Zitat von Zettels RaumIm vorigen Jahr wurde seine Übersetzung des wohl am meisten gelesenen SF-Romans Chinas, dem ersten Band von Liu Cixins Santi-Trilogie, bei Tor Books unter dem Titel "The Three-Body Problem" (im Original 2006 erschienen; in Übersetzung 2014), als erster, tja: kann man in diesem Fall sagen "fremdsprachiger"? Roman mit dem Hugo Award bedacht. (Kleine Fußnote am Rand: es wurde von der Pressestelle des Weißen Hauses im vorigen Jahr mitgeteilt, das Buch zähle zu Präsident Obamas Sommerurlaubslektürevorrat. Eine Abprüfung auf wirklich erfolgte Lektüre scheint noch auszustehen. Andererseits kann ich - aus zweiter Hand gesichert - versichern, daß es unter Pekinger Studenten keinen geben soll, der mit dem Buch nicht vertraut sei. Allerdings scheint es sich, und hier scheint Nerd-Lektüre höchst kulturinvariant zu sein, sich ausschließlich um männliche Leser handeln.)
Und die deutsche Übersetzung wird, für einen SF-Roman absolut untypisch, auf SPON heute prominent gewürdigt (Hugo Awards? Im Spiegel? ):
Zitat von SPON, 14.12.Science-Fiction-Erfolg "Die drei Sonnen" Der China-Bestseller
Barack Obama ist Fan, Mark Zuckerberg auch: Der Science-Fiction-Roman "Die drei Sonnen" gehört zu den aufregendsten Büchern, die in jüngster Zeit aus dem Chinesischen übersetzt worden sind. ... Science-Fiction und kulturrevolutionärer Wahnsinn - es mag danach aussehen, als bediene sich der Autor des fantastischen Genres, um indirekt über vermeintlich tabuisierte Themen zu schreiben. Muss aber nicht zwingend so sein.
"Ich schreibe Science-Fiction, um Science-Fiction zu schreiben, nicht um über Bande die Realität zu kritisieren", sagt Liu am Eröffnungstag der Frankfurter Buchmesse im Oktober. Er sitzt in einem unterkühlten Raum in einer der Messehallen, ein Mann von 53 Jahren mit sehr kurzem Haar und einer schwarzen Hornbrille. Bis vor kurzem arbeitete er als Software-Ingenieur in einem Kraftwerk in der Provinz Shanxi. Erst seit Neuestem ist er hauptberuflich Schriftsteller.
Liu sagt, er schreibe realistische Passagen, damit sich die chinesischen Leser zurechtfänden. Anders als im Westen gibt es in China keine Science-Fiction-Tradition, ein fantastischer Roman müsse deswegen in der Realität beginnen und sich dann langsam von ihr lösen. Liu zählt keinen chinesischen Autor zu seinen Vorbildern, er ist groß geworden mit Jules Verne, George Orwell und Arthur C. Clarke.
Aber auch in der Literatur gilt: China holt im Zeitraffer nach, was der Westen in mehreren Jahrzehnten durchlaufen hat. Derzeit scheint es einen regelrechten Boom an chinesischer Science-Fiction-Literatur zu geben. Gerade erst hat auch die Autorin Hao Jingfang den Hugo Award (für die beste Erzählung) gewonnen.
Ich habe übrigens vor zwei Jahren, als die englische Übersetzung bei Tor Books herauskam, keine Rezension gepostet (was ich mir zuerst vorgenommen hatte), weil ich mir komplett über die Wirkung & die Intention des Auftakts im Unklaren war. Das Buch startet richtig schockhaft mit einem Wurf in das Grauen der Kulturrevolution.
Zitat "Die drei Sonnen" verfolgt mehrere Handlungsstränge und beginnt in der Kulturrevolution der Sechzigerjahre. Die Astrophysikerin Ye Wenjie muss mit ansehen, wie ihr Vater, ein angesehener Akademiker, von vier Rotgardistinnen mit einem Ledergürtel zu Tode geprügelt wird.
Weil er darauf besteht, daß die Relativitätstheorie wahr ist & gelehrt werden sollte. Der Roman hat (in der englischen Übersetzung) 42 Fußnoten - mit abnehmender Frequenz nach hinten - die Hälfte vom Autor, die andere vom Übersetzer Ken Liu & zur Erläuterung dieses zeitgeschichtlichen Hintergrunds besonders dicht. Die Leser sind (s.o.) Schüler & Studenten. Und die haben gerade von den tabuisierten Episoden des Maoismus: 100-Blumen, Großer Sprung nach vorn, Kulturrevolution - nur ganz vage Ahnungen. Ist das Buch also eine schockhafte Konfrontation mit den Realitäten mit den dunkelsten Kapiteln, historische Aufklärung unter dem Schutz des utopisch-technischen Abenteuers? Oder ist das eine Gründung im vertrauten Heimatraum, wenn auch zeitlich genug entrückt, um das exotische Thema: Kontakt mit Außerirdischen - in für den Leser bekannten Gefilden anzusiedeln & dessen Geheimhaltung glaubhaft zu machen?
(Die drei überlebenden Rotgardistinnen treten übrigens in einer der bewegendsten, weil ganz unterkühlt gespielten, Episode später im Buch noch einmal auf: nach ihrer Rückkehr nach Peking Ende der 70er Jahre nimmt Ye Wenjie Kontakt zu denen auf, deren Gesichter sie nie vergessen hat, in der vagen Hoffnung, Rache zu nehmen oder sie wenigstens mit ihrer Schuld zu konfrontieren. Nur sind die völlig unzugänglich & haben nur ihre eigenen Leben im Blick, als sie nach dem Ende der Roten Terrors selbst "aufs Land geschickt" wurden & jahrelang erbärmlicher als das Vieh im Sklavendienst fronen mußten. Nur ihre Arroganz gegenüber ihrem einstigen Opfer haben sie um keinen Deut eingebüßt.)
In seinem Nachwort/Aufsatz zu allen drei Bänden der Trilogie, The Worst of All Possible Universes and the Best of All Possible Earths, am 7. Mai 2014 auf Tor.com erschienen & nachgedruckt in Ken Lius Anthologie neuer chinesischer SF, Invisible Planets: 13 Visions of the Future from China (Head of Zeus, November 2016), beschreibt Cixin Liu, wie er diese "Anfangsbegründung im Vertrauten" für den 3. Band (2010) der Trilogie über Bord geworfen hat & gleich, wie wir das aus der westlichen Tradition gewohnt sind, in medias res gegangen ist.
Zitat von Tor.com, May 7, 2014My publisher and I reached the conclusion that since it was impossible for the third volume to succeed in the market, maybe it was best to give up trying to attract readers who were not already science fiction fans. Instead, I would write a “pure” science fiction novel, which I found comforting, as I considered myself a hardcore fan. And so, I wrote the third volume for myself and filled it with multi-dimensional and two-dimensional universes, artificial black holes and mini-universes, and I extended the time line to the heat death of the universe.
And, to our utter surprise, it was this third volume, written only for science fiction fans, which led to the popularity of the series as a whole.
"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire
Zitat von FPLast year’s recipients of the Chinese Milky Way and Xingyun awards was also equally split between older, “hard” science fiction writers like He Xi, Liu Cixin, and Wang Jingkang as well as more new wave writers like Xia Jia and Chen Qiufan.
While Chinese sci-fi has historically struggled to enter new publishing markets, “the Three Body trilogy broke through the limitations of the market,” said Li Zhaoxin, a Beijing-based translator, editor, and literary critic of sci-fi who writes under the pen name Tuzi Qiao. “It attracted the rising interest of the film industry and effected a change for the genre.”
Die deutsche Übersetzung von Liu Cixins Band 1 der Santi-Trilogie, "Die drei Sonnen", steht übrigens auf Platz 6 der Spiegel-Bestsellerliste.
"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire
Zitat von New Scientist, 27 February 2017As China reaches for the stars, with plans for a permanent space station and a Mars mission, its sci-fi is also taking on the world, says author Lavie Tidhar
Ein kurzer Überblick über die Entwicklungen der letzten ~15 Jahre findet sich in Ken Lius "China Dreams: Contemporary Chinese Science Fiction" in Clarkesworld Magazine, Dezember 2014. http://clarkesworldmagazine.com/liu_12_14/
Mittlerweile vergeht kaum ein Monat, in dem nicht eine Erzählung in englischer Übersetzung erscheint; Clarkesworld Magazine hat sich hier als ergiebigste Quelle etabliert. Fürs laufende Jahr sind dort publiziert:
- Februar: Chi Hui, "Rain Ship" (zuerst in 科幻世界 [Kēhuàn shìjiè/Science Fiction World], Januar 2014) http://clarkesworldmagazine.com/chi_02_17/ (eine längere Erzählung - 14.000 Worte/ca.45 S. Druckfassung, die in einer fernen Zukunft von gut 100 Mio. Jahren spielt; die Protagonisten stammen, wie sie feststellen müssen, von der Spezies ab, die in ferner Vergangenheit auf Sol III als Rattus rattus bekannt war; den Erzähler verschlägt es auf ein uraltes Raumschiff-Wrack aus jener Zeit, in der jene Ahnen als blinde Passagiere/Versuchskaninchen die Reise zu den Sternen antraten. SF-Leser mit viel historischem Sinn dürften hier Echos von Chen Qiufans "The Year of the Rat" [englische Ü.: The Magazine of Fantasy & Science Fiction, Juli/August 2013] & A. Bertram Chandlers "Giant Killer" [1945], wahlweise auch William Tenns Roman Of Men and Monsters, 1968, vernehmen.)
- März: Xia Jia, "Goodnight, Melancholy" (zuerst 科幻世界, Juni 2015) http://clarkesworldmagazine.com/xia_03_17/ (Druckfassung ca.33 S.) Meta-SF: es geht um Alan Turing & die fiktionale Verwirklichung des Turing-Tests & seine Implikationen.
Zitat During the last days of his life, Alan Turing created a machine capable of conversing with people. He named it “Christopher.”
Operating Christopher was a simple matter. The interlocutor typed what they wished to say on a typewriter, and simultaneously, mechanisms connected to the keys punched patterns of holes into a paper tape that was then fed into the machine. After computation, the machine gave its answer, which was converted by mechanisms connected to another typewriter back into English letters. Both typewriters had been modified to encode the output in a predetermined, systematic manner, e.g., “A” was replaced by “S,” and “S” was replaced by “M,” and so forth. For Turing, who had broken the Enigma code of the Third Reich, this seemed nothing more than a small linguistic game in his mystery-filled life.
No one ever saw the machine. After Turing’s death, he left behind two boxes of the records of the conversations he had held with Christopher. The wrinkled sheets of paper were jumbled together in no apparent order, and it was at first impossible for anyone to decipher the content of the conversations.
In 1982, an Oxford mathematician, Andrew Hodges, who was also Turing’s biographer, attempted to break the code.
In der März-Ausgabe von Clarkesworld findet sich auch ein ausführlicher Überblick von Feng Zhang: "SF Short Fiction Markets in China: An Overview of 2016": http://clarkesworldmagazine.com/zhang_03_17/
Zitat For instance, in 2016, there were a total of 198 science fiction titles published in China’s book market — a 150% increase from 2011. ... Four professional print Science Fiction magazines existed on the market in 2016, i.e. Science Fiction World 科幻世界, Science Fiction World for Kids 科幻世界少年版, Science Fiction World Translations 科幻世界译文版, and Science Fiction Cube 科幻立方. Science Fiction World Group publishes the first three magazines listed and Science Fiction Cube is published by Tianjin Baihua Literature and Art Publishing House. ... Science Fiction and Fantasy has been an important category in China’s book market for translated fiction. In 2016, there are 163 translated titles under [the] SF&F category published in China excluding titles in public domain. Of all 163 titles, 143 are novels and 20 anthologies. In terms of country origin of authors, 117 titles are written by American writers, 21 by British writers, and 14 by Japanese writers. The translation of shorter works has also saw success with 117 translated SF&F short fiction pieces published in 2016. ... In total, Chinese science fiction publishers brought us 461 original shorter works and 117 translated pieces. For original stories, that number is a large increase when compared with just 196 published stories in 2011. In particular, the number of published novelettes or novellas jumped from close to zero a couple of years ago, to about fifty.
"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire
Zitat In September 2016, Death’s End written by Liu Cixin and translated by Ken Liu, the much-awaited finale of Remembrance of Earth’s Past trilogy, was finally released by Tor Books. It hit The New York Times Bestsellers List for Hardcover Fiction (#19) just one week after its release, which is a stellar achievement for a translated fiction. In addition, the Hugo-winning TBP was translated into six different languages (French, Spanish, German, Hungarian, Portuguese and Vietnamese), and was published in multiple countries within just one year. As in the US and UK, TBP was very well received by virtually all the markets. It staid on the German Der Spiegel‘s Bestsellers List for five consecutive weeks (highest rank #4), an unprecedented performance for Chinese fiction.
"staid". In typo veritas...
Zitat In 2016, two SF novels (Death’s End by Liu Cixin & Pathological by Wang Jinkang) and 17 short stories were published in English-speaking markets. Alongside six English language editions of TBP, seven short stories by Chen Qiufan, Zhang Ran and Han Song were translated into French and Italian for publication.
Wobei, OT, die unterschiedlichen Transliterations-Konventionen bei den Übersetzungen ganz amüsant sind. Daß z.B. die Tschechen den Namen von 刘慈欣, den alle lateinschriftliche Welt als Liu Cixin kennt, mit Liou Cch‘-Sin wiedergeben, & 夏笳 (das 号 von 王瑶) statt als "Xia Jia" als Sia Ť’ia (wird verständlicher, wenn man weiß, daß das Hànyǔ Pīnyīn "x" als hsj- ausgesprochen wird).
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