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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 29 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Seiten 1 | 2
Zettel Offline




Beiträge: 20.200

24.10.2007 23:27
Gedanken zu Frankreich (19): Eine heiße Debatte, eine kühle Strategie Antworten

Ein Beitrag über zwei aktuelle Themen der französischen Politik.

Das eine - DNA-Tests als Möglichkeit, beim Familiennachzug die Verwandtschaft nachzuweisen - erregt die Gemüter und hat zu einer Diskussion geführt, deren Irrationalität nicht recht zur clarté französischen Denkens paßt.

Das andere wird in Frankreich kaum diskutiert, hat aber nach meinem Urteil die weit größere Bedeutung: Sarkozys Plan für eine Union der Mittelmeer-Staaten.

Frankfurter Offline



Beiträge: 233

25.10.2007 04:10
#2 RE: Gedanken zu Frankreich (19): Eine heiße Debatte, eine kühle Strategie Antworten

Was den Franzosen anscheinend an clarté fehlt, wird durch ein Übermass an megalomanie kompensiert. Die Franzosen wollen es einfach nicht wahrhaben, dass sie seit Ende des 1. Weltkrieges keine Grossmacht mehr sind.

Erst haben sie versucht die EU als Vehikel für ihre Grossmachtambitionen zu benutzen. Als nach der Erweiterung der EU dies auch nicht mehr funktioniert, haben sie sich jetzt dieses Mittelmeeranrainer Projekt ausgedacht, natürlich unter französischer Führung. Wie soll denn dieses Projekt funktionieren?
Vermutlich so:
Auf der einen Seite ein nicht endender Geldfluss von Nord nach Süd in ein Fass ohne Boden. Auf der anderen Seite ein nicht endender Zustrom von ungebildeten Migranten von Süd nach Nord. Haben die Franzosen nicht schon genug Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger? Verfügen sie über unbegrenzte Mittel? Oder sollen das die Nichtanrainerstaaten wie Deutschland wieder bezahlen?

Marian Wirth Offline



Beiträge: 60

25.10.2007 08:10
#3 RE: Gedanken zu Frankreich (19): Eine heiße Debatte, eine kühle Strategie Antworten

Das ist ja klar, dass bei der Kombination "Ausländer" + "Gentest" alle Beißreflexe aktiviert werden.

In Antwort auf:
Und zwar dann, wenn sie nicht auf andere Art zweifelsfrei nachgewiesen werden kann

Damit diese Regelung sinnvoll ist, müsste davon auch der zweifelsfreie Nachweis erfasst sein, dass das betreffende Kind zum Familienverband gehört, denn im Fall von Adoptionen bzw. Kindspflegschaften sowie Patchwork-Familien kann man sich einen Gentest von vorneherein schenken.

Im übrigen ist ja "zweifelsfrei" ein unbestimmter Rechtsbegriff, der der Auslegung fähig und auch bedürftig ist. In der Praxis wird der zuständige Sachbearbeiter wohl nur einen Gentest vorschlagen, wenn er selbst nicht unerhebliche und nicht auf anderem Wege ausräumbare Zweifel hat.
Solange der Gentest auf freiwilliger Basis erfolgt, habe ich damit keine größeren Probleme.

In Antwort auf:
In der jetzt verabschiedeten Fassung ist nur noch die Mutter berechtigt, einen DNA-Test zu beantragen.

Inwiefern soll das denn den Familienfrieden retten? Welche den Familienfrieden gefährdende Fallkonstellation will Bayrou damit ausschließen?
In Antwort auf:
Am Ende solle eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Union der Mittelmeer- Länder stehen.

Wie soll das denn im Einklang mit dem EU-Recht bewerkstelligt werden?

Ich bin ja grundsätzlich für alles zu haben, was die EU destabilisiert und so langfristig zu deren Auflösung und Ersetzung durch ein System transnationaler Interessen-Module führt (den Begriff habe ich gerade eben erfunden, also fragt mich jetzt bitte nicht, was genau ich darunter verstehe) - aber ich kann mir keinen wie auch immer gearteten Zusammenschluss von Staaten vorstellen, von denen eines ein EU-Mitglied ist und die anderen nicht. Es sei denn, die betreffenden Staaten treffen sich einmal jährlich auf Schloß Rambouillet, um vierzigseitige Kommuniqués ohne jede Wirkung zu verabschieden.

Was wird sich Nicolas als nächstes einfallen lassen? Einen trilateralen Verteidigungspakt mit Österreich und der Schweiz vielleicht?

Frankfurter Offline



Beiträge: 233

25.10.2007 11:28
#4 RE: Gedanken zu Frankreich (19): Eine heiße Debatte, eine kühle Strategie Antworten

Was den DNS-Test angeht, habe ich folgende Aussage einer französischen Gruppe in einer englisch-sprachigen Tageszeitung gelesen (übersetzt aus dem Englischen). Die Bewegung gegen Rassismus und für die Freundschaft zwischen den Völkern verglich den DNS-Test mit der Diskrimierung der Juden während des Vichy Regimes. "Es wird dann das zweite Mal in Frankreich sein, dass die Biologie benutzt wird, um rassistische diskriminierende Ziele zu verfolgen."

Man hat anscheinend jeden Masstab verloren. Eine Massnahme, die im schlimmsten Fall zur Ablehnung eines Einreisesantrags führt, wird mit Massnahmen verglichen, als Menschen in Güterwagons gesetzt wurden, um in Todeslagern ermordet zu werden. Um es mal drastisch mit Karl Kraus zu sagen: "Man kann gar nicht so viel essen, wie man kotzen möchte".

Übrigens die Ablehnung von Visumsanträgen von Antragstellern aus Nord- und Westafrika ist heute schon an der Tagesordnung. Es ist sehr schwer für Staatsbürger dieser Länder ein Visum nicht nur für Frankreich zu erlangen.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

25.10.2007 16:25
#5 Weltmacht Frankreich? Mittelmeer-Macht Frankreich! Antworten

Lieber Frankfurter,

Zitat von Frankfurter
Was den Franzosen anscheinend an clarté fehlt, wird durch ein Übermass an megalomanie kompensiert. Die Franzosen wollen es einfach nicht wahrhaben, dass sie seit Ende des 1. Weltkrieges keine Grossmacht mehr sind.

Das hat fast wörtlich Adenauer in einem Brief Mitte der fünfziger Jahre geschrieben (ich lese gerade seinen Briefwechsel). Er hat das als Hauptgrund dafür angeführt, daß er eine französische Zustimmung zur EVG für unwahrscheinlich hielt.

Inzwischen dürfte das allerdings nur noch für eine kleine Minderheit zutreffen. Das Umdenken begann in Frankreich mit dem Verlust Indochinas nach der Schlacht von Dien Bien Phu, und es war im wesentlichen abgeschlossen, nachdem Algerien in die Unabhängigkeit entlassen worden war.

Was ja kein anderer als die Verkörperung der Größe Frankreichs, Charles de Gaulle, in einem realpolitischen Kraftakt hinbekommen hat.

Danach gab es ein letztes Aufbäumen in Gestalt der OAS und anderer "Widerstandsorganisationen". Sogar alte de-Gaulle-Getreue wie Soustelle und Bidault wechselten ins Lager dieses "Widerstands".

Aber es half ja nichts. Die Weltmacht Frankreich war passée. Und seither ist das Bemühen der französischen Außenpolitik darauf gerichtet, wenigstens in Europa Vormacht zu sein. Mindestens diese Position mit Deutschland "auf Augenhöhe" zu teilen.
Zitat von Frankfurter
Wie soll denn dieses Projekt funktionieren?
Vermutlich so:
Auf der einen Seite ein nicht endender Geldfluss von Nord nach Süd in ein Fass ohne Boden. Auf der anderen Seite ein nicht endender Zustrom von ungebildeten Migranten von Süd nach Nord.

Ich sehe das erheblich positiver, lieber Frankfurter.

Natürlich hat Sarkozy die Interessen Frankreichs im Auge. Aber diese fallen hier, scheint mir, mit den gesamteuropäischen Interessen zusammen.

Im Maghreb findet seit der Unabhängigkeit so etwas wie ein Kulturkampf statt. Die Ober- und Mittelschicht - auch die der FLN in Algerien - war und ist europäisch erzogen. Viele sprechen französisch besser oder so gut wie arabisch. Man kann noch heute einen französischsprachigen marokkanischen TV-Sender empfangen. Die (im Augenblick weitgehend besiegten) Extremisten wie die FIS (Front Islamique du Salut - Islamistische Heilsfront; bezeichnenderweise selbst der Name französisch) wollen den Maghreb natürlich arabisieren.

Sarkozys Mittelmeer- Union (die er dem Maghreb als riesiges Entwicklungsprogramm, vergleichbar dem Marshall-Plan, offeriert) ist, soweit ich sehe, die bisher einzige Alternative zu diesem Ziel der Extremisten. Und vielleicht die einzige Chance, den Maghreb (und vielleicht sogar den südöstlichen Mittelmeerraum) vor den Islamisten zu retten.

Herzlich, Zettel

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

25.10.2007 16:54
#6 RE: Gedanken zu Frankreich (19): Eine heiße Debatte, eine kühle Strategie Antworten

Lieber Marian Wirth,

Zitat von Marian Wirth
Damit diese Regelung sinnvoll ist, müsste davon auch der zweifelsfreie Nachweis erfasst sein, dass das betreffende Kind zum Familienverband gehört, denn im Fall von Adoptionen bzw. Kindspflegschaften sowie Patchwork-Familien kann man sich einen Gentest von vorneherein schenken.

Ja. Er soll ja nicht die Regel sein, sondern eben nur eines der möglichen Beweismittel.
Zitat von Marian Wirth
Im übrigen ist ja "zweifelsfrei" ein unbestimmter Rechtsbegriff, der der Auslegung fähig und auch bedürftig ist.

Ich habe noch einmal den genauen Text nachgesehen. Die betreffende Passage lautet, ein solcher Gentest sei möglich,
en cas d'inexistence de l'acte de l'état civil, ou lorsqu'il a été informé par les agents diplomatiques ou consulaires de l'existence d'un doute sérieux sur l'authenticité de celui-ci (...)

wenn es keinen Personenstandsnachweis gibt, oder wenn er [der Antragsteller] von den Botschafts- oder Konsularbeamten [Frankreichs] darüber informiert wurde, daß es erhebliche Zweifel an dessen Echtheit gibt (...)

Zitat von Marian Wirth
In der Praxis wird der zuständige Sachbearbeiter wohl nur einen Gentest vorschlagen, wenn er selbst nicht unerhebliche und nicht auf anderem Wege ausräumbare Zweifel hat.

Exakt so sieht es der Gesetzestext vor.
Zitat von Marian Wirth
In Antwort auf:
In der jetzt verabschiedeten Fassung ist nur noch die Mutter berechtigt, einen DNA-Test zu beantragen.

Inwiefern soll das denn den Familienfrieden retten? Welche den Familienfrieden gefährdende Fallkonstellation will Bayrou damit ausschließen?

Naja, Bayrou hat argumentiert: Oft ist ein Familienvater überzeugt, er sei auch der biologische Vater seiner Kinder. Jetzt wird ein solcher Test gemacht, und ... surprise, surprise.

Jetzt ist die Regelung so, daß nicht nur die Mutter allein den Test beantragen darf, sondern daß auch nur die DNA-Übereinstimmung zwischen ihr und dem Kind geprüft wird. Der Vater bleibt aus dem Spiel.
Zitat von Marian Wirth
In Antwort auf:
Am Ende solle eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Union der Mittelmeer- Länder stehen.

Wie soll das denn im Einklang mit dem EU-Recht bewerkstelligt werden?
Ich bin ja grundsätzlich für alles zu haben, was die EU destabilisiert und so langfristig zu deren Auflösung und Ersetzung durch ein System transnationaler Interessen-Module führt (den Begriff habe ich gerade eben erfunden, also fragt mich jetzt bitte nicht, was genau ich darunter verstehe) - aber ich kann mir keinen wie auch immer gearteten Zusammenschluss von Staaten vorstellen, von denen eines ein EU-Mitglied ist und die anderen nicht.

Warum soll nicht ein EU-Mitglied zugleich Mitglied einer anderen Staatengemeinschaft sein? Zunächst will Sarkozy ja nur einen lockeren Zusammenschluß à la Montanunion. Dann wird man weitersehen. Vielleicht kann es ja eine Art Dach über den beiden Gemeinschaften geben.

Sie merken, lieber Marian, daß ich diesem Plan eher positiv gegenüberstehe. Übrigens noch aus einem weiteren Grund: So, wie Frankreich/Algerien die dominierenden Mächte im westlichen Mittelmeer wären, wäre das natürlich die Türkei im östlichen. Für die Türkei könnte das eine attraktive Alternative zur EU-Mitgliedschaft sein, die Sarkozy mit allen Mitteln verhindern möchte.

Übrigens ist der Wechsel von Chirac zu Sarkozy auch in dieser Hinsicht eine große Verbesserung.

Herzlich, Zettel

Frankfurter Offline



Beiträge: 233

28.10.2007 18:56
#7 RE: Gedanken zu Frankreich (19): Eine heiße Debatte, eine kühle Strategie Antworten
"Übrigens ist der Wechsel von Chirac zu Sarkozy auch in dieser Hinsicht eine große Verbesserung". Viel schlechter als Chirac kann man es eigentlich kaum noch machen. Meiner Ansicht nach war er der unfähigste Präsident der 5. Republik. Er wäre vermutlich auch nicht wiedergewählt worden, wäre im 2. Wahlgang nicht ausgerechnet Le Pen sein Gegenkandidat gewesen.

Über seine Leistungen in der Innenpolitik kann ich mich nicht kompetent äussern. Aber seine Aussenpolitik war ein einziges Fiasko. Nicht nur im Hinblick auf seine USA-Politik, wo "Jack the Rat", wie ihn seine amerikanischen Freunde liebevoll nennen, wie ein Elefant im Porzelanladen agierte.

Ich denke auch an seine Afrika-Politik. Noch zu Zeiten Mitterands lief zumindest in Zentral- und Westafrika nichts ohne Frankreich. Auch hier hat Chirac zusammen mit De Villepin es geschafft, Frankreich zu einer "Quantité négligeable" zu machen. Ich denke nur an das Debakel in der Elfenbeinküste.

Ich denke Talleyrand hat im Grab rotiert.
Marian Wirth Offline



Beiträge: 60

29.11.2007 21:48
#8 RE: Gedanken zu Frankreich (19): Eine heiße Debatte, eine kühle Strategie Antworten

Hier noch zwei Artikel zum Thema. Ich habe beide nicht gelesen und kann also nicht sagen, ob da etwas Neues oder Interessantes drinsteht.

Madrid et Berlin sceptiques sur le projet d'Union méditerranéenne

L’Union de la Méditerranée et les réticences de l’Allemagne

Meine Meinung bleibt: Entweder mit EU-Recht nicht vereinbar - oder völlig wirkungslos.

Und da für die Beantwortung Ihrer Frage, warum eine solche Union nicht mit dem EU-Recht vereinbar wäre, doch ein detaillierter Ausflug nötig wäre (dem ich als EU-Gegner mich ungern unterziehen möchte), antworte ich lieber mal mit zwei Gegenfragen: Was soll denn eine solche Union regeln? Welche Verbesserungen für Frankreich, die nicht zugleich Interessen der EU massiv betreffen soll eine solche Union denn bringen?

Ihre Erläuterungen in Bezug auf das dahinterstehende Kalkül leuchten mir zwar ein, aber die Integration der EU ist schon zu weit fortgeschritten, als dass sich diese Strategie noch umsetzen ließe. Sarkozy kommt ein paar Jahrzehnte zu spät.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

30.11.2007 00:55
#9 RE: Gedanken zu Frankreich (19): Eine heiße Debatte, eine kühle Strategie Antworten

Lieber Marian Wirth,

Zitat von Marian Wirth
Hier noch zwei Artikel zum Thema. Ich habe beide nicht gelesen und kann also nicht sagen, ob da etwas Neues oder Interessantes drinsteht.

Interessant fand ich den in Le Monde von Daniel Vernet, der etwas von Europapolitik versteht.

Er weist vor allem auf die Vorbehalte Madrids hin und darauf, daß es ja schon (was mir neu gewesen war) Euromed gebe, eine EU-Initiative Richtung Mittelmeer, irgendwann in Barcelona beschlossen.

Daß die Spanier sich nicht mit der Idee Sarkozys anfreunden können, liegt nahe. Denn in Anbetracht der ausgezeichneten Beziehungen Frankreichs zum Maghreb würden sie dann ja sozusagen von Frankreich umarmt werden (man könnte auch sagen: in die Zange genommen).

Und Deutschland? Man wird im AA ja sehen, daß Sarkozy damit seine Stellung in der EU in der Rivalität zu Deutschland erheblich stärken würde, weil es eben auf zwei Hochzeiten tanzen würde; das hatte ich ja, glaube ich, schon einmal zu erläutern versucht.

Trotzdem, lieber Marian Wirth, habe ich Sympathie für Sarkozys Initiative. Aus den auch schon genannten Gründen: Weil es in den nächsten Jahren, vielleicht Jahrzehnten einen Kampf zwischen den Islamisten und den Fortschrittlichen um den Maghreb geben wird; die Mittelmeer-Union würde die Fortschrittlichen außerordentlich stärken. Und weil diese Union vielleicht eine Möglichkeit bietet, die Türkei aus Europa herauszuhalten.

Und da das im deutschen noch viel mehr als im französischen Interesse ist, finde ich Sarkozys Plan gut für Deutschland.
Zitat von Marian Wirth
Und da für die Beantwortung Ihrer Frage, warum eine solche Union nicht mit dem EU-Recht vereinbar wäre, doch ein detaillierter Ausflug nötig wäre (dem ich als EU-Gegner mich ungern unterziehen möchte), antworte ich lieber mal mit zwei Gegenfragen: Was soll denn eine solche Union regeln? Welche Verbesserungen für Frankreich, die nicht zugleich Interessen der EU massiv betreffen soll eine solche Union denn bringen?

Das habe ich oben zu beantworten versucht. Was sie regeln soll, dazu schreibt Vernet etwas; und ich habe es damals auch schon referiert: Zunächst wirtschaftliche Zusammenarbeit, wie bei der Montanunion. Und dann - je nach dem, was machbar ist - politische Vereinbarungen.

Ich denke, Sarkozy hat Recht, wenn er das noch im Dunklen läßt. Denn man kann es - siehe Europa - ja nicht planen. Niemand hat die EU so gewollt, wie sie heute geworden ist. Adenauer würden sich die Nackenhaare sträuben, wenn er sie sehen könnte.
Zitat von Marian Wirth
Sarkozy kommt ein paar Jahrzehnte zu spät.

Das hängt davon, wie die EU sich entwickelt. Noch ist ja ganz offen, ob es ein Europa der Vaterländer wird oder ein Bundesstaat.

Herzlich, Zettel

PS: Lieber Marian Wirth, ich freue mich immer, wenn jemand ein schon etwas zurückliegendes Thema wieder aufnimmt; zumal so kompetent, wie Sie das jetzt getan haben.

Denn die Struktur dieses Forums bietet ja die Möglichkeit, schnell auch auf ältere Threads zurückzugreifen. Ich habe mir eigentlich vorgenommen, das selbst auch mehr zu nutzen, aber dann schiebt sich immer etwas Aktuelleres davor.

M.Schneider Offline



Beiträge: 672

30.11.2007 09:47
#10 RE: Gedanken zu Frankreich (19): Eine heiße Debatte, eine kühle Strategie Antworten



Lieber Zettel

Dieser Diskussionspfad war ja schon etwas älter und somit sind wir heute etwas weiter, insbesondere in der Beurteilung von Herrn Sarkozy.
Ich gebe der Mittelmeer- Union aus zwei Gründen keine Chance.

Grund eins:
Herrn Sarkozy ist, diese Meinung hat sich verfestigt, genauso ein Egomane wie Altkanzler Schröder. Sarkozy ist permanent nur getrieben sich selber darzustellen und sein eigenes Ego zu polieren. Daraus folgt, dass er diese Idee mit der Mittelmeerunion entwickelt hat um dort den Chef spielen zu können.

Genau das werden aber insbesondere die in der EU organisierten Länder kategorisch ablehnen. Auch die Türkei wird es kategorisch ablehnen, gleich aus zwei Gründen, zum einen ist Frankreich ein erklärter Gegner der Mitgliedschaft der Türkei in der EU, das weiß die Türkei und deshalb wird sie Frankreich auf keinen Fall unterstützen. Zum zweiten will die Türkei erste Klasse in die EU und nicht zweite Klasse in eine Mittelmeerunion. Es wäre für die Türkei sogar noch fataler, würde sie in eine solche Mittelmeerunion eintreten, dann wäre wahrscheinlich die Tür zur EU geschlossen, weil dieses Ansinnen von Gegnern der Türkei damit abgewimmelt würde zu sagen, was wollt ihr denn, Ihr seid doch schon in der Mittelmeerunion.

Die einzigen die also möglicherweise übrig bleiben sind die nordafrikanischen Staaten. Damit alleine ist aber kein Start zu machen.

Grund zwei:
Die Gründung jeder Union benötigt Geld, sehr viel Geld. Wer bitteschön soll dieses Geld aufbringen. Frankreich auf keinen Fall, die Wirtschaftslage Frankreichs scheint was man hört, sehr angespannt zu sein. Ein Land alleine kann eine solche Union ohnehin nicht finanzieren. Die anderen Länder werden aber auch nicht das geringste Interesse haben, zusätzliche Ausgaben zu haben, sie haben schon Ausgaben für die EU, gerade Länder wie Spanien Italien und Griechenland sind krampfhaft damit befasst, mehr Geld aus der EU zurück zu bekommen als sie einzahlen. Die werden einen Teufel tun und einer Mittelmeerunion beizutreten, in die sie erst recht nur einzahlen.

Nein lieber Zettel, diesem Plan gebe ich keine Chance.

Wünschenswert wäre es auch nicht, wünschenswert wäre, wenn die EU bessere Handelsbeziehungen zu den nordafrikanischen und vorderasiatischen Staaten aufbauen würde, um sie damit politisch besser einzubinden.
Jedenfalls würde ich das aus Sicht der EU sagen, als derzeitiger eher Gegner der EU wegen ihrer Bevormundungen, würde ich allen andern Staaten eher raten, haltet euch von dem Moloch EU fern, sonst seit Ihr auch irgendwann nicht mehr Herr im eigenen Haus.

Herzlich M. Schneider

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

30.11.2007 13:02
#11 Sarkozys Ego; Bonaparte, Bismarck, de Gaulle, Churchill Antworten

Zitat von M.Schneider
Herrn Sarkozy ist, diese Meinung hat sich verfestigt, genauso ein Egomane wie Altkanzler Schröder. Sarkozy ist permanent nur getrieben sich selber darzustellen und sein eigenes Ego zu polieren. Daraus folgt, dass er diese Idee mit der Mittelmeerunion entwickelt hat um dort den Chef spielen zu können.

Sie charakterisieren ihn schon richtig, lieber M. Schneider. Aber nicht ganz. Was einen guten Politiker, was den guten Staatsmann auszeichnet, ist, daß er seine persönlichen Ziele mit denen seines Lands, vielleicht einer übergeordneten Gemeinschaft verbindet.

Bonaparte war ein Egomane. Bismarck war ein gewaltiger Egomane, Churchill war es, de Gaulle war es. Sie haben alle Großes geleistet.

Bonaparte ist gescheitert, weil am Ende seine Egomanie ihn die Realität aus den Augen verlieren ließ. Er wollte der Kaiser Europas werden; und das war eine Nummer zu groß selbst für ein politisches und militärisches Genie wie ihn. Insofern ist es ihm gegangen wie Hitler; auch wenn Bonaparte in fast jeder anderen Hinsicht das Gegenteil von Hitler war. Wo er herrschte, da breiteten sich Zivilisation, Wissenschaft, Bildung aus; nicht Terror und finstere Ideologie.

Aber die anderen Genannten hatten dieses Augenmaß, das Bonaparte fehlte. Jedenfalls in reifen Jahren. Bismarck und Churchill waren in ihrer Jugend "wilde", unberechenbare Gesellen, die sozusagen nicht wußten, wohin mit ihrem Ehrgeiz, ihrem Tatendrang. Bismarck wurde durch seine Zeit als Gesandter in Frankfurt und als Botschafter in St. Petersburg zur Vernunft und Disziplin gebracht; Churchill durch seine Zeit als Erster Lord der Admiralität und in anderen Positionen im Ersten Weltkrieg. de Gaulle war zwar nicht ein so ungebändigter Junger Mann wie diese beiden, aber er wandelte sich vom glühenden Nationalisten zum Realpolitier, der Algerien gehen ließ und sich mit Deutschland versöhnte.

Es könnte sein - es muß nicht -, daß Sarkozy in seiner Entwicklung einen ähnlichen Weg geht, wenn er auch vielleicht nicht den Rang der Genannten erreicht; das wissen wir ja noch nicht. Jedenfalls scheint mir seine Egomanie kein Argument zu sein, daß das was er in der Mittelmeerzone anstrebt, gegen die französischen oder gegen die deutschen Interessen gerichtet wäre.

Herzlich, Zettel

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

30.11.2007 13:21
#12 Mittelmeer-Union, Türkei, Nordafrika Antworten

Lieber M. Schneider,

Zitat von M.Schneider
Auch die Türkei wird es kategorisch ablehnen, gleich aus zwei Gründen, zum einen ist Frankreich ein erklärter Gegner der Mitgliedschaft der Türkei in der EU, das weiß die Türkei und deshalb wird sie Frankreich auf keinen Fall unterstützen. Zum zweiten will die Türkei erste Klasse in die EU und nicht zweite Klasse in eine Mittelmeerunion.

Die Türkei hat, geopolitisch gesehen, mehrere Optionen. Alle hängen mit dem Osmanischen Reich zusammen, das ja keineswegs aus den Köpfen von Leuten wie Erdogan verschwunden ist.

Sie kann sich erstens, wie Erdogan das im Augenblick anstrebt, nach Europa orientieren. Das Ziel ist dann, Vormacht im einstigen europäischen Teil des Osmanischen Reichs zu werden - also, grob gesagt, von Bosnien bis nach Bulgarien.

Eine zweite Option für die Türkei ist es, die jetzt schon bestehende Vormachtstellung unter den Turkvölkern auszubauen, sich also nach Nordosten hin zu orientieren. Das ist durchaus attraktiv; vor allem in Anbetracht der Bodenschätze in dieser Region.

Und drittens hat die Türkei die Option, sich in Richtung Mittelmeer zu orientieren. Das würde zum Teil die europäische Option einschließen, aber zugleich ein stärkeres türkisches Engagement auch bei den östlichen und südlichen Anrainern des Mittelmeers einschließen. Auch das waren ja Teile des Osmanischen Reichs, bis hin nach Tunis.

Ich schreibe das, lieber M. Schneider, jetzt a bisserl vereinfachend. Denn natürlich kann die Türkei versuchen, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen. Jedenfalls würde ihre Sarkozys Mittelmeer-Union einen Weg nach Südwesten öffnen.
Zitat von M.Schneider
Die Gründung jeder Union benötigt Geld, sehr viel Geld. Wer bitteschön soll dieses Geld aufbringen. Frankreich auf keinen Fall, die Wirtschaftslage Frankreichs scheint was man hört, sehr angespannt zu sein.

Frankreich holt jetzt das nach, was in den meisten anderen Ländern Westeuropas schon stattgefunden hat: Neoliberale Reformen.

In mancherlei Hinsicht hat Frankreich sogar bessere Voraussetzungen als Deutschland, sich in Zukunft wirtschaftlich gut zu entwickeln: Es bildet mehr Ingenieure aus; die Öffentlichkeit steht Wissenschaft und Technik positiver gegenüber; es hat eine exzellente Atomindustrie. Auch die Informatik ist, soweit ich sehe, der deutschen mindestens ebenbürtig.

Und eine Mittelmeer-Union würde ja - wie auch die diversen Erweiterungen der EU - nicht nur Geld kosten, sondern auch Geld bringen; langfristig sogar weit mehr, als man investiert.

Herzlich, Zettel

M.Schneider Offline



Beiträge: 672

30.11.2007 13:58
#13 RE: Sarkozys Ego; Bonaparte, Bismarck, de Gaulle, Churchill Antworten

Lieber Zettel

Jedenfalls scheint mir seine Egomanie kein Argument zu sein, daß das was er in der Mittelmeerzone anstrebt, gegen die französischen oder gegen die deut-schen Interessen gerichtet wäre.

Nun, das hab ich ja auch mit keinem Wort gesagt, meine Aussage war ja nur, dass sein Interesse mehr persönlicher als weltpolitischer Natur ist.

Allerdings ist ihr Gedanke durchaus berechtigt. Französische Politik wurde immer von dem Grundsatz getragen, was schlecht ist für Deutschland ist gut für Frankreich.
Formuliert hat dies mal ein Franzose, ich konnte leider nicht mehr finden wer das war.

Wie aber auch immer, auch heute noch bestimmt französische Politik dieser Grundsatz.
Man sieht es auch in der EU, wenn es drauf ankommt, ist von der ewig beschworenen Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland auf französischer Seite nichts mehr zu finden, dann zählen einzig französische Interessen.

Das war übrigens auch sehr gut zu sehen an der unrühmlichen Rolle die der damalige Mitterrand spielte, als er die Wiedervereinigung in letzter Sekunde persönlich versuchte bei Gorbatschow zu verhindern. (Und wenn er sie nicht hätte verhindern können, dann wollte er Deutschland bestimmte Auflagen diktieren.)

So gesehen könnte das Interesse von Sarkozy auch noch einem solchen Grundsatz folgen, durchaus mit der Zielrichtung Deutschland, nämlich sich größeres Gewicht gegenüber Deutschland zu verschaffen.

Herzlich M. Schneider


Zettel Offline




Beiträge: 20.200

30.11.2007 14:26
#14 Deutschland und Frankreich Antworten

Zitat von M.Schneider
Französische Politik wurde immer von dem Grundsatz getragen, was schlecht ist für Deutschland ist gut für Frankreich.

Dem widerspreche ich entschieden, lieber M. Schneider. Ich glaube mich ja in Frankreich a bisserl auszukennen und kann diesen Gedanken - der gewiß einmal der Gedanke Clemenceaus gewesen ist - wirklich dort nicht mehr finden.

Dafür sind sowohl Frankreich als auch Deutschland durch zwei Weltkriege zu sehr gebeutelt worden. Dazu ist es in beiden Ländern zu offensichtlich geworden, daß Europa nur gemeinsam die Stärke haben kann, um gegen die USA, gegen China, gegen Japan zu bestehen,

Adenauer und Robert Schuman haben das verkörpert. Gewiß gab es in Frankreich auch nach Schuman noch nationalistische Tendenzen - bezeichnenderweise ja eher auf der Linken als auf der Rechten. Die beiden größten französischen Nationalisten der vergangenen halben Jahrhunderts waren Mendès France und Mitterand.

de Gaulle aber hat ebenso wie Adenauer, wie nach ihm alle deutsche Kanzler, eingesehen, daß die deutsch-französischen Beziehungen kein Nullsummenspiel sind. Bei einer Konfrontation verlieren beide; von der Kooperation profitieren beide.

Sarkozy möchte natürlich im couple Franco-Allemand gern die Hosen anhaben; aber ein couple bleibt es doch. Niemand denkt an einen Ehekrieg oder gar eine Scheidung.

Herzlich, Zettel

M.Schneider Offline



Beiträge: 672

30.11.2007 17:41
#15 RE: Deutschland und Frankreich Antworten

Lieber Zettel

Dem widerspreche ich entschieden, lieber M. Schneider. Ich glaube mich ja in Frankreich a bisserl auszukennen und kann diesen Gedanken - der gewiß ein-mal der Gedanke Clemenceaus gewesen ist - wirklich dort nicht mehr finden.

Sie dürfen das Gesagte nicht überbewerten. Natürlich ist nicht mehr die Rede von der alten Erbfeindschaft oder ähnlichen Dingen.
Aber es gibt keinen Zweifel daran dass Frankreich in der EU immer gern die Führungsrolle spielen will und insbesondere in wirtschaftlichen Dingen sehr viel mehr die eigenen Interessen durchboxt, als dass umgekehrt Deutschland gegenüber Frankreich tut.
Okay, man kann natürlich auch sagen Deutschland ist zu blöde.

Auch hat es Frankreich gar nicht in den Kram gepasst das Deutschland alleine durch die Wiedervereinigung plötzlich 20 Millionen Einwohner mehr hatte.

Herzlich M. Schneider

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

30.11.2007 19:36
#16 Deutschland und Frankreich: Wollen und Können. Und Gefühle Antworten

Lieber M. Schneider,

Zitat von M.Schneider
Aber es gibt keinen Zweifel daran dass Frankreich in der EU immer gern die Führungsrolle spielen will und insbesondere in wirtschaftlichen Dingen sehr viel mehr die eigenen Interessen durchboxt, als dass umgekehrt Deutschland gegenüber Frankreich tut.

Frankreich hatte und hat den Vorteil, seine an der ENA exzellent ausgebildeten Spitzendiplomaten zu haben, denen in Brüssel allenfalls die Briten gewachsen sind. Deutschland hat da ein sehr großes Defizit, und das ist einer der wesentlichen Gründe, warum wir unsere Interessen schlechter durchsetzen. Diesen und andere Gründe (zB das Fehlen eines Europaministeriums in Berlin, schlechte Sprachkenntnisse der deutschen Beamten und Europaabgeorneten, dadurch schlechte Vernetzung usw.) habe ich ja in dem Artikel schon genannt.

Es stimmt, daß wir uns schlechter durchsetzen als die Franzosen. Das liegt aber nicht am Wollen, sondern am Können.
Zitat von M.Schneider
Auch hat es Frankreich gar nicht in den Kram gepasst das Deutschland alleine durch die Wiedervereinigung plötzlich 20 Millionen Einwohner mehr hatte.

Ja, da wurden alte Ängest wiederbelebt.

Man darf ja nicht vergessen, daß innerhalb von drei Generationen dreimal deutsche Soldaten in Frankreich einmarschierten. Alle drei Kriege spielten sich im Westen hauptsächlich oder ausschließlich auf französischem Boden ab.

Zum Krieg 1870/71 gibt es übrigens eine ausführliche Geschichte von Theodor Fontane, der in diesem Krieg als Berichterstatter unterwegs und eine Zeitlang in französischer (und italienischer! denn die Garibaldi-Leute kämpften mit) Gefangenschaft war. Sehr detailliert, sehr anschaulich. Und man bekommt einen Eindruck von der Grausamkeit schon dieses Kriegs, der doch noch der am wenigsten grausame von allen dreien gewesen ist.

Andererseits hat ja auch der deutsche Westen immer wieder unter französischen Angriffen, unter französischem Militär gelitten - von den Réunions bis zur Besatzung nach 1945.

Aber das ist Vergangenheit, lieber M. Schneider. Ich jedenfalls habe bei vielen Besuchen in Frankreich nie antideutsche Ressentiments kennengelernt. Sondern eine große Bereitschaft, es in Europa gemeinsam zu versuchen.

Herzlich, Zettel

Frankfurter Offline



Beiträge: 233

30.11.2007 19:39
#17 RE: Mittelmeer-Union, Türkei, Nordafrika Antworten

Lieber Zettel,

irgendwie haben Sie auf die Idee versteift, dass Erdogan, wie schreiben, immer noch am Osmanischen Reich hängt: "Alle hängen mit dem Osmanischen Reich zusammen, das ja keineswegs aus den Köpfen von Leuten wie Erdogan verschwunden ist."

Man meiner Meinung nach ist Erdogan kein türkischer Nationalist, der ein türkischer Grossreich wiederherstellen will. Das waren vielleicht Leute wie Atatürk oder Enver Pascha. Erdogan ist ein Islamist, dem es um die Errichtung eines islamischen Gottesstaates auf dem Gebiet der heutigen Türkei geht. Das dann "Inschallah" in ein neues Khalifat, das dann die gesamte "Ummah" umfasst, integriert wird.

Er ist ein hochintelligenter Mann, der im Gegensatz zu anderen türkischen Islamisten wie sein Vorgänger Erkoban, dies gut zu verbergen weiss, und auch -ganz wichtig- Geduld hat. Das macht ihn so gefährlich.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

30.11.2007 22:31
#18 RE: Mittelmeer-Union, Türkei, Nordafrika Antworten

Zitat von Frankfurter
irgendwie haben Sie auf die Idee versteift, dass Erdogan, wie schreiben, immer noch am Osmanischen Reich hängt: "Alle hängen mit dem Osmanischen Reich zusammen, das ja keineswegs aus den Köpfen von Leuten wie Erdogan verschwunden ist."
Man meiner Meinung nach ist Erdogan kein türkischer Nationalist, der ein türkischer Grossreich wiederherstellen will. Das waren vielleicht Leute wie Atatürk oder Enver Pascha. Erdogan ist ein Islamist, dem es um die Errichtung eines islamischen Gottesstaates auf dem Gebiet der heutigen Türkei geht.

Ich weiß nicht, lieber Frankfurter, ob irgendwer sicher weiß, was Erdogan anstrebt; vielleicht er ja selbst nicht.

Er ist durch Erbakan politisiert worden und hat ihn ja lange Zeit durch seine diversen Parteien begleitet - die Nationale Heilspartei, die Wohlfahrtspartei usw. Und Erbakan ist eben beides - Islamist und türkischer Nationalist. Als Erdogan sich von ihm trennte, ist er einer eher gemäßigt konservativen als islamistischen Partei beigetreten, der AKP.

Anders als Erbakan ist Erdogan kein Intellektueller; kein Ideologe; er ist ein Mann mit einer geringen Bildung, ein Autodidakt. Daß er einen "Gottesstaat" errichten will, darauf kann ich keinen Hinweis sehen. Er ist ein Populist und ein Macher, soweit ich das erkennen kann.



Mir ging es bei den Überlegungen, auf die Sie sich beziehen, aber weniger um die Person Erdogan als um die objektive Situation der Türkei.

Sie ist nun mal ein Land mit der großen Tradition eines - nach damaligen Maßstäben - Weltreichs. Zwar gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Niedergang begriffen ("Der kranke Mann am Bosporus"), aber eben doch ein Weltreich. Auf Augenhöhe, wie man heute gern sagt, mit England, Frankreich, Deutschland, Österreich-Ungarn und Rußland.

Und es ist ein Land mit außerordentlichen Möglichkeiten. Wegen seines Bevölkerungssreichtums und -wachstums (100 Millionen sind nicht mehr allzu fern), wegen seiner geographischen Lage, wegen seiner historischen und ethnischen Beziehungen nach Europa, zu den Turkvölkern, nach Arabien.

Es wird sich entscheiden müssen, wo es seine Zukunft sieht. Viele Türken - vielleicht auch Erdogan - sehen sie in Europa, wo eben die Türkei auf dem Balkan wieder ihre traditionelle Vormachtrolle einnehmen könnte. Andere wollen eine Groß-Türkei unter Einschluß der Turkvölker der ehemaligen UdSSR. Andere würden die Türkei gern nach Südosten hin orientieren, also nach Syrien, dem Irak.

Der Islamismus spielt bei allen diesen Überlegungen eine Rolle, aber doch eher eine untergeordnete.

Jedenfalls aus meiner Sicht. Sie wissen ja, daß nach meiner Meinung die Bedeutung des Islamismus sehr überschätzt wird. Ich sehe ihn als eine Übergangserscheinung beim Schritt Arabiens und einiger anderer Länder in die Moderne; so wie es der Faschismus in Italien und Spanien, der Nazismus in Deutschland und der Kommunismus anderswo gewesen sind.

Herzlich, Zettel

M.Schneider Offline



Beiträge: 672

01.12.2007 15:04
#19 RE: Deutschland und Frankreich Antworten

Lieber Zettel

Diesmal sind Sie mir auf den Leim gegangen, und haben es gar nicht gemerkt.

Ich konnte mir den kleinen Spaß einfach nicht verkneifen, bei ihrer bekannten Frankreichliebe mal festzustellen, wie groß Ihr „Nun muss ich Frankreich verteidigen Beißreflex“ bei meiner Provokation ausgeprägt ist.



Herzlich M. Schneider

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

01.12.2007 15:21
#20 RE: Deutschland und Frankreich Antworten

Zitat von M.Schneider
Lieber Zettel
Diesmal sind Sie mir auf den Leim gegangen, und haben es gar nicht gemerkt.
Ich konnte mir den kleinen Spaß einfach nicht verkneifen, bei ihrer bekannten Frankreichliebe mal festzustellen, wie groß Ihr „Nun muss ich Frankreich verteidigen Beißreflex“ bei meiner Provokation ausgeprägt ist.

Herzlich M. Schneider


Na warten Sie! Das werde ich Ihnen heimzahlen!

Sich die Hände reibend,

Zettel

Frankfurter Offline



Beiträge: 233

01.12.2007 15:55
#21 RE: Mittelmeer-Union, Türkei, Nordafrika Antworten

Lieber Zettel,

was in Erdogan vorgeht, weiss ich natürlich auch nicht. Ich finde es nur bezeichnent, dass seine zwei Töchter in den USA studieren, weil sie dort an der Universität ihre Kopftücher aufbehalten dürfen, was sie in der Türkei (noch) nicht dürfen.

Was die Turk-Völker angeht, ist es natürlich interessant zu spekulieren, wie ihre Zukunft aussieht. Um es einmal provokativ zu formulieren, gab es in der Geschichte kaum ein Volk, das so zerstörerisch wirkte, wie die Türken. Ich denke dabei nicht nur an Byzanz, sondern auch an Indien, das Reich der Abbasiden, Timurlenk, Russland (Goldene Horde) usw. Sie haben viel zerstört. Aber was haben sie aufgebaut?
Wenn jemand eine Idee hat, wie ihr Beitrag zum Kulturerbe der Menschheit aussieht, bitte ich um Mitteilung. Mir fällt echt nichts ein. Bitte nicht die Blaue Moschee in Istanbul erwähnen, die wurde von einem konvertierten Griechen erbaut.

Um jetzt den Sprung zu Putin zu tätigen. Den meisten dürfte nicht bekannt sein, dass ca. 20% der Bevölkerung der russischen Förderation moslemische Tataren (Türken) sind. Während die ethnisch russische Bevölkerung jährlich um 700.000 Menschen schrumpft, nimmt die Anzahl der Tataren zu. Welche Folgen dies in der Zukunft haben wird, überlasse ich der Phantasie des Lesers.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

01.12.2007 18:50
#22 Erdogan, Tataren Antworten

Lieber Frankfurter,

Zitat von Frankfurter
was in Erdogan vorgeht, weiss ich natürlich auch nicht. Ich finde es nur bezeichnent, dass seine zwei Töchter in den USA studieren, weil sie dort an der Universität ihre Kopftücher aufbehalten dürfen, was sie in der Türkei (noch) nicht dürfen.

Ja, ein frommer Mann scheint er schon zu sein. Aber Islamist? Ich weiß es nicht. Wie gesagt, er ist kein gebildeter Mann, kein Ideologe. Er erinnert mich an Gerhard Schröder, nicht nur im Auftreten. Einer, der sich aus kleinsten Verhältnissen (er war jahrelang Straßenverkäufer) hochgearbeitet hat und dem seine Karriere wichtiger ist als alles andere. Einer, der ganz in Machtkategorien denkt, wie Schröder. Der sein Land modernisieren und dessen Macht vergrößern will, insofern sogar Kemal Pascha nicht unähnlich.
Zitat von Frankfurter
Um es einmal provokativ zu formulieren, gab es in der Geschichte kaum ein Volk, das so zerstörerisch wirkte, wie die Türken. Ich denke dabei nicht nur an Byzanz, sondern auch an Indien, das Reich der Abbasiden, Timurlenk, Russland (Goldene Horde) usw. Sie haben viel zerstört. Aber was haben sie aufgebaut?

Mir scheint der Aufstieg der Turkvölker eine Variante dessen zu sein, was es in der Geschichte immer wieder gegeben hat: Eine Hochzivilisation (hier die byzantinisch-arabische) wird militärisch schwach und unterliegt damit Angreifern, die zwar keine eigene Hochkultur mitbringen, aber militärisch stark und zum Kampf entschlossen sind. Das Ergebnis ist dann meist, daß diese Eindringlinge sich assimilieren (ich habe gerade in einem anderen Beitrag das Beispiel des weströmischen Reichs genannt). Was wir heute als orientalische Kultur sehen, ist ja überwiegend die byzantinische Kultur, von den Arabern übernommen und weiterentwickelt und dann von den Türkvölkern übernommen und - da gebe ich Ihnen recht - wenig weiterentwickelt.
Zitat von Frankfurter
Den meisten dürfte nicht bekannt sein, dass ca. 20% der Bevölkerung der russischen Förderation moslemische Tataren (Türken) sind. Während die ethnisch russische Bevölkerung jährlich um 700.000 Menschen schrumpft, nimmt die Anzahl der Tataren zu.

Ich glaube, mit "Tataren" können sehr unterschiedliche Bevölkerungsgruppen gemeint sein. Rußland hat, um die 140 Millionen Einwohner. 20 Prozent wären also rund 28 Millionen.

Gibt es wirklich so viele Tataren in Rußland? Ich habe eben nachgesehen; die deutsche Wikipedia nennt 5 Millionen. Die internationale Wikipedia sagt, es gebe weltweit - in Rußland, der Ukraine, Polen, Moldawien, Lettland, Weißrußland, Bulgarien, China, Kasachstan, Rumänien, der Türkei und Usbekistan - 10 Millionen Tataren. Das würde mit der Zahl von 5 Millionen allein in Rußland gut zusammenpassen. Also nicht 20, sondern ungefähr 3,5 Prozent. Oder haben Sie zuverlässigere Quellen?

Herzlich, Zettel

Frankfurter Offline



Beiträge: 233

01.12.2007 20:18
#23 RE: Erdogan, Tataren Antworten

Lieber Zettel,

was die Anzahl der moslemischen Tataren in Russland angeht, habe ich meine Informationen aus dem Fischer Weltalmanach 2002 bezogen. Da werden 15 - 22 Millionen Moslems aufgeführt. Zwischenzeitlich dürften es ein paar mehr sein. Unterdessen müssten sich die ethnischen Russen um 3,5 Millionen (700.000 X 5) verringert haben. Hochgerechnet sind deshalb 20% Moslems in Russland sicherlich keine so abwegige Behauptung.

Das sind für einen Russen sicherlich schreckliche Zahlen. Allein deswegen dürfte der Traum Putins Russland wieder zu einer Weltmacht aufzubauen, zum scheitern verurteitelt sein.

M.Schneider Offline



Beiträge: 672

02.12.2007 12:11
#24 RE: Erdogan, Tataren Antworten
Lieber Frankfurter

Ich glaube das muss man teilen. Der Weltalmanach 2003 gibt an, dass die rusische Bevölkerung von 145.542.000 Menschen zu 3,76% aus Tataren besteht, das entspricht etwa 5,7 Mio. Der Anteil der Muslime wird mit 15-22Mio. angegeben.

Also nur 1/4 der Muslime sind Tataren.

Herzlich M.Schneider
Zettel Offline




Beiträge: 20.200

02.12.2007 17:38
#25 RE: Erdogan, Tataren Antworten

Zitat von M.Schneider
Ich glaube das muss man teilen.

So ist es, lieber Frankfurter, lieber M. Schneider. Die aktuellesten und zuverlässigsten Zahlen findet man immer im CIA Factbook. Danach gibt es in Rußland (das jetzt übrigens nur noch etwas über 141 Mio Einwohner hat) 3,8 Prozent Tataren und 10 bis 15 Prozent Moslems.

Die Zahl der Moslems ist deswegen so ungenau angegeben, weil zu Sowjetzeiten nicht nach Religion gezählt wurde und offenbar auch das jetzige Rußland das noch nicht getan hat. Die 10 bis 15 Prozent sind praktizierende Moslems; die Zahl der nominellen könnte höher liegen.

Herzlich, Zettel

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