Zitat von Techniknörgler im Beitrag #21Wie hat das eigentlich der Westen geschafft? Wurde das nicht schon bis zum Umfallen von irgend jemanden analysiert?
Meine Vorredner haben sicher allesamt Recht. Ich möchte hier nur drei, einander z.T. durchaus zuwiderlaufende Entwicklungen hervorheben. Das Christentum des Mittelalters hat den Einzelnen in gewisser Weise aus vorchristlichen gesellschaftlichen Strukturen herausgelöst. (Zodac behandelt das im unmittelbar vorangehenden Kommentar unter einem ganz materiell-diesseitigen Gesichtspunkt.) Bei Konflikten zwischen der Anordnung eines Clan-Oberhauptes und den Geboten der Religion, authentisch interpretiert durch die Kirche, hatte der Einzelne natürlich seinem Seelenheil den Vorzug zu geben. Die Kirche entzog somit den Menschen dem totalen Zugriff der Gesellschaft und des Staates, um selbst einen totalen Zugriff begründen zu können. Luther bekämpfte dann ja bekanntlich die Deutungshoheit der Kirche, sodass letztlich das (an der Heiligen Schrift gebildete) Gewissen des Einzelnen den Vorrang gegenüber allen gesellschaftlichen Institutionen erlangte. Somit hatte sich der Einzelne aus der Gesellschaft emanzipiert.
Der Absolutismus hat dann den Staat aus der Gesellschaft emanzipiert. Nicht mehr die Partikularinteressen maßgeblicher gesellschaftlicher Kräfte (des Erbadels) sollten das Staatshandeln beeinflussen; dieses gewann vielmehr ein Eigenleben, Begriffe wie "Staatsräson" waren geboren. Die Entität Staat verfolgte somit ihre eigenen Ziele, die sich nicht mehr unbedingt mit den Zielen einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe deckten. Zugleich verlor der Adel sein ererbtes Anrecht auf bestimmte Staatsämter; das Leistungsprinzip hielt Einzug in die Verwaltung. Freilich wird man den Absolutismus ex post wohl eher negativ bewerten; man darf dabei aber nicht übersehen, welche Rolle er in seiner Zeit für eine Rationalisierung und Objektivierung des Staatshandelns gespielt hat.
Schließlich gilt noch zu beachten, dass die römisch-germanische Tradition einen Despotismus orientalischen Ausmaßes gar nicht zugelassen hätte. Der Herrscher war hier immer in eine Rechtsordnung eingebunden, die er nicht mit einer willkürlichen Entscheidung aufheben konnte. Anders formuliert: Den Keim des Rechtsstaates trugen die europäischen Staaten schon seit geschichtlich überlieferter Zeit in sich; die moderne Rechtsstaatsidee ist mithin keine creatio ex nihilo.
Im dritten Teil macht Diarra auf einen, wie ich finde, sehr interessanten Zusammenhang aufmerksam: Dem zwischen der malischen Schamkultur (es ist unschicklich, einen Höherstehenden zu kritisieren) und der fehlenden Pressefreiheit.
Ohne eine freie Presse sind Fehlentwicklungen kaum zu vermeiden. Darria weist hier sehr zu Recht auf die Parallele zu kommunistischen Systemen und deren Scheitern hin.
Lieber Diarra, ich möchte mich bei Ihnen auch sehr herzlich für diese aufschlussreiche Serie bedanken.
Zitat von Diarra im dritten Teil der SerieWarum wird z.B. nicht berichtet, dass bei der Eroberung der Stadt Konna durch die Islamisten als erstes die katholische Kirche zerstört wurde und dass gezielt nach Christen in der Stadt gesucht wurde?
Die Frage ist eine rhetorische, aber ebenso eine berechtigte. Die Mehrheit der Medien möchte ja auch nicht der Tatsache ins Auge sehen, dass der sog. Arabische Frühling bzw. die Entwicklung, die er genommen hat, für die Christen in den betreffenden Ländern eine massive Verschlechterung ihrer Lage herbeigeführt hat.
Zitat Die Frage ist eine rhetorische, aber ebenso eine berechtigte. Die Mehrheit der Medien möchte ja auch nicht der Tatsache ins Auge sehen, dass der sog. Arabische Frühling bzw. die Entwicklung, die er genommen hat, für die Christen in den betreffenden Ländern eine massive Verschlechterung ihrer Lage herbeigeführt hat.
... so dass man dann selbst, wenn man im Kollegen-/Bekannten-/Freundeskreis den Arabischen "Frühling" kritisch sieht eben wegen der massiven Verschlechterung der Lage der Christen, angesehen wird als ob man behaupten würde, die Erde sei eine Scheibe.
Zitat von Gansguoter im Beitrag #29... so dass man dann selbst, wenn man im Kollegen-/Bekannten-/Freundeskreis den Arabischen "Frühling" kritisch sieht eben wegen der massiven Verschlechterung der Lage der Christen, angesehen wird als ob man behaupten würde, die Erde sei eine Scheibe.
... denn die Christen, die sind doch nur eine Minderheit.
Just diejenigen, die stets für die Rechte von Minderheiten eintreten, finden es nach meiner Erfahrung ganz in Ordnung, daß in islamischen Ländern eben die Mehrheit bestimmt.
Christen in diesen Ländern - viele Gemeinden entstanden ja schon lange vor Mohammed - werden als eine Art Außenposten des bösen Weißen Mannes wahrgenommen. Geschieht ihnen doch recht, wenn sie sich nicht anpassen wollen. Das habe ich so gehört.
Zitat von Zodac im Beitrag #25Wobei Eurasien bei der Entwicklung moderner Staaten ohnehin einen Startvorteil hatte gegenüber den restlichen Kontinenten. Jared Diamond hat in "Guns, Germs, and Steel" gut darauf hingewiesen das fast alle wichtigen Nutztiere und Nutzpflanzen sich in Eurasien befanden, was höhere Bevölkerungszahlen und damit komplexere politische Strukturen ermöglichte.
Marketingtechnisch ist Diamond ein Phänomen. Die natürlichen Bedingungen als Startrampe der Zivilisation haben die Kinder in der DDR in der 5. Klasse in Geschichte gelernt. Genau so war es im Geschichtslehrbuch beschrieben.
Das ist der historische Materialismus, eine Theorie, die durchaus was hat. Erstaunlich wie Diamond es hinkriegt, als Neuigkeit zu verticken, was bis dahin Millionen Kinder nebenher in der Schule aufgeschnappt haben.
Zitat von SkorpionDas ist der historische Materialismus, eine Theorie, die durchaus was hat.
Hm. Ich glaube, lieber Skorpion, sie hatte nur was für diejenigen, die die Geschichte als das Zu-sich-selbst-Kommen des Weltgeists ansahen.
Dagegen war es natürlich ein Fortschritt, auf die reale Welt hinzuweisen. Ansonsten ist der Historische Materialismus mit seinem abstrusen Geschichtsschema nach meinem Dafürhalten ebenso eine dumme Ideologie wie der Diamat. Kopfgeburen eines Egomanen, dem Millionen auf den Leim gegangen sind.
Zitat von Gansguoter im Beitrag #29... so dass man dann selbst, wenn man im Kollegen-/Bekannten-/Freundeskreis den Arabischen "Frühling" kritisch sieht eben wegen der massiven Verschlechterung der Lage der Christen, angesehen wird als ob man behaupten würde, die Erde sei eine Scheibe.
... denn die Christen, die sind doch nur eine Minderheit.
Just diejenigen, die stets für die Rechte von Minderheiten eintreten, finden es nach meiner Erfahrung ganz in Ordnung, daß in islamischen Ländern eben die Mehrheit bestimmt.
Christen in diesen Ländern - viele Gemeinden entstanden ja schon lange vor Mohammed - werden als eine Art Außenposten des bösen Weißen Mannes wahrgenommen. Geschieht ihnen doch recht, wenn sie sich nicht anpassen wollen. Das habe ich so gehört.
Herzlich, Zettel
Ja, das ist sicher bei einem Teil der Journalisten (und der nicht publizierenden Öffentlichkeit) eine durchaus gängige Meinung. Meiner Ansicht nach lässt sich auch der linke Antizionismus unter anderem auf dieses Denkschema zurückführen.
Es gibt unter den schweigenden Journalisten aber sicher auch einige, die das Schicksal der Christen im Nahen Osten bedauern, die aber bei Veröffentlichung entsprechender Beiträge Angst vor Beifall von der falschen Seite oder vor einer Relegation ins rechte Eck hätten.
Nunja... unter dem historischen Materialismus verstehe ich vielmehr die kommunistische Theorie über die Entwicklung der Gesellschaft aus Klassenkämpfen heraus sowie die orakelei über die zukünftige kommunistische Gesellschaft. Mit diesem ideologischen Unsinn würde ich Diamond nicht in Verbindung bringen.
Zitat von Zodac im Beitrag #34Nunja... unter dem historischen Materialismus verstehe ich vielmehr die kommunistische Theorie über die Entwicklung der Gesellschaft aus Klassenkämpfen heraus sowie die orakelei über die zukünftige kommunistische Gesellschaft.
Trotz der Entsorgung entsprechenden Schulungsunterlagen im März 1990 und eines recht löchrigen Gedächtnisses a.d. 2013 wage ich die Behauptung, daß Sie sich hier leicht irren - was andererseits völlig belanglos ist; Religionsgeschichte halt.
Zitat von Zettel im Beitrag #30Just diejenigen, die stets für die Rechte von Minderheiten eintreten, finden es nach meiner Erfahrung ganz in Ordnung, daß in islamischen Ländern eben die Mehrheit bestimmt.
Insgesamt geht es um 39 Getötete wobei völlig unklar ist ob es sich nicht sogar um Kombattanten handelt. Das angesichts von Berichten über grausame Gewalttaten an der Zivilbevölkerung durch die islamistischen Truppen sich ausgerechnet eine Armee wie die malische nicht die Mühe von großartigen Gerichtsverhandlungen macht, scheint einige Journalisten denn doch zu überraschen.
Zitat von Zodac im Beitrag #34Nunja... unter dem historischen Materialismus verstehe ich vielmehr die kommunistische Theorie über die Entwicklung der Gesellschaft aus Klassenkämpfen heraus sowie die orakelei über die zukünftige kommunistische Gesellschaft.
Trotz der Entsorgung entsprechenden Schulungsunterlagen im März 1990 und eines recht löchrigen Gedächtnisses a.d. 2013 wage ich die Behauptung, daß Sie sich hier leicht irren - was andererseits völlig belanglos ist; Religionsgeschichte halt.
Marx war ja ein Amateur in allen den Wissenschaften, die er in seiner Egomanie neu zu begründen vermeinte. Beim Historischen Materialismus hatte er den Fabrikanten Engels zur Seite, der auch Dies und Jenes gelesen hatte.
Die allgemeine Idee war das berühmte "vom Kopf auf die Füße stellen", was man so übrigens meines Wissens bei Marx gar nicht finden kann: Die Geschichte ist nicht das Zu-sich-selbst-Kommen des Weltgeists, sondern die Entwicklung der Produktivkräfte. Was Hegel für den Kern der Sache hielt, ist nur ein Epiphänomen, der "Überbau".
Das war Mitte des 19. Jahrhunderts durchaus ein Fortschritt. Nur haben Marx und Engels das Kind mit dem Bad ausgeschüttet; und seither sind Scharen von Marxisten bemüht, die Wirkmächtigkeit von Ideen, von Religionen usw. hinwegzuerklären.
Die zweite Idee der beiden war, daß "Geschichte die Geschichte von Klassenkämpfen" sei. Was ja nicht falsch ist, sie ist das auch - so, wie sie die Geschichte von Kämpfen zwischen Völkern und Kulturen ist, die Geschichte des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern, Ideengeschichte. Wie alle dummen Ideologen nehmen Marx und Engels einen Aspekt und erklären ihn zum "Eigentlichen".
Drittens wurden dann die Ideen Nummer eins und zwei miteinander verknüpft durch den Gedanken, daß sich an den Klassenverhältnissen immer dann etwas revolutionär ändert, wenn "die Entwicklung der Produktivkräfte die Fesseln der Produktionsverhältnisse sprengt".
Das hatten die beiden der Französischen Revolution entnommen, wo in der Tat das aristokratische Herrschaftssytem den Aufstieg des produktiveren Bürgertums blockiert hatte. In ihrer typischen Neigung zur Übergeneralisierung haben sie daraus gleich den Schlüssel zum Verständnis der ganzen Geschichte gemacht.
Und dann das Dümmste: Dieses Schema von Urgesellschaft - Sklavenhaltergesellschaft - Feudalismus - Kapitalismus - Sozialismus - Kommunismus. Hätten die beiden eine Ahnung von Weltgeschichte gehabt, dann wären sie vermutlich auf einen solchen Quark nicht verfallen.
Zitat von Zettel im Beitrag #37Marx war ja ein Amateur in allen den Wissenschaften, die er in seiner Egomanie neu zu begründen vermeinte. Beim Historischen Materialismus hatte er den Fabrikanten Engels zur Seite, der auch Dies und Jenes gelesen hatte.
Passend dazu dieser Bericht des Alt-Achtundsechzigers Thomas Schmid über eine Gläubigenversammlung.
Jetzt, in der Krise, wird wieder Geld nach Mali gepumpt. In der vierten Folge der Serie zeigt Diarra, wie kontraproduktiv Entwicklungshilfe ist: Sie hilft nicht, ein korruptes System zu beseitigen, sondern hält es im Gegenteil am Laufen. Sie fördert nicht die Eigeninitiative im Land, sondern erstickt sie.
Zitat Um sich selbst helfen zu könne, brauchen sie sicher nicht Millionen an Dollar, sondern stattdessen faire Rahmenbedingungen, Rechtssicherheit, neue lokale Absatzmärkte, Wiederbelebung des Tourismus, gute Bildung etc. Das alles kann man nicht kaufen, das muss sich entwickeln.
Ich frage mich, wie das angesichts der Gegebenheiten im Land, wie Sie sie schildern - Korruption, fehlende Pressefreiheit - gelingen soll.
Entwicklungshilfe ist der falsche Weg, das zeigen Sie überzeugend. Aber ist keine Entwicklungshilfe der richtige Weg?
Viele afrikanische Länder haben es mit Sozialismus versucht und sind damit, wie zu erwarten gewesen war, gescheitert. Die traditionelle Gesellschaft ist unfähig, im globalen Wettbewerb zu bestehen. Wie aber soll eine moderne Gesellschaft entstehen? Wie soll Mali jemals so weit kommen, eine eigene Industrie zu entwickeln, deren Produkte auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig sind? Wie kann die Herrschaft der grandes familles durch eine Meritokratie abgelöst werden?
Ich frage mich seit langem, ob das Urübel nicht die überstürzte Entkolonilisierung in den sechziger Jahren war. Hätten Länder wie Mali nicht viel länger sich unter kolonialer Herrschaft entwickeln sollen; in dem Maß schrittweise Autonomie gewinnen, in dem das Land sich modernisierte; bis es schließlich reif für die Unabhängigkeit gewesen wäre?
Die Kolónialmächte ließen ihre Kolonien innerhalb eines Jahrzehnts fallen, weil ihnen klar war, daß sie "Nationale Befreiungskriege", wie sie von Moskau und Havanna aus überall in Afrika geschürt wurden, nicht würden gewinnen können. Die Engländer und die Franzosen haben das sehr scnnell verstanden; die Engländer nach der Erfahrung mit Mau-Mau in Kenya, die Franzosen nach der Erfahrung mit der FLN in Algerien. Die Portugiesen haben es lange nicht verstanden und sich dafür die Kriege in Mozambik und Angola eingehandelt.
Die Kolonialmächte hatten also keine Wahl. Dennoch war diese überstürzte Entkolonialsierung aus meiner Sicht ein Unglück für Afrika. Mich würde, lieber Diarra, interessieren, wie Sie das sehen.
einen Dank an Sie und Diarra (assoziert Cheick Modibo) für die hochinteressante Serie!
Zitat von Zettel im Beitrag #37Das war Mitte des 19. Jahrhunderts durchaus ein Fortschritt. Nur haben Marx und Engels das Kind mit dem Bad ausgeschüttet; und seither sind Scharen von Marxisten bemüht, die Wirkmächtigkeit von Ideen, von Religionen usw. hinwegzuerklären.
Ihrer Analyse ist nichts hinzuzufügen.
Die Erinnerung daran kann meines Erachtens auch allgemeine Methoden der Propaganda aufzeigen, nicht nur bei ausgewiesenen "Linken". Und dann scheint es mir, vermutlich wie bei anderen Religionen, einen "Knick" zu geben zwischen den "Axiomen" und der späteren Kirchenpolitik: Der von Ihnen angesprochene und durchaus diskutable methodische Ansatz eines besonderen Augenmerks für die materiellen Lebens- und Arbeitsverhältnisse.
Der, ebenfalls schon erwähnte Knick ist jedoch, daß dieses Prinzip überhaupt nicht durchgehalten wurde. (Nur rhetorisch in den stümperhaften Pamphleten; jeder aufmerksame Leser wird es früher wohl ähnlich empfunden haben).
Mich würde interessieren, wie das Verhalten Babies und Kleinkindern gegenüber im Vergleich zu dem bei uns hier ist. Wie wird erzogen, ab wann wird erzogen? In was für eine Welt wird ein Kind hineingeboren. Lebt es mehr draußen oder drinnen?
Als ich das erste Mal einen Afrikaner in einer Runde erzählen habe hören, fiel mir ein großer Unterschied zu der Stimme in unserer Kultur auf. Ist das verallgemeinerbar? Mein Onkel, Wahlheimat Südafrika, meint, ein Afrikaner, nach dem Weg gefragt und danach, wie weit es noch ist, antwortet einem Erschöpftem immer "Nicht weit, gleich bist du da, da hinten ist es schon" - auch wenn es noch weit ist. Er sagte auch, daß es unter den Afrikanern, die er kennt undenkbar ist, jemanden zu unterbrechen. Das ist sehr unhöflich.
Einmal habe ich auf dem Bahnhof in Brüssel eine afghanische Familie gesehen, der Einjährige fiel kopfüber von einer Bank, auf die er geklettert war. Ich weiß, wie Deutsche damit umgegangen wären. Trösten, ernst nehmen und so. Der Afghane nahm seinen Sohn hoch und redete ruhig mit ihm, es kam mir vor wie stilles ablenken, den Fokus nicht auf den Schreck und den Schmerz lenken. Verstanden habe ich aber nichts.
Und in Mali wird es auch anders sein.
Wie die Menschen miteiander umgehen, wie sie aufwachsen, im Vergleich zu hier. Wenn Sie darüber etwas schreiben, das wäre schön.
Politisch korrekt zu sein, ..., wäre, so zu tun, als könne man Hundekacke an der sauberen Seite anfassen Michael Robotham (Krimiautor)
Keinem Land der Welt sollte es erlaubt sein, ein anderes Land zu okkupieren und zu kolonialisieren! Die Kolonialzeit war daher meiner Überzeugung nach keine gute Zeit für Mali. (Nebenbei bemerkt: auch damals haben als einzige Ethnie die Tuareg massiv Widerstand geleistet: Hier wiederholt sich Geschichte!). Blicken wir zudem auf die unselige Beziehung zwischen dem Kongo und Belgien (nicht Kolonie sondern Privatbesitz des belg. Königs), dann wird mir jeder zustimmen. Unterhalb dieses Grundsatzes darf aber auch festgehalten werden, dass Mali in bestimmten Bereichen profitiert hat: einheitlich Sprache für 40 verschiedene Ethnien, neue Produktionsmethoden, massiver Ausbau der Infrastruktur u.v.m. Dass Mali heute überhaupt Reis und Erdnüsse anbauen kann, verdankt es der Kolonialzeit. Nicht zu vergessen: viele Franzosen kamen privat (!) nach Mali, um hier ihr Glück zu versuchen. Mit ihnen kamen Wissen und Fähigkeiten, die Mali sicher weitergebracht haben. Hier fand ein Wissens- und Technologietransfer statt, der heute vielfach fehlt. Daher ist es legitim zu überlegen, ob nicht ein gleitender Übergang besser gewesen wäre. Peter Scholl-Latour hat in seinem sehr guten Buch über diese Zeit ("Mord am großen Fluss") beschrieben, wie emotional aufgeladen diese Zeit war. Ich glaube daher, dass ein geordneter Rückzug im Sinne eines "Phase-out-Prozesses" nicht möglich gewesen wäre.
Die Frage, wie es weitergehen kann in Mali, kann ich auch nicht eindeutig beantworten. Ich weiß es nicht. Ich habe in Mali mit einer christlichen Mission gearbeitet, die seit über 25 Jahren in Mali tätig ist, im Projekt- und im Gemeindebereich. Beide Bereiche liegen in malischer Verantwortung und das bewährt sich gerade in der Krise. Keiner meiner deutschen Kollegen ist mehr vor Ort, die Arbeit läuft aber trotzdem weiter, auch in den Krisenregionen Mopti/Sévaré/Konna: Lebensmittel werden verteilt, die Gartenbauprojekte weiter betreut, die AIDS-Arbeit läuft weiter und die christlichen Gemeinden können weiter (wieder) Gottesdienste feiern, helfen und diakonisch tätig sein. Sie tun dies auf malische Art, ergänzt mit deutschem Know How (und der finanziellen Kontrolle aus Deutschland, wenn es sich um Spenden handelt). Wie man sieht, sind dafür nicht Millionen an Dollar nötig, sondern persönliche Begleitung, finanzielle Transparenz und dem festen Willen, es nicht besser machen zu wollen als die Malier selbst. Dies scheint mir ein Schlüssel für die Zukunft zu sein.
Zitat von Zettel im Beitrag #40Ich frage mich seit langem, ob das Urübel nicht die überstürzte Entkolonilisierung in den sechziger Jahren war. Hätten Länder wie Mali nicht viel länger sich unter kolonialer Herrschaft entwickeln sollen; in dem Maß schrittweise Autonomie gewinnen, in dem das Land sich modernisierte; bis es schließlich reif für die Unabhängigkeit gewesen wäre?
Oi, Zettel, gut dass Sie unter Pseudonym schreiben, das sind ja doppelplusungute Gedanken...
Als nächstes bringen Sie noch Verständnis für die Position von Ian Smith auf.
-- Defender la civilización consiste, ante todo, en protegerla del entusiasmo del hombre. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito
Wie gehen Malier miteinander um? Um diese Frage zu beantworten, müsste ich ein Buch schreiben. Kurz gesagt: respektvoller aber auch respektloser. Respektvoller: Kommen Erwachsene in einen Hof, stehen die Kinder auf und bieten ihnen einen Stuhl an und reichen ihnen einen Becher mit Wasser. Man grüßt sich noch, auch Fremde tun dies untereinander. Das Alter wird respektiert. Der Fremde ist willkommen, man lädt ihn gerne zu sich ein. Das Leben findet auf der Straße statt und ist bunt und lebendig. Wenn man einen Malier fragt, wie´s ihm geht, wird er erst einmal sagen: Alles Bestens! Natürlich stimmt das in den seltesten Fällen und ich habe es lange als "verlogen" empfunden, aber es erleichtert die Kommunikation ungemein, wenn man feste Begrüßungsformeln hat und nicht gleich mit den ganzen Problemen des Gegenübers konfrontiert wird. Das ist ein Zeichen der (Scham-)Kultur: Höflichkeit, Freundlichkeit, keine Schwäche zeigen aber auch niemanden auf dessen Schwäche aufmerksam machen. Aktionfilme und Alkoholkonsum sind übrigens kulturell erlaubte Hintertüren, durch die man mal gehen darf, um nicht immer nur höflich und freundlich sein zu müssen. Ich habe mich unter Maliern sehr wohl gefühlt, gerade auch als Ausländer, obwohl ich doch auch oft damit überfordert war, freundlich zu bleiben, selbst dann, als 50! Leute vor meiner Tür standen und mich um Lebensmittel gebeten haben.
Respektloser: meine Frau und ich haben am Beginn unserer Zeit in Mali ein Sprach- und Kulturpraktikum gemacht. Dafür haben wir vier Monate bei einer malischen Familie im Hof gelebt, in einem einfachen Lehmhaus ohne Strom und Wasser. Ein Abenteuer! Aber wir haben auch existentiell erlebt, wie Malier wirklich miteinander umgehen, wenn sonst keiner hinsieht. Der Hausherr, gläubiger Muslim, hatte drei Frauen. Eine war verstorben, eine kinderlos (seine Hauptfrau) und eine war für die gesamten Hausarbeiten zuständig. Der Umgang untereinander war geprägt von Neid, Misstrauen und Respektlosigkeit. Jeden Abend gab es Streit. Aber nach außen hat man "den Schein gewahrt". Jeder Nachbar wusste Bescheid, aber keiner hat öffentlich darüber geredet, damit der Hausherr sein Gesicht wahren konnte. Der Umgang des Hausherrn mit seiner ditten Frau hat mir innerlich weh getan, aber es wurde kulturell akzeptiert. Später, als wir in einem kleinen Dorf in der Nähe von Sévaré wohnten, kamne viele Frauen zu uns, deren Männer sich nicht ausreichend um sie gekümmert haben. Oft hatten diese Männer noch eine zweite Frau und das eine Einkommen reichte nicht für zwei Frauen, also musste die jeweils eine Frau irgendwie alleine klarkommen. Wie soll man so etwas nennen? Lieblosigkeit? Respektlosigkeit? Ich glaube noch nicht einmal, dass hier der Islam die Ursache war, denn ich habe viele sehr aufrechte und integre Moslems in Mali erlebt. Ich glaube, dass jede Gesellschaft gewisse Respektlosigkeiten zulässt.
Zitat von Diarra im Beitrag #43Keinem Land der Welt sollte es erlaubt sein, ein anderes Land zu okkupieren und zu kolonialisieren! ... Unterhalb dieses Grundsatzes darf aber auch festgehalten werden, dass Mali in bestimmten Bereichen profitiert hat: einheitlich Sprache für 40 verschiedene Ethnien, neue Produktionsmethoden, massiver Ausbau der Infrastruktur u.v.m. Dass Mali heute überhaupt Reis und Erdnüsse anbauen kann, verdankt es der Kolonialzeit.
Ehrlicherweise muss man aber zugestehen, dass diese Vorteile ohne gewaltsame Kolonialisierung nicht gekommen wären. Und dass kaum ein westliches Land in einem nicht-kolonialisierten Land investiert hätte. Ich bin auch kein Freund von Kolonialisierung, aber ohne sie wäre Afrika jetzt wahrscheinlich noch viel weiter zurück, auch wenn das dem Europäer des 21. Jahrhunderts unmöglich erscheint.
-- Defender la civilización consiste, ante todo, en protegerla del entusiasmo del hombre. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito
Zitat von Diarra im Beitrag #45Wenn man einen Malier fragt, wie´s ihm geht, wird er erst einmal sagen: Alles Bestens! Natürlich stimmt das in den seltesten Fällen und ich habe es lange als "verlogen" empfunden, aber es erleichtert die Kommunikation ungemein, wenn man feste Begrüßungsformeln hat und nicht gleich mit den ganzen Problemen des Gegenübers konfrontiert wird.
Exakt so sind ja auch US-Amerikaner. Und das wird ihnen von Europäern gerne als "oberflächlich" angekreidet.
-- Defender la civilización consiste, ante todo, en protegerla del entusiasmo del hombre. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito
Zitat von SkorpionDas ist der historische Materialismus, eine Theorie, die durchaus was hat.
Hm. Ich glaube, lieber Skorpion, sie hatte nur was für diejenigen, die die Geschichte als das Zu-sich-selbst-Kommen des Weltgeists ansahen.
Dagegen war es natürlich ein Fortschritt, auf die reale Welt hinzuweisen. Ansonsten ist der Historische Materialismus mit seinem abstrusen Geschichtsschema nach meinem Dafürhalten ebenso eine dumme Ideologie wie der Diamat. Kopfgeburten eines Egomanen, dem Millionen auf den Leim gegangen sind.
Das einfache ist mir lieber als das komplizierte. Ich mag Ockhams Razor. Die eurasischen Pferdchen waren domestizierbar. Die Zebras sind Stinkstiefel, mit denen man nichts anfangen kann. Die Domestizierung der Pferde eröffnete den Menschen ganz neue Erfahrungshorizonte, die den Bewohnern von Zebraland verschlossen geblieben sind. Es ist kein Fehler, das mit allen Konsequenzen zu würdigen.
Auf der anderen Seite ist es natürlich absurd, die Zivilisation zu einer Art geografischen Unfall abzuwerten. Vor tausend Jahren haben sich die Wikinger in Grönland festgesetzt und neben den ortsansässigen Eskimos eingerichtet. Dann ging das mittelalterliche Klimaoptimum zu Ende. Es wurde kälter. Die Eskimos haben unverdrossen ihr Ding gemacht. Die Wikinger sind ausgestorben. Herr Marx und Herr Diamond, haben Sie eine Erklärung? Eskimos und Wikinger lebten doch „unter den gleichen materiellen Bedingungen“, warum sind sie so unterschiedliche Wege gegangen?
Zitat von Diarra im Beitrag #43Keinem Land der Welt sollte es erlaubt sein, ein anderes Land zu okkupieren und zu kolonialisieren!
Wer aber hat die Macht, das zu verbieten? Seit es Staaten gibt, breiten sich die Mächtigen aus und unterwerfen die Schwachen. Staaten entstanden überhaupt erst dadurch, daß lokale Herrscher ihren Machtbereich erweiterten.
Ich habe in einem früheren Beitrag den Reisebericht von Gerhard Roth erwähnt, der 1865 bis 1867 durch die Sahara nach Lagos reiste, also östlich von Mali, und durch zahlreiche kleine Sultanate kam. Ähnlich dürfte es damals in Mali gewesen sein. Ohne die Kolonialisierung gäbe es, so scheint mir, kein Mali, sondern eine Vielzahl solcher Sultanate.
Es ist nun einmal so, daß die heutigen Staaten mit wenigen Ausnahmen durch Unterwerfung entstanden; selten durch Zusammenschluß, wie im Fall der USA.
Zitat von Diarra im Beitrag #43Die Kolonialzeit war daher meiner Überzeugung nach keine gute Zeit für Mali.
Ja, das denke ich auch. Man ging teilweise barbarisch mit den "Eingeborenen" um; ihre Menschenwürde wurde oft mit Füßen getreten. Das war das 19. Jahrhundert. Aber im 20. Jahrhundert begann sich ja vieles zu ändern. Vor allem die Franzosen und die Engländer - weniger die Portugiesen und Holländer, gar nicht die Belgier - entwickelten die Infrastruktur in den Kolonien und förderten die einheimische Elite.
Das hätte meines Erachtens zu einem allmählichen Übergang in die Selbständigkeit führen können; oder auch zu der freiwilligen Entscheidung, beim Mutterland zu bleiben (keines der französischen TOM und DOM will heute selbständig werden; es geht den Menschen dort ungleich besser als in den selbständig gewordenen Kolonien).
Zitat von Diarra im Beitrag #43Peter Scholl-Latour hat in seinem sehr guten Buch über diese Zeit ("Mord am großen Fluss") beschrieben, wie emotional aufgeladen diese Zeit war. Ich glaube daher, dass ein geordneter Rückzug im Sinne eines "Phase-out-Prozesses" nicht möglich gewesen wäre.
Ja, das sehe ich auch so. Und es waren ja nicht nur die Emotionen; es waren massive politische Interessen.
Heute, nach dem Ende des real existierenden Sozialismus, vergißt man oft, wie gut die Chancen der Sowjets in den sechziger und siebziger Jahren waren, die Weltrevolution hinzubekommen. Es gab "nationale Befreiungsbewegungen" weltweit; so gut wie alle sozialistisch und von Moskau und Havanna mit Geld, Waffen und (im Fall Cubas) auch Truppen unterstützt. Es ging damals nicht um die Befreiung von kolonialer Unterdrückung, sondern darum, Afrika, Asien und Lateinamerika sozialistisch zu machen.
Zitat von Diarra im Beitrag #43Wie man sieht, sind dafür nicht Millionen an Dollar nötig, sondern persönliche Begleitung, finanzielle Transparenz und dem festen Willen, es nicht besser machen zu wollen als die Malier selbst. Dies scheint mir ein Schlüssel für die Zukunft zu sein.
Ohne das wird es sicher nicht gehen, das scheint auch mir so zu sein. Aber wie, lieber Diarra, will man damit das Land in der globalen Konkurrenz wettbewerbsfähig machen? Sie schreiben von Traktoren, die von den Maliern nicht repariert werden können. Wie soll dort eine Industrie entstehen, die hochwertige Produkte herstellt? Zu konkurrenzfähigen Preisen?
Es geht ja längst nicht mehr um koloniale oder postkoloniale Ausbeutung. Was man einmal die "Dritte Welt" nannte, entwickelt sich völlig unterschiedlich. Die Länder der alten Hochkulturen in Asien stürmen nach vorn. Die Länder Südamerikas, in die sich die europäische Kultur ausgebreitet hat, sind im Begriff, ihnen zu folgen. Aber was wird aus Afrika?
Zitat von Diarra im Beitrag #43Keinem Land der Welt sollte es erlaubt sein, ein anderes Land zu okkupieren und zu kolonialisieren! Die Kolonialzeit war daher meiner Überzeugung nach keine gute Zeit für Mali. (Nebenbei bemerkt: auch damals haben als einzige Ethnie die Tuareg massiv Widerstand geleistet: Hier wiederholt sich Geschichte!). Blicken wir zudem auf die unselige Beziehung zwischen dem Kongo und Belgien (nicht Kolonie sondern Privatbesitz des belg. Königs), dann wird mir jeder zustimmen.
Ich nicht. Ich werde äußerst misstrauisch, wenn für eine „gesellschaftliches Problem“, einen angeblich flächendeckenden Missstand, immer wieder das gleiche „Beispiel“ angeführt wird. Die Zustände in Belgisch-Kongo waren temporär katastrophal. Das ist bekannt und dokumentiert. Aber wenn wieder und wieder und wieder für die Schrecken der Kolonisation Belgisch-Kongo, Belgisch-Kongo und Belgisch-Kongo aufgeführt wird, dann kann es außerhalb des Herrschaftsgebiets von König Leopold nicht so schlecht gewesen sein.
Nach Amerika brachten die Kolonisatoren die Pocken. Nach Afrika brachten sie Antibiotika und Alphabet. Hexenverbrennungen, Sklaverei und Menschenopfer haben die Kolonialherren verboten, genauso wie die mörderischen Stammeskriege. Stattdessen wurden Bürgerrechte und Gleichheit vor dem Gesetz eingeführt. Ich kann beim besten Willen nicht sehen, dass die Kolonisierung Afrikas für den Kontinent negativ gewesen wäre. „Bringt den weißen Mann zurück“ titelte vor ein paar Jahren die ZEIT. Und der Autor (Bartholomäus Grill) hat die Headline nicht nur so als Eye-Catcher dahergeschrieben.
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