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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 38 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Seiten 1 | 2
Robin Offline



Beiträge: 317

30.01.2013 16:36
#26 RE: Anmerkungen zur Sprache (15): Fauldeutsch Antworten

Hallo Herr Elkmann!

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #4
Man kann aber auch in der anderen Richtung ausgleiten. Auf dem Klappentext der Neuauflage von Martin Mosebachs Stilleben mit wildem Tier die Anpreisung eines enthusiasmierten Rezensors: "Für dieses Buch würfe ich tausend andere fort..."

Ich bin ja auf sprachlicher Ebene nicht besonders bewandert. Wenn ich aber versuche, mich an die Ausführungen meines Deutschlehrers zu erinnern, gelange ich immer wieder zu der Auffassung, dass die zitierte Form korrekt sein muss. Die Verwendung des Konjunktivs ist geboten, da der Rezensent offenbar nicht wirklich plant, für dieses Buch seine tausendbändige Sammlung lustiger Taschenbücher zu entsorgen, und er das Rezensentenexemplar ohnehin behalten darf, ohne dafür eine Altpapierspende vorzeigen zu müssen. Da der Konjunktiv I "ich werfe" aber in diesem Fall identisch mit dem Indikativ ist, findet hier die Konjunktiv-II-Form "ich würfe" Anwendung, so meine ich gelernt zu haben.
Aber Sie (oder die anderen Sprachexperten hier im Forum) werden mich jetzt vermutlich eines besseren belehren. Um dies noch vorwegzunehmen, meinen Deutschlehrer trifft in diesem Fall keine Schuld. Er hat einen auf diesem Gebiet hervorragenden Unterricht gegeben und der Konjunktiv lag ihm ganz besonders am Herzen

Beste Grüße
Robin

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

30.01.2013 16:45
#27 RE: Anmerkungen zur Sprache (15): Fauldeutsch Antworten

Zitat von Economist im Beitrag #25

Zitat
"auf eine gewisse Persönlichkeit schließen. So kann eine gepflegte Sprache auch (wieder) zu einem persönlichen Merkmal werden."


Sehr richtig. Eigentlich ein sehr schöner Effekt -- erlaubt er doch eine schnelle erste Klassifizierung des Menschen der vor einem steht. Eine Klassifizierung (andere sagen Vorurteil), die nach meiner persönlichen Erfahrung im Mittel als treffend sich erweist. Mittlerweile ließe sich eine bestimmte Gruppe von Personen, die sich nicht (mehr) über einzelne sozio-kulturelle Merkmale zusammenfassen lassen (niedriges Einkommen oder gewisser Bildungsstand oder Migrationshintergrund oder...) über einen neuen -- von der politischen Korrektheit daher noch nicht erfassten -- Begriff subsumieren. Ich spreche zwecks der (natürlich und bewusst abfällig konnotierten) Bezeichnung dieser Gruppe gerne von "den Präpositionslosen". Im Mittel fällt diese Gruppe mit dem zusammen, was ich gemeinhin als Unterschicht bezeichnete.


Auch in dieser Hinsicht ginge das Deutsche dann den Weg des Englischen. Auch heute noch ist der englische Dialekt, den man spricht, nicht nur ein Hinweis auf die geographische Herkunft des Sprechers, sondern in noch stärkerem Maße auf seine soziale Klassifikation; und das geht wohlgemerkt in beide Richtungen, wer zu gehoben spricht, wird mißtrauisch ausgegrenzt. Dann sind wir wieder bei Pygmalion & Eliza Dolittle; inwieweit man das als schönen Effekt empfindet ist vermutlich Geschmackssache. Shaw sah hier jedenfalls ein Haupthindernis sozialer Mobilität.

IsaWolke Offline



Beiträge: 24

30.01.2013 17:02
#28 RE: Anmerkungen zur Sprache (15): Fauldeutsch Antworten

"Verkürzung, Vereinfachung, Vergröberung bilden die Trias einer gespenstischen Abwärtsdynamik "

Das ist zumindest die natürliche Dynamik. Dass Verlängern, Verkomplizieren und Ausdifferenzieren die Trias einer Aufwärtsdynamik wären, kann man sich nicht so recht vorstellen. Der Wortschatz kann immer vielfältiger und differenzierter werden, aber ansonsten...geht der Trend in Richtung Vereinfachung.
Ich weiß nicht, ob es in der natürlichen Sprachentwicklung auch die entgegengesetzte Richtung gab. Wenn, dann wahrscheinlich nur durch Verordnungen. Aus welchem Substrat ist Latein entstanden?

Teja Offline



Beiträge: 1

30.01.2013 18:01
#29 RE: Anmerkungen zur Sprache (15): Fauldeutsch Antworten

Sehr schöne Vorlage zu folgenden Ausführungen.

Man spürt förmlich die leichte Verwunderung/Verärgerung zwischen den Zeilen. Nämlich darüber, dass die Leute sich im großen Stil sprachlich gehen lassen, hier das Beispiel mit den Konjunktionen. Man nutzt lieber Hilfsverben wie "haben" und "sein" ("ich habe getragen", anstatt "ich trug") Man nimmt zusätzliche Füllwörter in Kauf, um Verben nicht beugen zu müssen. An diesen und an anderen Beispielen (wie auch ausgeführt wurde), sieht man, dass Sprache sich ändert. Aber nicht irgendwie, sondern schon in eine Richtung, sie wird einfacher, konkret: das Komplexe nimmt ab.

"Die Sprache geht, so scheint es, den Weg des geringsten Widerstands." - Das ist der Schlüsselsatz. Eine erstaunliche Feststellung, immerhin, hat man doch irgendwo in seinem Hinterstübchen gespeichert, dass Sprachen sich entwickeln, wohin?, na, weiter natürlich, quasi von den Grunzlauten in der Steinzeit zu den Latein der Römer, so ungefähr. Dabei ist die Beobachtung ganz anders als die Annahme, siehe Schlüsselsatz.

Man betrachte die ältesten bekannten Sprachen, wie das Sumerische, oder das Akkadische. Von der Formenlehre her sind diese Sprachen weitaus komplexer als die heutigen modernen Sprachen. Man konnte sich präziser und nauncenreicher ausdrücken bei gleichzeitiger äusserst sparsamer Verwendung von Füll- und Hilfswörtern.

Sprachgeschichte ist eine harte Nuss für die Anhänger der Entwicklungslehre, die logisch annehmen müssen, die einfachen Sprachen waren zuerst, Grunzkommunikation also, und nehmen immer mehr Gestalt an, auf welchem Gebiet auch immer. Denn die Fragen dieser Anhänger lauten: woher kamen diese alten Sprachen? Und: wieso macht Zettel solche Betrachtungen, wo es doch umgekehrt sein sollte?

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

30.01.2013 18:34
#30 RE: Anmerkungen zur Sprache (15): Fauldeutsch Antworten

Zitat von Teja im Beitrag #29
Sprachgeschichte ist eine harte Nuss für die Anhänger der Entwicklungslehre, die logisch annehmen müssen, die einfachen Sprachen waren zuerst, Grunzkommunikation also, und nehmen immer mehr Gestalt an, auf welchem Gebiet auch immer. Denn die Fragen dieser Anhänger lauten: woher kamen diese alten Sprachen? Und: wieso macht Zettel solche Betrachtungen, wo es doch umgekehrt sein sollte?

Wie es sein sollte, lieber Teja, das wissen wir ja nicht. Wir wissen nur, wie es ist; daß also diese Tendenz zur Vereinfachung immer wieder zu beobachten ist. Übrigens auch auf der phonetischen Ebene; wenn beispielsweise Augusta Treveris zu "Trier" verkürzt wurde, Colonia Claudia Ara Agrippinensium zu "Köln" und Lugdunum zu "Lyon". Das ist das Ökonomie-Prinzip: Versuche mit dem geringsten Aufwand dein kommunikatives Ziel zu erreichen.

Wie kam es aber dann zu der ursprünglichen Komplexität? Es scheint mir, daß die Linguistik des Sprachwandels darauf keine gute Antwort hat. Vielleicht muß man, wenn man das zu beantworten versucht, ein wenig über die Funktion von Sprache nachdenken. Sie dient ja nicht nur der Kommunikation, der Verständigung im tätigen Leben. Sie ist auch das Medium von Kunst und war es víelleicht schon von Beginn an, als der eine schöner zu grunzen versuchte als der andere.

Sich komplex, sich schön und elegant auszudrücken kann durchaus soziales Prestige, auch sexuellen Erfolg bedeuten. Das könnte die treibende Kraft hinter der Entwicklung zu mehr Komplexität gewesen sein; letztlich entscheidet ja auch da das selfish gene.

"Das hast du aber schön gesagt" hauchte einst manche Maid. Heute sagt sie: "Gehn wir zu dir oder zu mir?".

Herzlich, Zettel

PS: Willkommen im kleinen Zimmer!

Gansguoter Offline



Beiträge: 988

30.01.2013 19:08
#31 RE: Anmerkungen zur Sprache (15): Fauldeutsch Antworten

Man muss, lieber Zettel, meines Erachtens zweierlei auseinanderhalten:

a) Zu der von Ihnen (m.E. zurecht) beklagten "Sprachentwicklung abwärts" rechne ich dieses künstliche Primitivdeutsch "leichte Sprache", auch den in letzter Zeit nach meinem Eindruck zunehmenden schludrigen Sprachgebrauch bei "Profis" wie Radiosprechern (etwa die dauernde Verwechslung von "mutmaßlich", "vermutlich", "vermeintlich"; auch logischen Unsinn: "Die Rebellen drohten an, weitere Städte erobern zu wollen" - sie drohen mit der Eroberung, das Wollen brauchen sie nicht anzudrohen, das haben sie schon).

b) Die Prinzip der Sprachökonomie (wobei das Prinzip der Sprachökonomie nicht erklärt, woher zunächst so etwas Komplexes wie das Indogermanische kommt, wenn seither das Prinzip der Sprachökonomie gilt ...). Hierzu rechne ich den Rückgang der Starken Verben, der an sich ja nichts Neues ist. Im Mittelhochdeutschen sind "bellen" und "niesen" noch starke Verben, letzteres gar mit einem schönen Rhotazismus. Mhd.: bellen - ich bille - ich bal - die hunde bullen - sie hân gebollen; niesen - ich niuse - ich nôs - wir nurn - sie hân genorn. Dann gibt es Verben, die heute stark und schwach flektiert werden (etwa: winken - ich winkte - aber: ich habe gewunken; eigtl. winken - ich wank; gleiche Ablautreihe wie stinken; auch falten - Part. Prät. gefaltet oder gefalten; Prät. nur: ich faltete; nicht mehr: ich fielt). Das Verb kiesen hat sich übrigens ganz umgebaut: Mhd. kiese - kiuse - kos - kurn - gekorn; dann wurde daraus: kiesen - koren - erkoren / gekoren. Vor 10 oder 20 Jahren: küren - kürte - gekoren. Heute: küren - kürte - gekürt.

Was jetzt überraschend ist - und da geht b) in a) über -, ist das Verschwinden des starken Präteritums bei hochfrequenten Verben. In den kleineren Klassen habe ich bislang nur gehört, in diesem Schuljahr zum ersten Mal auch gelesen in Klassenarbeiten: er gehte; er rufte (und zwar bei Kindern OHNE den Migrationshintergrund).

Ansonsten ist ein interessantes Phänomen auch die Hybridform "ich fande", die mind. die Hälfte meiner Schüler in der Unterstufe verwendet; Hybridform, da hier der Ablaut verwendet wird, aber auch das -e der schwachen Verben.

Heute in Deutsch Klasse 5: Unsicherheit mehrerer Schüler, ob die Vergangenheit von lesen nun las oder ließ ist.

Das von Ihnen, lieber Zettel, angeführte "frug" ist m.W. eine fälschlich starke Bildung; fragen ist m.W. von Hause aus schwach.

Schließlich: "meines Vaters Pferde" dürfte mit dieser Inversion auch in den 1950er Jahren fast nur sprechsprachlich gewesen sein; der vorangestellte Genitiv geht schon im Mhd. zurück und wird Merkmal gehobener Sprache, etwa bei Goethe (Iphigenie). Die Dialekte gehen hier auch andere WEge der Vereinfachung. Im Rheinland wären das - auch schon vor Dekaden, wenn nicht Dezennien - "minge Vatter sing Pääd" (meinem Vater seine Pferde).

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.425

30.01.2013 19:50
#32 RE: Anmerkungen zur Sprache (15): Fauldeutsch Antworten

Das Sumerische (ab ca. 2200 v.Chr. - die größeren Textcorpora wie z.B. das Gilgameschepos sind erst ab ca. 1400 v.Chr. faßbar), das Akkadische, das Ägyptische - oder auch das Chinesische, sobald es zur Niederschrift komplexer Texte verwendet wird (also ab ca. 500 v.Chr.): das steht ja nicht "am Anfang" der Sprache, sondern haben eine mindestens 30.000 Jahre lange unfixierte Vorgeschichte hinter sich. Bei der Rekonstruktionsversuchen des Indogermanischen wird mitunter ein gemutmaßter Sprachstand von 6000-8000 v.Chr. behauptet, aber das bezieht sich auf die Lexemik; was Grammatik & Flektion betrifft, sind das notgedrungen freie Spekulationen wie in der indogermanischen Fabel von 1868.

Zitat
____
Schleicher wollte mit diesem Text nicht nur einzelne rekonstruierte Wortformen, sondern auch deren syntaktische Verbindung im Satz zeigen.
"Avis, jasmin varnā na ā ast, dadarka akvams, tam, vāgham garum vaghantam, tam, bhāram magham, tam, manum āku bharantam. Avis akvabhjams ā vavakat: kard aghnutai mai vidanti manum akvams agantam. Akvāsas ā vavakant: krudhi avai, kard aghnutai vividvant-svas: manus patis varnām avisāms karnauti svabhjam gharmam vastram avibhjams ka varnā na asti. Tat kukruvants avis agram ā bhugat."
"Das Schaf und die Pferde - Ein Schaf, das keine Wolle mehr hatte, sah Pferde, eines einen schweren Wagen fahrend, eines eine große Last, eines einen Menschen schnell tragend. Das Schaf sprach: Das Herz wird mir eng, wenn ich sehe, dass der Mensch die Pferde antreibt. Die Pferde sprachen: Höre Schaf, das Herz wird uns eng, weil wir gesehen haben: Der Mensch, der Herr, macht die Wolle der Schafe zu einem warmen Kleid für sich und die Schafe haben keine Wolle mehr. Als es dies gehört hatte, floh das Schaf auf das Feld."
____

(Ich vermute allerdings, daß man schon im Industal Barden, die die Pointe so vergeigten,geknebelt an einen Baum fesselte.)

Hinzu kommt, daß es sich bei den frühen Textsorten durchwegs eben nicht um Alltagsidiome handelt, sondern um liturgische Texte, Gesetze oder die standartisierte Sprache der Heldenepen. (In den meisten Fällen sind die ältesten Texte Inventarlisten & Kataster; im Chinesischen Orakelfragen auf Knochen, die aus 3-4 unverbundenen Wörtern bestehen: deren Alter übrigens schwer umstritten ist, wie Alles aus dem chinesischen Altertum vor 600 v.Chr.). Da liegt es nahe, daß zur Kennzeichung der besonderen Sprechsituation & als Gedächtnisstütze andere Register gezogen wurden (in Alltagsleben wird kein Zeitgenosse Homers von der "rosenfingrigen Eos" gesprochen haben, & old King Hrothgar hätte den Grendel bestimmt "b*st*rd" o.ä. tituliert & nicht "Schleicher der Mitternacht" - "scriðan sceadugenga", Zeile 703). Die Wiedergabe von Alltagsidiomen - gewissermaßen als Protokoll - muß in allen Literatursprachen erst mit der Einübung des Realismus erfunden werden (alte Vernehmungsprotokolle, wie sie z.B. in Le Roi Laduries Fallstudie über Montaillou wiedergegeben sind, zeigen die Schwierigkeit der Protokollierung in ganzer Schwerfälligkeit). Deswegen geht das in der Literaturgeschichte erst über den Briefroman (Defoe, Richardson, La Princesse de Clêves, in Japan Sei Shonagon; der Don Quijotte kann da schon an den Pikaro-roman & die italienische Novelle andocken) oder die "Lebensbeschreibung des ***" (Gullivers Reisen, der Simplicissimus, der Anton Reiser), bis sich das die unmittelbare, gewissermaßen "mimetische" Darstellungsweise entwickelt. (Im Chinesischen kam im 18. Jhdt. erschwerend hinzu, daß das Alltagsidiom mit dem geschriebenen klassischen Chinesisch nichts mehr zu tun hatte.)

Gansguoter Offline



Beiträge: 988

30.01.2013 22:56
#33 RE: Anmerkungen zur Sprache (15): Fauldeutsch Antworten

Zitat
Bei der Rekonstruktionsversuchen des Indogermanischen wird mitunter ein gemutmaßter Sprachstand von 6000-8000 v.Chr. behauptet, aber das bezieht sich auf die Lexemik; was Grammatik & Flektion betrifft, sind das notgedrungen freie Spekulationen wie in der indogermanischen Fabel von 1868.



Die idg. Fabel würde ich vielleicht eher unter Kuriosität verbuchen, während man über das Tempussystem der gemeinsamen Wurzel der idg. Sprachen und auch über den Formenbau und deren Phoneminventar ja doch einiges sagen kann. Und schon der Verzicht auf die Laryngale scheint mir einen erheblichen Schritt der Vereinfachung darzustellen.

Dass das Idg. etc. eine mehrtausendjährige Vorgeschichte hat, ist auch klar, aber gleichwohl hat man es doch wohl mit einem Aufbau von Komplexität zu tun und später mit einem Abbau.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

30.01.2013 23:22
#34 RE: Anmerkungen zur Sprache (15): Fauldeutsch Antworten

Zitat von Gansguoter im Beitrag #33
Dass das Idg. etc. eine mehrtausendjährige Vorgeschichte hat, ist auch klar, aber gleichwohl hat man es doch wohl mit einem Aufbau von Komplexität zu tun und später mit einem Abbau.

Vielleicht wäre es auch angemessener, nicht von einem Aufbau und Abbau, sondern eher von einem Umbau zu sprechen.
Ich habe dunkel in Erinnerung, einmal von der Theorie gehört zu haben, daß die Flexionsendungen der antiken Sprachen durch Anhängen und Verschmelzen von ursprünglich separaten Partikeln entstanden seien.

Wie dem auch immer sei, die geringere Komplexität auf Wortebene durch Flexionsverlust wird durch andere Strukturen ausgeglichen (wie es ja sein muß bei einer Sprache, die komplexe sachliche und emotionale Verhältnisse ausdrücken soll): im Englischen beispielsweise werden zwar die meisten Wörter nur wenig im Sinne klassischer Grammatik verändert, doch treten dafür in hohem Maße spezielle und unregelmäßige idiomatische Wortkombinationen in den Vordergrund, die auch einzeln erlernt werden müssen, da sie nicht aus der Analyse ihrer Teile verstanden werden können, z.B. we have to put up with that. Wer weiß, vielleicht wird es den Englischsprechenden auch eines Tages zu mühselig, die Wörter dieser Konstruktionen einzeln auszusprechen, und sie verschmelzen zu neuen Wörtern, wie man es heute schon in der Umgangssprache beobachten kann, z.B. isn't it > innit, how are ye > hi.

Statt mit einer fortlaufenden Vereinfachung einer ursprünglich extrem komplizierten Sprache haben wir es also wohl eher mit einem kontinuierlichen Umbildungsvorgang zu tun, bei dem verschiedene Paradigmen der Sprachbildung ausprobiert werden, mit einem evolutionären Prozeß.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

30.01.2013 23:25
#35 RE: Anmerkungen zur Sprache (15): Fauldeutsch Antworten

Zitat von Gansguoter im Beitrag #31
Man muss, lieber Zettel, meines Erachtens zweierlei auseinanderhalten:

a) Zu der von Ihnen (m.E. zurecht) beklagten "Sprachentwicklung abwärts" rechne ich dieses künstliche Primitivdeutsch "leichte Sprache", auch den in letzter Zeit nach meinem Eindruck zunehmenden schludrigen Sprachgebrauch bei "Profis" wie Radiosprechern (etwa die dauernde Verwechslung von "mutmaßlich", "vermutlich", "vermeintlich"; auch logischen Unsinn: "Die Rebellen drohten an, weitere Städte erobern zu wollen" - sie drohen mit der Eroberung, das Wollen brauchen sie nicht anzudrohen, das haben sie schon).

b) Die Prinzip der Sprachökonomie (wobei das Prinzip der Sprachökonomie nicht erklärt, woher zunächst so etwas Komplexes wie das Indogermanische kommt, wenn seither das Prinzip der Sprachökonomie gilt ...).

Ich stimme Ihnen zu, lieber Gansguoter, daß das natürlich verschiedene Arten des Sprachwandels sind. Aber mir scheint, daß sie doch dies gemeinsam haben, daß die Entwicklung vom Komplexen zum Einfachen geht und daß dies etwas damit zu tun hat, daß auch das Einfache die kommunikative Funktion erfüllt. (Nicht alle Ihre Beispiele unter a) passen da hinein; zum Teil handelt es sich einfach um schlechtes Deutsch).

Woher die ursprüngliche Komplexität? Eine Vermutung habe ich schon in einem anderen Beitrag in diesem Thread angedeutet: Sprache ist nicht nur ein Instrument der Kommunikation, sondern auch ein Medium der Kunst.

Warum soll sie das nicht von Anfang an gewesen sein? Nur haben wir davon, anders als bei Höhlenmalereien oder geschnitzten Figuren, keine Kenntnis durch Artefakte, naturgemäß.

Die ersten Poeten mögen genau das gewesen sein, Macher. Sie machten Sprache, machten sie reich und schön und wurden dafür selbst angesehen in ihrer Gruppe, vor allem vermutlich beim anderen Geschlecht.

Für die kommunikative Funktion der Sprache bedarf es in primitiven Gesellschaften nicht viel. Es gibt ja nicht viel Verschiedenes zu tun und mitzuteilen. Sprache als Instrument der Selbstreflexion - das kam wohl erst ganz spät. Aber Sprache als Kunst; als Medium des Erzählens, des Dichtens, auch natürlich des Singens - das dürfte sehr alt sein.

Es ist wie beim Federschmuck der Vögel, beim Geweihschmuck usw. - das dient alles keinen praktischen Zwecken, auch keinen im engeren Sinn kommunikativen; sondern es ist Schönheit um ihrer selst willen. Damit die anderen staunen, wie es ein Künstler sich erhofft.

Und gemeinsames Zuhören und Aufsagen und Singen - das hält auch die Gruppe zusammen und bietet damit einen Selektionsvorteil.

Herzlich, Zettel

Gansguoter Offline



Beiträge: 988

31.01.2013 17:21
#36 RE: Anmerkungen zur Sprache (15): Fauldeutsch Antworten

Zitat
Für die kommunikative Funktion der Sprache bedarf es in primitiven Gesellschaften nicht viel. Es gibt ja nicht viel Verschiedenes zu tun und mitzuteilen. Sprache als Instrument der Selbstreflexion - das kam wohl erst ganz spät. Aber Sprache als Kunst; als Medium des Erzählens, des Dichtens, auch natürlich des Singens - das dürfte sehr alt sein.



Ich stimme Ihnen zu in Bezug insbesondere auf rhetorische Figuren, auf den Ausdruck, bei dem es ganz erstaunliche Parallelen zwischen dem Griech. und den Sanskrit gibt. Hier scheint Manches sehr alt zu sein.

Das Tempussystem hingegen scheint mir dem Bedürfnis einer genauen Bezeichnung von Zeitverhältnissen zu entspringen, ebenso das System aus Singular, Dual, Plural udn das Genussystem, ursprgl. belebt - unbelebt; dann erweitert zu belebt männlich - belebt weiblich - unbelebt, daraus dann sächlich.

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

31.01.2013 20:48
#37 RE: Anmerkungen zur Sprache (15): Fauldeutsch Antworten

Zitat von IsaWolke im Beitrag #28
"Verkürzung, Vereinfachung, Vergröberung bilden die Trias einer gespenstischen Abwärtsdynamik "


Verkürzung, Vereinfachung, Vergröberung treffen den Vorgang nicht. Die Sprache verfügt über ein eigenes Ökonomieprinzip (vom französischen Linguisten André Martinet herausgearbeitet), das sich schlagwortartig folgendermaßen charakterisieren lässt: Kombination einer begrenzten Zahl von Lauten zu einer potenziell unbegrenzten Zahl von Wörtern; Homonymie (zwei oder mehr Wörter sind formgleich, z.B. Tor); Polysemie (ein Wort hat mehrere Bedeutung[snuanc]en; das ist der sprachliche Normalfall); Entsorgung funktionsloser Morpheme (zB das Dativ-e in dem Manne; der Artikel bezeichnet Kasus und Numerus eindeutig) oder auch die Vereinfachung von Flexionsparadigmen (so die Tendenz zum schwachen Verb).

Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang natürlich die Phänomene Synthese und Analyse. Wie wechselvoll die Sprachgeschichte hier vorgehen kann, zeigt z.B. das französische Futur. Die Entwicklungslinie lautet: klassisches Latein cantabo 'ich werde singen', Vulgärlatein cantare habeo, daraus französisch je chanterai, das je nach Sprachregister und Ausdrucksabsicht mehr oder weniger häufig durch je vais chanter ersetzt wird. Dass Synthese und Analyse bisweilen friedlich koexistieren, zeigt sich am italienischen Elativ: bellissimo oder molto bello 'sehr schön' bzw. am englischen Komparativ: slower 'langsamer', hingegen more interesting 'interessanter'.
Für den Sprachwissenschaftler ist ja bekanntlich nicht das graphische, sondern das phonische Medium das entscheidende. Deshalb darf man sich von Schreibungen wie z.B. je chante 'ich singe' oder du fils 'des Sohnes' nicht unbedingt täuschen lassen. Es gibt gute Gründe (für je chante deutlich bessere als für du fils), von einer Präfixflexion im modernen Französisch auszugehen; die korrektere Schreibung wäre nach dieser These *jechante.

Frankenstein Offline




Beiträge: 891

31.01.2013 21:51
#38 RE: Anmerkungen zur Sprache (15): Fauldeutsch Antworten

Zitat von Zettel im Beitrag #35
Zitat von Gansguoter im Beitrag #31
Man muss, lieber Zettel, meines Erachtens zweierlei auseinanderhalten:

a) Zu der von Ihnen (m.E. zurecht) beklagten "Sprachentwicklung abwärts" rechne ich dieses künstliche Primitivdeutsch "leichte Sprache", auch den in letzter Zeit nach meinem Eindruck zunehmenden schludrigen Sprachgebrauch bei "Profis" wie Radiosprechern (etwa die dauernde Verwechslung von "mutmaßlich", "vermutlich", "vermeintlich"; auch logischen Unsinn: "Die Rebellen drohten an, weitere Städte erobern zu wollen" - sie drohen mit der Eroberung, das Wollen brauchen sie nicht anzudrohen, das haben sie schon).

b) Die Prinzip der Sprachökonomie (wobei das Prinzip der Sprachökonomie nicht erklärt, woher zunächst so etwas Komplexes wie das Indogermanische kommt, wenn seither das Prinzip der Sprachökonomie gilt ...).

Ich stimme Ihnen zu, lieber Gansguoter, daß das natürlich verschiedene Arten des Sprachwandels sind. Aber mir scheint, daß sie doch dies gemeinsam haben, daß die Entwicklung vom Komplexen zum Einfachen geht und daß dies etwas damit zu tun hat, daß auch das Einfache die kommunikative Funktion erfüllt. (Nicht alle Ihre Beispiele unter a) passen da hinein; zum Teil handelt es sich einfach um schlechtes Deutsch).

Woher die ursprüngliche Komplexität? Eine Vermutung habe ich schon in einem anderen Beitrag in diesem Thread angedeutet: Sprache ist nicht nur ein Instrument der Kommunikation, sondern auch ein Medium der Kunst.

Warum soll sie das nicht von Anfang an gewesen sein? Nur haben wir davon, anders als bei Höhlenmalereien oder geschnitzten Figuren, keine Kenntnis durch Artefakte, naturgemäß.

Die ersten Poeten mögen genau das gewesen sein, Macher. Sie machten Sprache, machten sie reich und schön und wurden dafür selbst angesehen in ihrer Gruppe, vor allem vermutlich beim anderen Geschlecht.

Für die kommunikative Funktion der Sprache bedarf es in primitiven Gesellschaften nicht viel. Es gibt ja nicht viel Verschiedenes zu tun und mitzuteilen. Sprache als Instrument der Selbstreflexion - das kam wohl erst ganz spät. Aber Sprache als Kunst; als Medium des Erzählens, des Dichtens, auch natürlich des Singens - das dürfte sehr alt sein.

Es ist wie beim Federschmuck der Vögel, beim Geweihschmuck usw. - das dient alles keinen praktischen Zwecken, auch keinen im engeren Sinn kommunikativen; sondern es ist Schönheit um ihrer selst willen. Damit die anderen staunen, wie es ein Künstler sich erhofft.

Und gemeinsames Zuhören und Aufsagen und Singen - das hält auch die Gruppe zusammen und bietet damit einen Selektionsvorteil.

Herzlich, Zettel

Meines Wissens ist die fundamentale Primärfunktion der Kommunikation die Aufrechterhaltung des friedlichen Miteinanders und die soziale Stärkung des Gruppenverbands (nicht zufällig besteht der Grossteil menschlicher Kommunkation aus - oberflächlich betrachtet - belanglosem Blabla. Leider habe ich nicht die Zeit, diesen Punkt mit den linguistischen Wälzern in meinem Kellerraum herauszuarbeiten.

IsaWolke Offline



Beiträge: 24

31.01.2013 22:33
#39 RE: Anmerkungen zur Sprache (15): Fauldeutsch Antworten

Zitat von Frankenstein im Beitrag #38

Meines Wissens ist die fundamentale Primärfunktion der Kommunikation die Aufrechterhaltung des friedlichen Miteinanders und die soziale Stärkung des Gruppenverbands (nicht zufällig besteht der Grossteil menschlicher Kommunkation aus - oberflächlich betrachtet - belanglosem Blabla. Leider habe ich nicht die Zeit, diesen Punkt mit den linguistischen Wälzern in meinem Kellerraum herauszuarbeiten.


Also ist Fauldeutsch die Sprache der Singlehaushaltsgesellschaft?
Die Gruppe ist nicht mehr so wichtig, es zählt das Individuum. Dazu würde passen, dass Höflichkeitsformen immer unbeliebter werden.

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