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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 78 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Seiten 1 | 2 | 3 | 4
Llarian Offline



Beiträge: 7.120

28.06.2016 01:17
Die Verachtung der Demokratie Antworten

Eine kurze Anmerkung zur Tagespresse.

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

28.06.2016 08:10
#2 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat
Ich bin kein besonders guter Demokrat. Ich meine das bestimmte Entscheidungen, wie die über Grundrechte und bestimmte Prinzipien des Rechtsstaates, nicht per Mehrheitsentscheidung getroffen werden können. Aber hier geht es nicht um den Rechtsstaat oder ein Grundrecht.


Ich habe den Eindruck gewonnen - nicht nur in den Medien, sondern auch aus Gesprächen mit Arbeitskollegen - dass die EU-Mitgliedschaft mittlerweile als einziger Garant für Frieden und Wohlstand gesehen wird.

Dabei werden offensichtliche Probleme wie Demokratidefizit, unterschiedliche Interessen und Handlungsweisen sowie die Verselbstständigung der EU-Funktionäre völlig ausgeblendet, und alles, was in Europa falsch läuft, dem Handeln der nationalen Regierungen zugeschrieben, getreu dem Motto: Wenn Europa nicht funktioniert, hilft nur mehr Europa. Dabei wird die Idee, dass lediglich die Abschaffung der Nationalstaaten ein Friedensgarant nicht in Frage gestellt.

Und natürlich ist das ganze Geschwätz verlogen, wenn man daran denkt, wie Augstein das griechische Referendum bejubelt hat und jetzt nix mehr wissen will von direkter Demokratie.

Gruß Petz

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

Doeding Offline




Beiträge: 2.612

28.06.2016 08:55
#3 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von Meister Petz im Beitrag #2
Dabei werden offensichtliche Probleme wie Demokratidefizit, unterschiedliche Interessen und Handlungsweisen sowie die Verselbstständigung der EU-Funktionäre völlig ausgeblendet, und alles, was in Europa falsch läuft, dem Handeln der nationalen Regierungen zugeschrieben, getreu dem Motto: Wenn Europa nicht funktioniert, hilft nur mehr Europa. Dabei wird die Idee, dass lediglich die Abschaffung der Nationalstaaten ein Friedensgarant nicht in Frage gestellt.


Das stimmt natürlich. Wobei ich in den letzten Tagen zuweilen folgenden Gedanken hatte. Demokratie lebt ganz wesentlich auch von der Möglichkeit der (Selbst)korrektur des Wählers, der Möglichkeit, Entscheidungen, die nach einiger Zeit mehrheitlich als falsch erlebt werden, durch neue Voten zurücknehmen/korrigieren zu können. Was, wenn in einem halben Jahr (es gibt Stimmen, die Cameron eine solche Strategie unterstellen) die kurzfristigen Nachteile des Brexit (damit meine ich nicht die Versuche, deutscher Medien, Katastrophen herbeizuschreiben sondern die wirklich in der Bevölkerung spürbaren Nachteile), meinetwegen zusammen mit der Erkenntnis, daß Leute wie Farage Flitzepiepenschaumschläger sind, sich in großen Teilen der Bevölkerung durchgesetzt haben könnten? "Darf" man dann ein zweites Referendum einberaumen?

Ich finde, daß das keine leicht zu beantwortende Frage ist. Dem Argument, daß die "Elite" auf diesem Wege so lange Referenden abhalten könnte, bis das Ergebnis "paßt", steht mMn die andernfalls der Bevölkerung vorenthaltene Möglichkeit zur demokratischen(!) Selbstkorrektur gegenüber. Auch letzteres könnte man als eine Verachtung der Demokratie ("ihr habt euch für die Sache entschieden, jetzt badet die Suppe mal schön aus, egal ob ihr das jetzt zu 75% anders seht" ist ja eine genauso elitäre Position) bezeichnen.

Herzliche Grüße,
Andreas

"Man kann einen gesellschaftlichen Diskurs darüber haben, was Meinungsfreiheit darf. Oder man hat Meinungsfreiheit." (Christian Zulliger)

Martin Offline



Beiträge: 4.129

28.06.2016 09:07
#4 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von Meister Petz im Beitrag #2

Zitat
Ich bin kein besonders guter Demokrat. Ich meine das bestimmte Entscheidungen, wie die über Grundrechte und bestimmte Prinzipien des Rechtsstaates, nicht per Mehrheitsentscheidung getroffen werden können. Aber hier geht es nicht um den Rechtsstaat oder ein Grundrecht.

Ich habe den Eindruck gewonnen - nicht nur in den Medien, sondern auch aus Gesprächen mit Arbeitskollegen - dass die EU-Mitgliedschaft mittlerweile als einziger Garant für Frieden und Wohlstand gesehen wird.



Das Merkwürdige ist: Egal ob Kollegen, ehemalige Kollegen, Bekannte aus Schule und Freunde: Das Thema Frieden und Wohlstand ist keines. Es ist einfach so selbstverständlich, dass sich niemand darüber Gedanken macht. Eher gibt es das Thema Sicherheit in Anbetracht des einen oder anderen Terroranschlags, der Eine oder Andere überlegt sich vielleicht, ob er zu einer größeren Veranstaltung gehen solle. Trotzdem empfindet Niemand eine unmittelbare Bedrohung.

Wenn aber die Sprache auf die EU kommt, dann gibt es große Übereinstimmung dazu, dass die EU in jedem Fall überbürokratisch, dann wenig demokratisch, aber auch durchaus korrupt ist.

Gruß, Martin

Doeding Offline




Beiträge: 2.612

28.06.2016 09:23
#5 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von Martin im Beitrag #4
Zitat von Meister Petz im Beitrag #2

Zitat
Ich bin kein besonders guter Demokrat. Ich meine das bestimmte Entscheidungen, wie die über Grundrechte und bestimmte Prinzipien des Rechtsstaates, nicht per Mehrheitsentscheidung getroffen werden können. Aber hier geht es nicht um den Rechtsstaat oder ein Grundrecht.

Ich habe den Eindruck gewonnen - nicht nur in den Medien, sondern auch aus Gesprächen mit Arbeitskollegen - dass die EU-Mitgliedschaft mittlerweile als einziger Garant für Frieden und Wohlstand gesehen wird.


Das Merkwürdige ist: Egal ob Kollegen, ehemalige Kollegen, Bekannte aus Schule und Freunde: Das Thema Frieden und Wohlstand ist keines.



Sicherlich ein Fehler, dies für selbstverständlich zu halten. Als Fehler erachte ich aber auch, die EU für 70 Jahre Frieden primär verantwortlich zu machen (Korrelation vs. Kausalität). Ich glaube, daß die Völker Europas nach zwei Katastrophen im 20 Jh. schlicht die Faxen dicke hatten, sich gegenseitig die Köppe einzuschlagen. So ein bisschen die Situation wie nach dem dreißigjährigen Krieg; der Westfälische Friede hat auch ziemlich lange vorgehalten, nach entsprechender kontinentaler Erschöpfung, und der fand auf (national)staatlicher Basis statt:

Zitat von https://de.wikipedia.org/wiki/Westfälischer_Friede
Nach heutigem Verständnis wird der Westfälische Friede als historischer Beitrag zu einer europäischen Friedensordnung gleichberechtigter Staaten und als Beitrag zum friedlichen Miteinander der Konfessionen gewertet. Die Verhandlungen von Münster, Osnabrück und Nürnberg stehen am Anfangspunkt einer Entwicklung, die zur Herausbildung des modernen Völkerrechts geführt hat, weshalb die Politikwissenschaft hier die Grundlagen des souveränen Nationalstaats sieht.



Herzliche Grüße,
Andreas

"Man kann einen gesellschaftlichen Diskurs darüber haben, was Meinungsfreiheit darf. Oder man hat Meinungsfreiheit." (Christian Zulliger)

Martin Offline



Beiträge: 4.129

28.06.2016 09:50
#6 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von Doeding im Beitrag #5
Zitat von Martin im Beitrag #4
Zitat von Meister Petz im Beitrag #2

Zitat
Ich bin kein besonders guter Demokrat. Ich meine das bestimmte Entscheidungen, wie die über Grundrechte und bestimmte Prinzipien des Rechtsstaates, nicht per Mehrheitsentscheidung getroffen werden können. Aber hier geht es nicht um den Rechtsstaat oder ein Grundrecht.

Ich habe den Eindruck gewonnen - nicht nur in den Medien, sondern auch aus Gesprächen mit Arbeitskollegen - dass die EU-Mitgliedschaft mittlerweile als einziger Garant für Frieden und Wohlstand gesehen wird.


Das Merkwürdige ist: Egal ob Kollegen, ehemalige Kollegen, Bekannte aus Schule und Freunde: Das Thema Frieden und Wohlstand ist keines.


Sicherlich ein Fehler, dies für selbstverständlich zu halten.




Lieber Andreas,

ich würde dies nicht als 'Fehler' titulieren. Jahrzehnte Erfahrung in internationalen Konzernen haben mich gelehrt, dass es bestimmte Zyklen gibt. Ein klassischer Zyklus ist eine Art Wettstreit zwischen Qualität und Business. Droht dem Business Ungemach wegen schlechter Qualität setzt das Management diese ganz oben auf die Prioritätsliste. Hat man die Qualität durch entsprechende Maßnahmen im Griff wird sie selbstverständlich. Der Zweck der Maßnahmen gerät in Vergessenheit, die Protagonisten des Business fangen an, diese auszuhöhlen. Und so beginnt der Zyklus von Neuem. Ich hatte mal eine ungefähre Zyklusdauer von zehn Jahren ausgemacht.

Im Geschäft treten die Folgen der mit ursächlichen menschlichen Schwächen gnadenlos zu Tage. In der Politik dagegen wird viel mit geliehenem Geld zugeschüttet. Beispielsweise das Verständnis dafür, woher unser Wohlstand kommen mag. In diesem Zusammenhang habe ich das US-amerikanische System immer den sozialistischen Systemen überlegen gesehen, weil dort in der Vergangenheit persönliche Fehler oder Leistungsbereitschaft bei den Individuen recht ungefiltert angekommen sind. Der amerikanische Wähler wusste aus dem persönlichen Mikrokosmos, woher sein Wohlstand kommt. Dies im Gegensatz zu vielen Deutschen. Ähnliches gilt auch in Sicherheitsfragen. Die Deutschen verstecken sich seit vielen Jahrzehnten hinter dem Amerikanischen Schutzschild, es war nicht die EU, die für Frieden sorgte, sondern die Amerikaner.

Gruß, Martin

Dennis the Menace Offline




Beiträge: 459

28.06.2016 09:56
#7 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von Meister Petz im Beitrag #2

Und natürlich ist das ganze Geschwätz verlogen, wenn man daran denkt, wie Augstein das griechische Referendum bejubelt hat und jetzt nix mehr wissen will von direkter Demokratie.


Gutes Beispiel. Die Regierung Tsipras hat auf das Ergebnis desselben geschissen und selbstverständlich in keiner Minute an eine Umsetzung gedacht. Auf einer recht kurzen Bank; wenn diese im vorliegenden Fall länger gemacht wird und realistischerweise mit der Vergesslichkeit und der Schwankungsbereitschaft des kleinen Mannes operiert wird, kann man sich Ähnliches in GB womöglich sogar vorstellen. Schaun mer mal.

In Referenden ein Hochamt der Demokratie zu erblicken ist m.E. schon arg kühn gedacht, lieber Petz. Es handelt sich eher um eine Inkarnation des top-down Verfahrens; okay, das muss man nicht unbedingt als generell undemokratisch ansehen, vielleicht eher als realistisches Demokratieverständnis versus die romantische Version.

Wie dem auch sei, was GB betrifft hat Cameron immerhin auf die tragende Säule der britischen DEMOKRATIE, nämlich die Parlamentssouveränität, großzügig verzichtet, das Parlament unter Zugzwang setzend als er dieses Mätzchen in der gegebenen Sache für eine außerordentlich kluge Idee hielt, indessen sich dabei mächtig verrechnet hat. Kommt bei taktischen Fisimatenten mitunter vor, siehe Merkel. Zugute halten kann man ihm, dass er diesbezüglich in GB nicht der erste war. Aber wenigstens war in den 70ern der Ausgang wunschgemäß, nicht zuletzt weil Thatcher sich gemeinsam mit der Labour-Regierung für ein "yes" stark gemacht hat, seinerzeit.

Dieses Ding aus kontinentaler, namentlich französischer Tradition, dort erstmals 1793 ausprobiert, hatte stets ein autoritäres Geschmäckle, welches natürlich auch ganz locker erwünscht sein kann, und wurde strategisch eingesetzt. Boris jedenfalls bekommt es nunmehr mit dem unangenehmen Sachverhalt zu tun, dass Demagogie nicht alles ist.

lich
Dennis

Martin Offline



Beiträge: 4.129

28.06.2016 11:01
#8 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #7


Wie dem auch sei, was GB betrifft hat Cameron immerhin auf die tragende Säule der britischen DEMOKRATIE, nämlich die Parlamentssouveränität, großzügig verzichtet, das Parlament unter Zugzwang setzend als er dieses Mätzchen in der gegebenen Sache für eine außerordentlich kluge Idee hielt, indessen sich dabei mächtig verrechnet hat.

lich
Dennis


Lieber Dennis,

so einfach ist das nicht. Hätte Cameron das Referendum nicht zum Wahlversprechen gemacht sähe Regierung und Parlament momentan vielleicht ganz anders aus. Warum ein Wahlversprechen ein Mätzchen sein soll sollten Sie vielleicht erklären.

Gruß, Martin

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

28.06.2016 11:09
#9 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von Martin im Beitrag #8
so einfach ist das nicht. Hätte Cameron das Referendum nicht zum Wahlversprechen gemacht sähe Regierung und Parlament momentan vielleicht ganz anders aus.
Ja, es hätte Labour den PM gestellt, weil UKIP mehr Wähler von den Conservatives abgezogen hätte. So ist das im Mehrheitswahlrecht.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

28.06.2016 11:42
#10 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Wir sind uns ja einig, daß die deutschen Medien einseitig und qualitativ problematisch sind. Aber kritische Berichterstattung zum Brexit ist nicht per se undemokratisch.

Zitat
Da gibt es eine Petition, deren Grundlage schon von sich aus extrem fragwürdig ist, ...


Und die wurde in erster Linie von britischen Medien fehlinterpretiert, die deutschen haben das ungeprüft übernommen.
Wobei sich das natürlich in erster Linie auf künftige Abstimmungen bezieht, die aktuelle demonstriert nur die Problematik.
Klar sollte jedenfalls sein, daß die Brexit-Abstimmung handwerklich ziemlich schlecht aufgesetzt war. Was nicht verwundert wenn ein Ziel zur Abstimmung gestellt wird von Leuten, die dieses Ziel selber ablehnen.

Zitat
die Chance, dass der Brexit nun doch von den Briten, die ja alle dann wieder "zur Vernunft" zurück gekommen sein werden, wieder einkassiert wird.


Das ist ja auch durchaus ein realistisches Szenario. Wenn man die britische Presse verfolgt - und zwar durchaus auch die Zeitungen, die den Brexit befürwortet haben - dann sieht man schon ziemlichen Frust, daß die drei zentralen Versprechen der Brexit-Kampagne sich jetzt als Nullnummern herausstellen.
Auch das jetzt drohende Auseinanderfallen des UK wurde während der Kampagne völlig ausgeblendet und kann gerade konservative Wähler zum Umdenken bringen.

Zitat
dass es eben gerade nicht dem Geist der Demokratie entspricht nach einer verlorenen Wahl oder Abstimmung sofort nach einer neuen Wahl oder Abstimmung zu rufen


Richtig. Manche Äußerungen dieser Art sind schon bizarr.
Aber es ist demokratisch völlig einwandfrei, die Korrektur einer verlorenen Wahl oder Abstimmung zu einem späteren Zeitpunkt zu wünschen und zu planen. Der eine naheliegende Zeitpunkt ist die nächste Parlamentswahl, der andere wäre der Abschluß der Verhandlungen mit der EU (in wahrscheinlich zwei Jahren). Beide Male können die britischen Wähler durchaus zum Schluß kommen, daß die Abstimmung letzte Woche keine gute Idee war und sie sich anders entscheiden.

Zitat
dass die Wahl ja von "alten Männern" entschieden worden wäre und die Jungen mehrheitlich anderer Meinung wären.


Auch dies ein Thema, daß aus GB übernommen wurde, weil es dort die Leute sehr beschäftigt.
Ich habe aber nirgends gelesen, daß jemand deswegen den Wahlmodus ändern möchte oder das Ergebnis anzweifelt.
Sondern es wird genau das Problem diskutiert, daß wir in ZR auch schon hatten: Ein vergreisende Gesellschaft neigt zur Erstarrung und verhindert dadurch Zukunftschancen.

Zitat
die Theorie (...), dass die englische Politik doch hingehen möge und das Votum ignorieren soll.


Das Ganze war nur ein konsultatives Votum, es war schon vorher klar, daß die Politik trotzdem anders entscheiden kann, insbesondere bei einer knappen Mehrheit.

Zitat
Die Idee sollte jedem, der das Wort Demokratie noch vor sich her trägt, die Schamesröte ins Gesicht treiben. Satt den glasklaren, erklärten Willen des Souveräns umzusetzen, soll einfach so lange abgestimmt werden, bis das Ergebnis stimmt.


Du verkennst die englische Tradition: Der Souverän ist das Parlament, nicht das Volk!
Kann man ja gerne persönlich anders sehen, aber ich würde sehr vorsichtig sein, die älteste demokratische Tradition der Welt als undemokratisch zu bezeichnen.

Im Parlament gibt es eine deutliche (etwa 70%) Mehrheit pro EU. Und es gibt kein imperatives Mandat, jeder Abgordnete ist frei und kann entscheiden, wie er es für richtig hält.
Wieso also sollten jetzt Abgeordnete en masse für eine Maßnahme stimmen, die sie inhaltlich für falsch halten und der sie über Jahre aktiv widersprochen haben?

Dieser Konflikt läßt sich in der Tat nur durch eine weitere Abstimmung lösen, d.h. im Zweifelsfall durch die nächste Parlamentswahl. Und wenn die Briten dann immer noch den Brexit wollen, dann müssen sie halt die entsprechenden Leute nach Westminster schicken.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

28.06.2016 11:47
#11 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von Meister Petz im Beitrag #2
und alles, was in Europa falsch läuft, dem Handeln der nationalen Regierungen zugeschrieben, getreu dem Motto

Das gibt es aber exakt genauso umgekehrt: An allem was falsch läuft, ist für manche Leute die EU schuld. Obwohl alle wesentlichen EU-Entscheidungen von den nationalen Regierungen getroffen werden!

Auch wenn sich Schulz und Juncker noch so sehr aufplustern, der faktische Einfluß der EU-Spitzen ist viel geringer, als es im dämonisierten Weltbild ihrer Gegner vorkommt.

Schönes Beispiel ist das verhaßte Glühbirnenverbot: Das ist im wesentlichen von der deutschen Bundesregierung in Brüssel durchgedrückt worden. Und hätten sie es nicht über die EU hinbekommen, hätten wir jetzt eben ein nationales Glühbirnenverbot.

Das eigentliche Problem in Europa ist, daß der allgemeine Mainstream zu grün ist und es zu oft Mehrheiten für dumme Maßnahmen gibt. Daran ist aber nicht die EU schuld. Und dumme Maßnahmen bleiben dumm, egal auf welcher Ebene sie beschlossen werden.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

28.06.2016 12:00
#12 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von Doeding im Beitrag #5
Als Fehler erachte ich aber auch, die EU für 70 Jahre Frieden primär verantwortlich zu machen (Korrelation vs. Kausalität).

Natürlich läßt sich diese Behauptung nicht beweisen und sie ist auf jeden Fall nicht belastbar genug, um so plump propagandistisch verwendet zu werden wie das teilweise geschieht.

Das heißt aber nicht, daß diese These falsch wäre. Im Gegenteil ist es deutlich plausibler, daß sie richtig ist. Beweisen kann man das (wie üblich bei Geschichte) natürlich nicht, auch nicht das Gegenteil.

Wir wissen, daß Handel Frieden sichern hilft ("wenn nicht Waren die Grenzen überqueren, tun es Soldaten"). Wir wissen, daß es dem Frieden hilft, wenn Staaten gemeinsam etwas unternehmen. Und die historische Erfahrung zeigt, daß gemeinsame Gremien und Streitschlichtungsverfahren ganz wichtig helfen, Konflikte nicht-militärisch zu lösen.
Von daher ist es schon naheliegend, daß die EU ein wichtiger Friedensfaktor (neben anderen) ist.

Zitat
Ich glaube, daß die Völker Europas nach zwei Katastrophen im 20 Jh. schlicht die Faxen dicke hatten, sich gegenseitig die Köppe einzuschlagen.


Da wäre ich vorsichtig. In vielen Bereichen zeigt sich doch sehr gut, daß historische Erfahrungen schon nach kurzer Zeit in den Wind geschlagen werden. Die Jugoslawen hatten auch genug Erfahrung und haben trotzdem einen grausamen Bürgerkrieg geführt.

Zitat
So ein bisschen die Situation wie nach dem dreißigjährigen Krieg; der Westfälische Friede hat auch ziemlich lange vorgehalten ...


Aber überhaupt nicht!
Während und nach dem dreißigjährigen Krieg haben die europäischen Staaten eine große Anzahl weiterer Kriege geführt. Die am stärksten betroffenen Gebiete in Deutschland mußten sich erst einmal um den Wiederaufbau kümmern, aber selbst das schwer verwüstete Brandenburg war schon nach gerade 25 Jahren wieder mit dabei, die Österreicher ohnehin dauernd. Der pfälzische Erbfolgekrieg beschäftigt schon 40 Jahre nach Münster/Osnabrück schon wieder große Teile Deutschlands, und ab dann gehen die Konflikte weiter, eigentlich bis zum Sturz Napoleons.
Von irgendeinem Lerneffekt war damals jedenfalls nichts zu sehen.

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

28.06.2016 12:11
#13 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #11
Zitat von Meister Petz im Beitrag #2
und alles, was in Europa falsch läuft, dem Handeln der nationalen Regierungen zugeschrieben, getreu dem Motto

Das gibt es aber exakt genauso umgekehrt: An allem was falsch läuft, ist für manche Leute die EU schuld. Obwohl alle wesentlichen EU-Entscheidungen von den nationalen Regierungen getroffen werden!

Auch wenn sich Schulz und Juncker noch so sehr aufplustern, der faktische Einfluß der EU-Spitzen ist viel geringer, als es im dämonisierten Weltbild ihrer Gegner vorkommt.

Schönes Beispiel ist das verhaßte Glühbirnenverbot: Das ist im wesentlichen von der deutschen Bundesregierung in Brüssel durchgedrückt worden. Und hätten sie es nicht über die EU hinbekommen, hätten wir jetzt eben ein nationales Glühbirnenverbot.

Das eigentliche Problem in Europa ist, daß der allgemeine Mainstream zu grün ist und es zu oft Mehrheiten für dumme Maßnahmen gibt. Daran ist aber nicht die EU schuld. Und dumme Maßnahmen bleiben dumm, egal auf welcher Ebene sie beschlossen werden.

Aber die EU hat eine unglaubliche Verstärkerwirkung für dumme Maßnahmen.
a) erschwert sie die Möglichkeit, dumme Maßnahmen zu korrigieren
b) betätigt sie sich als großer Gleichmacher, die Maßnahmen, die in Land a) sinnvoll sind, auch auf Land b) mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen ausweitet
c) verhindert sie dadurch den Wettbewerb um die beste Lösung

Es geht auch bei Schulz und Juncker nicht um ihren tatsächlichen Einfluss, sondern um die Art und Weise ihres Handelns. Wenn Merkels "Alternativlosigkeit" schon in einem weitgehend homogenen Deutschland auf Ablehnung stößt, wie können sich diese zweifelhaft legitimierten Kasper aufführen, als ob sie der Kaiser Augustus wären und die Pax Europaea für sich gepachtet haben.

Zitat
Wir wissen, daß Handel Frieden sichern hilft ("wenn nicht Waren die Grenzen überqueren, tun es Soldaten"). Wir wissen, daß es dem Frieden hilft, wenn Staaten gemeinsam etwas unternehmen. Und die historische Erfahrung zeigt, daß gemeinsame Gremien und Streitschlichtungsverfahren ganz wichtig helfen, Konflikte nicht-militärisch zu lösen.
Von daher ist es schon naheliegend, daß die EU ein wichtiger Friedensfaktor (neben anderen) ist


Richtig. Die EWG (die formal immer noch besteht als Teil der EU) ist der Friedensfaktor. Und nicht eine herbeiphantasierte politische Union mit einem herbeiphantasierten Staatsvolk und einer herbeiphantasierten Nationalität (alles post factum wohlgemerkt). Man braucht nicht einmal Nationalist sein, um dieses Konzept in Frage zu stellen. Man muss lediglich das Subsidiaritätsprinzip hochhalten, das in der EU nicht das Papier wert ist, auf dem es steht.

Gruß Petz

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

28.06.2016 12:12
#14 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von Llarian
S[t]att den glasklaren, erklärten Willen des Souveräns umzusetzen, soll einfach so lange abgestimmt werden, bis das Ergebnis stimmt.


Als Prinzip wäre dieses Vorgehen sicher unschön, wir haben es ja seitens der EU mehrfach erlebt und zu recht kritisiert. Aber was den vorliegenden Fall betrifft, möchte ich doch ein paar Anmerkungen machen.

Erstens ist es hier mit dem "glasklaren, erklärten Willen des Souveräns" nicht so weit her. 51,8% ist bestenfalls eine sehr knappe Mehrheit, glasklar ist hier nicht "der Wille des Souveräns", sondern eine Spaltung der Gesellschaft in zwei etwa gleich große Lager. Das ist nicht einmal näherungsweise ein glasklar erklärter Wille, sondern so weit das Gegenteil davon, wie es nur geht. In einer Parlamentsabstimmung kann manchmal eine Stimme den Ausschlag geben, aber hier hatten wir ja keine solche repräsentative Abstimmung nach ordentlicher Debatte, sondern einen von Demagogie und absurden Behauptungen dominierten Fischzug im Trüben. Dieses Ergebnis macht es für jeden politischen Entscheidungsträger extrem schwer bis unmöglich, denn was immer er entscheidet, er wird bestenfalls (!) etwa die Hälfte der Bevölkerung gegen sich haben, und da die Spaltung der Gesellschaft quer zu den Parteilinien (UKIP ausgenommen) verläuft, ist das für einen Politiker eine äußerst unangenehme Situation.

Zweitens: Das Referendum war verfehlt, nicht nur weil es ohnehin überflüssig war wie ein Kropf und jeder Ausgang für das Land schlechter als der Status Quo, sondern vor allem weil hier nicht zwei klar definierte Alternativen zur Auswahl vorgelegt wurden. "Remain a member of the EU" ist klar genug, aber "Leave the EU" ist kein konkreter Plan. Schnell raus und nichts wie weg hier - das ist eine in einer kritischen Situation ggf. hilfreiche Panikreaktion, aber kein Plan für die weitere Existenz. Diese inhaltliche Leere des Referendums (auf die ich schon vorher hingewiesen hatte) zeigt sich jetzt nur allzu deutlich. Boris Johnson hat schon etwas von EEA und Norwegen gemurmelt, aber diese Lösung, obwohl dem Abstimmungsergebnis "Leave the EU" entsprechend, wäre genau das Gegenteil von dem, was sich wohl viele "Leave"-Wähler erhofft haben: die EEA-Mitgliedschaft brächte Großbritannien Schengen, also Null Kontrolle über die eigenen Grenzen; volle Beitragszahlungen ohne die bisher geltenden Rabatte; und dabei Null Einfluß auf die Entwicklung und Entscheidungen der EU. Das brächte keinerlei Verbesserung gegenüber dem Status Quo und es wäre völlig irre, dies etwa auf Basis des Ergebnisses dieses Referendums durchzuziehen.
Das Problem ist, daß hinter den 51,8% sich eine Vielfalt verschiedener Hoffnungen und Vorstellungen (viele davon widersprüchlich und unrealistisch) verbirgt, keineswegs ein monolithischer "Wille des Volkes", selbst wenn wir die restlichen 48,2% dieses Volkes "demokratisch" ignorieren.

Drittens ist Großbritannien eine parlamentarische Demokratie, nicht eine durch Plebiszit geführte. Das Referendumsergebnis ist kein klares Mandat, sondern ein fast unlösbares Problem für die Politik. (Dabei übrigens meines Erachtens ein Scheinproblem, das überhaupt nicht dawäre, wenn entweder die Alternativen klarer definiert worden wären oder wenn Cameron mit seinem halbherzigen Verhandlungsversuch bei der EU nicht so auf Granit gebissen hätte.) Die Abgeordneten sind in erster Linie ihrem Gewissen verpflichtet. Es ist natürlich zu befürchten, daß sich manche oder viele von ihnen durch das knappe "Leave"-Votum dazu gedrängt sehen, für etwas zu stimmen, das ihrem Gewissen gemäß dem Land schadet, aber idealerweise sollte es nicht so sein. Hierzu eine Meinung:

Zitat von barristerblogger
If he does, it will be an abdication of what he was elected to do: to use his own judgement in order to best further the interests of his constituents and the country as a whole. [...]
That, of course, is the constitutional principle upon which our Parliamentary democracy is based. MPs betray their constituents if they vote against their consciences. For many, that is the crowning glory of the British constitution.
When Boris Johnson, or Theresa May or whoever it is, returns from Brussels waving a piece of paper containing what may be a very bad deal for Britain, we shall see then whether we live in a Parliamentary democracy. If we do, MPs should vote it down.
On the other hand, if – on what will be perhaps the most important vote of their political lives – MPs feel constrained to keep quiet, to set aside their consciences, their backbones and their self-respect to vote in favour of something they oppose, merely because of the results of a referendum, then we will know that British Parliamentary democracy is dead, its throat slashed by a referendum.

Wenn er [sc. ein Parlamentsabgeordneter] es tut [sc. gegen sein Gewissen abstimmt], dann wird das eine Abdankung von der Aufgabe sein, zu der er gewählt wurde: sein eigenes Urteilsvermögen im besten Interesse seines Wahlkreises und des Landes als ganzes einzusetzen. [...]
Das ist natürlich das Verfassungsprinzip, auf dem unsere parlamentarische Demokratie beruht. Abgeordnete verraten ihren Wahlkreis, wenn sie gegen ihr Gewissen abstimmen. Für viele ist das die Krönung der britischen Verfassung.
Wenn Boris Johnson, Theresa May oder wer immer mit einem Papier aus Brüssel zurückkommt, das ein möglicherweise sehr ungünstiges Ergebnis für Großbritannien enthält, dann werden wir sehen, ob wir in einer parlamentarischen Demokratie leben. Falls ja, dann sollten die Abgeordneten es ablehnen.
Falls aber die Abgeordneten sich - in der vielleicht wichtigsten Abstimmung ihres politischen Lebens - zur Beistimmung gedrängt fühlen, dazu, ihr Gewissen, ihr Rückgrat und ihr Selbstverständnis beiseitezuschieben und für etwas zu stimmen, das sie eigentlich ablehnen, bloß aufgrund des Ergebnisses eines Referendums, dann werden wir wissen, daß die britische parlamentarische Demokratie tot ist, ihre Kehle von einem Referendum durchschnitten.



Diktatur der Mehrheit darf man nicht mit Demokratie verwechseln.

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

28.06.2016 12:13
#15 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #12
Wir wissen, daß Handel Frieden sichern hilft ("wenn nicht Waren die Grenzen überqueren, tun es Soldaten"). Wir wissen, daß es dem Frieden hilft, wenn Staaten gemeinsam etwas unternehmen. Und die historische Erfahrung zeigt, daß gemeinsame Gremien und Streitschlichtungsverfahren ganz wichtig helfen, Konflikte nicht-militärisch zu lösen.
Von daher ist es schon naheliegend, daß die EU ein wichtiger Friedensfaktor (neben anderen) ist.
Da gibt es sogar einen Beweis, den das Vereinigte Königreich erlebt hat, als es sich mit einem Nicht-EU-Mitglied gewaltsam um Fischereirechte gestritten hat. In der EU ist dies ja quotiert und abgesprochen. Damals aber war der Sieger der Konfrontation derselbe wie gestern beim Fußball.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

28.06.2016 12:58
#16 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von Meister Petz im Beitrag #13
Aber die EU hat eine unglaubliche Verstärkerwirkung für dumme Maßnahmen.

Eigentlich nicht.
Der Abstimmungsprozeß in der EU ist komplizierter und länger als auf nationaler Ebene. D.h. es ist deutlich umständlicher, Fehler zu korrgieren. Aber es ist auch deutlich umständlicher, Fehler zu machen.

Inhaltlich kann man (gerade als Nicht-Grüner) viel kritisieren, was von der EU beschlossen wird. Aber die handwerkliche Qualität ist meistens höher als bei dem, was üblicherweise in Berlin verzapft wird.

Zitat
betätigt sie sich als großer Gleichmacher, die Maßnahmen, die in Land a) sinnvoll sind, auch auf Land b) mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen ausweitet


It's not a bug, it's a feature.
Es ist natürlich viel sinnvoller für GB, mit den altgewohnten Zoll-Maßen zu arbeiten und für den Kontinent sinnvoller, die lange eingeführte Metrik zu benutzen.
Ganz bewußt will man, daß die EU in diesem wie in vielen anderen Bereichen als Gleichmacher fungiert und EINE Methodik durchsetzt. Damit es anschließend für alle Beteiligten leichter wird.

Es ist natürlich immer eine Abwägungsfrage, wo die lokale Anpassung und wo die Vereinheitlichung günstiger sind. Bei der Seilbahn-Richtlinie für Meck-Pomm wurde deutlich falsch abgewägt.

Aber grundsätzlich überwiegen sehr häufig die Vorteile der "Gleichmacherei" gerade bei Warenstandards. Das ist also schon ein Wert für sich und deswegen sinnvollerweise EU-Aufgabe.

Zitat
verhindert sie dadurch den Wettbewerb um die beste Lösung


Das ist bei jeder Normung so. Früher gab es verschiedene Typen Elektro-Steckdosen in Deutschland. Inzwischen gibt es nur noch einen Typ und keinen Wettbewerb um die beste Lösung mehr. Finde ich aber gut so.
Der Wettbewerb ist weltweit noch im Gange - und führt eigentlich nur zu Ärger.

Zitat
Wenn Merkels "Alternativlosigkeit" schon in einem weitgehend homogenen Deutschland auf Ablehnung stößt, wie können sich diese zweifelhaft legitimierten Kasper aufführen, als ob sie der Kaiser Augustus wären und die Pax Europaea für sich gepachtet haben.


Richtig. Aber nur weil sie sich so aufführen, muß man ihnen das ja nicht abnehmen.

Zitat
Richtig. Die EWG (die formal immer noch besteht als Teil der EU) ist der Friedensfaktor.


Das ist eine sinnlose Unterscheidung. Die EU ist die weiterentwickelte EWG und in alter wie neuer Form ist sie Friedensfaktor.

Zitat
Und nicht eine herbeiphantasierte politische Union mit einem herbeiphantasierten Staatsvolk und einer herbeiphantasierten Nationalität (alles post factum wohlgemerkt). Man braucht nicht einmal Nationalist sein, um dieses Konzept in Frage zu stellen. Man muss lediglich das Subsidiaritätsprinzip hochhalten, das in der EU nicht das Papier wert ist, auf dem es steht.


Völlige Zustimmung. Mehr Subsidiarität wäre sinnvoll und in diese Richtung sollte es gehen.
Aber mit Brexit und dergleichen geht man eben nicht in Richtung mehr Subsidiarität, sondern schüttet das Kind mit dem Bade aus. "Exits" sind kein Ersatz für EU-Reformen. Und in einem Europa nach lauter "Exits" würde ich die Friedensfaktor-Wirkung vermissen.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

28.06.2016 13:04
#17 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #14
Erstens ist es hier mit dem "glasklaren, erklärten Willen des Souveräns" nicht so weit her. 51,8% ist bestenfalls eine sehr knappe Mehrheit,

Das Problem wird noch verschärft, weil Briten, die längere Zeit in der EU leben sowie britische EU-Bedienstete kein Stimmrecht hatten. Da geht es um wahrscheinlich fast eine Million potentieller Wahlberechtigter, die ganz überwiegend Pro-EU gestimmt hätten.
Juristisch ist der Ausschluß wasserdicht, aber bei der Interpretation der Mehrheit ein wichtiger Punkt.

hubersn Offline



Beiträge: 1.342

28.06.2016 13:13
#18 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #16
Früher gab es verschiedene Typen Elektro-Steckdosen in Deutschland. Inzwischen gibt es nur noch einen Typ und keinen Wettbewerb um die beste Lösung mehr. Finde ich aber gut so.
Der Wettbewerb ist weltweit noch im Gange - und führt eigentlich nur zu Ärger.



Dieser "Wettbewerb" ist ja sogar noch EU-weit im Gange - da hätte die EU mal was vernünftig harmonisieren können. Stattdessen: Glühbirnen abschaffen, den maximalen Wasserdurchfluss bei Duschköpfen begrenzen, die maximale Leistungsaufnahme von Staubsaugern regulieren. Ja, man hat sogar drüber nachgedacht, die maximale Leistung von Wasserkochern zu begrenzen. Man fasst es nicht.

Gruß
hubersn

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hubersn Offline



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28.06.2016 13:20
#19 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #16
Mehr Subsidiarität wäre sinnvoll und in diese Richtung sollte es gehen. Aber mit Brexit und dergleichen geht man eben nicht in Richtung mehr Subsidiarität, sondern schüttet das Kind mit dem Bade aus.



Der Kampf um mehr Subsidiarität wird doch seit Jahrzehnten gekämpft (OK, vielleicht wird nur davon gesprochen). Irgendwann ist halt Schluss.

Wenn es GB (oder UK oder Wales+England) gelingt, entsprechende Freihandelsabkommen mit dem Rest der Welt (und irgendwann vielleicht mit der EU) zu schließen, und wieder eine im Ansatz liberale Thatcher-artige Wirtschaftspolitik ins Unterhaus einzieht war der Brexit genau die richtige Entscheidung.

Natürlich gibt es auch reichlich Möglichkeiten, es zu versauen. Man wird sehen.

Zitat von R.A. im Beitrag #16

"Exits" sind kein Ersatz für EU-Reformen.



Für die, die in der EU verbleiben, in der Tat nicht. Die sollten sich den Austritt überlegen. Ob die EU aus dem Innern reformierbar ist, dieser Nachweis wurde IMHO noch nicht erbracht.

Gruß
hubersn

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Hias Offline



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28.06.2016 13:39
#20 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat
Richtig. Die EWG (die formal immer noch besteht als Teil der EU) ist der Friedensfaktor. Und nicht eine herbeiphantasierte politische Union mit einem herbeiphantasierten Staatsvolk und einer herbeiphantasierten Nationalität (alles post factum wohlgemerkt). Man braucht nicht einmal Nationalist sein, um dieses Konzept in Frage zu stellen. Man muss lediglich das Subsidiaritätsprinzip hochhalten, das in der EU nicht das Papier wert ist, auf dem es steht.



Wie R.A. schon sagte hat Freihandel zwischen Staaten einen positiven Effekt, aber er ist kein Garant für den Frieden! Wirtschaftshistoriker sind sich einig, dass die erste große Globalisierungswelle um Anfang des 20. Jahrhunderts erreicht worden war. Die Weltwirtschaft war in einem Ausmaß integriert, der erst wieder Ende der 1980er/ Anfang der 1990er Jahre erreicht worden ist. Diese massive wirtschaftliche Integration hat nicht den 1. Weltkrieg verhindert. Wenn sie es aktueller wollen, dann schauen sie sich den Konflikt zwischen den WTO-Mitgliedern Ukraine und Rußland an. Die Zwischenkriegszeit hat dann gezeigt, dass auch internationale Organisationen und Schlichtungsstellen (wie Völkerbund) alleine nicht ausreichen um den Frieden abzusichern. Das bisher erfolgreichste Projekt in dieser Hinsicht ist die EU zusammen mit den vier Grundfreiheiten und der NATO. Und bevor sie mutmaßen, nein, auch die NATO alleine reicht nicht aus (vgl. Griechenland und Türkei).
Wenn man böse wäre: Wahrscheinlich ist das große Erfolgsrezept der EU, dass sich Energie, Beschimpfungen und negative Energie größtenteils auf Brüssel richten und nicht so sehr auf die Nachbarn

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

28.06.2016 13:47
#21 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von hubersn im Beitrag #18
Ja, man hat sogar drüber nachgedacht, die maximale Leistung von Wasserkochern zu begrenzen. Man fasst es nicht.

Und was hat das jetzt konkret mit der EU zu tun?
Natürlich ist es eine bescheuerte Idee, Wasserkocher so zu reglementieren. Eine typische grün/sozialistische dumme Idee.

Nur: Wenn ein Bundesland oder die Bundesregierung so etwas beschließen, dann nenne wir das auch eine typische grün/sozialistische dumme Idee und gegen den entsprechenden Parteien/Politikern die Schuld.
Keiner kommt auf die Idee, "der Bundesrepublik" die Schuld zu geben und eine Rückabwicklung der Einheit zu fordern. Oder die Unabhängigkeit seiner Stadt vom jeweiligen Bundesland.
Aber wenn irgendwelche Politiker eine EU-Regelung durchsetzen, dann wird plötzlich die EU in Frage gestellt.

Das ist so völlig absurd.

Denn WENN es wirklich nötig wäre, die Gefahren von Wasserkochern zu bändigen - DANN sollte man es natürlich auf EU-Ebene tun. Weil ein Wasserkocher in Bayern nicht gefährlicher oder ungefährlicher ist als in Sizilien.
Der Verzicht auf eine EU-weite Regelung bedeutet dann, daß in jedem Land die Wasserkocher anders reglementiert werden und kein echter Binnenmarkt mehr möglich ist.
In einer Zeit, in der echter und vorgeblicher Verbraucherschutz massiv in die Märkte eingreift, ist Freihandel ohne gemeinsame Standards eben nicht mehr möglich.


Und noch viel schlimmer ist das in den zahlreichen Fällen, in denen eine recht locker gefaßte EU-Richtlinie in sehr doofes nationales Recht umgesetzt wird. Das ist besonders eine deutsche Spezialität. Rot/grün will irgendeinen Unsinn durchdrücken, und versteckt sich gegen mögliche Kritik hinter "das hat die EU so verlangt".
Und alle fallen drauf rein und schimpfen auf Brüssel.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

28.06.2016 14:12
#22 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von hubersn im Beitrag #19
Wenn es GB (oder UK oder Wales+England) gelingt, entsprechende Freihandelsabkommen mit dem Rest der Welt (und irgendwann vielleicht mit der EU) zu schließen, und wieder eine im Ansatz liberale Thatcher-artige Wirtschaftspolitik ins Unterhaus einzieht war der Brexit genau die richtige Entscheidung.

Eine liberale Thatcher-artige Wirtschaftspolitik würde ich auch für wünschenswert halten; die Regierung Cameron ging auch eindeutige Schritte in diese Richtung. Aber das ist jetzt erst einmal vorbei. In der näheren Zukunft sehe ich eher das genaue Gegenteil kommen: Steuererhöhung, mehr Zentralplanung und Umverteilung, um die sozialen Folgen der eintretenden erheblichen Wirtschaftsschäden abzumildern zu versuchen; vielleicht Handelshindernisse, wenn die xenophobe, isolationistische Seite der "Leave"-Bewegung die politische Oberhand erhält (z.B. im Form von UKIP oder den Ausstiegs-Konservativen). Nicht viel besser sieht es aus, wenn stattdessen Labour ans Ruder kommt, in Form von trotzkyistischem Corbyn, gewerkschaftsfreundlichem Watson oder einem Revival des derzeit kaltgestellten Blairiten-Flügels.

Ich fürchte, die aufkeimende thatcheristische freie Wirtschaftspolitik der Cameron-Regierung wurde letzte Woche nebenbei abgewählt.

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

28.06.2016 14:19
#23 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #22
Eine liberale Thatcher-artige Wirtschaftspolitik würde ich auch für wünschenswert halten; die Regierung Cameron ging auch eindeutige Schritte in diese Richtung. Aber das ist jetzt erst einmal vorbei. In der näheren Zukunft sehe ich eher das genaue Gegenteil kommen: Steuererhöhung, mehr Zentralplanung und Umverteilung, um die sozialen Folgen der eintretenden erheblichen Wirtschaftsschäden abzumildern zu versuchen; vielleicht Handelshindernisse, wenn die xenophobe, isolationistische Seite der "Leave"-Bewegung die politische Oberhand erhält (z.B. im Form von UKIP oder den Ausstiegs-Konservativen). Nicht viel besser sieht es aus, wenn stattdessen Labour ans Ruder kommt, in Form von trotzkyistischem Corbyn, gewerkschaftsfreundlichem Watson oder einem Revival des derzeit kaltgestellten Blairiten-Flügels.

Ich fürchte, die aufkeimende thatcheristische freie Wirtschaftspolitik der Cameron-Regierung wurde letzte Woche nebenbei abgewählt.

Man muss dabei noch bedenken, dass der aktuell treibende Motor des UK-Sozialismus Sturgeons SNP ist. Tritt also Schottland wie geplant aus, hat der Thatchrismus wieder bessere Chancen. Und UKIP könnte sich als Ein-Themen-Partei zu Tode gesiegt haben...

Gruß Petz

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

28.06.2016 14:59
#24 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von Hias im Beitrag #20
Wirtschaftshistoriker sind sich einig, dass die erste große Globalisierungswelle um Anfang des 20. Jahrhunderts erreicht worden war. Die Weltwirtschaft war in einem Ausmaß integriert, der erst wieder Ende der 1980er/ Anfang der 1990er Jahre erreicht worden ist. Diese massive wirtschaftliche Integration hat nicht den 1. Weltkrieg verhindert.
Es gab zwar internationalen Handel, aber gleichzeitig auch starke Autarkiebestrebungen, die ja den Kolonialismus genährt haben. Zählt man die Kolonien als Ausland, dann hatte man freilich eine engere Wirtschaftsintegration. Für das Kalkül, ob sich ein Krieg für eine Kolonialmacht wirtschaftlich lohnt, spielt diese Art von Integration aber keine Rolle.

Zitat von Hias im Beitrag #20
Wenn sie es aktueller wollen, dann schauen sie sich den Konflikt zwischen den WTO-Mitgliedern Ukraine und Rußland an.
Das ist eigentlich andersherum: Die Aussicht für Rußland war, daß die Ukraine eine Zollunion mit der EU bekommt. Dann wäre für Rußland plötzlich die Kontrolle über große Teile des eigenen Außenhandels verlorengegangen, weil Rußland und die Ukraine schon für viele Waren eine Zollunion haben, und der ganze Handelsverkehr zwischen EU und RU über zollfrei über UA abgewickelt würde. Die Ukraine kann nicht Mitglied mehrerer Zollunionen sein. Kein Land kann das. Das Abkommen mit der EU macht automatisch das mit Rußland hinfällig. So etwas mußte Putin verhindern. Leider griff er dabei aus Doofheit zu einer Eskalation, in den Anlaß hat hinfällig werden lassen. Doof waren aber auch die europäischen Verhandler, die diese Situation für Rußland hätten kommen sehen müssen. Da war man zu faul oder hochnäsig, Rußland als Betroffenen des EU-UA-Abkommens einzubeziehen.

Zitat von Hias im Beitrag #20
Wenn man böse wäre: Wahrscheinlich ist das große Erfolgsrezept der EU, dass sich Energie, Beschimpfungen und negative Energie größtenteils auf Brüssel richten und nicht so sehr auf die Nachbarn
So böse ist es doch nicht. Demokratie funktioniert nach demselben Prinzip: Sie eröffnet Möglichkeiten, politische Meinungsunterschiede über Institutionen und Beschimpfungen auszutragen, so daß nicht gleich ein Bürgerkrieg ausbrechen muß. Freilich hat man auch den Rebound-Effekt, daß so über Maßnahmen diskutiert wird, die man sonst bloß mit Zähneknirschend vom Herrscher hingenommen hätte. Aber dies ist ja auch ein Zeichen von mehr Teilhabe.
Auf europäischer Ebene sind diese Maßnahmen analog die des Freihandels: Freizügigkeit von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital waren selten der alleinige Grund für gewaltsame Revolutionen. Aber dank der Europäischen Eingung haben wir den Nutzen daraus trotzdem.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

28.06.2016 15:13
#25 RE: Die Verachtung der Demokratie Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #17
Zitat von Fluminist im Beitrag #14
Erstens ist es hier mit dem "glasklaren, erklärten Willen des Souveräns" nicht so weit her. 51,8% ist bestenfalls eine sehr knappe Mehrheit,

Das Problem wird noch verschärft, weil Briten, die längere Zeit in der EU leben sowie britische EU-Bedienstete kein Stimmrecht hatten. Da geht es um wahrscheinlich fast eine Million potentieller Wahlberechtigter, die ganz überwiegend Pro-EU gestimmt hätten.
Juristisch ist der Ausschluß wasserdicht, aber bei der Interpretation der Mehrheit ein wichtiger Punkt.

Bei der Interpretation ist auch zu bedenken, daß das Vereinigte Königreich aus mehreren Ländern besteht, siehe z.B. die Diskussion hier.

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