Niemand liefert mir so oft das "Zitat des Tages" wie Harald Martenstein. Wenn Sie diese Artikel interessieren, dann googlen Sie bitte nach martenstein site:zettelsraum.blogspot.com
Bisher waren es meist Martensteins Glossen im "Zeit-Magazin", die das jeweilige Zitat lieferten. Das hatte zwei Gründe: Harald Martenstein ist erstens ein ungewöhnlich liberaler Autor, der zweitens ungewöhnlich gut formulieren kann.
Das jetzige Zitat des Tages stammt aus einem Artikel anderer Art, einem längeren Beitrag in der gedruckten "Zeit", der nach einer ziemlich langen Frist jetzt auch bei "Zeit-Online" zu lesen ist.
Vermutlich wird es vielen von Ihnen gehen wie mir: Man begleitet das Lesen mit einem innerlichen Dauernicken.
Zitat Dingen überhaupt Wednesday, June 20, 2012 Zitat des Tages: "Noch nie stand eine Gesellschaft, die keine Diktatur ist, so unter Kontrolle". Martenstein über die Tugendrepublik Deutschland Wir, die Deutschen von heute, glauben, freier zu sein als alle Generationen vor uns, in gewisser Hinsicht stimmt das auch. Wir dürfen unsere Regierungen kritisieren, die meisten leiden nicht unter materieller Not, wir leben lang und haben einige Krankheiten besiegt. Wenn wir unsere Sexualität jenseits der heterosexuellen Monogamie entfalten möchten, dann geht das. Gleichzeitig aber stand noch nie eine Gesellschaft, die keine Diktatur ist, so sehr unter Kontrolle.
Harald Martenstein in einem Artikel in der "Zeit" (24/2012 vom 6. 6. 2012), der jetzt auch bei "Zeit-Online" zu lesen ist. Titel: "Der Terror der Tugend".
Kommentar: Als Maximilien Robespierres, des Tugendfanatikers, Sieg sieht Harald Martenstein das an, was er in diesem Artikel an vielen Beispielen demonstriert; nicht nur aus Deutschland stammend, wenn auch überwiegend. Offenbar hat er sein Archiv von Themen und Meldungen geplündert, die er für seine Kolumne im "Zeit-Magazin" hätte verwenden können, und daraus einen mehr analytischen, nicht glossenhaften Artikel gemacht.
Viele der Beispiele sind im Kern bekannt, aber Martenstein offeriert Details, die man nicht unbedingt kennt. Beispielsweise ging die Meldung durch die Presse, daß in New York die großen Coca-Cola-Trinkbecher verboten werden sollen. Jetzt las ich bei Martenstein, daß ein deutscher Medizinprofessor das mit den Worten kommentiert hat: "Der Mensch brauche Leitlinien, auch der erwachsene Mensch". Martenstein meint dazu, auch Kim Il Sung habe das nicht besser sagen können.
Anderes war mir entgangen, zum Beispiel der "Hamburger Negerpuppen-Skandal", der Sarah Kuttner, einer Autorin, rund tausend Haßkommentare auf ihrer Facebook-Seite eingebracht hat. Falls Sie nicht Martensteins ganzen Artikel lesen wollen, dann lesen Sie bitte diese Geschichte; sie steht auf Seite 4.
Und wenn Sie sich nicht für die Beispiele interessieren, sondern nur für die Analyse, dann finden Sie deren Kern auf Seite 2:
In der Tugendrepublik verschmelzen drei geistige und politische Tendenzen der letzten Jahre. Erstens die Tendenz zur Transparenz, die neue Geheimnislosigkeit. Zweitens die Idee, dass ein moralisch einwandfreies Leben des Individuums staatlich durchsetzbar sein könnte. Drittens der Gedanke der möglichst vollständigen Risikovermeidung, wobei die Entscheidung über individuelle Risiken nicht etwa im Ermessen des Individuums steht.
Drei Tendenzen, ja. Aber alle drei doch Ausdruck derselben Grundtendenz: Einer Abkehr vom Individualismus.
Das Individuum in der bürgerlichen Gesellschaft, mit seinen Wurzeln in Renaissance und Humanismus, wie es später in der Aufklärung, vor allem dann bei Kant theoretisch gefaßt wurde - dieses Individuum, dem unsere heutige Freiheit und unser Wohlstand zu danken sind, war erstens durch seine Privatheit gekennzeichnet. Ihre Auflösung in der allumfassenden Transparenz ist die erste der Tendenzen, die Martenstein nennt. Der politische Träger dieser Tendenz ist in Deutschland neuerdings die Piratenpartei; die vermutlich dem Individuum feindlichste Partei, die es außer den Kommunisten je in der Bundesrepublik gegeben hat.
Zweitens gehört zum bürgerlichen Individuum - und das geht wesentlich auf die Reformation zurück -, daß es für sein moralisches Verhalten selbst verantwortlich ist; daß ihm dieses weder eine Kirche noch die Gesellschaft vorschreiben kann. Der Mensch folgt seinem Gewissen, seinem inneren Kompaß - das war die Maxime. Gegen sie richtet sich die zweite Tendenz.
Drittens gehört zum bürgerlichen Individuum nicht nur moralische Selbstverantwortung, sondern auch die Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns, wie sie sich beispielsweise im unternehmerischen Risiko ausdrückt. Gegen diesen Aspekt der Eigenverantwortung richtet sich die dritte Tendenz.
Interessant. Dieser Abschnitt klingt ja fast nach einer funktionierenden Anarchie... :-)
Ich bin auch dafür, dem Individuum möglichst viele Freiheiten zu lassen und es nicht dauernd vor sich selbst zu schützen. Der Grund, warum ich mein mit dem Prädikat "sehr gut" abgeschlossenen Master geschnappt hab und Deutschland "winke winke gesagt" habe, ist beispielsweise die Prohibition von Cannabis, welche ich persönlich für völlig Sinnfrei empfinde. Ok, dass das der einzige Grund war, wäre übertrieben. Ich wollte sowieso etwas mehr von der Welt sehen. Aber ein zusätzlicher Anstoß war es mit Sicherheit... ;-)
Ein typisches Beispiel für die Übersetzungsprobleme in die chinesische Sprache.
Das Chinesische kennt nur Schriftzeichen, die jeweils eine inhaltliche Bedeutung haben.
Es ist deshalb schlicht unmöglich, eine abstrakte bedeutungslose Laut-Übersetzung zu machen, wie das bei den Alphabet-Sprachen Standard ist. "Schanghai" oder "Peking" oder "Mao Tse Tung" bedeuten auf Deutsch ja nichts, es sind schlicht abstrakte Buchstaben- und Lautfolgen.
Auf Chinesisch hat hingegen jede Zeichenfolge IMMER eine konkrete Bedeutung. Und weil der Zeichensatz tradtionell fixiert ist, ist die konkrete Bedeutung oft etwas altertümliches. Zettel hat ja aktuell das Beispiel mit dem "Himmelspalast" gebracht. Auf Chinesisch kann man eben keine neuen Worte erfinden. Wenn man etwas neues (hier: eine Raumstation) benennen will, muss man deshalb auf Kombinationen altertümlicher Begriffe/Schriftzeichen zurückgreifen.
Entsprechend hat jeder ins Chinesische übersetzte ausländische Name, Orts- oder Landesbezeichnung immer eine Bedeutung. Wenn man sich bei der Übersetzung viel Mühe gibt, dann schafft man es, Zeichen zu finden, die erstens ausgesprochen halbwegs passend wie das ausländische Wort klingen (bei "DeGuo" klingt zumindest die erste Silbe wie bei "Deutsch") und auch noch eine halbwegs passende Bedeutung haben.
(Coca-Cola hat zum Beispiel für ihre Marke eine Schriftzeichenfolge gewählt, die entfernt ähnlich wie "Coca-Cola" klingt, da ist man einen Laut-Kompromiss eingegangen. Die wörtliche Bedeutung der chineischen Schriftzeichen ist allerdings "ist gesund und schmeckt gut" - also sehr clever gewählt).
Tischler
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20.06.2012 15:04
#5 RE: Zitat des Tages: Tugendrepublik Deutschland
Bemerkenswert finde ich allerdings daß diese Art von Gesinnungsschnüffelei ( Transparenz ist ein viel zu schönes Wort für diese Sachverhalte) von Idividuum zu Individuum funktioniert.
Es braucht scheinbar nur kleine äußere Impulse und schon ist jeder bereit den potentiell Verdächtigen zu observieren und zu reglementieren. Wie kann es letztliche zu einer flächendeckenden Aufgabe des eigenen Meinungsbildungsprozesses kommen? Sich voll und ganz dem "guten Staat" anzuvertrauen? Selbst ein Lynchmob ist schon Realität. Der "autoritäre Charakter" scheit doch wahr zu sein.
Lieber Zettel, danke für den Hinweis auf den hervorragenden Beitrag von Martenstein. Obwohl ich ein Fan von ihm bin , ist mir dieser Artikel entgangen. Als Vater von vier Kindern im Alter von 15 bis 27 Jahren, beobachte ich schon lange die unbekümmerte Einstellung zur öffentlichen Selbstdarstellung im Internet. Dinge , die unserer Generation nie im Traum eingefallen wären, öffentlich auszustellen, werden völlig ungeniert verbreitet. Klatsch und Tratsch, verbreiten sich in Windeseile ohne dass ihr Wahrheitsgehalt überprüft , oder die Auswirkung auf das "Opfer" bedacht werden. Da diese virtuelle Existenz für viele Nutzer schon fast die reale überlagert, sind die Folgen für Betroffene oft verheerend. In längeren Diskussionen zu diesem Thema, konnte ich zumindest eine gewisse Zurückhaltung bewirken, wurde aber mit dem Hinweis, "das machen doch Alle" wie ein seltsamer Kauz abgespeist. Hier hat sich schleichend ein dramatischer Kulturwandel ereignet. Noch vor Jahren, wurde eine staatliche Volkszählung als unzulässige Schnüffelei im Privatleben verteufelt und zum Teil massiv boykottiert. Wer erinnert sich noch? Heute werden intimste Dinge öffentlich verbreitet und wer sich entzieht, wird bestenfalls als schrullig, altmodisch oder gar sozialfeindlich abgestempelt. In USA sollen schon Arbeitgeber von Bewerbern die Passwörter für Facebook verlangt haben, um die Sozialkontakte der Kandidaten zu überprüfen. Unter dem Deckmäntelchen der Fürsorge, werden die Menschen entmündigt, reguliert, überwacht und beobachtet. Viele finden das inzwischen völlig in Ordnung und rufen nach immer neuen Regeln, ja machen sich selbst zum Büttel oder schwärzen Mitbürger öffentlich an. Andererseits ist persönliche Verantwortung für das eigene Handeln nicht mehr gefragt. Stets gibt es einen mildernden Umstand, z.B. Erziehung, Schule, Elternhaus, Arbeitgeber, schlechte Stimmung, der den Einzelnen von seiner Verantwortung erlöst und einer "unmenschlichen anonymen Gesellschaft" alle Schuld zuweist. Diese hat dann mit neuen Regeln und Verboten gefälligst dafür zu sorgen, dass in Zukunft so etwas nicht mehr vorkommen kann. Dass trotzdem etwas schiefgehen kann und Schaden entsteht, kann diese Gesellschaft nicht mehr ertragen! Als Ausweg werden nur noch weitergehende, perfektere Kontrollsysteme gesehen und auch gefordert.
Zitat von ZettelAnderes war mir entgangen, zum Beispiel der "Hamburger Negerpuppen-Skandal
Ich weiß, ich hätte ein Artikelchen daraus machen sollen: Dolls of Color
Zitat von ZettelDer politische Träger dieser Tendenz ist in Deutschland neuerdings die Piratenpartei; die vermutlich dem Individuum feindlichste Partei, die es außer den Kommunisten je in der Bundesrepublik gegeben hat.
Von allen derzeit zur Wahl stehenden Parteien sehe ich durch die Piratenpartei meine individuelle Freiheit am wenigsten gefährdet. Martenstein gibt auch keinen Hinweis warum ausgerechnet die Piratenpartei das Übel sein sollte. Für moralisierende Tugendwächter finden sich weitaus bessere Kandidaten.
Ein typisches Beispiel für die Übersetzungsprobleme in die chinesische Sprache.
Das Chinesische kennt nur Schriftzeichen, die jeweils eine inhaltliche Bedeutung haben.
Es ist deshalb schlicht unmöglich, eine abstrakte bedeutungslose Laut-Übersetzung zu machen, wie das bei den Alphabet-Sprachen Standard ist.
Das ist sicher richtig. Andererseits abstrahieren Chinesen natürlich genau wie wir. Sollten Sie z.B. jemanden einen „Drecksack“ schimpfen, werden Sie vermutlich nicht das Bild eines verschmutzten Sackes im Kopf haben.
Mit freundlichem Gruß
-- Wer mich ertragen kann, erträgt auch das Leben – Uwe Richard
"(Coca-Cola hat zum Beispiel für ihre Marke eine Schriftzeichenfolge gewählt, die entfernt ähnlich wie "Coca-Cola" klingt, da ist man einen Laut-Kompromiss eingegangen. Die wörtliche Bedeutung der chineischen Schriftzeichen ist allerdings "ist gesund und schmeckt gut" - also sehr clever gewählt)."
Ja, eben, ein schönes Spiel. Und mit 德国 haben die Chinesen auch eine Lautkombination gewählt, die clever ist (anders als Coca-Cola durfte Deutschland sich das ja vermutlich nicht selbst aussuchen). Unter den Dutzenden von Schriftzeichen, die ungefähr "De" ausgesprochen werden, haben sie sich ausgerechnet für 德, also "Moral/Tugend" entschieden, das ist doch goldig.
Die Österreicher haben's auch nett erwischt: 奥地利, etwa "Land des Geheimnisses und des Profits". Polen, 波兰: "Sturmorchidee", auch hübsch, aber ohne jeden lustigen Polenbezug. Manche Länder hat's aber auch ziemlich blöd getroffen: Südafrika, 南非: "Nicht im Süden"! Bei Portugal ist's etwas einseitig: 葡萄牙, "Weintrauben, Weintrauben, Weintrauben" für Frankophile (Hallo, Herr Zettel): Frankreich, 法国: "Land des Gesetzes" Sehr hellsichtig die Chinesen: Griechenland, 希腊 "Prinz der Hoffnung". Etwas over the top: Schweden, 瑞典 "Inbegiff des Glücks" aber der Chinese kann auch anders: 刚果, Kongo "nur Obst" und mein Favorit 沙特阿拉伯, Saudi-Arabien: "außergewöhnlich sandig und viele Onkel"
Zitat von Galileo aus RE: Zitat des Tages: Tugendrepublik Deutschland In Wahrheit sollte es um den Gegensatz "Individualismus – Kollektivismus" gehen, doch die meisten verharren in dem Rollenklischee "Schwarzer Anzug – guter Mensch", was allerhöchstens als ein armseliger Spezialfall des allgemeineren Gegensatzes durchgehen kann. Liberalismus ist als Alternative unbekannt.Traurig finde ich, dass diese Vorstellung, d.h. dieser konstruierte Gegensatz, sehr in der Schule vermittelt wird. Ich bin jetzt Anfang 20 und kenne wirklich kaum Leute in meinem Alter, die diesen blinden Fleck nicht haben. In dieser einen Hinsicht haben wir mit der Zeit nicht so viele Fortschritte gemacht.Was ich gerne wissen würde: Was ist die Ursache für diese Blindheit? Ich verstehe einfach noch nicht, woher das kommt…
Man muß wissen, sich erarbeiten, was man will und man muß selber denken.
Man möchte es sich nicht mit seinen Mitmenschen verderben. Und man hat das Gefühl, wenn man "tut, was man will", ist man eventuell egoistisch und unbeliebt.
Und daß die junge Generation zunehmend vergißt, was Freiheit ist, darauf warte ich schon lange.
Der neue Faschismus wird nicht sagen: Ich bin der Faschismus. Er wird sagen: Ich bin der Antifaschismus Autor im Netz bekannt
Zitat von ZettelAnderes war mir entgangen, zum Beispiel der "Hamburger Negerpuppen-Skandal
Ich weiß, ich hätte ein Artikelchen daraus machen sollen: Dolls of Color
Ja!!!
In diesem Fall habe ich den Thread nicht gelesen, weil er auf meinem kleinen Bildschirm nicht lesbar ist. Ich weiß nicht, was passiert ist (Kallias wird es vermutlich herausfinden können), aber irgendeiner der Beiträge erzwingt eine Verbreiterung der Darstellung, die dann für den ganzen Thread gilt. Paßt leider nicht auf meinen Bildschirm.
Ein ins Unendliche gezogener Strich scheint es diesmal nicht zu sein, oder habe ich ihn übersehen?
Aber glücklicherweise kann man sich den Kollektivisten so schön überlegen fühlen. Das macht vieles wett.
Zitat von Galileo aus RE: Zitat des Tages: Tugendrepublik Deutschland In Wahrheit sollte es um den Gegensatz "Individualismus – Kollektivismus" gehen, doch die meisten verharren in dem Rollenklischee "Schwarzer Anzug – guter Mensch", was allerhöchstens als ein armseliger Spezialfall des allgemeineren Gegensatzes durchgehen kann. Liberalismus ist als Alternative unbekannt.Traurig finde ich, dass diese Vorstellung, d.h. dieser konstruierte Gegensatz, sehr in der Schule vermittelt wird. Ich bin jetzt Anfang 20 und kenne wirklich kaum Leute in meinem Alter, die diesen blinden Fleck nicht haben. In dieser einen Hinsicht haben wir mit der Zeit nicht so viele Fortschritte gemacht.Was ich gerne wissen würde: Was ist die Ursache für diese Blindheit? Ich verstehe einfach noch nicht, woher das kommt…
Man muß wissen, sich erarbeiten, was man will und man muß selber denken.
Man möchte es sich nicht mit seinen Mitmenschen verderben. Und man hat das Gefühl, wenn man "tut, was man will", ist man eventuell egoistisch und unbeliebt.[/quote] Ja, "eventuell".
Es soll auch ehemalige Individualisten geben, denen irgendwann aufgegangen ist, dass die Meinung von vielen, vielen anderen Menschen - womöglich gar aus vorigen Generationen, ergo mit mehr Lebenserfahrung - im Zweifelsfall eine gute Ausgangsposition für eigene Gedanken ist, auf die man sich zurückziehen kann, wenn man selbst nicht das, sagen wir, Selbstvertrauen hat, jedes Problem selbst ganz toll zu durchschauen.
Und hoppala! plötzlich ist man konservativ.
O je.
EDIT: Ich bekomme das verschachtelte Zitat leider nicht hin, tut mir leid. Früher war mein Forum-Fu noch schwarzgürtelig. Aber mit den neuen Zitatfunktionalitäten komme ich nicht klar. Früher war eben alles besser...
-- Defender la civilización consiste, ante todo, en protegerla del entusiasmo del hombre. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito
Ich bin ein großer Fan von Harald Martensteins Kolumnen, aber dieser lange Artikel (in der ZEIT wurde er wohl sogar als »Dossier« geführt) gefällt mir nicht. Bei mir gab es etwa zu gleichen Teilen Nicken und Kopfschütteln. Harald Martenstein will zu viele Themen in einem Artikel behandeln und wird keinem wirklich gerecht. Banale Themen wie das Rauchverbot auf dem Ausflugsdampfer passen nicht zu so tiefgehenden Gedanken über Leben und Tod:
Zitat von Harald MartensteinIn der Nazizeit haben in Deutschland einige Tausend Juden überlebt, weil sie von Freunden und Nachbarn versteckt wurden, in Gartenlauben und Hinterzimmern, oder weil sie mit gefälschten Papieren plötzlich in einer anderen Umgebung auftauchten, wo niemand sie kannte. Ginge das heute noch? Ich glaube nicht daran. Man würde sofort ihre Spuren entdecken, im Internet oder dank einer Fernsehsendung, in der öffentlich zur Jagd geblasen wird.
Zumal die Schlussfolgerung auch noch falsch ist: Natürlich können heute Menschen in Deutschland in der Illegalität leben. Es geschieht immer wieder. Muss man an das Stichwort NSU erinnern? Es gibt in Deutschland »Parallelgesellschaften«, in die kaum jemand hineinschauen kann. Ich will sie hier nicht aufzählen, weil sie zu unterschiedlich sind und einfach nicht in eine Aufzählung gehören. Aber sie existieren.
Wir leben nicht in einem totalitären System, weil man auf Ausflugsdampfern nicht rauchen darf oder weil man in einigen amerikanischen Kinos keine riesigen Behälter mit Cola mehr kaufen kann oder weil die Flächen für Behindertenparkplätze für Herrn Martensteins Geschmack zu groß sind. Es gäbe ganz andere Kritikpunkte, die in seinem Artikel allenfalls angedeutet werden. Stattdessen immer wieder das Thema Rauchen. Man kann es bald nicht mehr riechen ;-)
Zitat von Harald MartensteinKaum etwas kommt mir vernünftiger vor als der Schutz der Nichtraucher vor Belästigung. Muss man deshalb den Rauchern, auch denen, die Rücksicht nehmen, das Leben so schwer wie möglich machen? Muss man ihnen verbieten, sich auf einem bayerischen See eine Zigarette anzustecken?
Ja. Ich fürchte, man muss es ihnen verbieten. Die Deutsche Bahn hat seit 1991 in ihren ICE-Zügen einen riesigen Feldversuch durchgeführt. Raucher und Nichtraucher wurden in den Großraumwagen und in den Bordbistros/Speisewagen quasi Sitz an Sitz befördert. Ich war Teil dieses Feldversuchs. Weil mir der Reisedienst eines Auftraggebers die ICE-Tickets und Reservierungen bezahlt und zugeschickt hat, saß ich in vollbesetzten Zügen sehr oft in der Näher dieser Raucherplätze.
Ich habe in mehr als zehn Jahren nicht ein einziges Mal erlebt, dass Raucher freiwillig auf ihr »Recht« verzichtet hätten. Auch wenn sie von den Eltern sehr kleiner Kinder darum gebeten wurden, auch wenn Asthmatiker oder Allergiker in der Nähe saßen und sich die Lunge aus dem Leib husteten, auch wenn die Züge überfüllt waren: »Wir haben das Recht, auf diesen paar Plätzen zu rauchen, also rauchen wir.« Gern auch die billigen, stinkenden Zigarren und Zigarillos. Denn es ist ja nicht verboten.
Es mag irgendwo auf der Welt ein paar Raucher geben, die »Rücksicht nehmen«. Sie gehören zu einer seltenen Spezies und sie haben meinen vollen Respekt. Man sollte sie unter besonderen Schutz stellen. Im öffentlichen Verkehr kann man sich darauf nicht verlassen, dass man auf einen rücksichtsvollen Raucher trifft. Denn fast alle Raucher stehen auf dem Standpunkt, es gäbe überall dort ein Recht auf Rauchen, wo kein Verbotsschild steht.
Im Zielkonflikt zwischen der Gesundheit der Mitreisenden und dem Bedürfnis der Raucher musste es eine Entscheidung zugunsten der Gesundheit geben — im ICE-Abteil wie auch in den Passagierräumen der Ausflugsdampfer. Deshalb liegt Martenstein falsch, wenn er im folgenden darauf abhebt, dass Raucher möglicherweise zeitiger sterben und dem Gesundheitssystem dadurch im Alter weniger Kosten verursachen [wozu ich auch noch nie eine belastbare Statistik gesehen habe]. Es geht nicht um die reisenden Raucher, sondern um den Schutz der nicht rauchenden Mitreisenden.
Harald Martenstein hat diesen langen Artikel zweifellos gut gemeint. Er hat ihn aber nicht gut geschrieben. Er hätte den Artikel besser strukturieren und sich auf einige wirklich wichtige Themen konzentrieren sollen.
Ich bin auch in Sorge, dass wir uns zu einer Gesellschaft entwickeln, in der viele Dinge nicht mehr gesagt werden dürfen, in der die Bürger überwacht und zu einem norm-konformen Verhalten gezwungen werden. Aber dieser Artikel hilft mir nicht so recht weiter.
Zitat von Harald MartensteinKaum etwas kommt mir vernünftiger vor als der Schutz der Nichtraucher vor Belästigung. Muss man deshalb den Rauchern, auch denen, die Rücksicht nehmen, das Leben so schwer wie möglich machen? Muss man ihnen verbieten, sich auf einem bayerischen See eine Zigarette anzustecken?
Ja. Ich fürchte, man muss es ihnen verbieten. Die Deutsche Bahn hat seit 1991 in ihren ICE-Zügen einen riesigen Feldversuch durchgeführt. Raucher und Nichtraucher wurden in den Großraumwagen und in den Bordbistros/Speisewagen quasi Sitz an Sitz befördert.
Ähm, es geht Martenstein anscheinend nicht um geschlossene Räume. Dort werden wohl die allermeisten Raucher mittlerweile einsichtig sein. Es geht um das Verbot einfach an irgendeinem definierten Ort, ob unsinnig oder nicht. Auf dem bayrischen See rumschippernd kann der Nikotinfreund ganz locker auf dem Deck am Heck rumstehen und dürfte dort auch niemanden belästigen.
---------------------------------------------------- Calimeros Rumpelkammer - Ein Raum für freie Rede und Gedanken, mittendrin im Irrenhaus.
Zitat von Calimero aus RE: Zitat des Tages: Tugendrepublik DeutschlandÄhm, es geht Martenstein anscheinend nicht um geschlossene Räume. Dort werden wohl die allermeisten Raucher mittlerweile einsichtig sein. Es geht um das Verbot einfach an irgendeinem definierten Ort, ob unsinnig oder nicht. Auf dem bayrischen See rumschippernd kann der Nikotinfreund ganz locker auf dem Deck am Heck rumstehen und dürfte dort auch niemanden belästigen.
Die Regelung in den ICE-Zügen galt (nach meiner Erinnerung) noch bis 2008 oder 2009. Bis zum Schluss konnte ich niemals Einsichtigkeit beobachten. Jetzt kann man es natürlich nicht mehr erfassen.
Soweit ich Ausflugsschiffe in diversen Häfen und auf diversen Seen kenne, sind sie meist so eng gebaut, dass man darauf nicht rauchen kann, ohne andere Menschen zu belästigen. Außerdem gibt es auf den meisten Schiffen geschlossene bzw. überdachte Räume, um die Gäste vor den Unbilden des Wetter zu schützen. Ich bezweifle, dass man da eine Raucherecke einrichten kann.
Das war aber auch nicht der wichtigste Punkt meines Einwandes gegen Martensteins Argumentation. Er behauptet, es gäbe rücksichtsvolle Raucher und leitet daraus ab, dass man Rauchern weniger Beschränkungen auferlegen solle. Diese rücksichtsvollen Raucher sind aber eine kleine Minderheit. Wenn man das Rauchen auf einem kleinen Ausflugsschiff oder im ICE-Abteil nicht ausdrücklich verbietet, dann setzt die Mehrheit der rücksichtslosen Raucher ihr Recht auch durch. Das zeigt die Erfahrung.
Was spricht dagegen, daß der Staat seine lange Nase aus dem Kneipen- oder Dampfergeschäft heraushält und es dem Markt / Betreiber per Hausrecht überläßt? Meine Prognose: Es würden nützliche technische Lösungen gefunden werden, gut belüftbare Stellen zum Beispiel (im Ausland selbst schon erlebt). Sagt ein alter Nichtraucher.:)
Zitat von Hausmann aus RE: Zitat des Tages: Tugendrepublik DeutschlandWas spricht dagegen, daß der Staat seine lange Nase aus dem Kneipen- oder Dampfergeschäft heraushält und es dem Markt / Betreiber per Hausrecht überläßt? Meine Prognose: Es würden nützliche technische Lösungen gefunden werden, gut belüftbare Stellen zum Beispiel (im Ausland selbst schon erlebt). Sagt ein alter Nichtraucher.:)
Das Rauchen oder Nichtrauchen im Kneipengeschäft muss der Staat nicht regulieren. Aber in allen öffentlichen Gebäuden sowie in (auf) öffentlichen Verkehrsmitteln bin ich sehr für eine eindeutige Regelung zum Schutz der Nichtraucher und ich sehe darin auch keine Gefahr des heraufziehenden Totalitarismus.
Die Lösung mit den »gut belüftbaren Stellen« funktioniert immer nur bei gutem Wetter (im wörtlichen wie im übertragenen Sinne). Ob sich die Leute daran halten, bleibt meist dem guten Willen überlassen. Ich bleibe dabei: Auf einem kleinen Schiff ist einfach nicht genügend Platz für das Rauchen. Der Verzicht auf die Zigarette ist zumutbar. Deshalb: eindeutige Regelungen, weil man sich auf Anstand und Rücksichtnahme von Rauchern gemeinhin nicht verlassen kann.
xanopos
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21.06.2012 12:51
#22 RE: Zitat des Tages: Tugendrepublik Deutschland
Zitat von stefanolix aus RE: Zitat des Tages: Tugendrepublik DeutschlandDas Rauchen oder Nichtrauchen im Kneipengeschäft muss der Staat nicht regulieren. Aber in allen öffentlichen Gebäuden sowie in (auf) öffentlichen Verkehrsmitteln bin ich sehr für eine eindeutige Regelung zum Schutz der Nichtraucher und ich sehe darin auch keine Gefahr des heraufziehenden Totalitarismus.
Das sehe ich auch so. Raucherkneipen muss muss man schließlich nicht besuchen. Für viele Lokale, die gerade noch so überleben, sind neue Vorschriften (räumliche Trennungen, Zusätzliche Lüftungen) das Todesurteil. Und wehe es raucht ein Kunde, dann kommt ein selbsternannter Rauchersheriff (http://rauchersheriff.at/) und zeigt den Wirt an.
Zitat von stefanolix aus RE: Zitat des Tages: Tugendrepublik DeutschlandDas Rauchen oder Nichtrauchen im Kneipengeschäft muss der Staat nicht regulieren. Aber in allen öffentlichen Gebäuden sowie in (auf) öffentlichen Verkehrsmitteln bin ich sehr für eine eindeutige Regelung zum Schutz der Nichtraucher und ich sehe darin auch keine Gefahr des heraufziehenden Totalitarismus.
Das sehe ich auch so. Raucherkneipen muss muss man schließlich nicht besuchen. Für viele Lokale, die gerade noch so überleben, sind neue Vorschriften (räumliche Trennungen, Zusätzliche Lüftungen) das Todesurteil. Und wehe es raucht ein Kunde, dann kommt ein selbsternannter Rauchersheriff (http://rauchersheriff.at/) und zeigt den Wirt an.
Der Rauchersheriff ist quasi das Gegenstück zum rücksichtslosen Raucher. Ich kann ihn mir nur als ziemlich unangenehmen Zeitgenossen vorstellen und wollte meine Ausführungen nicht in diesem Sinn verstanden wissen. Vermutlich distanzieren sich rücksichtsvolle Raucher wie Herr Martenstein in ähnlicher Weise von den rücksichtslosen Rauchern.
Unter vernünftigen Menschen kann man sich immer einigen. Vernünftige Menschen würden gar nicht auf die Idee kommen, in Gegenwart von Kindern oder Kranken oder essenden Menschen zu rauchen. Leider gibt es zu viele Unvernünftige, die ihre Extrempositionen durchsetzen wollen. Das Klima der Diskussion ist durch diese Leute so vergiftet, wie früher die Luft im ICE-Wagen …
Zitat von ZettelAnderes war mir entgangen, zum Beispiel der "Hamburger Negerpuppen-Skandal
Ich weiß, ich hätte ein Artikelchen daraus machen sollen: Dolls of Color
Ich finde nicht nur erschreckend, dass hier Frau Kuttner attackiert wird. Sondern auch, dass Herr Martenstein und Frau Kuttner selbst die „Negerpuppe“ als rassistisch bezeichnen. Was ist denn an den Wulstlippen so schlimm? Dass Schwarzafrikaner etwas andere Lippen haben als Weißeuropäer, ist zwar ein Fakt, muss aber aus Gründen der Political Correctness wohl geleugnet werden? Und dass der Kopf der Puppe nun mal leider etwas groß geraten ist, findet Frau Kuttner „entsetzlich“. In was für einer gehirngewaschenen, eingeschüchterten Gesellschaft leben wir eigentlich?
Tischler
(
gelöscht
)
Beiträge:
21.06.2012 15:48
#25 RE: Zitat des Tages: Tugendrepublik Deutschland
sie sprachen weiter oben "...belastbarer Studie..". Gibt es eigentlich eine belastbare Studie über die Schädlichkeit des Passivrauchens?
Und ich als Permanentraucher finde es höchst befremdlich wenn mich die überbesorgte Mutter im Straßencafe grimmig anblitzt und auf meine "Kipppe" deutet, aber kein Problem damit hat ihren Säuglich wenige Meter neben einer Hauptverkehrsstraße aufzubewaren, von wegen der schlimmen Feinstäube und so.
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