Danke für die interessanten Exkurse über Grönland und so! Als Deutscher würde mich auch interessieren: Was ist eigentlich deutsch, deutsche Identität oder Deutschland? :-) mfG
Zitat von RaysonDie Bundesrepublik ist ein Verband von 295 Landkreisen und X kreisfreien Städten" wäre tatsächlich falsch.
Weil wir heute präzise Verwaltungsabgrenzungen gewohnt sind. Im Mittelalter ist falsch/richtig nicht immer so trennscharf, da gehen auch locker mehrere widersprüchliche Definitionen gleichzeitig.
Und wenn man es wirklich streng nimmt, dann ist der Satz der Wikipedia auch falsch. Das HRR besteht nicht aus vielen Territorien, sondern nur aus drei Königreichen - Punkt. Das "übergeordnete" Kaisertum hat genau eine Institution (nämlich den Kaiser) und eigentlich überhaupt keine eigenständigen Rechte. Alle faktischen Machtmittel und Rechtstitel des Kaisers waren mit dem Untergang des weströmischen Reichs verschwunden, wiederbelebt durch Karl den Großen wurde nur die Hülle, ein reiner Titel. Der Kaiser war zwar vom Prinzip her das Oberhaupt der ganzen (katholischen) Christenheit - aber außerhalb seines eigenen Herrschaftsbereichs bedeutete das nur in Ausnahmen irgend etwas, es war im wesentlichen eine Prestigesache (wobei Prestige damals viel wichtiger war als heute, gerade für Herrschaft). Maximal konnte er noch beanspruchen, Stadtherr von Rom zu sein und Päpste ernennen und absetzen zu dürfen. Und bösartige Menschen (d.h. die Römer und die Päpste) bestritten ihm sogar das ;-)
Die eigentliche Macht des Kaisers beruhte aber völlig auf seinen drei Königstiteln. Ostfranken/Deutschland, Burgund und das lombardische Italien waren Staaten mit germanischer Lehnsstruktur. Alle Untertanen waren direkt oder indirekt über Vasallenverhältnisse an den Herrscher gebunden. Er verfügte über diverse Königsrechte (Regalien) und über viel Königsbesitz (für die Einnahmen, Steuern gab es ja nicht wirklich). Die Rechtsstrukturen der drei Königreiche waren ähnlich, aber eigenständig und getrennt. Die Gemeinsamkeit bestand nur in der Personalunion des Herrschers. Wobei Personalunion verschiedener Gebiete ja nichts Besonders war. Das konnte per Erbschaft auch über Generationen so gehen, manchmal löste sich die Personalunion nur auf, weil die Erbschaftsregeln unterschiedlich waren (Beispiel die Trennung von England und Hannover im 19. Jahrhundert). Das wirklich Eigentümliche war aber, daß der deutsche König automatisch in Personalunion auch König in Burgund und Italien war, obwohl Deutschland ein Wahlkönigtum war, also nichts vererbt wurde. Und die beiden anderen Königreiche mußten, obwohl eigenständig, den in Deutschland bestimmten König übernehmen. Wirklich eine Kuriosität, und die wurde erstaunlicherweise auch nie in Frage gestellt. Es gab reichlich Gegenkönige in Deutschland. Aber nie die Idee, in Italien oder Burgund einen anderen König zu etablieren als in Deutschland.
Und ähnlich hatte auch nur der deutsche König ein Anrecht auf den Kaisertitel (auch das wurde nie bestritten, bis Napoleon). Und dieser Titel (und das "heilig" und "römisch") wurde reichlich verwendet, gerade im deutschen Reichsteil. Trotzdem waren "Reichskammergericht" und "Reichskreise" und "Reichstag" und "Reichsfürsten" immer nur durch kaiserlich-römische Etikettierung optisch aufgewertete deutsche Institutionen, die für Italien und Burgund nicht zuständig waren.
Zitat Ich würde den Territorien nur keine Staatseigenschaft zuerkennen wollen.
Ich widerspreche nicht, halte die Diskussion aber für müßig. Die Definition von "Staat" ist zu vielfältig. Du kannst eine strenge, moderne Definition wählen. Die ist korrekt, weil von vielen Historikern verwendet, und dann ist Dein Satz richtig. Ich folge halt anderen Denkrichtungen, die weiter definieren.
Zitat Der fehlende Wille zum Nationalstaat entsprang nicht einer Laune dieser Herrscher, sondern war Konsequenz der Machtverhältnisse.
Nein. Der fehlende Wille zum Nationalstaat entsprang der Logik monarchischer Strukturen, in der jeder Untertan willkommen ist, der Nutzen bringt. Auch in England, Frankreich, Spanien wollte kein Herrscher (trotz völlig anderer interner Machtverhältnisse) einen Nationalstaat. Wo wäre denn da das Wachstumspotential geblieben?
Zitat
Zitat von R.A.Das Habsburgerreich war eine große Einheit und hat funktioniert.
Ich glaube, das sehen Tschechen, Slowaken oder Serben etwas anders.
Die Serben zählen nicht, die waren außerhalb des Habsburgerreichs. Bei den Slowaken hast Du recht, Ungarn war intern sehr rigide. Österreich war deutlich minderheitenfreundlicher strukturiert. Die Tschechen waren beleidigt, weil sie eine ähnlich hervorgehobene Stellung haben wollten wie die Ungarn - ansonsten hatten sie aber wenig Grund zu echten Klagen. Und die übrigen Völker konnten ziemlich zufrieden sein mit der Habsburger Monarchie. Wahrscheinlich war das die beste Zeit, die sie in der ganzen Geschichte je hatten.
Zitat Kommt aber natürlich immer darauf an, was man unter "funktionieren" versteht. Das römische Reich, das britische Imperium und die Sowjetunion haben so gesehen auch "funktioniert".
Hmm, das "funktionieren" kam von Dir von wegen bei größeren Einheiten würde nur Nationalstaat "funktionieren". Und natürlich haben römisches Reich und das Empire funktioniert (die SU ist eine schwierige Diskussion).
Zitat
Zitat von R.A.die meisten "alten" Staaten waren viel offener für Einwanderung als die heutigen Nationalstaaten.
Worauf stützt sich diese Behauptung?
Darauf, daß es bis zur Neuzeit eigentlich keine echten Grenzkontrollen gab und Einwanderung in prosperierende Gegenden völlig normal war. Nur mit den Bürgerrechten konnte es in manchen Städten länger dauern. Aber sozialer Aufstieg war damals ohnehin eine Frage von Generationen, nicht einer Lebensspanne.
Zitat Die Sprache ist wichtig, aber es kommen eben manchmal noch andere Kriterien hinzu, die "Fremdheit" auslösen, z.B. die Religion.
Zustimmung.
Zitat Die Franzosen sind zwar dafür berüchtigt, den Sprachwechsel auch mal blutig erzwungen zu haben, wenn er dann aber durch war, gehörten, wenn keine zusätzlichen Ausgrenzungsmerkmale ins Spiel kamen, die betreffenden Menschen genau so dazu wie die anderen.
Frankreich ist da aber eher die Ausnahme, bei vielen anderen Nationalstaatsversuchen (gerade in Mittel-/Ost-Europa) ging es restriktiver zu. Zu Ungarn kann ich wenig sagen, aber das mit dem kompletten Bevölkerungsaustausch halte ich für übertrieben.
Zitat Wenn es überhaupt einen nationalen Antisemitismus gab, dann hat er historisch gegenüber dem herkömmlichen "christlichen" und dem "rassischen" der Nazis jedenfalls keine nennenswerte Rolle gespielt.
Der "nationale" Antisemitismus war ja im Prinzip der Vorläufer des "rassischen", vom Denkansatz eigentlich identisch: Jude bleibt Jude und kann kein Deutscher werden. Das ist ein großer Unterschied zum "christlichen" Antisemitismus vorher, da konnte sich der Jude taufen lassen und war dann akzeptiert.
Ich will die historische Diskussion hier nicht endlos im Detail fortführen. Ich nehme, lieber R.A., deine Analyse zur Kenntnis. Nur eine kleine Korrektur:
Zitat von R.A.Die Serben zählen nicht, die waren außerhalb des Habsburgerreichs.
Es gab Serben sowohl innerhalb als auch außerhalb des Habsburgerreichs. Die Vojvodina, wo überwiegend Serben leben, gehörte zu Ungarn. Deswegen haben die Serben in der Aufzählung schon noch Platz. Man hätte natürlich auch noch die Kroaten hinzufügen können.
Zitat von R.A.Österreich war deutlich minderheitenfreundlicher strukturiert.
Was nichts daran ändert, dass es ein Reich war, indem die einen oben (Deutsche, später auch Ungarn, lief aber auch nur über Kämpfe) und die anderen, die zu Schwachen, unten waren.
Zitat von R.A.Und die übrigen Völker konnten ziemlich zufrieden sein mit der Habsburger Monarchie. Wahrscheinlich war das die beste Zeit, die sie in der ganzen Geschichte je hatten.
Sagt rückblickend und großzügig zuteilend der weise R.A... Deswegen schrieb ich ja auch, man solle nicht dich, sondern besser die betroffenen Nationen fragen
Zitat von R.A.Hmm, das "funktionieren" kam von Dir von wegen bei größeren Einheiten würde nur Nationalstaat "funktionieren".
Muss ich hier wirklich extra anmerken, dass ein "Funktionieren" durch unterdrückende militärische Gewalt zwar historisch eine Option darstellt, aber keine, die wir in unsere Betrachtung einzubeziehen hätten? Ich gehe jedenfalls von demokratisch verfassten Staaten aus, die keins ihrer Gebiete mit Gewalt unterwerfen. Letzteres ist ja sowieso weitgehend aus der Mode gekommen.
Zitat von R.A.Zu Ungarn kann ich wenig sagen, aber das mit dem kompletten Bevölkerungsaustausch halte ich für übertrieben.
War es natürlich, aber nur leicht:
Zitat von WikipediaStellten die Magyaren vor 1526 noch 80 % der Bevölkerung von 3,5 bis 4 Millionen, ging ihr Anteil durch die ständigen Kriege und Verwüstungen, auf die mit Neuansiedlungen regiert wurde, stark zurück. Um 1600 schätzte man die Bevölkerung auf etwa 2,5 Millionen, nach dem Rückzug der Türken auf rund 4 Millionen.
Ich weiß leider nicht mehr, in welchem Buch ich das genauer und ausführlicher gelesen habe. Meine Ungarnzeit liegt auch schon Jahrzehnte zurück...
Zitat von R.A.Der "nationale" Antisemitismus war ja im Prinzip der Vorläufer des "rassischen", vom Denkansatz eigentlich identisch: Jude bleibt Jude und kann kein Deutscher werden.
Bei so viel Identität scheint mir eine gesonderte Kategorie nicht unbedingt sinnvoll zu sein. "Nationaler Antisemitismus" wäre eher sowas wie: "Die Juden sollen doch alle zurück nach ... gehen!" Da dieses "..." aber bis zum modernen Israel nicht existierte, blieb dem wackeren Antisemiten eben nur die Wahl zwischen religiöser und rassischer Begründung. Und da der moderne Antisemit auch Antizionist ist, beraubt er sich damit der nationalen Variante schon wieder. Fast könnte man Mitleid bekommen.
Aber nun die eigentliche Frage: Wenn wir uns einig sind, dass man Staaten nicht so einfach aus dem Boden stampfen kann, dass ihre Bevölkerung eine sie einende Idee braucht, die auch emotionale Bindungskraft zu entfalten in der Lage ist, und zwar so sehr, dass dadurch auch Hilfe und Verzicht, anders: Solidarität, ermöglicht werden, welche Idee kann denn deiner Meinung nach die nationale da ersetzen?
-- L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat)
Zitat von HausmannWas ist eigentlich deutsch, deutsche Identität oder Deutschland? :-)
Rechtlich, kulturell, politisch oder geschichtlich?
Meine Antwort auf diese Frage ist einfach: Deutschland ist heute identisch mit dem Geltungsbereich des Grundgesetzes. Und Deutscher ist, wer es sein will und die Sprache spricht.
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09.03.2012 01:39
#30 RE: Europas Krise (10): Europa und die deutsche Identität
Zitat von RaysonUnd Deutscher ist, wer es sein will und die Sprache spricht.
Ich hoffe doch Sie sind nicht so streng. Denn das mit der Sprache taucht ja immer wieder mal auf und das halte ich für problematisch.
[Nachtrag: Dieser Beitrag war ein Versehen und ist dem Umstand geschuldet, dass ich einen Browser benutze der mehr Tabs öffnen kann, als ich zu überblicken in der Lage bin. Er ist zwar so gemeint wie er hier steht, sollte aber gar nicht stehen. Sorry]
Zitat von RaysonEs gab Serben sowohl innerhalb als auch außerhalb des Habsburgerreichs. Die Vojvodina, wo überwiegend Serben leben, gehörte zu Ungarn.
Schon richtig. Aber im Gegensatz zu den meisten anderen Nationalitäten hatten die Serben einen eigenen Nationalstaat. Und nach allem was ich vage im Hinterkopf habe, ging es den Ungarn etc. in der Vojvodina nach dem ersten Weltkrieg als Minderheit in Serbien/Jugoslawien deutlich schlechter als den Serben vor dem Krieg als Minderheit in Ungarn.
Zitat Was nichts daran ändert, dass es ein Reich war, indem die einen oben (Deutsche, später auch Ungarn, lief aber auch nur über Kämpfe) und die anderen, die zu Schwachen, unten waren.
Das kann man so eigentlich nicht sagen. Es gab keinen Vorrang der Deutschen, ab dem 19. Jahrhundert war im österreichischen Teil die Gleichberechtigung aller Volksgruppen Gesetz. Die Deutschen hatten nur den Vorteil, daß deutsch die Sprache im Offizierscorps, am Hof und in der hohen Verwaltung war (die untere Verwaltung war mehrsprachig). Wer da Karriere machen wollte, muß halt deutsch können, das fällt einem als Deutschen natürlich leichter ;-).
Zitat Sagt rückblickend und großzügig zuteilend der weise R.A..
Danke für die Anerkennung, da widerspreche ich natürlich nicht ;-) Aber das habe ich mir nicht selber ausgedacht, das schreiben auch viele Ortskundige, durchaus aus den betroffenen Nationen. Das Jahrhundert nach den Habsburgern ist für die ganze Region halt insgesamt ziemlich mies gelaufen. Was natürlich nicht allein dem Nationalstaatsprinzip anzulasten ist - aber faktisch hat es eigentlich kein Nachfolgestaat geschafft, mit seinen Minderheiten auch nur halbwegs anständig umzugehen.
Zitat Muss ich hier wirklich extra anmerken, dass ein "Funktionieren" durch unterdrückende militärische Gewalt zwar historisch eine Option darstellt, aber keine, die wir in unsere Betrachtung einzubeziehen hätten? Ich gehe jedenfalls von demokratisch verfassten Staaten aus, die keins ihrer Gebiete mit Gewalt unterwerfen.
Da bist Du aber völlig in der Moderne, eigentlich schon nach dem zweiten Weltkrieg. Bis dahin war militärische Eroberung auch für Demokratien eine valide Option. Das Habsburgerreich beruhte teilweise natürlich auf Eroberung, wie eben zeitgemäß üblich. Aber es "funktionierte" im wesentlichen nicht über militärische Unterdrückung, es gab auch eine hohe Identifikation einer Mehrheit (nicht bei allen Volksgruppen) mit dem Staat.
Zitat Wenn wir uns einig sind, dass man Staaten nicht so einfach aus dem Boden stampfen kann, dass ihre Bevölkerung eine sie einende Idee braucht, die auch emotionale Bindungskraft zu entfalten in der Lage ist, und zwar so sehr, dass dadurch auch Hilfe und Verzicht, anders: Solidarität, ermöglicht werden, welche Idee kann denn deiner Meinung nach die nationale da ersetzen?
Interessante Frage. Ich würde mal sagen: Wenn man Staaten künstlich konstruiert, und deswegen eine Idee implementieren muß - dann ist das schon mal unglücklich. Das Nationalkonzept über die Sprache kann funktionieren, auch eines über die Religion (Belgien) - aber häufig scheitert das auch.
Der Normalfall in der Geschichte ist eben, daß Staaten nicht konstruiert werden, sondern aus geographischen Konstellationen entstehen (früher meist über Herrscher definiert) und ein Nationalgefühl entsteht, wenn man über eine gewisse Zeit gemeinsame Herausforderungen (meist: gemeinsame äußere Feinde) bewältigt hat. Eine gemeinsame Sprache hilft da sehr, ist aber nicht zwingende Bedingung.
Wenn man mal eine Nation mit einer Ehe vergleichen will: Das Nationalstaatsprinzip wäre dann den Kriterien eines Ehevermittlers vergleichbar. Der verkuppelt Paare, wenn der soziale Hintergrund, das Alter etc. halbwegs passen. Und oft klappt das, weil das natürlich ähnlich wichtige Erfolgsfaktoren für das Zusammenpassen der Eheleute sind wie die gemeinsame Sprache für die Leute, die eine Nation bilden sollen.
Die meisten Nationen oder Ehen entstehen aber ohne eine solche künstliche Idee. Sie halten oder sie halten nicht, da gibt es keine echte Erfolgsregel.
Zitat von RaysonUnd Deutscher ist, wer es sein will und die Sprache spricht.
Beides ganz wichtige Punkte. Wahrscheinlich würdest Du auch meiner Ergänzung zustimmen: "... und wen die übrigen Deutschen haben wollen". So ein gewisses Mitspracherecht würde ich schon behalten wollen, wenn jemand - Sprachkenntnisse vorausgesetzt - hier Mitglied werden möchte ;-)
Zitat von R.A.Aber das habe ich mir nicht selber ausgedacht, das schreiben auch viele Ortskundige, durchaus aus den betroffenen Nationen. Das Jahrhundert nach den Habsburgern ist für die ganze Region halt insgesamt ziemlich mies gelaufen.
Ich wage aber zu bezweifeln, dass eine Mehrheit der Bevölkerung sich eine Rückkehr gewünscht hätte.
Zitat von R.A.aber faktisch hat es eigentlich kein Nachfolgestaat geschafft, mit seinen Minderheiten auch nur halbwegs anständig umzugehen.
Was natürlich auch mit den nur mühsam unterdrückten Ressentiments vorher zu tun gehabt haben könnte. Siehe unten.
Zitat von R.A.es gab auch eine hohe Identifikation einer Mehrheit (nicht bei allen Volksgruppen) mit dem Staat.
Das wage ich auch zu bezweifeln. Die Ungarn z.B. sind mit dem "Ausgleich" einen Kompromiss eingegangen, aber von Identifikation kann man da nicht wirklich sprechen. Und die Volksgruppen, die das Pech hatten, als Nichtungarn in Ungarn gelandet zu sein, waren damit auch alles andere als glücklich. Den Minderheiten in Österreich ging es besser, aber zu einer Identifikation mit einem Staat, dessen Amtssprache nicht die ihre war, dürfte das nicht geführt haben.
Zitat von R.A.Da bist Du aber völlig in der Moderne, eigentlich schon nach dem zweiten Weltkrieg.
Mir geht es weniger um die zeitliche Zuordnung als darum, dass ich die Möglichkeit eines auf Bajonette gestützten "Funktionierens" selbstverständlich einräume, das jetzt aber nicht als Alternativmodell zum Nationalstaat behandeln wollte.
Zitat von R.A.Wenn man Staaten künstlich konstruiert, und deswegen eine Idee implementieren muß - dann ist das schon mal unglücklich.
Das hatte ich nicht gemeint. Formulieren wir es anders: Welche andere Idee wäre imstande, einen Staat hervorzubringen? Wie Staaten effektiv entstanden sind, ist dabei egal. Denn wir wissen ja, dass viele davon auf dem Nationalstaatsprinzip beruhen, das im übrigen ja auch eine natürliche Folge des allgemein anerkannten "Selbstbestimmungsrecht der Völker" darstellt. Wenn du aber den Nationalstaat nicht nur ablehnst, sondern sogar harsch verurteilst, brauchst du, wenn deine Kritik nicht sinnfrei sein soll, eine Alternative dazu. Wie also sähe die aus? Oder müssten wir nicht davon ausgehen, dass die heutigen Nationalstaaten sich wieder als Nationalstaaten konstituieren würden, wenn sich eine entsprechende Situation ergäbe? Die deutsche Wiedervereinigung wäre schon mal ein Indiz dafür.
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Zitat von R.A.Wahrscheinlich würdest Du auch meiner Ergänzung zustimmen: "... und wen die übrigen Deutschen haben wollen".
Ich würde es anders formulieren, um Ausnahmen und Normalfall voneinander zu trennen, denn Fälle von Leuten, die Deutsche werden wollen und die Sprache beherrschen, die der Rest aber nicht im Land haben will, sind mir z.B. überhaupt nicht bekannt. Von den unsinnigen Fällen, wo langjährig im Land geduldete und voll integrierte Menschen ohne Aufenthaltsrecht dann schließlich doch abgeschoben werden, mal abgesehen.
Also "... und wen die übrigen Deutschen nicht ablehnen."
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Zitat Welche andere Idee wäre imstande, einen Staat hervorzubringen?
Das notwendige verbindende Element für einen Staat muss doch nicht zwingend aus einer gemeinsamen kulturellen Wurzel kommen. Es kann doch auch aus gemeinsamen politischen Wunschvorstellungen stammen. Mich wundert daher, dass gerade Sie als Liberaler diese Frage stellen.
Als Antwort auf Ihre Frage: Zum Beispiel die Idee "Liberty and the pursuit of happiness". Oder die Idee "Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, eher den Tod, als in der Knechtschaft leben."
Das sind Zitate aus den Gründungsdokumenten der USA und der Schweiz. Beides sind Staaten, die nicht aus einer kulturell einheitlichen Nation entstanden sind. Sondern Staaten, die gewollt aus einem gemeinsamen politischen Ziel entstanden sind.
Ähnliche Fälle gibt es in der Menschheitsgeschichte noch mehr. Zum Beispiel Liberia.
Zitat von RaysonIch wage aber zu bezweifeln, dass eine Mehrheit der Bevölkerung sich eine Rückkehr gewünscht hätte.
Da wäre ich mir nicht so sicher. Für manche Regionen wirst Du aber recht haben. Denn it dem Nationalstaatsprinzip ist das ein bißchen wie mit der Sklaverei: Wenn man Chef ist, ist es richtig prima. Ich würde also eher die Minderheiten fragen, ob es ihnen vorher oder nachher besser gefallen hat.
Zitat
Zitat von R.A.aber faktisch hat es eigentlich kein Nachfolgestaat geschafft, mit seinen Minderheiten auch nur halbwegs anständig umzugehen.
Was natürlich auch mit den nur mühsam unterdrückten Ressentiments vorher zu tun gehabt haben könnte.
Im ungarischen Teil - teilweise. Im österreichischen Teil gilt die Ausrede eigentlich nicht. Und inzwischen sind ja fast 100 Jahre vergangen und der Verweis auf damals kann überhaupt nicht mehr rechtfertigen, wie es manchen Balkan-Ländern zugeht. Da täten diverse Regierungen gut daran, die alten Verfassungen aus dem Archiv zu holen und daraus zu lernen.
Zitat Den Minderheiten in Österreich ging es besser, aber zu einer Identifikation mit einem Staat, dessen Amtssprache nicht die ihre war, dürfte das nicht geführt haben.
Das war deutlich nicht so. Meinungsumfragen aus damaliger Zeit haben wir natürlich nicht, aber viele einzelne Indizien. Die einzige Volksgruppe, die wirklich unzufrieden war, das waren die Tschechen. Und diese Unzufriedenheit zielte lange Zeit nicht auf einen eigenen Nationalstaat, sondern auf eine Gleichstellung mit den Ungarn, d.h. auf formale Wiedererrichtung des traditionellen Königreichs Böhmen - innerhalb der Habsburger Monarchie. Die Identifikation der diversen Völker läßt sich ziemlich gut im ersten Weltkrieg sehen. Während des Kriegs gab es hohe Desertionsraten bei den tschechischen Einheiten (insgesamt fast 10%). Bei allen übrigen Völkern lag sie deutlich darunter und nicht signifikant über denen der deutschen Truppen. Eigentlich haben alle Volksgruppen (bis auf die Tschechen) bis kurz vor Schluß sehr engagiert für ihren Staat gekämpft.
Besonders auffällig war das bei den Italienern - die ja "ihren Nationalstaat" vor der Haustür hatten, die "Befreiung" ihrer Gebiete war erklärtes italienisches Kriegsziel und sie waren an der Alpenfront auch direkt gegen ihre "Landsleute" eingesetzt. Und diese italienischen Einheiten der Habsburger-Monarchie haben mit größten Einsatz gekämpft und hatten überdurchschnittliche Verlustraten. Es gibt interessante Zeugnisse deutscher Offiziere aus Nachbareinheiten zu diesem Thema. Auf jeden Fall ist die Loyalität der Habsburger Untertanen nicht durch Bajonette erzwungen worden.
Zitat Das hatte ich nicht gemeint. Formulieren wir es anders: Welche andere Idee wäre imstande, einen Staat hervorzubringen?
Normalerweise braucht man keine Idee. Regionale Staatsstrukturen entwickeln sich, weil es praktische Vorteile hat (im wesentlichen Sicherheit).Und manche Regionen wachsen zu Nationen zusammen, weil die historische Entwicklung ein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugte.
Zitat Denn wir wissen ja, dass viele davon auf dem Nationalstaatsprinzip beruhen, das im übrigen ja auch eine natürliche Folge des allgemein anerkannten "Selbstbestimmungsrecht der Völker" darstellt.
Dieses Selbstbestimmungsrecht ist ja eine Folgerung des Nationalstaatsprinzips und deswegen habe ich auch mit dem meine Schwierigkeiten. Natürlich nicht mit dem Aspekt "Selbstbestimmung", sondern mit der Volksdefinition.
Um noch etwas explizit zu klären: Natürlich entstehen Nationen oder Staaten vorzugsweise da, wo Leute eine gemeinsame Sprache und Kultur/Religion haben. Das ist einfach praktisch, umgekehrt entstehen Sprachen ja genau da, wo Nachbarn viel miteinander zu tun haben. Das Problem beim modernen Nationalstaatsprinzip besteht darin, daß der Aspekt Sprache so überhöht wird. Da werden dann Minderheiten rausdefiniert, und umgekehrt werden territoriale Ansprüche erhoben, wenn irgendwo in der Nachbarschaft noch Leute der eigenen Sprache wohnen.
In gemischten Siedlungsstrukturen (wie sie in Südosteuropa besonders stark waren) kann das überhaupt nicht funktionieren. Egal welches Volk "seinen Nationalstaat" kriegt - sofort gibt es Minderheits- und Irredenta-Probleme.
Zitat brauchst du, wenn deine Kritik nicht sinnfrei sein soll, eine Alternative dazu. Wie also sähe die aus?
Das Habsburger (oder Schweizer) Modell war eine Alternative. Und zwar eine, die über Generationen entwickelt und angepaßt wurde und am Ende ziemlich gut war. Ich habe mir mal vor Jahren die Buchenland-Verfassung von 1910 angeschaut (offenbar nicht im Netz verfügbar): Eine komplexe Konstruktion, aber hervorragend austariert, fair für alle Beteiligten - eigentlich eine Traumvorlage für die EU.
Zitat von FlorianMich wundert daher, dass gerade Sie als Liberaler diese Frage stellen.
Es geht nicht darum, was ich mir als Liberaler wünsche, sondern darum, was ich realistischerweise annehmen muss.
Die Schweiz ist ein absoluter Ausnahmefall, wobei die nichtdeutschen Landesteile überwiegend übrigens auch durch Eroberungen "angeflanscht" wurden. Der Erfolg der Schweiz beruht im wesentlichen auf drei Dingen: dass die Schweiz außenpolitisch eine Sonderrolle spielt, dass die Landesteile sich weitgehend gegenseitig in Ruhe lassen und dass der Staat ein vergleichsweise angenehmer ist.
Über das "Funktionieren" von Liberia sollten wir lieber nicht diskutieren. Und echte Einwanderungsländer wie die USA, Kanada und Australien sind wiederum ein Sonderfall. Wobei es auch da ja zu Spannungen kommt, wenn z.B. Sprachkonflikte entstehen.
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Da ich mich gleich ins Wochenende verabschiede, nur eben schnell noch diesen Einwand:
Zitat von R.A.In gemischten Siedlungsstrukturen (wie sie in Südosteuropa besonders stark waren) kann das überhaupt nicht funktionieren. Egal welches Volk "seinen Nationalstaat" kriegt - sofort gibt es Minderheits- und Irredenta-Probleme.
Aber alle anderen Modelle scheitern mindestens ebenso, haben allerdings auch noch den Nachteil, dass sie von keinem der Betroffenen gewollt, sondern in der Regel eben doch künstlich von oben aufgedückt werden sollen.
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Zitat von RaysonDie Schweiz ist ein absoluter Ausnahmefall
Genau das ist ja das Problem. Das schlichtere Modell "Nationalstaat" hat sich trotz seiner Konstruktionsfehler durchgesetzt.
Zitat Der Erfolg der Schweiz beruht im wesentlichen auf drei Dingen: dass die Schweiz außenpolitisch eine Sonderrolle spielt ...
Das halte ich für die innenpolitischen Zusammenhalt für völlig unwichtig.
Zitat dass die Landesteile sich weitgehend gegenseitig in Ruhe lassen
Richtig, genau das ist ein wesentlicher Teil einer vernünftigen Staatskonstruktion.
Zitat und dass der Staat ein vergleichsweise angenehmer ist.
Wenn Du mit "angenehm" den Wohlstand meinst: Der ist neueren Datums, und die Schweiz hat schon vorher "funktioniert" (ohne Bayonette ;-) Wenn Du aber die freiheitlichen Strukturen meinst: Auch die gehören natürlich wesentlich zu so einer Staatsordnung. Siehe wieder die Habsburger: Das war natürlich eine Monarchie und daher nicht komplett demokratisch. Aber mit einem Schwerpunkt auf bestmögliche Selbstbestimmung von Individuen und Volksgruppen.
Zitat Und echte Einwanderungsländer wie die USA, Kanada und Australien sind wiederum ein Sonderfall.
Aber das war nicht Florians Aspekt: Die USA sind aus einer Gründungsidee entstanden, und die war nicht nationalstaatlich. M. E. hätten die USA auch eine größere sprachliche Diversität locker verkraftet.
Zitat Aber alle anderen Modelle scheitern mindestens ebenso, haben allerdings auch noch den Nachteil, dass sie von keinem der Betroffenen gewollt, sondern in der Regel eben doch künstlich von oben aufgedückt werden sollen.
Das sehe ich überhaupt nicht. Die Minderheitenrechte im Habsburger Reich waren sehr wohl von den Betroffenen gewollt und nicht aufgedrückt. Dito die föderalen Strukturen der Schweiz etc.
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