Ich freue mich, daß wieder ein Gastbeitrag von Juno erschienen ist. Eine, wie mir scheint, ausgezeichnete Analyse der Gründe dafür, daß Thilo Sarrazin bei vielen - wie sich sich sehen - linksliberalen Meinungsbildnern diese tiefsitzende Aversion auslöst.
Zitat Nationalität ist jedoch nichts Gottgegebenes oder Natürliches wie die Hautfarbe oder das Geschlecht. Die Nation, in den Worten des amerikanischen Politikwissenschaftlers Benedict Anderson, ist eine imagined community, ein soziales Konstrukt. Wir bilden uns ein, unseren Landsleuten nahe zu stehen, obwohl man die allermeisten von ihnen nie persönlich trifft.
Zitat Nationalität ist jedoch nichts Gottgegebenes oder Natürliches wie die Hautfarbe oder das Geschlecht. Die Nation, in den Worten des amerikanischen Politikwissenschaftlers Benedict Anderson, ist eine imagined community, ein soziales Konstrukt. Wir bilden uns ein, unseren Landsleuten nahe zu stehen, obwohl man die allermeisten von ihnen nie persönlich trifft.
Merke: Will man auf der sicheren Seite sein, sollte man erst einmal alles für ein soziales Konstrukt halten. Mit einer kleinen Ausnahme allerdings: Daß alles ein soziales Konstrukt ist, ist kein soziales Konstrukt, sondern die Wahrheit.
Zitat von DrNick Mit einer kleinen Ausnahme allerdings: Daß alles ein soziales Konstrukt ist, ist kein soziales Konstrukt, sondern die Wahrheit.
Wobei die Wahrheit wiederum ein soziales Konstrukt ist, dass noch nicht einmal konsensfähig sein muss. Was nicht hilfreich ist, kann nicht wahr sein. Diese Aussage ist kein soziales Konstrukt, sondern alternativlos und systemrelevant.
Zitat Nationalität ist jedoch nichts Gottgegebenes oder Natürliches wie die Hautfarbe oder das Geschlecht. Die Nation, in den Worten des amerikanischen Politikwissenschaftlers Benedict Anderson, ist eine imagined community, ein soziales Konstrukt. Wir bilden uns ein, unseren Landsleuten nahe zu stehen, obwohl man die allermeisten von ihnen nie persönlich trifft.
Aber dann ist doch Europa noch viel eher ein soziales Konstrukt: Manche bilden sich ein, dass uns die anderen EU-Bewohner nahestehen, obwohl wir wesentlich mehr EU-Bewohner als Landsleute niemals treffen werden ;-)
Das kann man immer so weiterspinnen... Schon das Menschsein ist ein soziales Konstrukt: wir bilden uns ein, unseren Mitmenschen näherzustehen als z.B. den Regenwürmern, obwohl wir die allermeisten unserer Mitmenschen nie persönlich treffen.
Was da in der Zeit steht, ist schlicht unlogisch und sinnfrei.
Aber vielen Dank an Juno für den klaren, erleuchtenden Artikel!
Zitat von Hausmann im Beitrag #7Frage am Rande: Gab es eine konsistente Linie des Marxismus/Leninismus zur Nation? Wenn ja: spielt das heute noch (hintergründig) eine Rolle? Gruß
Bei einigen Linken ja: Stichwort Protektionismus, Stichwort »Fremdarbeiter« aus einer Lafontaine-Rede. Es gibt aber auch betont internationalistische Linke.
Zitat von Hausmann im Beitrag #7Frage am Rande: Gab es eine konsistente Linie des Marxismus/Leninismus zur Nation? Wenn ja: spielt das heute noch (hintergründig) eine Rolle? Gruß
Bei einigen Linken ja: Stichwort Protektionismus, Stichwort »Fremdarbeiter« aus einer Lafontaine-Rede. Es gibt aber auch betont intenationalistische Linke.
Kurze Antwort: Nein. Bei Vater Marx, Onkel Engels, den Fabiern und den utopischen Schwärmern im "langen 19. Jahrhundert" davor-&-danach (Fourier, Proudhon, Kropotkin) dezidierter Antinationalismus, entweder weil Alle Menschen Brüder sind oder Geschichte a priori Klasseninteresse ist (die klassische Marxsche Schiene). Noch die Oktoberrevolution war als Sprungbrett deklariert, um in Deutschland die Weltrevolution zu starten. Danach, ab ca. 1922/23, nachdem der takeover nicht gezündet hatte, in der UdSSR "Sozialismus in einem Staat", wobei die "klassisch nationalistische" Komponente dann den Umständen entsprechend halber mal verhalten, mal con brio gespielt wurde: Nach innen durch den Erhalt der reinen Lehre und die Kampagnen gegen Störer/Quertreiber/Internationalisten; nach außen durch "hoch die Internationale Solidarität", wenn das System sich den Export der Heilslehre aufs Panier geschrieben hatte (UdSSR seit der dritten Internationale, Maos China seit etwa 1958); bei den kleinen nationalen Systeme war der jeweilige Staat mit der Heilslehre identisch, das macht die klare Trennung zwischen Nationalismus und wahrem kommunistischen Pioniergeist ununterscheidbar: pragmatisch gespielt unter Tito (um sich als Rückendeckung den Westen gegen Moskau zu sichern, und zum Devisenerwerb durch Arbeitsexport); als nachgerade autistische Monaden im Sinn des Fichteschen "geschlossenen Handelsstaats" in Albanien und in Nordkorea. In der Praxis lief's immer darauf hinaus, daß "Gastarbeiter" aus befreundeten sozialistischen Bruderländern Malocher 3. Klasse waren, die ins Ghetto gesperrt wurden. Der Kommunismus als Endzustand aller Geschichte war natürlich rein international (das war ja nach dem Absterben des Staates und der Modelleinführung des Neuen Menschen); solange das Übergangsstadium des Sozialismus noch vorherrscht, mit all seinen Haupt- und Nebenwidersprüchen, war Nationalismus the order of the day. Für den Westen galt, daß natürlich alle Guten Linken BrüderInnen waren, die großen Gesänge wurden den tollen Dschungelkämpfern gesungen, die so dumm waren, sich in der Sierra Maestra kleinhäckseln zu lassen, und den freundlichen Gastgebern in bereits etablierten Arbeiterparadiesen, wo man nur aufpassen mußte, daß man bei den Führungen durch die potemkin'schen Dörfer nicht zu auffällig einnickte. Salonbolschewistische Irrlichter wie Zizek oder Dath haben's heute natürlich kommoder: heute wird keiner mehr 8-kantig exkommuniziert, wenn er eigenen ungaren Kappes schwätzt und nicht den vorgegebenen der Parteilinie.
vielen Dank für Ihren interessanten Beitrag. Sie haben meines Erachtens völlig recht, Sarrazin "argumentiert in den Kategorien eines nationalen deutschen Interesses". Das ist in Deutschland ein Tabu. Darüber zu reden wohlgemerkt, nicht aber in diesem Interesse zu handeln.
Soll der Gentechnik europaweit eine Chance gegeben werden, Frau Aigner wehrt sich standhaft. Sicher liegt ihr nicht nur die gesunde Ernährung der Deutschen am Herzen, selbstverständlich auch die der europäischen Bürger insgesamt. Was ihr aber besonders wichtig zu sein scheint, ist die deutsche Landwirtschaft. Die europäische Subventionspolitik hat zur Abschaffung der Marktmechanismen geführt und mit der Biolandwirtschaft hat man trotzdem für Preissteigerungen in einem wachsenden Segment sorgen können. Das soll durch ruinösen Wettbewerb nicht zerstört werden. Der protektionistische Charakter dieser Agrarpolitik wird sehr schnell zum nationalen deutschen Interesse, wenn Europa nicht mehr mitmacht.
Ein anderes Beispiel ist die europäische Energieversorgung. Die politischen Interessen Russlands führten zu dem russisch-ukrainischen Gasstreit, dessen direkte Folge eine exklusive Anbindung Deutschlands an die russische Erdgasversorgung war; unter Umgehung Polens und der baltischen Staaten. Aus nationalem deutschen Interesse.
Und auch der Euro lag und liegt im nationalen deutschen Interesse der demokratischen Eliten, ob rechts oder links. Ebenso die politische Union, welche der Währungsunion nachfolgen sollte, aber durch die gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden 2005 nicht zustande kam. Nicht nur gab es in Deutschland kein Referendum über die Erschaffung eines europäischen Souveräns, nein, Deutschland verhinderte auch die Umsetzung eines österreichischen Vorschlags von 2006 zur EU-weiten Ratifizierung, verknüpft mit der Wahl zum Europäischen Parlament 2009. Da schien wohl die Variante des Vertrages von Lissabon sicherer zu sein. Der Versuch der Regierung Merkel den ESM als außereuropäisch, und damit abseits des Artikel 23 GG, zu deklarieren, ist erst vor ein paar Tagen vom BVerfG gestoppt worden.
So äussern sich die nationalen deutschen Interessen, welche von den Eliten und nicht vom Parlament, oder von dem was davon im definierten Sinne übrig geblieben ist, bestimmt werden.
In dem Sarrazin nationale deutsche Interessen benennt und zeigt, dass es sie gibt, reißt er den Eliten ihre Masken vom Gesicht. Denn sie alle handeln danach. Nur haben sie unterschiedliche Auffassungen was im Interesse der deutschen Nation liegt. Und vor allem: Auf welche Art man es am besten kaschieren kann. Umwelt und Gesundheit liegen deshalb hoch im Kurs, weil sie über eine lange und "bewährte" Tradition verfügen. Eine nationalistische Tradition, um für dies eine Mal das Attribut deutsch, wegzulassen.
Nachtrag: bewährte in Anführungszeichen gesetzt. Es war auch vorher als Sarkasmus gemeint. Wie auch der nachfolgende Satz.
Zitat von Erling Plaethe im Beitrag #11 Ebenso die politische Union, welche der Währungsunion nachfolgen sollte, aber durch die gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden 2005 nicht zustande kam. Nicht nur gab es in Deutschland kein Referendum über die Erschaffung eines europäischen Souveräns, nein, Deutschland verhinderte auch die Umsetzung eines österreichischen Vorschlags von 2006 zur EU-weiten Ratifizierung, verknüpft mit der Wahl zum Europäischen Parlament 2009. Da schien wohl die Variante des Vertrages von Lissabon sicherer zu sein. Der Versuch der Regierung Merkel den ESM als außereuropäisch, und damit abseits des Artikel 23 GG, zu deklarieren, ist erst vor ein paar Tagen vom BVerfG gestoppt worden.
Der ESM ist insoweit ja auch wirklich "außereuropäisch", als er nicht im EU-Rahmen geschaffen werden soll. Aber natürlich hat das BVerfG mit seiner Entscheidung völlig Recht, denn diese Außer-EU-Konstruktion, dieser Rückgriff aufs Völkerrecht dient ja nur der Umgehung von Art. 122 Abs. 2 und Art. 125 AEUV. Die fortgesetzten Rechtsbrüche, die im Zuge der Rettungsmaßnahmen begangen worden sind, stellen eine Schande dar; dass die Kommission diesem Treiben auch noch Vorschub leistet und nicht ein Vertragsverletzungsverfahren nach dem anderen einleitet, ist ungeheuerlich.
Materiell gesehen hat der Vertrag von Lissabon das Gros der Bestimmungen des VVE übernommen. Man hat halt auf das Staatstragende verzichtet, was teilweise terminologisch bedauerlich ist: Denn dann hätte z.B. die Verordnung europäisches Gesetz und die Richtlinie europäisches Rahmengesetz geheißen, was nicht nur sehr treffend gewesen, sondern auch armen Jura-Studenten die Begriffsverwirrung zwischen innerstaatlicher und EU-Verordnung erspart hätte. Und wenn die Hohe Vertreterin EU-Außenministerin hieße, würden vielleicht mehr Menschen gegen die totale Fehlbesetzung dieses Postens mit C. Ashton protestieren. (Personelle Missgriffe sind in der EU leider nicht gerade die Ausnahme.)
Zitat Er begriff, dass die Ideen des Sozialen und Nationalen zusammengehören – und dass der Internationalismus in der Sozialdemokratie im Grunde ein aufgesetzter, niemals massenwirksamer politischer Gedanke war. ... Hitler sagte klar: ... Die Sozialisten müssen national werden, und die Nationalisten müssen sozial werden! Das ist das politische Kampfziel.
Wächst da ideologisch zusammen, was zusammengehört?
Von links wird das gern bestritten, aber das Soziale war ein ganz starkes Element,....
Hitler kaufte die Zustimmung der deutschen Bürger mitunter mit sozialstaatlichen Wohltaten?
Vollkommen richtig. Die nationalsozialistische Steuerreform von 1934 schuf die Grundlagen unseres heutigen Steuersystems vom Ehegattensplitting über Kinderfreibeträge bis zu den Steuerklassen. Dasselbe gilt für den Mieter- und Kündigungsschutz. Ende 1941 hat Hitler auf einen Schlag die Rente um 15 Prozent erhöht, ohne die aktiven Arbeitnehmer mit höheren Beiträgen zu belasten. Während die Steuern für die Masse der Arbeitenden niemals in diesen zwölf Jahren erhöht wurden, stiegen die Steuern für Reiche und für Unternehmer drastisch.
Zitat Er begriff, dass die Ideen des Sozialen und Nationalen zusammengehören – und dass der Internationalismus in der Sozialdemokratie im Grunde ein aufgesetzter, niemals massenwirksamer politischer Gedanke war. ... Hitler sagte klar: ... Die Sozialisten müssen national werden, und die Nationalisten müssen sozial werden! Das ist das politische Kampfziel.
Wächst da ideologisch zusammen, was zusammengehört?
Von links wird das gern bestritten, aber das Soziale war ein ganz starkes Element,....
Hitler kaufte die Zustimmung der deutschen Bürger mitunter mit sozialstaatlichen Wohltaten?
Vollkommen richtig. Die nationalsozialistische Steuerreform von 1934 schuf die Grundlagen unseres heutigen Steuersystems vom Ehegattensplitting über Kinderfreibeträge bis zu den Steuerklassen. Dasselbe gilt für den Mieter- und Kündigungsschutz. Ende 1941 hat Hitler auf einen Schlag die Rente um 15 Prozent erhöht, ohne die aktiven Arbeitnehmer mit höheren Beiträgen zu belasten. Während die Steuern für die Masse der Arbeitenden niemals in diesen zwölf Jahren erhöht wurden, stiegen die Steuern für Reiche und für Unternehmer drastisch.
So sehr ich die Ausführungen von Götz Aly nachdenkenswert finde, möchte ich gleich drei Einwände formulieren:
Erstens drängt sich sofort die Vermutung auf, dass die sozialen Leistungen der Nazis auch durch die Ausbeutung der im Krieg besetzten Länder und ihrer Bevölkerung (sowie durch die Ausbeutung der Zwangsarbeiter in der deutschen Wirtschaft) finanziert worden sein könnten.
Zweitens muss man wohl immer zwischen dem offiziellen Steuersatz und dem tatsächlichen Steueraufkommen unterscheiden. Ich hätte da gern belastbare Zahlen, die mir zeigen, wie stark ein Unternehmer beispielsweise vor 1933 [edit: sowie im Jahr 1935/36] und im Jahr 1941 belastet worden ist. Es mag sein, dass der NS-Staat damals versucht hat, den sogenannten Unternehmerlohn zu drücken, aber doch vorwiegend bei kleinen Ladenbesitzern und bei Kleinunternehmern mit ganz wenigen Mitarbeitern.
Drittens trifft es wohl zu, dass die Steuersätze für Arbeitnehmer nicht erhöht wurden. Aber es wurden neue Abgaben eingeführt und die Arbeitnehmer mussten an NS-Organisationen spenden. Außerdem mussten m. W. in allen kriegswichtigen Unternehmen (und welches war nicht kriegswichtig?) unbezahlte Überstunden geleistet werden.
Ein ökonomischer und sozialer Vergleich zwischen der Weimarer Republik und der NS-Diktatur ist im Grunde unmöglich, weil die NS-Zeit durch Kriegsvorbereitung, Expansion im Krieg und letztlich Niederlage im Krieg gekennzeichnet war. Allenfalls ein Vergleich bis ins Jahr 1935/36 wäre meines Erachtens sinnvoll.
Und da fällt mir noch ein vierter Einwand ein: Wie sieht es denn mit den Schulden aus? Hat der NS-Staat in den Anfangsjahren signifikant höhere Kredite aufgenommen als der Staat in der Weimarer Republik? Die Wahrheit wird, wie so oft, in der Mitte liegen. In einer Diktatur wie von 1933 bis 1945 wird niemand verschont. Auch die Unternehmer lebten in einer Diktatur, auch sie wurden zur Finanzierung des Staates und des Krieges herangezogen. Aber die Hauptlast des Krieges und der Diktatur hat das einfache Volk getragen.
Lieber stefanolix, alle Deine Einwände werden ausführlich in dem Buch "Hitlers Volksstaat" von Götz Aly beantwortet. Ein sehr lesenswertes Buch. Götz Aly hat dafür Archive und Unterlagen gesichtet welche erst durch ihre Inhalte niicht aber durch ihre Ablagen und Benennungen ein komplexes Bild der Arbeitsweise des Finanzamts zwischen 1933 - 45 wiedergibt. Auch mit Bezug auf die wechselseitige Ergänzung zwischen NS-Staat und FA-Verwaltung. Es wird auch auf die Zeit der Weimarer Republik eingegangen.
Zitat von Erling Plaethe im Beitrag #15Lieber stefanolix, alle Deine Einwände werden ausführlich in dem Buch "Hitlers Volksstaat" von Götz Aly beantwortet. Ein sehr lesenswertes Buch. Götz Aly hat dafür Archive und Unterlagen gesichtet welche erst durch ihre Inhalte niicht aber durch ihre Ablagen und Benennungen ein komplexes Bild der Arbeitsweise des Finanzamts zwischen 1933 - 45 wiedergibt. Auch mit Bezug auf die wechselseitige Ergänzung zwischen NS-Staat und FA-Verwaltung. Es wird auch auf die Zeit der Weimarer Republik eingegangen.
Ich habe mir das Buch via ZVAB bestellt und auch schon mal ein paar Artikel gespeichert, die sich auf die kontroversen Diskussionen 2005/2006 beziehen. Anfang August wird Zeit dafür sein. Täusche ich mich, oder waren die Diskussionen damals noch etwas sachlicher als heute zu Sarrazins Büchern?
Zitat von stefanolix im Beitrag #16 Ich habe mir das Buch via ZVAB bestellt und auch schon mal ein paar Artikel gespeichert, die sich auf die kontroversen Diskussionen 2005/2006 beziehen. Anfang August wird Zeit dafür sein. Täusche ich mich, oder waren die Diskussionen damals noch etwas sachlicher als heute zu Sarrazins Büchern?
Das ist mal ein Vergleich, Thilo Sarrazin und Götz Aly! Der sitzt! Das sehe ich genauso, die Kontrverse um Götz Aly war damals scharf, aber sachlicher.
Zitat von stefanolix im Beitrag #14Erstens drängt sich sofort die Vermutung auf, dass die sozialen Leistungen der Nazis auch durch die Ausbeutung der im Krieg besetzten Länder und ihrer Bevölkerung (sowie durch die Ausbeutung der Zwangsarbeiter in der deutschen Wirtschaft) finanziert worden sein könnten.
Und mir drängst sich sofort die Vermutung auf, dass die zeitgenössische Propaganda das Bewusstsein für die Kriegskosten aus den Köpfen der Menschen rausgeprügelt hat. Kein Wunder, wenn die Geschichte ausschließlich als Geschichte von Klassenkämpfen, als Kampf Ausbeuter gegen Ausgebeutete begriffen wird. Wer noch nie davon gehört hat, dass die alten Römer Tribute an die Hunnen und das gerade sich bildende Deutschland an die Ungarn gezahlt hat, für den ist Krieg eine Art bewaffneter Ladendiebstahl, bei dem der Dieb (wenn er nicht im Kampf fällt) nur gewinnen kann. Die Nazis haben die besetzten Länder ausgepresst. Aber das hat kaum zur Finanzierung der Besatzungskosten gereicht und nur ansatzweise zum Ausgleich der durch Kriegseinsatz der Männer entstandenen Produktionsausfälle, nicht zu reden von den Rüstungskosten.
Zitat von stefanolix im Beitrag #14Zweitens muss man wohl immer zwischen dem offiziellen Steuersatz und dem tatsächlichen Steueraufkommen unterscheiden. Ich hätte da gern belastbare Zahlen, die mir zeigen, wie stark ein Unternehmer beispielsweise vor 1933 [edit: sowie im Jahr 1935/36] und im Jahr 1941 belastet worden ist.
Eine berechtigte Frage, die ich im Moment nicht beantworten kann. Doch wir können in die Diskussion einbeziehen, dass Steuerflucht auf die Cayman-Inseln oder in koreanische Schiffbau-Fonds zu dieser Zeit unvorstellbar war. Es gab es keine windigen Steuersparmodelle mit auf dem Papier hungerleidendem Unternehmer und Ferrari-besitzender Ehefrau. Wir sollten auch bedenken, dass die Reichsmark eine Binnenwährung war, international hoch geschätzt wie etwa die DDR-Mark. Es gab schon aus diesem Grund viel weniger Möglichkeiten, durch Auslandsverschiebungen die Steuerlast zu senken. Und in der Heimat haben Blockwart, SA und Gestapo, die "Volksgemeinschaft" aufgepasst.
Die ersten Naziführer, die NSDAP-Gründer, waren allesamt Veteranen des ersten Weltkriegs. Die waren sich einig, „der Weltkrieg“ soll sich nicht wiederholen. Kein Grabenkrieg, kein Gaskrieg, keine Sozialdemokraten, keine Frauenarbeit, keine Kohlrübenwinter und – keine Kriegsgewinnler.
Zitat Er begriff, dass die Ideen des Sozialen und Nationalen zusammengehören – und dass der Internationalismus in der Sozialdemokratie im Grunde ein aufgesetzter, niemals massenwirksamer politischer Gedanke war.
Bitte mal nach "beer glasses fly when speaker compares hitler and lenin" googlen. Angeblich gab es 1925 in der NYT einen kurzen Artikel, den ich auf deren Seite nicht finden konnte, da er vermutlich gelöscht oder, warum auch immer, nicht mehr öffentlich zugänglich ist.
Mit freundlichem Gruß
-- Wer mich ertragen kann, erträgt auch das Leben – Uwe Richard
Zitat von stefanolix im Beitrag #14Und da fällt mir noch ein vierter Einwand ein: Wie sieht es denn mit den Schulden aus? Hat der NS-Staat in den Anfangsjahren signifikant höhere Kredite aufgenommen als der Staat in der Weimarer Republik?
Gewöhnlich gilt die Wirtschaftspolitik des 3. Reiches als die erste Anwendung der Lehren von Keynes in Europa (als erstes in den USA). Und die so aufgelaufenen Schulden wurden eben durch die Beraubung der Juden und dann durch die Ausplünderung der überfallenen Länder versucht zu decken.
Ein Hauptanliegen der Arbeiten von Götz Aly ist ja die Verschränkung von moralischen Maßstäben (Götz Aly: Neid und Gier in Darmstadt mit der Wirtschaftspolitik der Nazis. Die Nazis haben ja auch eine ganze Reihe von massenwirksamen oder zumindest propagandatauglichen Innovationen wie den Volkswagen, den Volksempfänger, 1. Mai als Feiertag, Kindergeld oder Tourismus auch für Arbeiter (KDF) in die Politik eingebracht, die vorher sogar bei der Linken eher undenkbar waren. Und ganz unabhängig von diesen Gutfühlmaßnahmen wird die Abschaffung der Arbeitslosigkeit innerhalb von 3 Jahren naturgemäß von allen als gute und richtige Wirtschaftspolitik aufgefaßt worden sein. Selbst wer nach der Schuldenpolitik fragte (wer tut das schon?) lief gegen die Wand: Unter Hitler wurde die Staatsverschuldung des 3. Reiches als Staatsgeheimnis betrachtet und keine Zahlen veröffentlicht.
Natürlich war der Staat ganz massiv höher verschuldet als die Weimarer Republik. Die Nazi-Wirtschaftspolitik ging eben mehr in Richtung Griechenland heute.
Zitat Er begriff, dass die Ideen des Sozialen und Nationalen zusammengehören – und dass der Internationalismus in der Sozialdemokratie im Grunde ein aufgesetzter, niemals massenwirksamer politischer Gedanke war.
Hitler hat das in "Mein Kampf" ausführlich dargelegt, daß man den Gedanken des Sozialismus den Inernationalisten entreißen müsse, die er natürlich als das "internationale Judentum" sah.
In der Tat ist historisch der Gedanke einer egalitären Volksherrschaft als die Herrschaft eines bestimmten Volks verstanden worden; nicht eines abstrakten "internationalen Proletariats". Zur französischen Revolution gehörte der Nationalismus ebenso wie der Egalitarismus. Auch Lassalle war ein nationalistischer Sozialist.
Marx allerdings dachte wirklich internationalistisch; er hatte überhaupt kein Verhältnis zur Nation. Sein Geschichtsbild ist nachgerade von einer Blindheit für die Bedeutung der Auseinandersetzungen zwischen Nationen gekennzeichnet.
Aber so internationalistisch Marxisten sind, solange sie nicht an der Macht sind, so radikal ändert sich das, sobald sie die Macht erobert haben.
Sebastian Haffner hat einmal darauf aufmerksam gemacht; ich habe es, glaube ich, irgendwann schon einmal erwähnt: Im real existierenden Sozialismus sind die Staaten die Wirtschaftssubjekte, die miteinander konkurrieren wie im Kapitalismus die Konzerne. Oder einander ausbeuten, wenn sie die Macht dazu haben, wie die UdSSR die Staaten des Warschauer Pakts. Nirgends in Europa wurde im 20. Jahrhundert so sehr in nationalen Kategorien gedacht wie in den Landern des real existierenden Sozialismus.
Zitat von Zettel im Beitrag #21Nirgends in Europa wurde im 20. Jahrhundert so sehr in nationalen Kategorien gedacht wie in den Landern des real existierenden Sozialismus.
Welche Erklärung hat den Haffner (oder haben Sie) denn dafür?
Zitat Das ist in Deutschland ein Tabu. Darüber zu reden wohlgemerkt, nicht aber in diesem Interesse zu handeln.
In der Tat, diese Unterscheidung zwischen Reden und Handeln muss man machen! Allerdings ist es auf Dauer sehr schwer, richtig zu handeln, wenn nicht offen darüber geredet wird.
Worin ein wohlverstandenes nationales Interesse eigentlich genau besteht und wie man es am besten anstrebt, das liegt ja nicht auf der Hand, sondern muss immer wieder diskutiert werden.
Wenn eine solche Strategiedebatte nicht stattfindet, dann wird der Mantel des "nationalen Interesses" um so erfolgreicher von Lobbygruppen gekapert. Die haben natürlich wenig Hemmungen, sich für "deutsche Arbeitsplätze" (sprich: Arbeitsplätze und Gewinne in ihrem jeweiligen Branchenverband) einzusetzen.
Das Paradebeispiel für derart lobbyverzerrtes Denken ist die beliebte These, Deutschland profitiere doch schon deshalb vom Euro, weil der unsere Exporte ankurbele. Erst ganz allmählich sickert ins öffentliche Bewusstsein, dass Exporte keineswegs ein nationaler Selbstzweck sind und schon gar nichts nützen, wenn sie den Empfängern faktisch geschenkt werden müssen.
So weit ich sehe bemüht Sarrazin dieses irreführende Export-Argument übrigens auch nicht. Das deutsche Interesse am Euro-Projekt hat m.E. schon vor Jahren Helmut Schmidt am präzisesten auf den Punkt gebracht:
Zitat "Es liegt im zentralen strategischen Interesse Deutschlands, eine Rückkehr zu einer Lage zu vermeiden, in der sich unsere vielen Nachbarn gegen eine vermeintlich oder tatsächlich bedrohliche Stärke Deutschlands miteinander verbünden, um uns Deutsche in Schach zu halten."
Das ist kein postnationales Wunschdenken, sondern die Begründung der europäischen Integration aus einem nationalen Interesse heraus. Was daraus im Einzelnen jeweils abzuleiten ist, muss immer wieder diskutiert werden.
Zitat von Zettel im Beitrag #21Nirgends in Europa wurde im 20. Jahrhundert so sehr in nationalen Kategorien gedacht wie in den Landern des real existierenden Sozialismus.
Welche Erklärung hat den Haffner (oder haben Sie) denn dafür?
Der Staat ist im real existierenden Sozialismus ein einziger, riesiger Konzern. Die einzelnen Kombinate, LPGs usw. sind gewissermaßen seine Tochterunternehmen.
So, wie im Kapitalismus Konzerne miteinander konkurrieren, findet im real existierenden Sozialismus eine Konkurrenz zwischen den Staaten statt. Dieser natürliche Nationalismus verschärft sich noch, wenn ein übermächtiger Staat die anderen Staaten ausbeutet, wie im Warschauer Pakt.
Zu meinen größten Überraschungen, als wir in den Jahren nach 1990 immer wieder in die Ex-DDR fuhren, gehörte das dortige Denken in nationalen Kategorien.
Selbst in Frankfurt/Oder beispielsweise, wo Slubice auf der anderen Seite der Oder liegt, war die Stimmung gegenüber den Polen ablehnend.
Von den "Freunden" gar nicht zu reden, zu denen ich oft den Vorwurf gehört habe, daß sie hochwertige DDR-Produkte unter Weltmarktpreis gekauft hätten und andererseits die DDR zwangen, Rohstoffe usw. aus der UdSSR zu überhöhten Preisen zu kaufen.
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