückfrage "David who?" gilt nicht als sehr höflich.
Aber der Kontext, den Sie erwähnen, gehört eben zur linguistischen Pragmatik. Wer gut darin ist, soziale Zusammenhänge zu verstehen, der wird meist wissen, welcher David jeweils gemeint ist.
Zitat von FluministIch möchte aber doch darauf hinweisen, daß Thomas Mann vielleicht den Namen der Frau Stöhr erdacht hat, die Figur als solche aber ältere literarische Vorbilder hat, beispielsweise Henry Fieldings Mrs Slipslop in "Joseph Andrews", die aus derselben Motivation vollkommen analoge sprachliche Fauxpas begeht.
Danke; das wußte ich nicht. Mir war nur bekannt, daß Frau Stöhr einer realen Figur nachgebildet ist (wie ja fast das gesamte Personal des "Zauberbergs"); einer Mitpatientin Katia Manns in Davos.
Lieber Zettel, ich glaube Sie habe ein spezifisch schwedisches Problem übersehen:
Zitat Doch was besonders höflich klingen soll, wirkt auf die so Angesprochenen oft geradezu beleidigend. Denn wenn sie nur alt genug sind, wissen sie noch um die ursprüngliche Verwendung des Pronomens: So sprachen vor dem Zweiten Weltkrieg Adlige ihre Bediensteten, Herren ihre Knechte und Mägde an - aber nie umgekehrt. Von unten nach oben gebrauchte man stattdessen Titel und die dritte Person: „Wohnen die Herren Leser noch oder leben sie schon?“
Es gab eben keine neutrale, primär Distanz zum Asudruck bringende Höflichkeitsformen, sondern nur Formen, welche die soziale Hierarchie unterstreichen.
Im Englischen bezeichnet man diese Art von Stöhr'schem "Vorpass" gemeinhin als Malapropismus, nach Thomas Sheridans Mrs. Malaprop: http://en.wikipedia.org/wiki/Malapropism Zwischenstufen zwischen dem formalen Sie und dem informellen Du sind in der Praxis natürlich gängig: Zwischen Kollegen im Büro z.B. das Sie mit Vorname. Das Medium spielt auch hinein: im E-Mail-Verkehr (teilweise geht es dort aber auch formeller zu als in persönlichen Umgang); auch an elektonischen Schwarzen Brettern. Für Übersetzer (von Literatur) kann das Probleme geben: Erinnerlich ist mir eine Lesung von Harry Mulisch (der, wegen seines deutschen Vaters, ein besseres Deutsch sprach als das versammelte Publikum) aus dem Anfang der "Entdeckung des Himmels", in dem die schon studierenden Kinder der Amsterdamer Patrizierfamilen - noch Anfang der 60er Jahre - ihre Eltern selbstverständlich siezen (dem französischen Vorbild entsprechend); es entspricht der Vorlage und womöglich auch der Wirklichkeit, aber für den hiesigen Leser eine leichte Irritation.
Ein tangentiales Thema in Sachen Anredekonventionen wäre die Frage, warum das Deutsche - als einzige Sprache, die mir untergekommen ist - sich darauf kapriziert hat, ausgerechnet die dritte Person Plural als formales Anredepronomen zu verwenden. Als Muttersprachler fällt es einem ja nicht auf; wenn man's 1 zu 1 überträgt, wird es recht bizarr sichtbar: Statt "will you have tea?" dann etwa "will they have tea? Of nemen ze koffie [statt: neemt u]? Sont-ils decide?" (Wenn man als Fremdsprachler Deutsch lernt, dürfte das schnell unsichtbar werden; zunächst aber recht gewöhnungsbedürftig sein.) Begründet wird das mit den verschiedenen Sprachebenen und dem Changieren zwischen Luther- und Goethezeit, aber solche vermeintlich sprachgeschichtlichen Herleitungen sollte man wohl cum grano salis nehmen. (Warum gibt es in keiner anderen Sprache - auch nicht im Niederländischen oder den Skandinavischen Sprachen, die hier ja sehr nahe liegen, Ähnliches?)
Zitat von MarriexLieber Zettel, ich glaube Sie habe ein spezifisch schwedisches Problem übersehen:
Zitat Doch was besonders höflich klingen soll, wirkt auf die so Angesprochenen oft geradezu beleidigend. Denn wenn sie nur alt genug sind, wissen sie noch um die ursprüngliche Verwendung des Pronomens: So sprachen vor dem Zweiten Weltkrieg Adlige ihre Bediensteten, Herren ihre Knechte und Mägde an - aber nie umgekehrt. Von unten nach oben gebrauchte man stattdessen Titel und die dritte Person: „Wohnen die Herren Leser noch oder leben sie schon?“
Es gab eben keine neutrale, primär Distanz zum Asudruck bringende Höflichkeitsformen, sondern nur Formen, welche die soziale Hierarchie unterstreichen.
Gilt das, lieber Marriex, aber auch noch für die Jungen, die laut dem Artikel von Baltzer mit dem Nizen wieder anfangen? Ihnen ist ja diese Herkunft offenbar nicht geläufig; sie wollen mit dem Nizen besonders höflich erscheinen.
In diesem Thread hat inzwischen Ulrich Elkmann darauf hingewiesen, daß ja auch das deutsche "Sie" im Ursprung Dritte Person Plural ist. Es gehört historisch also eigentlich in die Kategorie von "Gehe Er mir aus dem Weg!"
Gerade die Konnotationen von Begriffen und Markierungen verändern sich ja oft im Lauf der Sprachgeschichte - den wir heute neckisch einen "Schelm" nennen, war einst der Scharfrichter; das Wort "geil" hat innerhalb einer Generation seine Konnotation völlig verändert.
Könnte es nicht auch mit dem Nizen in Schweden so sein?
Zitat von Ulrich ElkmannEin tangentiales Thema in Sachen Anredekonventionen wäre die Frage, warum das Deutsche - als einzige Sprache, die mir untergekommen ist - sich darauf kapriziert hat, ausgerechnet die dritte Person Plural als formales Anredepronomen zu verwenden.
Im Spanischen und Italienischen wird das auch so verwendet. Und mindestens das Spanische hatte ja über längere Zeit großen Einfluß auf europäische Höflichkeitsformen. Fast wäre ich geneigt zu fragen, warum ausgerechnet die Franzosen die "schlichte" direkte Anrede (also die zweite Person) verwenden.
Zitat von Ulrich ElkmannEin tangentiales Thema in Sachen Anredekonventionen wäre die Frage, warum das Deutsche - als einzige Sprache, die mir untergekommen ist - sich darauf kapriziert hat, ausgerechnet die dritte Person Plural als formales Anredepronomen zu verwenden.
Im Spanischen und Italienischen wird das auch so verwendet. Und mindestens das Spanische hatte ja über längere Zeit großen Einfluß auf europäische Höflichkeitsformen. Fast wäre ich geneigt zu fragen, warum ausgerechnet die Franzosen die "schlichte" direkte Anrede (also die zweite Person) verwenden.
Das spanische Usted leitet sich ja von Vuestra Merced ab, also "Euer Gnaden".
Das zeigt, wo die dritte Person Plural herkommt: Die direkte Anrede wird vermieden und durch eine Titulierung ersetzt; der Titel selbst geht dann im Lauf der Sprachgeschichte in vielen Sprachen verloren, und übrig bleibt die grammatische Form.
Es ist dieselbe dritte Person, die der Kellner verwendet: "Hat der Herr noch einen Wunsch?".
In Frankreich gibt es das ebenfalls: "Monsieur prendra encore quelque chose?"; während der Wirt im Bistrot grob sagt: "Vous voulez encore quelque chose?".
Man könnte vielleicht sagen, daß diese dritte Person die höchste Stufe der Distanz ist - man spricht den Anderen gar nicht direkt an, sondern mit seinem Titel (auch "Herr" war ja ursprünglich ein Titel; noch zu sehen in "Herrin", ebenso "Monsieur", also eigentlich "mein Herr").
Die zweite Stufe ist die direkte Anrede, aber mit dem Plural - das englische you, das frühere deutsche "Ihr", das französische vous. Man erhebt den Anderen in die Mehrzahl; eine Variante des pluralis majestatis.
Die einfachste Stufe ist natürlich das schlichte "du".
Und bei der obersten Stufe kann man noch eine Steigerung erreichen, indem man sie mit der zweiten verbindet. Dann hat man das das deutsche "Sie". Und a bisserl schlampert wird es, wenn man à la Hans Moser als Friseur Singular und Plural vermantscht: "Halden der Härr den Kopf biddschön grad?".
In der Sprachgeschichte sind da immer wieder Verschiebungen zu beobachten:
In althochdeutscher Zeit gilt nur "du" - Hildebrand und Hadubrant, wiewohl sich fremd, duzen sich.
Im 9. Jh. taucht dann erstmals das "ihr" als Anrede für den Höhergestellten auf, und dann bleibt im MA dieses Nebeneinander von "du" für den Niedrigerstehenden und "ihr" für den Höherstehenden. Auch die Ritter der höfischen Romanen ihrzen sich meiner Erinnerung nach gegenseitig. Vgl. auch Grimms Märchen: "Frau Königin, Ihr seid die Schönste im ganzen Land."
Dann taucht im 16. Jh. die Anrede mit "Er" auf ("Geruht der Herr ..."; "Hat er gut geschlafen"); dazu tritt dann im 17. Jh. die Steigerung, indem das "Er" in den Plural gesetzt wird.
Gottsched unterscheidet im 18. Jh. als Anrede: - natürlich: Du - althöflich: Ihr - mittelhöflich: Er, Sie - neuhöflich: Sie (Plural) - überhöflich: Dieselben
Adelung schreibt in der 2. Hälfte des 18. Jh.: "Du wird nur noch 1. gegen Gott, 2. in der Dichtkunst und dichterischen Schreibart, 3. in der Sprache der engen Vertraulichkeit und 4. in dem Tone der hochgebiethenden Herrschaft und tiefen Verachtung gebraucht. Außer diesen Fällen redet man sehr geringe Personen mit ihr, etwas bessere mir er und sie, noch bessere mit dem Plural sie, und noch vornehmere wohl mit dem Demonstrativo Dieselben oder auch mit abstracten Würdenamen, Ew. Majestät, Ew. Durchlaucht, Ew. Excellenz u.s.f. an."
Für Preußen ist im 18. Jh. belegt, dass im Westen das Du fast ganz verschwunden war, während im Osten nur Grafen und Gelehrte geihrzt wurden.
Anfang des 18. Jh. (Preuß. Reformen) setzte sich in Preußen die Zweigliedrigkeit Du = vertraut, Sie = offiziell durch; in den Befreiungskriegen wurden die Freiwilligen nicht wie die übrigen SOldaten mit "du" oder "er" angeredet, sondern mit "Sie". Es gibt die schöne Anekdote, dass 1813/15 ein Freiwilliger angeraunzt wurde mit "Er ist ein Schaafskopf", worauf der Getadelte antwortete: "HErr Lieutenant, nach dem Patente heißt es: Sie sind ein Schaafskopf." Das Siezen wurde dann auf alle Soldaten, Wehrpflichtige wie Freiwillige, ausgedehnt.
Nach 1800 setzt sich auch gegenseitige "Du" zwischen Eltern und Kindern durch (statt früher Du gegen Sie). Für das 18. Jh. gilt noch für Ehepartner: Bei Bauern und Bürgern: Du gegen Du; Du gegen Ihr bei Bürgern und Adel (d.h. der Mann duzt die Frau, sie ihrzt ihn), ihr gegen ihr im hohen Adel. Gegen Ende des 18. Jh. setzt sich das Siezen der Ehepartner im Bürgertum durch.
Siehe W. Besch: Duzen, Siezen, Titulieren. Göttingen 1996
Die älteren Kollegen an der Schule duzen die Schüler durchweg bis zum Abitur. Die jüngeren Kollegen, ich eingeschlossen, siezen die Schüler in der Oberstufe eher.
Die Schüler sind geteilter Meinung: Einige finden das gut; andere, die ich schon länger kenne, finden es komisch, von mir plötzlich gesiezt zu werden, v.a. zu Beginn der Oberstufe. Ich mache es trotzdem, denn wenn jemand nach der 10. Klasse abgegangen wäre und dann beim Einwohnermeldeamt als Auszubildender säße, würde ich ihn ja auch nicht duzen.
Trotzdem rutscht mir auch das Du immer wieder durch, v.a. auf Fahrten, wenn ich länger mit den SChülern zusammen bin. Da ist es irgendwie einfacher zu sagen: "Ihr habt jetzt 1 Stunde Zeit; bitte seid um 14 Uhr hier an dieser Ecke, weil dann die Stadtführung beginnt." oder "Beeilt euch mal ein bisschen" statt "Sie haben jetzt ... bitte seien Sie ... bitte beeilen Sie sich". Auch bei persönlichen Gesprächen, wenn es um private oder familiäre Probleme geht, nehme ich das Siezen als sehr distanziert wahr. Wenn ich einen SChüler tröste, geht das schwer mit "Sie".
Ein weiteres Problem ist G8: Im ersten Jahr der Oberstufe sind die Schüler jetzt 15 Jahre alt, einige gar erst 14, eine Ausnahmeschülerin gar erst 13 (zwei Schuljahre übersprungen). Das Kind darf nach 20 Uhr nicht allein in die Öffentlichkeit und kommt nicht ins Kino, wenn die Vorstellung erst nach 20 Uhr endet (Filmbeginn 18.30 Uhr) - das kann ich ja nicht siezen!
Calimero
(
gelöscht
)
Beiträge:
15.02.2012 20:20
#11 RE: Anmerkungen zur Sprache (13): In Schweden wird wieder gesiezt
Zitat von Gansguoter (...) - natürlich: Du - althöflich: Ihr - mittelhöflich: Er, Sie - neuhöflich: Sie (Plural) - überhöflich: Dieselben (...)
Wow! Jetzt sind ja alle Unklarheiten beseitigt. Da dachte ich bisher immer, dass es unbeabsichtigt unhöflich wäre, wenn mich älteres Verkaufspersonal so penetrant erzt. Dass es dies aber nur aus Unsicherheit tut, weil es mir als Jüngerem kein "herrschaftliches" Sie zugestehen, mich aber auch nicht pöbelhaft duzen möchte. Dabei ist das ja gar nicht unhöflich, sondern tatsächlich wohl mittelhöflich. Und nun, dass Ältere sich des modernen Neuhöflichen verweigern ... wer will es ihnen ernsthaft argen?
Beste Grüße, Calimero
---------------------------------------------------- "Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande" - De civitate dei, IV, 4, 1. Übers.: Papst Benedikt XVI, Rede vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 2011
Zitat von CalimeroDa dachte ich bisher immer, dass es unbeabsichtigt unhöflich wäre, wenn mich älteres Verkaufspersonal so penetrant erzt. Dass es dies aber nur aus Unsicherheit tut, weil es mir als Jüngerem kein "herrschaftliches" Sie zugestehen, mich aber auch nicht pöbelhaft duzen möchte.
Dazu gehört auch, daß es im Deutschen keine Anrede à la Monsieur oder Sir oder Señor gibt. "Mein Herr" ist ja völlig aus der Mode gekommen; wie der Smoking als Arbeitskleidung war es zuletzt nur noch bei Kellnern u.ä. üblich.
Eine höfliche Anredeform haben wir im Deutschen, aber kein höfliches Anredewort.
Also, was sagt man? Im Ruhrgebiet war, als ich dort lebte, "Meister" sehr verbreitet. Dann dieses seltsame "Junger Mann", mit dem man auch noch in fortgeschrittenem Alter beehrt wird. Wie umgekehr ausgerechnet junge Leute sich gern mit "Alter" anzureden pflegten; ich habe keine Ahnung, ob das noch gebräuchlich ist.
Oder man sagt in seiner Verzweiflung einfach "Sie". Also "Sie, können Sie mir sagen, wo hier der Bahnhof ist?" Oder "Hallo". In einem Gedicht von Eugen Roth reagiert ein Mensch, der etwas verloren hat, auf das hinter ihm von einem freundlichen Mitmenschen hergerufene "Hallo" nicht, sondern geht weiter. Denn denn "er denkt, daß er nicht Hallo heißt".
Wenn eines eine wirkliche Bereicherung des Umgangsdeutschen wäre, dann eine ordentliche Anrede.
Vorschläge?
Und wie war das eigentlich in der DDR? Konnte man da "Genosse" sagen, oder ging das nur unter SEDlern?
Zitat von GansguoterVielleicht noch eine Alltagsbeobachtung:
In der Energiewirtschaft (Kraftwerksbereich) ist es anscheinend Usus, dass hemmungslos geduzt wird. Jedenfalls war das bei mir bisher überall so. Erst ab Abteilungsleiterebene, wo man so 50 - 100 Leute unter sich hat, wird testweise höflich gesiezt, bis der einen selbst locker mit du ankumpelt. Wir hatten aber mal einen jungen Betriebsingenieur, der sich die Sie-Distanz nicht nehmen lassen wollte, und es wirklich sehr lange durchgehalten hat. Er wirkte dabei immer wie ein Alien, wenn er ganz normal angesprochen wurde und daraufhin zurücksiezte. Es hat ihn allgemein durchaus Sympathien gekostet, würde ich sagen. Mittlerweile ist er aber wohl weitgehend eingenordet und musste sich der duzenden Übermacht ergeben.
Ich selbst hatte mal einen Azubi bei mir, so etwa dreieinhalb Monate lang. Ich habe ihn den Leuten vorgestellt, ihn belehrt, habe Fragen beantwortet, in der Gruppe Fachgespräche geführt, alles mögliche. Ganz normal. Erst am Ende dieser Zeit wollte ich dann seine Leistungen und seine Belegarbeit mit ihm durchsprechen. Hab ihn mir allein ins Büro geholt, Tür zu, Schreibtischsituation vis-a-vis ... und da hat er mich doch tatsächlich gesiezt! Ich weiß bis heute nicht, ob er es über drei Monate lang geschafft hat, jeder persönlichen Anrede mir gegenüber aus dem Wege zu gehen, oder ob ihn die Situation in dem Augenblick überfordert hat. Da war ich jedenfalls erst mal sprachlos.
Beste Grüße, Calimero
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Zitat von ZettelAlso, was sagt man? Im Ruhrgebiet war, als ich dort lebte, "Meister" sehr verbreitet. Dann dieses seltsame "Junger Mann", mit dem man auch noch in fortgeschrittenem Alter beehrt wird. Wie umgekehr ausgerechnet junge Leute sich gern mit "Alter" anzureden pflegten; ich habe keine Ahnung, ob das noch gebräuchlich ist.
Also in meiner Generation ist "Alter" noch durchaus üblich, "Meister" geht auch, ist aber ungebräuchlich. Wie sich die Nachwuchsdeutschen so zu titulieren pflegen, da ist wohl eher Gansguoter auf dem Laufenden.
Zitat von ZettelWenn eines eine wirkliche Bereicherung des Umgangsdeutschen wäre, dann eine ordentliche Anrede.
Vorschläge?
Stimmt! Absolut! Ich kenne eigentlich auch nur "'tschuldignsie". Was Intelligenteres fällt mir auch nicht ein, leider.
Zitat von ZettelUnd wie war das eigentlich in der DDR? Konnte man da "Genosse" sagen, oder ging das nur unter SEDlern?
Wenn, dann war das bestimmt nur scherzhaft gemeint. Außer bei den bewaffneten Organen, da war der "Genosse" auch Usus. Gern genommen wurde aber Towarischtsch oder Gospodin ... auch nur im Scherz allerdings.
Beste Grüße, Calimero
---------------------------------------------------- "Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande" - De civitate dei, IV, 4, 1. Übers.: Papst Benedikt XVI, Rede vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 2011
Zitat von ZettelOder man sagt in seiner Verzweiflung einfach "Sie". Also "Sie, können Sie mir sagen, wo hier der Bahnhof ist?" Oder "Hallo". In einem Gedicht von Eugen Roth reagiert ein Mensch, der etwas verloren hat, auf das hinter ihm von einem freundlichen Mitmenschen hergerufene "Hallo" nicht, sondern geht weiter. Denn denn "er denkt, daß er nicht Hallo heißt".
Wenn eines eine wirkliche Bereicherung des Umgangsdeutschen wäre, dann eine ordentliche Anrede.
Vorschläge? (...) Herzlich, Zettel
Ich sage meistens "Entschuldigen Sie, könnten Sie mir bitte sagen, wo hier der Bahnhof ist?" Es hat noch nie jemand geantwortet, dass ich mich nicht hätte entschuldigen müssen. ;-)
Wobei die Ansprache, die mit "Meister" beginnt, nie höflich gemeint ist. Entweder ist es der Anfang einer verbalen Zurechtweisung, oder das totale nicht ernst nehmen des Angesprochenen. In jedem Fall ein sich, über den Angesprochenen, erheben.
Vielleicht gibt es da auch noch eine skandinavische Komponente die erwägt zu werden verdient hat. In Dänemark z.B. duzt ("du") man sich ja generell seit den 60ern; nur die Königlichen (und Herr Mærsk McKinney-Møller, aber das ist eine andere Geschichte) werden gesiezt ("De"). Und von einer Wiederkehr des "De" hätte ich gehört, wenn es sie gäbe.
Ich hatte mir immer vorgestellt, dass das mit der in Dänemark sehr betonten égalité zu tun hat, die die Dänen ja gerne, wie auch ihre Demokratie, auf die Wikingerzeit zurückführen.
Zitat Diggers (Buddler) war eine englische Gruppe, die von Gerrard Winstanley als True Levellers im Jahr 1649 gegründet wurde.
Ihr ursprünglicher Name True Levellers entstammte ihrem Glauben an die wirtschaftliche Gleichberechtigung, der auf eine spezielle Passage in der Apostelgeschichte des Lukas zurückgeht. Sie waren eine Splittergruppe der Levellers. Die Diggers versuchten, die bestehende gesellschaftliche Ordnung zu reformieren, die Besitzstände einzuebnen, indem sie eine agrarische Lebensweise anstrebten, die mit der Gründung kleiner, ländlicher Kommunen einherging. Sie waren eine der vielen englischen Dissenter jener Zeit.
So die Wikipedia. Sind die deine Inspiration?
Ich kenne ansonsten, wenn ich mich recht erinnere, die Diggers aus dem Karl May - Goldgräber nämlich.
Zitat von FlorianWas mir im Alltag fehlt, ist eine Anrede für das Servicepersonal in der Gastronomie.
"Herr Ober" ist sehr altväterlich. Und wer heutzutage noch "Fräulein" sagt, muss mit Beschimpfungen rechnen. Aber was ist die Alternative?
Ja, das ist ein Spezialfall dieses Fehlens einer Anrede überhaupt.
Ich sage unverdrossen "Herr Ober" - was bleibt mir übrig? Manche sagen im weiblichen Fall ja scherzhaft "Frau Oberin". Naja, das geht in einem rheinischen Weinlokal oder beim Äbbelwoi.
Ansonsten geht eventuell "Service bitte!". Oder in besseren Restaurants der Augenkontakt und ein Nicken. Wenn sie wirklich besser sind, dann gleiten ja die Blicke des Personals ohnehin über die Tische, ob vielleicht jemand einen Wunsch hat.
Was allerdings auch zum Horror werden kann. Ich erinnere mich an ein indonesisches Restaurant in Holland, wo ich der einzige Gast war; ich war zu einer unüblichen Zeit erschienen. Da stand nun das ganze Personal - vier oder fünf Mann/Frau - und starrte mich unverwandt an. Offenbar, weil sie angewiesen waren, immer dann, wenn sie nichts zu tun hatten, die Blicke auf die Gäste zu richten.
Zitat Diggers (Buddler) war eine englische Gruppe, die von Gerrard Winstanley als True Levellers im Jahr 1649 gegründet wurde.
Ihr ursprünglicher Name True Levellers entstammte ihrem Glauben an die wirtschaftliche Gleichberechtigung, der auf eine spezielle Passage in der Apostelgeschichte des Lukas zurückgeht. Sie waren eine Splittergruppe der Levellers. Die Diggers versuchten, die bestehende gesellschaftliche Ordnung zu reformieren, die Besitzstände einzuebnen, indem sie eine agrarische Lebensweise anstrebten, die mit der Gründung kleiner, ländlicher Kommunen einherging. Sie waren eine der vielen englischen Dissenter jener Zeit.
So die Wikipedia. Sind die deine Inspiration?
Ich kenne ansonsten, wenn ich mich recht erinnere, die Diggers aus dem Karl May - Goldgräber nämlich.
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