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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 40 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Seiten 1 | 2
Kallias Offline




Beiträge: 2.310

08.04.2016 12:26
Was ist Wahrheit? Antworten

An die Pilatusfrage "Was ist Wahrheit?", die Jesus nicht beantwortet hat, schließt Ludwig Weimer in seinem Gastbeitrag philosophische und theologische Betrachtungen an.

http://zettelsraum.blogspot.com/2016/04/...t-wahrheit.html

Simon Offline



Beiträge: 334

08.04.2016 15:31
#2 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Zitat von Kallias im Beitrag #1
An die Pilatusfrage "Was ist Wahrheit?", die Jesus nicht beantwortet hat, schließt Ludwig Weimer in seinem Gastbeitrag philosophische und theologische Betrachtungen an.

http://zettelsraum.blogspot.com/2016/04/...t-wahrheit.html


Ooo!, so viele Fragen, dass einem schwindlig werden könnte. Ich habe gleich eine (bevor es zu philosophisch wird): Hat Pilatus - in der Passion nach Johannes - wirklich nach der Wahrheit gefragt? - Hat er nicht vielmehr ein skeptisches Urteil gegenüber jeglicher Wahrheitsbehauptung geäußert? Und: Hat Jesus nicht vor diesem Urteil genug über die Wahrheit gesagt - zumindest über seine Wahrheit, die er vor Pilatus zu vertreten hat?

Doch vor allem: herzlichen Dank an Herrn Weimer für seine mannigfaltigen Überlegungen!

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

08.04.2016 16:26
#3 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Zitat von Simon im Beitrag #2
Ooo!, so viele Fragen, dass einem schwindlig werden könnte. Ich habe gleich eine (bevor es zu philosophisch wird): Hat Pilatus - in der Passion nach Johannes - wirklich nach der Wahrheit gefragt? - Hat er nicht vielmehr ein skeptisches Urteil gegenüber jeglicher Wahrheitsbehauptung geäußert? Und: Hat Jesus nicht vor diesem Urteil genug über die Wahrheit gesagt - zumindest über seine Wahrheit, die er vor Pilatus zu vertreten hat?

Genau so. Es handelt sich im Textzusammenhang klar um eine rhetorische Frage. Pilatus distanziert sich damit von dem Inhalt der Aussage des Angeklagten, stellt aber im folgenden Satz fest, daß er keinen (rechtlich anklagbaren) Fehler an ihm finden kann. Das kurze Gespräch ist ein (durch die Rollen als Angeklagter und Richter getrübter) Austausch zwischen einem Skeptiker und einem Platonisten. (Im Sinne des Narrativs stellt die Episode wohl Pilatus als den Menschen dar, der den göttlichen Avatar sieht, aber nicht erkennt.)

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

08.04.2016 19:37
#4 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Zitat von Ludwig Weimer im ZR-Beitrag
Die von der Polizei festgehaltenen Indizien haben den größten Geltungsanspruch für den Richter und die Versicherungen.



Im Fall des Richters, der über die Haftung für einen Unfall entscheiden muss, ist es das regelmäßig eingeholte Sachverständigengutachten, das die Beweiswürdigung beherrscht. Freilich stehen dem Sachverständigen für seine Befundaufnahme (so gut wie) nie genügend objektive Beweismittel (insbesondere Augenscheinsgegenstände wie Fotos der Unfallendlage, Fahrtenschreiber oder Spuren an den unfallbeteiligten Fahrzeugen) zur Verfügung, dass er gänzlich ohne Beteiligten- und Zeugenaussagen auskommen könnte. Diese entfalten somit auf indirektem Weg - als Elemente der Befundaufnahme des Sachverständigen - ihre Bedeutung.

Und damit beginnt schon das Problem: Wer erinnert sich wirklich mit ausreichender Präzision daran, wann er zu blinken oder zu bremsen begonnen hat? Wer kann verlässlich angeben, wie lange vor dem Abbiegen er zum letzten Mal in den Rückspiegel/über die Schulter geschaut hat? Die Parteien eines Gerichtsverfahrens zu einem (Verkehrs-)Unfall sind häufig erstaunt, dass dabei Meter und Sekunden über die Frage "Haftung oder keine Haftung?" entscheiden. Erschwerend kommt hinzu, dass die Suche nach der Wahrheit oft durch unbewusste Fehlwahrnehmungen getrübt wird. So ist es zum Beispiel eine Binsenweisheit der Verkehrspsychologie, dass geringe Restgeschwindigkeiten gern mit einem Stillstand des Fahrzeuges verwechselt werden. Ein weiteres Problem ist, dass Beteiligte und Zeugen ihre sinnlichen Wahrnehmungen nicht selten in einen Topf mit ihren intellektuellen Schlussfolgerungen werfen.

Was die Versicherungen betrifft, so ist es tatsächlich der Ermittlungsakt bzw. ein polizeilicher Unfallbericht, der die primäre Grundlage für die Entscheidung über die angenommene Haftungsquote darstellt. Bei der Masse der den Versicherungen zugehenden Schadensmeldungen ist ein solcher Schematismus wohl auch notwendig, um den Arbeitsanfall bewältigen zu können. Versicherungssachbearbeiter sind auch nicht immer Juristen und haben deshalb oft eher holzschnittartige Vorstellungen von der Rechtslage.

Dies mag bitter klingen, aber es geht in allen diesen Fällen eher um ausreichend begründete und somit zu rechtfertigende Entscheidungen als um die Erforschung der Wahrheit.

Simon Offline



Beiträge: 334

08.04.2016 19:44
#5 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Fluminist:
[

Zitat
"Das kurze Gespräch ist ein (durch die Rollen als Angeklagter und Richter getrübter) Austausch zwischen einem Skeptiker und einem Platonisten. (Im Sinne des Narrativs stellt die Episode wohl Pilatus als den Menschen dar, der den göttlichen Avatar sieht, aber nicht erkennt.)"




Avatar. - Ich musste erst googeln, was das ist. Wieder etwas gelernt. Avatar. Der Begriff an sich, aber im besonderen, wie er hier angewendet ist, regt an, sich mit dem Gemeinten auseinanderzusetzen. Ich muss an Kleists Amphitryon denken. - Da sieht Pilatus quasi den Jupiter vor sich - in der Verkleidung (Rolle) des Amphitryon?. Ich frage mich: wer - im Sinne der Anwendung - in der Szene vor Pilatus den Skeptiker und wer den Platonisten geben sollte. Anders ausgedrückt: Gibt hier - ich meine szenisch dargestellt - der hohanneische Jesus etwas vor, was er in Wirklichkeit gar nicht ist? Oder soll dessen Botschaft, seine Worte vom Reich gemeint sein? Platonisch? - Ich denke da - weiter in Anwendung - schon eher an "Philosophen" im 3. Reich, die meinetwegen in der vermeintlichen "Leerstelle" (Avatar) von Jesu "Reich" ("nicht von dieser Welt") die "Vorsehung" walten sahen, die quasi bekräftigte, konkretisierte, was gewisse Theologen nur spiritualisiert (sc. kraftlos, unreal) verstanden wissen wollten, im nebulösen "Himmel" oder einer "Ewigkeit" ganz jenseits dieser Erdenzeit.

Bitte verstehen Sie mich richtig: Ich möchte hier keine 3.- Reich-Debatte lostreten. Es ging mir lediglich um eine Veranschaulichung.

Mit vielen Grüßen!
Simon

Simon Offline



Beiträge: 334

10.04.2016 12:23
#6 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Ludwig Weimer im ZR-Beitrag:

Zitat
"Nur das Interesse des Richters ist hier objektiv. Die von der Polizei festgehaltenen Indizien haben den größten Geltungsanspruch für den Richter und die Versicherungen. Die Wahrheit kann wehtun.

Im Fall des Lesers des Neuen Testaments steht der moderne Wahrheitssucher ebenfalls vor sehr verschiedenen, sich widersprechenden Aussagen, ob hymnischen oder umgangssprachlichen. Die literarische Gattung Evangelium gilt als ‚Passion mit längerer Einleitung‘. Der Kriminalfall Jesus wird viermal verschieden erzählt. Für Jesu Aussagen im Prozess gibt es natürlich keinen Zeugen und kein Protokoll, auch die Pilatusfrage und die Antwort sind Erfindungen des Schreibers Johannes."



Na, sowas!? - Wozu das alles?

Die Objektivität des Richters und der Versicherungen hat Noricus in seinem Betrag soeben bekräftig. Auch die "Bitterkeit" eine solch relative Wahrheit hinnehmen zu müssen. - Aber wieso "bitter"? Gibt es für den Menschen doch so etwas wie einen erwartbaren Maßstab für die Rechtschaffenheit seiner Urteile?

Ich meine: Hier könnte die Diskussion doch weitergehen.

Simon

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

10.04.2016 13:15
#7 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Zitat von Simon im Beitrag #5
Ich frage mich: wer - im Sinne der Anwendung - in der Szene vor Pilatus den Skeptiker und wer den Platonisten geben sollte.

Ich dachte, es sei klar, wie ich das gemeint hatte: Jesus ist der Platonist, der abstrakte Güter, hier die Wahrheit, als gegeben und hinter und über der zeitlichen Existenz stehend annimmt - sein Reich ist, gerade bei Johannes, das Reich der Ideen, die Schöpfung ganz neoplatonistisch seine Emanation - und damit argumentiert. Pilatus ist der Skeptiker, für den Wahrheit zunächst einmal nur ein Wort ist, bei dem sich die Frage stellt, was genau es eigentlich bezeichnet; sein Gebaren deutet an, daß er es durchaus für möglich hält, daß es keine endgültige Antwort auf diese Frage gibt.

Dennoch glaube ich, daß die Hauptmotivation für die Gestaltung der Pilatusfigur eben das Sehen und nicht Erkennen ist, auf daß die Schrift erfüllet werde.

Daß das irgendetwas mit dem 3. Reich zu tun hat, halte ich für eher unwahrscheinlich.

Simon Offline



Beiträge: 334

10.04.2016 18:12
#8 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #7
Zitat von Simon im Beitrag #5
Ich frage mich: wer - im Sinne der Anwendung - in der Szene vor Pilatus den Skeptiker und wer den Platonisten geben sollte.

Ich dachte, es sei klar, wie ich das gemeint hatte: Jesus ist der Platonist, der abstrakte Güter, hier die Wahrheit, als gegeben und hinter und über der zeitlichen Existenz stehend annimmt - sein Reich ist, gerade bei Johannes, das Reich der Ideen, die Schöpfung ganz neoplatonistisch seine Emanation - und damit argumentiert. Pilatus ist der Skeptiker, für den Wahrheit zunächst einmal nur ein Wort ist, bei dem sich die Frage stellt, was genau es eigentlich bezeichnet; sein Gebaren deutet an, daß er es durchaus für möglich hält, daß es keine endgültige Antwort auf diese Frage gibt.

Dennoch glaube ich, daß die Hauptmotivation für die Gestaltung der Pilatusfigur eben das Sehen und nicht Erkennen ist, auf daß die Schrift erfüllet werde.

Daß das irgendetwas mit dem 3. Reich zu tun hat, halte ich für eher unwahrscheinlich.


Danke für die Verdeutlichung Ihrer Meinung. - Zu Ihrem letzten Satz: Ich sagte ja schon, dass es mir ebenfalls auf eine Verdeutlichung ankam und zwar im Sinne des Gegenteils: von einer möglichen Verdrehung der Botschaft Jesu! her. Mir hatte - und hat es immer noch - der Avatar angetan. Ich wusste auch nicht, dass ein Film diesen Titel trägt.

Daska Offline




Beiträge: 245

10.04.2016 19:18
#9 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Zitat von Simon im Beitrag #8
Mir hatte - und hat es immer noch - der Avatar angetan. Ich wusste auch nicht, dass ein Film diesen Titel trägt.

Den Vergleich mit dem Avatar fand ich so innovativ und pfiffig, dass ich ihn mir erst auf der Zunge zergehen lassen wollte, bevor ich mich dazu äußere.
Der vorbehaltlose Genuss war nur von kurzer Dauer, denn mir kamen Einwände:
* Ein Avatar (in dem Sinne, wie er in dem von Ihnen angeführten Film vorkommt) ist meines Erachtens nichts anderes als eine technisch vollendete Marionette. Ob aber Jesus als mehr betrachtet werden kann, wurde doch schon in den ersten Jahrhunderten diskutiert, oder?
* Wenn der lebende Jesus mit einem Avatar verglichen wird, dann könnte der Auferstandene mit einem Zombie verglichen werden, warum auch nicht. Beides führt meines Erachtens weg von der irdischen Realität in irgendeine Phantasiewelt.
* Wenn ich meine eigenen Einwände in den Wind schlage, und mal davon ausgehe, dass der Begriff Avatar eine zeitgemäße Form ist, das Mysterium auszudrücken, dann bliebe immer noch die Aufgabe, alle Ergebnisse der ökumenischen (sic!) Konzilien auf diesen Begriff anzuwenden/ auf ihn hin zu formulieren.
Denn wenn das neue Bild tragfähiger sein soll als die traditionelle Sprache, dann müsste doch zumindest eine gewisse Kompatibilität zwischen Altsprech und Neusprech vorhanden sein, oder etwa nicht?
* Und nachdem Avatar nun wirklich nicht in der Tora steht, dürfte auch die Verständigung darüber mit jüdischen Mitdiskutanten eher zurückhaltend ausfallen, mögicherweise.
Und trotz meiner eigenen Einwände empfinde ich das mit dem Avatar als kreatives Denkmodell, mei.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

10.04.2016 19:25
#10 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Zitat von Daska im Beitrag #9
Wenn ich meine eigenen Einwände in den Wind schlage, und mal davon ausgehe, dass der Begriff Avatar eine zeitgemäße Form ist, das Mysterium auszudrücken, ...

Ahem. Es ist keine zeitgemäße, sondern eine uralte, vielleicht zeitlose Form des Ausdrucks:

Zitat von Wikipaedia
Avatara (Sanskrit, m., अवतार, avatāra, wörtl.: „Abstieg“, von ava- „hinab“ und tṝ „überqueren“) bezeichnet im Hinduismus die Manifestation des höchsten Prinzips (Brahman) oder einen göttlichen Aspekt, der die Gestalt eines Menschen oder Tieres annimmt.


Der Filmtitel verwendet das Wort in einem übertragenen, verderbten Sinn.

Daska Offline




Beiträge: 245

10.04.2016 19:31
#11 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Ooops. Wer hätte das gedacht! Merci vielmals!

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

10.04.2016 22:42
#12 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Es ist nicht der geschichtliche Jesus, der vom Königtum für das Reich der Wahrheit spricht, sondern der Verfasser der johanneischen Passion. Jesus war viel zu sehr bibelfester und konkret denkender und formulierender Jude, um so einen abstrakten philosophischen und weisheitlich-theologischen Begriff wie "Wahrheit" in den Mund zu nehmen. Johannes, der Verfasser, hielt das Wort aber für die beste Bezeichnung des spezifischen Königtums Jesu, wenn dieser es verteidigen muss vor einem Statthalter des römischen Reiches.
Jesus wurde wohl zusammen mit zwei Zeloten (die für die politische Befreiung von Rom kämpften), nicht "Räubern", gekreuzigt. D a s war für Rom der Feind.

Wie realistisch Jesus formulierte, zeigen seine rund 40 ausgezeichneten Gleichnisse für das Reich Gottes und die Art der Beteiligung der Glaubenden zu dessen Aufnahme und Verbreitung. Synoptische (Markus, Matthäus, Lukas) historisch Jesus zugeschriebene Logien zeigen es erst recht. Er konnte sagen, die 12 Mitstreiter, die Apostel, würden beim bald stattfindenen Gericht über die Völker, die Israel bedrücken, an seiner Seite auf Thronen sitzen und die Stämme Israels richten (nebenbei, wie realistisch-prophetisch: er ging also davon aus, dass das Gericht nicht nur eine Befreiung für Israel bringe, sondern auch ein Gericht über die Israeliten selber bedeute). Das "Gottesreich" (weil Mt als Jude den Gottesnamen nur umschreiben konnte mit "Himmelreich", kam unter neuplatonischen oder besser gesagt gnostischen Christen das verhängnisvolle Missverständnis auf, Jesus lokalisiere es im Jenseits) war für Jesus etwas Konkretes, nämlich das Volksleben Israels, aber dieses 'Reich' rieb sich nicht mit der fremden Oberherrschaft Roms ("Gott, was Gott, dem Kaiser, was dem Kaiser gebührt"). Dies war eine geniale Definition einer Gegengesellschaft, die verträglich war mit der römischen Politik, ohne ihren eigenen ganz hohen Maßstab zu verflüssigen. So wollen alle Passionen zeigen, dass das Christentum im römischen Reich friedlich leben könne. Die Juden hatten ja einen Kompromiss ausgehandelt, und solange die Christen nicht vom Judentum abgespalten waren, galt das rechtlich auch für sie ("Wir streuen dem Kaiser keinen Weihrauch wie einem Gott, aber wir beten für ihn zu unserem Gott").

Keinesfalls handelt es sich für Jesus um ein Reich, das nur im Jenseits hinter dem Tod existiert. Seine Koordinaten sind im Axiom abzulesen "Wie im Himmel - so auf Erden" (Vaterunser). Noch Paulus bezeugt im schriftlich ältesten Dokument der Christenheit, 1. Thessalonicherbrief, 51 n.Chr., dass er erwartet, Christus komme auf den Wolken wieder, die Toten und noch Lebenden zusammen holen ihn dort ab und geleiten ihn in ihre Städte, wo es Gemeinden und Synagogen gibt, als Basis für das Reich Gottes hier auf Erden.

Jesus und erst recht die Schreiber der Evangelien dachten an ein irdisch beginnendes Reich, aber nicht an ein eng nationalstaatliches, denn schon länger war das Judentum in der Diaspora in Babylonien und Ägypten (vgl. den Völkerschaftenbericht zur Pfingstfestwallfahrt in der Apostelgeschichte 2) nicht nur lebendig, sondern schon schöpferischer als das in Palästina. Für Johannes war der Begriff "Wahrheit" das Mittel, die Differenz zur nationalistischen Gefahr zu kennzeichnen. Er wählte das denkbar umfassendste Wort, das nicht die Komponenten Gewalt, Unfreiheit, Religionsunterdrückung ... enthielt. "Wahrheit" ist ein universal gültiges Wort. Überall, wo irgendjemand etwas Wahres sagt, spricht für die christliche Theologie auch der Heilige Geist, mag auch der Sprecher ein agnostischer Philosoph sein.

Mancher wird diese Ausführungen nicht brauchen, weil sie Selbstverständliches referieren. Aber vielleicht ist die Erklärung ein wenig hilfreich für Nichtkenner der Materie.

Ludwig Weimer

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

11.04.2016 06:33
#13 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #10

Der Filmtitel verwendet das Wort in einem übertragenen, verderbten Sinn.

Warum? Ich sehe in dem Film den Versuch die Bedeutung ganz praktisch, konkret umzusetzen. Allerdings für alle im Film agierenden Lebewesen.

Viele Grüße, Erling Plaethe

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.007

11.04.2016 09:46
#14 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Zitat von Was ist Wahrheit?
Wenn Schopenhauer Recht hat, wäre dann mein Wille nicht nur der Schlüssel zu meinem Verstehen der Welt, sondern wäre letztlich ein Wille auch die Ursache, der Grund, warum sie da ist? Aber welcher? Wer wollte sie?


Ich verstehe das so, dass das „Seiende“ völlig unabhängig von uns existiert aber erst durch unsere Beobachtung zu dem wird was es ist, bzw. was wir wahrnehmen.

Als "anschauliches" Beispiel dafür mag das Doppelspaltexperiment dienen. Je nachdem wie der Beobachter "hinsieht", erkennt er ein Teilchen oder eine elektromagnetische Welle. Sein Wille (also die Art hinzusehen) bestimmt, was er wahrnimmt, seine Vorstellung von dem was er wahrnimmt, gestaltet das Bild seiner Welt.

In diesem Bild wäre, nach meinem Verständnis, die Wahrheit (des „Seins“) eine Funktion von Wille und Vorstellung im Sinne Schopenhauers, nicht aber das „Sein“ an sich. Wahrheit wäre also eine relative Größe, abhängig vom Beobachter. Dieses mag in dem von mir beschriebenen naturwissenschaftlichen Sinn genauso gültig sein, wie für den Arzt, der dem Todkranken gegenüber sitzt, den Zeugen, welcher einen Tathergang rekonstruieren soll oder den Gläubigen, dessen Glauben Teil seiner Wahrnehmung ist. Zumindest erscheint mir diese Sicht schlüssig.

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

11.04.2016 21:42
#15 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Zitat von Simon im Beitrag #6
Ludwig Weimer im ZR-Beitrag:

Zitat
"Nur das Interesse des Richters ist hier objektiv. Die von der Polizei festgehaltenen Indizien haben den größten Geltungsanspruch für den Richter und die Versicherungen. Die Wahrheit kann wehtun.

Im Fall des Lesers des Neuen Testaments steht der moderne Wahrheitssucher ebenfalls vor sehr verschiedenen, sich widersprechenden Aussagen, ob hymnischen oder umgangssprachlichen. Die literarische Gattung Evangelium gilt als ‚Passion mit längerer Einleitung‘. Der Kriminalfall Jesus wird viermal verschieden erzählt. Für Jesu Aussagen im Prozess gibt es natürlich keinen Zeugen und kein Protokoll, auch die Pilatusfrage und die Antwort sind Erfindungen des Schreibers Johannes."



Na, sowas!? - Wozu das alles?

Die Objektivität des Richters und der Versicherungen hat Noricus in seinem Betrag soeben bekräftig. Auch die "Bitterkeit" eine solch relative Wahrheit hinnehmen zu müssen. - Aber wieso "bitter"? Gibt es für den Menschen doch so etwas wie einen erwartbaren Maßstab für die Rechtschaffenheit seiner Urteile?

Ich meine: Hier könnte die Diskussion doch weitergehen.

Simon



Das objektive Urteil des Richters ist immer dann für die Partei bitter, lieber Simon, wenn es mit deren eigener subjektiver Wahrnehmung von Gerechtigkeit im Widerspruch steht. Ganz objektiv kann ein Urteil nie sein. Denn die - bis auf gesetzliche Beweiswürdigungsregeln - freie Beweiswürdigung beinhaltet stets ein subjektives Moment.

Man wäre wohl besser beraten, im juristischen Kontext nicht von Wahrheit, sondern - etwas hegelianisch - von Wirklichkeit zu sprechen. Das, was der Richter feststellt, ist vielleicht nicht die Wahrheit im Sinne dessen, was sich tatsächlich ereignet hat, aber es wird durch sein Urteil wirklich (im Sinne von: Wirkung zeigend).

Damit ist der Bogen zur Religion geschlagen: Auch wenn Johannes oder die anderen Evangelisten sich bestimmte literarische Freiheiten zugestanden haben, so sind die Evangelien doch Wirklichkeit, nämlich Glaubenswahrheiten, geworden.

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

11.04.2016 21:48
#16 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Lieber Nachdenken-schmerzt-nicht!

Nach-denken wäre also: einer Sache folgen, sich von ihr führen lassen, und darum einen Sachverhalt richtig beobachten können, ihn nicht subjektiv 'verderben'; "Wahrheit" wäre auf der Ebene richtige Beobachtung ein durchaus noch heute sinnvoller und verwendbarer Begriff.

Es geht mit dem Wort Wille darum, wie wir etwas Wertvolles besser erkennen können. Gewöhnlich wird im westlich-modernen Denken das Erkennen als Begreifen gesehen (mit der Distanz dazu sogar als Ideal) und fast vergessen, dass vielleicht das Wollen der Sache, die man erkennen will, zur vollen Erkenntnis mitspielen muss. Die Sache muss mich also ergreifen, so dass ich sie sehen will, so dass ich Interesse an ihr habe, sie in, mit meinem Eros teilen will. Es ist ein altes, vieldiskutiertes Problem.

Das dritte, nur in Fragen im Anschluss an Schopenhauer angedeutete Anliegen ist das Problem: Warum ist die Welt da. Müssen wir uns mit dem Hinweis begnügen, das Rätsel sei unlösbar, oder dürfen wir den bisherigen Kulturen und Religionen zutrauen, etwas Wahres gefunden zu haben, wenn sie meinen: Ein Gott habe sie gewollt (kein Demiurg, also böser zweiter Gott, sondern ein einziger guter Gott als Schöpfer eines Gutes für uns Menschen).

Ludwig Weimer

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.007

12.04.2016 09:32
#17 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #16
einen Sachverhalt richtig beobachten können, ihn nicht subjektiv 'verderben'

Mein Gedanke ist ja aber gerade, dass Wahrheit nur subjektiver Natur sein kann, da sie durch die Subjektivität des Beobachters limitiert ist. Diese Subjektivität des Beobachters liegt meines Ermessens in drei Dingen begründet. 1) in grundsätzlichen Restriktionen (wie zum Beispiel die Unschärferelation oder auch die Unbeantwortbarkeit der Frage nach Gott im weitesten Sinne welche sein könnten), 2) durch die Limitierung der zur Wahrnehmung zur Verfügung stehenden Sensoren (nicht nur technisch) und 3), da kann ich Ihren Ausführung gut folgen, durch den Willen das Beobachtete verstehen zu wollen.


Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #16
Warum ist die Welt da.

Diese Frage kann man meines Ermessens, aus oben genannten Gründen, ebenfalls nur mit einer subjektiven Wahrheit beantworten. Wenn Gott für mich Wahrheit ist, ist er auch Teil all meiner anderen Wahrheit. Wenn er es nicht ist, ist er es nicht. Über diese Subjektivität, glaube ich zumindest, kann man nicht hinauskommen.

Natürlich erscheint es unbefriedigend, ohne einen Gott „ohne Sinn und Grund“ dazustehen, aber was wäre selbst mit einem Gott(esbeweis) in dieser Hinsicht gewonnen? Ist das nicht wie eine russische Puppe? Wenn es einen Gott gibt, kann ich dann nicht ebenfalls die Frage stellen, warum er existiert? Welchen Grund möchte ich nennen, dass für ein dem Menschen überlegenes Wesen keine der Kategorien mehr gilt, denen der Mensch unterworfen ist? Oder zumindest andere Kategorien, welche auch ihn limitieren? … Und ich muss wieder an meinen „alten Freund“ Theodor Storm denken, „dessen Gott“ auch nicht anders kann, als seine Weisheit ihm vorschreibt.

Als kleines Kind schon hat mich immer der Weltraum fasziniert. Mit dessen Unendlichkeit hatte ich allerdings in der Vorstellung arge Probleme. Ich habe mir damit geholfen, dass für mich am Ende des Weltraums in meiner Vorstellung eine riesige Betonmauer war, die das Problem löste. In meiner kindlichen Naivität war diese Betonmauer, so wäre zumindest meine Interpretation, ein Substitut für die Allmacht Gottes, die wir uns vielleicht alle auf unsere eigene Weise immer irgendwie wünschen.

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

Simon Offline



Beiträge: 334

12.04.2016 11:46
#18 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #14

Zitat von Was ist Wahrheit?
Wenn Schopenhauer Recht hat, wäre dann mein Wille nicht nur der Schlüssel zu meinem Verstehen der Welt, sondern wäre letztlich ein Wille auch die Ursache, der Grund, warum sie da ist? Aber welcher? Wer wollte sie?


"Ich verstehe das so, dass das „Seiende“ völlig unabhängig von uns existiert aber erst durch unsere Beobachtung zu dem wird was es ist, bzw. was wir wahrnehmen."


Lieber n_sch_n, nun ging zwar schon ein Briefwechsel zwischen Ihnen und Herrn Weimer hin und her, aber darf ich Ihnen schreiben, was ich schon vorher dazu formuliert hatte; dann aber nicht abgeschickt hatte?

Ich finde ja Ihren Denkansatz interessant. Aber könnten Sie nicht bitte (erst) klären, was Sie "so verstehen"? - Wenn sich das Demonstrativpronomen "das" auf den vorausgehenden Satz (Zitat Weimer) bezieht, dann muss ich Ihnen schon im Vorfeld widersprechen: Wenn man in Ihrer Sprechweise abstrahiert, spricht m.E. Weimer von der Welt als einem Sein, das ich - als Person - willentlich wahrnehmen, verstehen ...(auch leugnen) kann. Das ändert m. E. nichts an der vollen Existenz des Seins, schmälert es nicht, lässt es nicht nur eine Funktion meines Willens und Erkennens sein. Der Grad des Erkennens (des Seins) kann sich allerdings ändern - auch beeinflussbar durch meinen Willen. - Und dann kommt in Weimers Zitat noch das Experiment der Umkehrung als Frage hinzu: Könnte ein personaler Wille (ähnlich dem eines Menschen) nicht auch "die Ursache, der Grund" der Existenz der Welt sein? - Wer dieser personale Wille sein könnte, wird offengelassen.





"Als "anschauliches" Beispiel dafür mag das Doppelspaltexperiment dienen. Je nachdem wie der Beobachter "hinsieht", erkennt er ein Teilchen oder eine elektromagnetische Welle. Sein Wille (also die Art hinzusehen) bestimmt, was er wahrnimmt, seine Vorstellung von dem was er wahrnimmt, gestaltet das Bild seiner Welt.

In diesem Bild wäre, nach meinem Verständnis, die Wahrheit (des „Seins“) eine Funktion von Wille und Vorstellung im Sinne Schopenhauers, nicht aber das „Sein“ an sich. Wahrheit wäre also eine relative Größe, abhängig vom Beobachter. Dieses mag in dem von mir beschriebenen naturwissenschaftlichen Sinn genauso gültig sein, wie für den Arzt, der dem Todkranken gegenüber sitzt, den Zeugen, welcher einen Tathergang rekonstruieren soll oder den Gläubigen, dessen Glauben Teil seiner Wahrnehmung ist. Zumindest erscheint mir diese Sicht schlüssig.

[/b]Herzlich
nachdenken_schmerzt_nicht"





Entschuldigen Sie, aber bei dem beschriebenen Experiment ist es doch nicht anders, als dass sich der Beobachter der Sache nähert, annähern kann - mit allen Mitteln, auch seinem Willen und seiner Vorstellungskraft. Deshalb muss er nicht annehmen oder gar behaupten: die Sache (Wahrheit) selber sei nur relativ. - Sollte nicht der Eros (wie Weimer sagt) dazukommen, die Sache als Wahrheit voll erkennen zu wollen, um damit auch (richtig) umgehen zu können? Meinetwegen dann auch als Arzt, Richter ... Glaubender?




Ebenso herzlich
Simon

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.007

12.04.2016 13:47
#19 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Zitat von Simon im Beitrag #18
könnten Sie ... bitte (erst) klären, was Sie "so verstehen"?
Ich verstehe (als blutiger philosophischer Laie) Schopenhauers Gedanken in diesem Sinne.

Ich habe dabei versucht mit einem zweiten Begriff zwischen dem „Seienden“ und „der Welt“ zu unterscheiden. Die Welt würde ich dabei als subjektive Beobachtung des „Seienden“ verstehen. Das "Seiende" sind die „Bauklötzchen“, die Welt ist unsere Wahrnehmung der Burg, welche daraus gebaut wurde. In dieser Sicht wären Wille und Vorstellung, natürlich der Grund warum die Welt, die wir sehen und begreifen, da ist.

Zitat von Simon im Beitrag #18
als dass sich der Beobachter der Sache nähert, annähern kann - mit allen Mitteln, auch seinem Willen und seiner Vorstellungskraft
Nach meinem Verständnis nähert man sich hier nicht einer „objektiven Wahrheit“, sondern man nimmt, je nachdem wie man beobachtet, eine von zwei alternativen Welten (Welle oder Teilchen) wahr, welche sich gegenseitig klassisch ausschließen.

Natürlich ist damit nicht wirklich beantwortet, ob es trotzdem eine objektive, zugrunde liegende Wahrheit gibt, die man auch beobachten (der man sich annähern) könnte, die uns nur (aktuell) nicht zugänglich ist, oder ob das, was wir beobachten können (die Welt), immer nur durch unseren Willen und Vorstellung geprägte Aggregatzustände des „Seienden“ sein können, nie das „Seiende“ selbst.

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

Simon Offline



Beiträge: 334

12.04.2016 14:22
#20 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Zitat
"Natürlich ist damit nicht wirklich beantwortet, ob es trotzdem eine objektive, zugrunde liegende Wahrheit gibt, die man auch beobachten (der man sich annähern) könnte, die uns nur (aktuell) nicht zugänglich ist, oder ob das, was wir beobachten können (die Welt), immer nur durch unseren Willen und Vorstellung geprägte Aggregatzustände des „Seienden“ sein können, nie das „Seiende“ selbst."




Das ist doch ein Wort!
Simon

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

12.04.2016 21:56
#21 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Mit der Sprache präziser sein, muss i c h mir sagen.
Ich hatte zwar unterschieden zwischen "eine Sache / Sachverhalte" und "etwas Wertvolles". Gemeint war damit: A: Dinge, Natur, Technisches; B: Werte. Für A genügt das Erkennen, im Fall des naturwissenschaftlichen Experiments muss ich den eigenen Finger sogar herauslassen, sonst verderbe ich das Ergebnis. Im Fall B votierte ich (innerhalb des alten Streits um den Primat zwischen Erkenntnis und Wille) für die Wichtigkeit des erkenntnisleitenden Interesses und des Wollens, also für das Verbrennensrisiko des eigenen Fingers. Ein solcher Wert (in diesem Fall B) ist z. B. die praktizierte Liebe.

Zur philosophischen Spekulation, ob die Welt nur als Gedachtes im Hirn des Menschen existiert, poetisch gesagt, ob alles nur ein Traum ist, wollte ich nicht Stellung nehmen, sondern nur zu dem Zugang, eine Wirklichkeit möglichst zutreffend zu erkennen. Ich gehe bei meinen theologischen Gedanken davon aus, dass es die Welt gibt. Damit habe ich die Frage, w i e ein geistiger persönlicher Schöpfer Materie erzeugen kann. Sie scheint mir das Denken des Menschen zu überfordern.
Das "ex nihilo" lege ich lieber aus: Wenn Gott Welten, Leben wollte, wollte er dies immer, die Materie kann also durchaus ebenso "ewig" sein wie er, immer Universen neu bilden, warum nicht auch viele nebeneinander? "Schöpfung" heißt für mich eher: Wollen, anreden, rufen, eine Beziehung aufnehmen. Schöpfung meint ja für christliche Theologie eine andauernde, poetisch: ein immer in der Hand Gottes getragen sein. Ich ging dann noch weiter und nahm den Gedanken der jüdischen Mystik vom Zimzum hinzu, aber befreit von alten Eierschalen. Die Welt könnte auch nichtpantheistisch in Gott sein. Gott hätte ihr dann einen Freiraum zur Eigentätigkeit eingeräumt (Zimzum heißt Kontraktion, als ziehe der Unendliche sich ein Stückchen ein in die Verborgenheit um der Freiheit für den Menschen willen).
Botho Strauß meinte in dem Büchlein "Beginnlosigkeit", Schöpfung sei nur Information gewesen. Der Philosoph Hans Jonas meinte dagegen, in der anfänglichen Materie unseres jetzigen Universums habe noch nicht die Geistinformation schon dasein müssen, der Geist des Menschen habe sich auch erst in den jüngsten Millionen Jahren in ihr entwickeln können. Ein Feld reicher Vermutungen...

Grüße
Ludwig Weimer

Dennis the Menace Offline




Beiträge: 459

13.04.2016 11:23
#22 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Sehr schöne Reflexion über die Wahrheit, lieber Herr Weimer. Dieses heiße Eisen, das die Philosophie seit Jahrtausenden schmiedet, wird dort wahrscheinlich nie kalt, was natürlich schon zu der Vermutung Anlass gibt, dass es da nicht so gut hinpasst, sondern tatsächlich nur in der Religion gut aufgehoben ist, weil es da zur Ruhe kommt. Die empirische Wissenschaft hat das Ding eh schon rausgeschmissen und operiert mit Falsifikationen, zu denen eingeladen wird, was alles dispositiv macht: Wenn morgen ein Experiment belastbar was anderes sagt, schmeißen wir das diesbezügliche Naturgesetz weg. Logik und Mathe wollen von "unmittelbar evident" nix mehr wissen, das axiomatische Zeugs sind eigentlich Verabredungen.

Debatten über die wahre Wahrheit erscheinen im Übrigen sowieso 'n bissle ulkig.

Nachdem also außerreligiös die Wahrheit auf klein-klein geschrumpft ist, bleibt eigentlich nur noch die Religion als Refugium - nach meiner Auffassung. Man könnte fast sagen: Herzlichen Glückwunsch zu diesem Monopol. Oder auch: Ernsthafte Wahrheitssucher kommen an der Religion nicht vorbei.

Unerachtet dessen ist mir aber doch was aufgefallen:

Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #21
Wenn Gott Welten, Leben wollte, wollte er dies immer, die Materie kann also durchaus ebenso "ewig" sein wie er, immer Universen neu bilden, warum nicht auch viele nebeneinander? "Schöpfung" heißt für mich eher: Wollen, anreden, rufen, eine Beziehung aufnehmen. Schöpfung meint ja für christliche Theologie eine andauernde, poetisch: ein immer in der Hand Gottes getragen sein.




Warum gibt's dann überhaupt die Zeit ?

Mit der Materie muss auch diese ins "Spiel" gekommen sein und sie kann eigentlich nicht "ewig" sein, weil es den Zeitbegriff nur deswegen gibt, weil er in Opposition zur Ewigkeit steht, also Ablaufen indiziert. Die Zeit muss also regelrecht angefangen haben, weswegen man sich ja auch theologisch - in diesem Fall mal ohne große Schwierigkeiten - mit den Physik anfreunden konnte, als diese die Urknalltheorie entwickelte - wesentlich unter Mitwirkung eines Priesters (Lemaître) in seiner Eigenschaft als Physiker, was er auch war.

Es gab also einen regelrechten Anfang - sagen beide "Lager" - wenngleich mit unterschiedlichen Begründungen.

Oder steht Ihre Interpretation der Tradition insoweit entgegen, als Sie sagen (falls das so zu verstehen ist), dass man sich Schöpfung keineswegs als eine Art Initialereignis (was zwangsläufig mit "singulär" übersetzt werden muss) vorstellen darf, so dass die Zeit unendlich/anfangslos wäre, was aber den Ewigkeitsbegriff eigentlich nicht trifft, denn wenn die da ist, ist die Zeit nicht da?

Das würde dann die Verhältnisse sozusagen in dieser Weise umdrehen:

Früher:
1) Physik: Anfangslosigkeitsvermutung - eigentlich in Ermangelung belastbarer Hypothesen diese Angelegenheit betreffend.
2) Christentum: Schöpfung. Am ANFANG war..., sodann fangen die Tage an, ab 1.

Heute:
1) Physik: Starke Initialhypothese (es gab einen Tag, respektive ein Zeitintervall, ohne gestern), natürlich ohne Aussage über etwaige Initiatoren, aber nah am traditionellen Schöpfungsdenken, das der Theologie aber heutzutage zu altmodisch ist.
2) Christentum: Schöpfung ist irgendwie ubiquitär in anfangsloser Zeit, quasi in die Zeit reingestreut, es regnet ständig Schöpfung.

Das wäre mal eine ganz neue Front. Physik: Irgendwie altmodisch. Christentum: Hip, weil flexibel.


lich
Dennis

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.007

13.04.2016 15:43
#23 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Danke lieber Dennis für Ihre sehr erhellenden Gedanken.

Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #22
so dass die Zeit unendlich/anfangslos wäre, was aber den Ewigkeitsbegriff eigentlich nicht trifft, denn wenn die da ist, ist die Zeit nicht da?
Warum sollte die Zeit dann nicht da sein? Man kann sie doch ohne weiters als eine Dimension der Ausdehnung begreifen, welche die Existenz jeglicher Gegenständlichkeit notwendig charaktersiert, gleich der räumlichen Ausdehnung.

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

13.04.2016 19:19
#24 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Wenn die Zeit nur in Relation zum Raum existiert, gibt es keine Zeit vor der materiellen Welt. Die Bibel lässt, um die Unendlichkeit Gottes von der materiellen Welt zu unterscheiden, Gott immer schon sein und unsere Welt anfangen. Die Aussage zielt auf die unendlich größere Unendlichkeit Gottes.
Was Gott vor der Schöpfung getan habe, fragten die Heiden Augustinus; dieser scherzte: Er machte den Strafort für solche Frager. Schon er wusste und lehrte, dass es zuvor gar keine Zeit gab.

Ich las bei einem Theologen, für Gott gebe es keine Zeit, ihm sei alles Gegenwart. Das kann sich der Mensch aber nicht vorstellen. Der Münchner im Himmel empfindet einen solchen Himmel als halbe Hölle und sieht lieber im Hofbräuhaus die Zeit verstreichen.
Im Ernst: Etwas sagen kann die Theologie über den Begriff Schöpfung. Sie ist deshalb nicht mit „Initialereignis“ zu definieren, weil sie umfassend ist, weil sie täglich weiter geht. Früher glaubten Dogmatiker, Gott müsse sie in jedem Augenblick erhalten, sonst stürze sie zusammen. Das kann heute niemand mehr glauben, unser Universum entwickelt sich eigentätig und erkaltet oder schrumpft wieder zurück im Zeitraum von Abermilliarden Jahren.
Der Theologie stellte sich damit ein neues Thema: Wenn Gott gar nicht in es eingreifen und es beenden kann, wenn auch das Leben auf unserem kleinen Planeten nur eine natürliche Katastrophe oder der Mensch beenden kann und es ansonsten noch gut 2 Milliarden mit der Sonne koexistieren könnte, wenn dem so ist, was bedeutet dann der alte Lehrsatz von der creatio continua?

Es gibt nur die Möglichkeit, sie anders zu verstehen, z.B. als Verhältnis eines Schöpfergottes zum Menschen auf dieser Welt. Wenn der Mensch sich Gedanken über Gott macht, braucht er nicht – wie bei der Suche nach Intelligenz auf fremden Planeten – auf Signale warten, sondern er muss zugleich die Fragen stellen und sich die Antworten Gottes ausdenken. Denn Gott kann nicht anders zum Menschen sprechen. Je selbstkritischer und je religionskritischer wir da vorankommen (ich glaube, Juden haben den Grund gut dazu gelegt), desto näher kommen wir dem Verhältnis Gottes zu seinem ganz Anderen, der materiellen Menschenwelt.
Der Begriff „Kränkungen des Menschen“ (nicht in der Mitte, Leib vom Affen, psychisch nicht Herr im eigenen Haus …) für eine klarere Welteinsicht wirkt da ganz falsch. Oder?

Ludwig Weimer

Simon Offline



Beiträge: 334

14.04.2016 18:25
#25 RE: Was ist Wahrheit? Antworten

Zitat von Noricus im Beitrag #15


"Man wäre wohl besser beraten, im juristischen Kontext nicht von Wahrheit, sondern - etwas hegelianisch - von Wirklichkeit zu sprechen. Das, was der Richter feststellt, ist vielleicht nicht die Wahrheit im Sinne dessen, was sich tatsächlich ereignet hat, aber es wird durch sein Urteil wirklich (im Sinne von: Wirkung zeigend).

Damit ist der Bogen zur Religion geschlagen: Auch wenn Johannes oder die anderen Evangelisten sich bestimmte literarische Freiheiten zugestanden haben, so sind die Evangelien doch Wirklichkeit, nämlich Glaubenswahrheiten, geworden."


Lieber Noricus,
mit dem ersten Absatz kann ich mich anfreunden. Wenn ich allerdings sophistisch bin, kann ich skeptisch fragen, ob das Urteil (und damit die relative Wahrheit?) auch immer Wirkung zeigt.

Zum 2. Absatz: Mit "Religion" meinen Sie wahrscheinlich den christlichen Glauben. Klar. Denn Sie beziehen sich ja auf das Joh.-Evangelium. Religion ist ansonsten eine bunte Kuh. Auch die Gewaltreligion Mohameds nennt sich so. Seine Religion und sein Koran sind Wirklichkeit, die gegenwärtig nicht gerade erfreuliche Wirkungen zeigt. - Von einer Glaubenswahrheit im christlichen Sinne erwarte ich mir dann schon eine Wahrheit, die auf einer Wirklichkeit basiert, die auch objektiv vernünftig ist. - Wie - mit welchen Mitteln - eine solche Wirklichkeit beschrieben ist, beschrieben werden kann, stellt für mich eigentlich kein Problem dar. - Für meine (irreführende) Rhetorik muss ich mich vielleicht an dieser Stelle entschuldigen.

Mit vielen Grüßen,
Simon

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