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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 42 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Seiten 1 | 2
R.A. Offline



Beiträge: 8.171

19.10.2016 18:40
Moral und der Mob Antworten

Man kommt kaum herum um die "Terror"-Diskussion. Untypischerweise muß ich da sogar etwas Philosophie in meine Betrachtungen einfließen lassen.

Tiefseetaucher Offline




Beiträge: 353

19.10.2016 18:58
#2 RE: Moral und der Mob Antworten

Auf jeden Fall hat das ZDF damit wieder ein Argument gegen die "Demokratiezwangsabgabe" geliefert.

Political Correctness ist nichts anderes als betreutes Denken.

DrNick Offline




Beiträge: 809

20.10.2016 09:44
#3 RE: Moral und der Mob Antworten

Ich habe mir den Beitrag von Fischer einmal durchgelesen und fand ihn an einer Stelle etwas verwirrend:

Zitat
Was für Herrn Piloten Koch "gerecht" ist, finden wir ebenfalls im Recht: Es könnte ein "Entschuldigungsgrund" vorliegen, der sich in einer entsprechenden Anwendung des Paragrafen 35 Strafgesetzbuch findet:

"Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige (!) Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer ihm nahestehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld. (…)"



Hier geht doch offensichtlich nur um die Abwehr von Gefahren für das allerengste persönliche Umfeld. Mir ist unklar, wie ein Pilot, der durch den Abschuß eines Flugzeugs den Tod von ihm völlig unbekannten Menschen verhindern möchte, sich auf diese Regelung berufen kann. Mag mir das mal jemand erklären, der in juristischen Fragen etwas kompetenter ist als ich?

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

20.10.2016 10:45
#4 RE: Moral und der Mob Antworten

Zitat von DrNick im Beitrag #3
Ich habe mir den Beitrag von Fischer einmal durchgelesen und fand ihn an einer Stelle etwas verwirrend

Da schließe ich mich an. Der Wortlaut des Paragraphen scheint nicht das herzugeben, was Fischer dann ausführt.

Wobei mich der Wortlaut auch etwas irritiert. Gemeint ist ja offensichtlich der "normale" Notfall, an Extremanwendungen wie hier diskutiert wurde bei der Abfassung bestimmt nicht gedacht.
Sprich: Wenn z. B. ein Krimineller meinen Familienangehörigen oder Freund angreift, dann darf ich diesem helfen und mache mich nicht schuldig, auch wenn der Angreifer verletzt oder gar getötet wird.

Es ist nun nicht wirklich verständlich, warum dieses Ausnahmerecht auf "nahestehende Personen" eingegrenzt wird. Nach üblichem Rechtsempfinden sollte es genauso möglich sein, zum Schutz eines persönlich unbekannten Touristen einzugreifen.
Man könnte sogar fragen, ob dieser Strafrechtsparagraph (der ja älter ist als das Grundgesetz) nicht unzulässig die allgemeinen vom GG garantierten Grundrechte einschränkt.

Meine Vermutung ist, daß es hier eine langjährige und gefestigte Rechtsprechung gibt, die den Paragraphen auch für weniger nahestehende Personen gelten läßt. Und Fischer bezieht sich auf diese ohne jetzt dem Laienpublikum ausführlich zu erklären, warum hier der reine Text mißverständlich ist.
Reine Vermutung natürlich, aber einem Experten vom Range Fischers traue ich nicht zu, daß er in einem so zentralen Punkt das Gesetz falsch auslegt.

Dennis the Menace Offline




Beiträge: 459

20.10.2016 10:50
#5 RE: Moral und der Mob Antworten

Zitat von R.A. im Blog
Eine Verfassung oder Gesellschaftsordnung kann überhaupt nur funktionieren, wenn es im wesentlichen eine Übereinstimmung zu den Wertvorstellungen der Bevölkerung gibt


Ja klar, Zustimmung. Indessen kann man sich die Frage stellen, was zuerst da ist. Das Ding mit der "Bevölkerung" oder die "Verfassung" nebst "Gesellschaftsordnung".

Da kann man sich ja auch mal angucken, wie das Grundgesetz so entstanden ist:

1948/49 unter Aufsicht und mit Vorgaben der Westalliierten im Parlamentarischen Rat, dessen Existenz von breiten Schichten der Bevölkerung überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurde, weil man andere Sorgen hatte.

Zitat
In einer Untersuchung des Instituts für Demoskopie* im März 1949 in Westdeutschland zeigen nur 21 Prozent der Befragten großes Interesse, während 33 Prozent nur wenig und 40 Prozent überhaupt nicht an der Verfassungsarbeit interessiert sind. Von einer breiten, vom Volk getragenen demokratischen Verfassungsgebung kann also kaum gesprochen werden.

*= Allensbach.

…..das ist immerhin die Sicht des Bundestages selbst (Referat Öffentlichkeitsarbeit in einer Darstellung zum Thema). Hat jetzt die Tatsache, dass es weder Talgschaus noch Facebookseiten noch sonst was gab, was auch nur einigermaßen als "öffentlicher Diskurs" bezeichnet werden könnte, die Qualität des Ergebnisses beeinträchtigt? mit Sicherheit nicht - wohl eher massiv erhöht. Bekanntlich gab's auch kein Referendum, obschon das wahrscheinlich gut gegangen wäre; das wiederum allerdings lediglich wegen der damals obwaltenden Auffassung, dass die da oben (und namentlich Herr Adenauer, für die anderen Herr Schumacher) schon alles richtig machen.

So wie z.B. auch hier wurde damals halt gedacht, was - in einer schönen Paradoxie - im Grunde zeigt, dass auch der politische Liberalismus nicht unbedingt "von unten" kommt, obwohl diese Annahme liberale Theorien wesentlich kennzeichnet.

Ein Parlamentarischer Rat heute im grellen Licht eines breiten öffentlichen Interesses mit TV-Trara und allem drum und dran vor dieselbe Aufgabe gestellt? Es würde mit Sicherheit ein ziemlicher Mist heraukommen.

Sie verweisen ganz richtig auf die zweifelhafte Behandlung nicht ganz so einfacher Rechtsfragen im besagten Quotenoptimierungs-TV-Abend; Man wollte dem geneigten Publikum nix Schwieriges mit Differenzierungsbedarf zumuten (bei den früheren Aufführungen im Theater, wo eher sog. "Bildungsbürgertum" zu erwarten ist, interessanterweise auch nicht) und das ist in der Tat schon etwas anderes als Demokratieoptimierung. Man verbessert die Popularität der Mathematik auch nicht dadurch, dass man Zahlen und Formeln mal so eben weglässt, damit alles 'n bissle verständlicher wird, denn bei einer solchen Entkernung wird das Objekt leider gekillt. Es entsteht also an dieser Stelle die Frage, ob von Demokratie erst ab Seifenoper abwärts gesprochen werden kann oder umgekehrt dann nicht mehr, wenn viele wegen Ahnungslosigkeit nicht mehr mitreden können.

Es geschieht halt doch ne ganze Menge top down wovon man gutmütig gerne glaubt, es handele sich um bottom up. Mit diesem ungemütlichen Sachverhalt müssen auch Liberale leben und erkennen, dass sie bei Lichte besehen eigentlich stets eine krasse Minderheit sind . Heimlich wenn keiner zuhört kann man dann der Auffassung sein: Das mit dem Top down ist womöglich nicht immer sooooo schlecht .

lich
Dennis

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

20.10.2016 11:23
#6 RE: Moral und der Mob Antworten

Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #5
Das mit dem Top down ist womöglich nicht immer sooooo schlecht

Durchaus. Komplexere Lösungen (und eine Verfassung gehört bestimmt dazu) können eigentlich nur von Experten erarbeitet werden. Und eine allgemeine Abstimmung kann nur als Ja oder Nein zu einem fertigen Vorschlag (oder Variantenauswahl aus mehreren Vorschlägen) funktionieren - nicht als Herumpfuschen in Details.
Deswegen schrieb ich ja auch, daß so eine Verfassung durchaus in Details von den Vorstellungen des Volkes abweichen kann. Aber das Gesamtpaket muß sich so mit diesen Vorstellungen decken, daß die Leute zustimmen (oder bei Verzicht auf Abstimmung sich mit dem Ergebnis identifizieren).

Und ich glaube schon, daß eine sehr breite Mehrheit damals wie heute mit dem Grundgesetz harmoniert. Nicht mit jedem Punkt, aber deutlich mit dem Gesamtpaket.
Was auch daran liegt, daß die verfassungsgebende Versammlung nicht im luftleeren Raum agiert hat, sondern auf vorhandenen Traditionen aufbaute und eine dezidiert deutsche Verfassung entworfen hat. Das Ergebnis funktioniert.

Und genau darum finde ich es so perfide wenn eine Frontstellung aufgebaut wird, bei der ein angeblicher Widerspruch zwischen Grundgesetzwerten und Volksmeinung behauptet wird.

F.Alfonzo Offline



Beiträge: 2.257

20.10.2016 13:27
#7 RE: Moral und der Mob Antworten

Zitat
Und einige Kommentatoren zogen dann gleich die Linie weiter und nahmen die Sendung als Beleg, daß damit auch Volksabstimmungen in der Politik nicht vernünftig wären.



Interessant find ich ja, dass die schweizer Zuschauer ähnlich abgestimmt haben wie die deutschen. Und dort scheint das Prinzip der Volksabstimmungen recht gut zu funktionieren und eben nicht zur einer Art Gewaltherrschaft der Mehrheit über die Minderheit zu führen. Auch, wenn die dortigen Abstimmungsergebnisse von den selben Kommentatoren gelegentlich so dargestellt werden. Für mich ist das ganze eher ein Hinweis darauf, dass jene Kommentatoren mit Demokratie eigentlich so rein gar nichts anfangen können; bzw. nur dann, wenn das Abstimmungsergebnis vorher feststeht.

dirk Offline



Beiträge: 1.538

20.10.2016 13:47
#8 RE: Moral und der Mob Antworten

Wenn doch nur die Eliten, oder die die sich dafuer halten, aehnlich formal rechtsstaatlich argumentieren wuerden, wenn es um deutsche Asyl- und Einreisegesetze ginge. Aber wie es halt passt.

Martin Offline



Beiträge: 4.129

20.10.2016 14:09
#9 RE: Moral und der Mob Antworten

Zitat von F.Alfonzo im Beitrag #7

Zitat
Und einige Kommentatoren zogen dann gleich die Linie weiter und nahmen die Sendung als Beleg, daß damit auch Volksabstimmungen in der Politik nicht vernünftig wären.


Interessant find ich ja, dass die schweizer Zuschauer ähnlich abgestimmt haben wie die deutschen. Und dort scheint das Prinzip der Volksabstimmungen recht gut zu funktionieren und eben nicht zur einer Art Gewaltherrschaft der Mehrheit über die Minderheit zu führen. Auch, wenn die dortigen Abstimmungsergebnisse von den selben Kommentatoren gelegentlich so dargestellt werden. Für mich ist das ganze eher ein Hinweis darauf, dass jene Kommentatoren mit Demokratie eigentlich so rein gar nichts anfangen können; bzw. nur dann, wenn das Abstimmungsergebnis vorher feststeht.



Ich habe diese Sendung zwar nicht gesehen, aus der Diskussion entnehme ich aber, dass die Bevölkerung eine rationale 'Kosten-Nutzen'-Abwägung getroffen hat, wie das beispielsweise in der Medizin Stand der Technik ist, und dass die Bevölkerung im Konsens um die Abwägung die letztliche Ausführung sanktioniert. Da es um Menschenleben gegen Menschenleben ging war die Abwägung besonders einfach. Gesetze können ja manchmal durchaus irrational sein, sind es hier aber möglicherweise nicht. Ganz sicher sind es aber die Kommentatoren, die sich über diese einfache Abwägung echauffieren.

Wie viel schwieriger wird es sein, wenn Kosten gegen Menschenleben zu Abwägung stehen? Mir fällt da gerade die BSE-Geschichte ein: 1-2 Mrd DM gegen die Wahrscheinlichkeit einer lebensbedrohlichen Erkrankung. Oder ein in die Milliarden Euro gehender Vermögensschaden für Dieselautobesitzer für vermutet einige Tage längeres Leben in Ballungsgebieten.

Gruß, Martin

dari Offline




Beiträge: 189

20.10.2016 17:06
#10 RE: Moral und der Mob Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #4
Gemeint ist ja offensichtlich der "normale" Notfall, an Extremanwendungen wie hier diskutiert wurde bei der Abfassung bestimmt nicht gedacht.
Sprich: Wenn z. B. ein Krimineller meinen Familienangehörigen oder Freund angreift, dann darf ich diesem helfen und mache mich nicht schuldig, auch wenn der Angreifer verletzt oder gar getötet wird.



Nur als kurzer Zwischenruf aus dem Off: Bei § 35 geht es nicht um den Fall, dass man gegen den Angreifer selbst vorgeht und ihn schädigt. Das wäre in der Tat nicht rechtswidrig und damit erlaubt (siehe § 32StGB-Notwehr/Nothilfe).

Beim entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) geht es vielmehr darum, dass man zum Schutz vor einem Angreifer Rechtsgüter eines unbeteiligten Dritten opfert. Das ist dann nicht rechtmäßig aber im konkreten Fall unter Umständen entschuldigt.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

20.10.2016 17:29
#11 RE: Moral und der Mob Antworten

Zitat von dari im Beitrag #10
Bei § 35 geht es nicht um den Fall, dass man gegen den Angreifer selbst vorgeht und ihn schädigt. Das wäre in der Tat nicht rechtswidrig und damit erlaubt (siehe § 32StGB-Notwehr/Nothilfe).Umständen entschuldigt.

Danke für die Korrektur. Mein Beispiel war falsch konstruiert, zur Flugzeug-Geschichte paßt der §35 eher.

Allerdings habe ich inzwischen festgestellt, daß Fischer nur von einer Vorgehensweise "analog §35" spricht. D.h. die Einschränkung auf "Nahestehende" ist ihm natürlich bewußt, und der Paragraph ist also nicht wirklich anwendbar.
Das Problem ist nur, daß es einen solchen analogen Paragraphen nicht gibt, sondern der nur hilfsweise von manchen Juristen als logische Ergänzung mitgedacht wird. Und weil er eben nicht explizit im Gesetz steht, wird das dann "außergesetzlicher Notstand" genannt und soll ähnlich genutzt werden können, um nach Abwägung in schwierigen Fällen auf Strafe verzichten zu können.

Ich finde diese Argumentation zwar persönlich logisch und sachlich angemessen, aber sie steht eben nicht im Gesetz und ist durchaus unter Juristen umstriten. Entgegen seiner deutlichen Wortwahl begibt sich Fischer hier wohl auf dünnes Eis und nicht jeder Richter würde den Freispruch des Piloten akzeptabel finden.

Klumpfuß Offline



Beiträge: 36

20.10.2016 18:02
#12 RE: Moral und der Mob Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #11
Ich finde diese Argumentation zwar persönlich logisch und sachlich angemessen, aber sie steht eben nicht im Gesetz und ist durchaus unter Juristen umstriten. Entgegen seiner deutlichen Wortwahl begibt sich Fischer hier wohl auf dünnes Eis und nicht jeder Richter würde den Freispruch des Piloten akzeptabel finden.


Fischers Argument habe ich so verstanden: Wenn man schon den umstrittenen "außergesetzlichen Notstand" ins Spiel bringt, dann soll man in der Diskussion wenigstens die Trennung in rechtswidrig und schuldig übernehmen, auf den einen der Paragraphen zum "entschuldigenden Notstand" mit der Nase stößt.

Florian Offline



Beiträge: 3.171

20.10.2016 20:23
#13 RE: Moral und der Mob Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #11

Ich finde diese Argumentation zwar persönlich logisch und sachlich angemessen, aber sie steht eben nicht im Gesetz und ist durchaus unter Juristen umstriten. Entgegen seiner deutlichen Wortwahl begibt sich Fischer hier wohl auf dünnes Eis und nicht jeder Richter würde den Freispruch des Piloten akzeptabel finden.



Fischers Einwand ist ja auch nicht, dass es eine Verurteilung des Piloten juristisch falsch findet.
Wenn am Ende eine Verurteilung steht, hätte er damit wahrscheinlich keine riesigen Probleme.

Sondern ihn stört, dass das eigentliche juristische Problem in Film und Theater komplett falsch dargestellt wird.
Und dass komplett verquer mit einem BVerfG-Urteil argumentiert wird.
Dieses Urteil hat eine Bindungswirkung nämlich nur gegen den Staat.
Es hat in einem Strafprozess keinerlei Bedeutung (und im Strafprozess steht der Pilot als Bürger vor Gericht. Und nicht als Vertreter der Staatsgewalt).

Wie Fischer (m.E. plausibel) ausführt:
Das BVerfG-Urteil verbietet es dem Staat (z.B. dem Verteidigungsminister) dem Piloten den Abschuss zu befehlen. Ein solcher Befehlt wäre rechtswidrig und der Pilot muss keinen rechtswidrigen Befehl befolgen.
Zum vorliegenden Fall (wenn ein Pilot ein Flugzeug abschießt, obwohl ihm das Gegenteil befohlen wurde) macht das BVerfG-Urteil schlicht keine Aussage.

fedchan Offline



Beiträge: 129

20.10.2016 23:41
#14 RE: Moral und der Mob Antworten

Hallo und Guten Tag.

Zitat
Florian Und dass komplett verquer mit einem BVerfG-Urteil argumentiert wird.
Dieses Urteil hat eine Bindungswirkung nämlich nur gegen den Staat.
Es hat in einem Strafprozess keinerlei Bedeutung (und im Strafprozess steht der Pilot als Bürger vor Gericht. Und nicht als Vertreter der Staatsgewalt).
(...)
Zum vorliegenden Fall (wenn ein Pilot ein Flugzeug abschießt, obwohl ihm das Gegenteil befohlen wurde) macht das BVerfG-Urteil schlicht keine Aussage.


Dass das Urteil des BVerfG keinerlei Bedeutung habe für die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Piloten, sehe ich so nicht.

Für die Strafbarkeit einer Handlung gibt es Voraussetzungen auf drei „Ebenen“: Eine Tat muss a) tatbestandsmäßig, b) rechtswidrig und c) schuldhaft begangen sein.

a) Der vorsätzliche Abschuss einer Maschine, in der Menschen sind, erfüllt den Tatbestand des § 212 – Totschlag.

b) Die Verwirklichung des Tatbestandes „indiziert“ die Rechtswidrigkeit der Handlung, so dass diese Rechtswidrigkeit nur dann ausgeschlossen ist, wenn ein positiv festgestellter Rechtfertigungsgrund eingreift. Der wohl bekannteste Rechtfertigungsgrund schlechthin ist die Notwehr: Abwehr eines rechtswidrigen Angriffes. Auf Notwehr kann sich jeder berufen; es gibt jedoch Rechtfertigungsgründe, die nur staatliche Akteure rechtfertigen.

Diese spezifischen Rechtfertigungsgründe haben (mindestens) eine Doppelfunktion:
– Im öffentlichen Recht bedarf ein staatlicher Eingriff in ein Grundrecht einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Solche finden sich u. a. in Normen des Verwaltungsrechts, zu denen auch etwa das Polizei- und Ordnungsrecht gehört. Die entsprechenden Ermächtigungsgrundlagen statten staatliche Akteure mit besonderen Befugnissen aus, in Grundrechte einzugreifen.
– Im Strafrecht fungieren die Ermächtigungsgrundlagen gleichzeitig als Rechtfertigungsgründe für den individuellen Menschen, der als staatlicher Akteur agiert.

Wenn das BVerfG nun sagt, dass ein Gesetz, das den Abschuss einer entführten Passagiermaschine gestattet, verfassungswidrig ist, sagt es damit nur, dass der Abschuss einer entführten Passagiermaschine nicht rechtmäßig sein kann, also unter keinen Umständen von der Rechtsordnung gebilligt wird.

Insofern hat das Urteil für den Strafprozess Relevanz, als sich nun kein Pilot auf einen Rechtfertigungsgrund berufen kann. Die Handlung war definitiv rechtswidrig.

c) Damit stellt sich auf der letzten Ebene die Frage nach der Schuldhaftigkeit der Tatbegehung. Hier argumentiert etwa der ehemalige Verteidigungsminister Jung dafür, dass ein übergesetzlicher Notstand die Schuld des Kampfpiloten ausschließt. Ich halte das aus rechtsdogmatischen Gründen nicht für richtig, aber für vertretbar.


In letzter Konsequenz ist das aus meiner Sicht aber eine akademische Diskussion. Denn was in der Praxis völlig unabhängig von einer rechtlichen Einrahmung des Geschehens passieren muss, ist m. E. völlig klar:

1. Die Maschine muss abgeschossen werden.
2. Der Pilot des Kampfjets darf nicht bestraft werden.

Ich halte eine Meinung, die insbesondere 1. anders sieht, für nicht vertretbar.

Wie man dieses Ergebnis erzielt, ist m. E. sekundär. Ob man einen übergesetzlichen Notstand annimmt, das Problem auf der Rechtsfolgenseite löst oder notfalls mit dem Gnadenrecht operiert spielt m. E. keine Rolle.

Die Entscheidung des BVerfG ist aber sowohl in der Sache wie auch rechtspolitisch richtig: Die Rechtsordnung des Grundgesetzes kann nicht billigen, dass 1. geschieht. Das ist meiner Wahrnehmung nach auch offensichtlich: In meinem Kollegenkreis war vor dem Urteil völlig klar, dass das BVerfG so entscheiden würde. Es kann m. E. aber nicht ernsthaft bestritten werden, dass ab und an Dinge geschehen müssen, die die Rechtsordnung nicht billigen kann. Das wissen wir, wie schon bemerkt wurde, spätestens seit Sophokles.


Ein analoges Problem stellt sich etwa im Zusammenhang mit dem Schwangerschaftsabbruch. Hier hat der Gesetzgeber eine interessante Lösung gewählt: Es gibt Schwangerschaftsabbrüche, die als nicht tatbestandsmäßig gelten, und Schwangerschaftsabbrüche, die gerechtfertigt sind. Mit der Wahl der erstgenannten Konstruktion vermeidet der Gesetzgeber die Aussage, dass ein Schwangerschaftsabbruch ohne medizinische Indikation oder ihn motivierendes vorangegangenes Sexualdelikt rechtmäßig sein, also von der Rechtsordnung gebilligt werden kann. Das führt nebenbei gesagt zu der interessanten Feststellung, dass eine Handlung, die nicht den Tatbestand einer Verbotsnorm erfüllt, trotzdem rechtswidrig sein kann.


Gruß,

fedchan

Florian Offline



Beiträge: 3.171

21.10.2016 00:25
#15 RE: Moral und der Mob Antworten

Zitat von fedchan im Beitrag #14
Denn was in der Praxis völlig unabhängig von einer rechtlichen Einrahmung des Geschehens passieren muss, ist m. E. völlig klar:

1. Die Maschine muss abgeschossen werden.
2. Der Pilot des Kampfjets darf nicht bestraft werden.

Ich halte eine Meinung, die insbesondere 1. anders sieht, für nicht vertretbar.




zu Pos 1:
Die Formulierung mit "muss" kann ich schon einmal nicht teilen.
Ein "ist gerechtfertigt" würde ich aber mitgehen.

Aber ich sehe durchaus, dass ein vernünftiger Mensch auch dies begründet ablehnen kann.

Wenn ich einmal Advocatus Diaboli spielen darf:

Nehmen wir einen anderen Fall A:
Im Flugzeug sitzen 100 Personen. Im Stadion sitzen 100 Personen.
Muss die Maschine abgeschossen werden?
Vermutlich nicht, oder?

Nehmen wir Fall B:
Im Flugzeug sitzen 100 Personen. Im Stadion sitzen 101 Personen.
Muss die Maschine abgeschossen werden?
Vermutlich auch hier noch nicht. Sind wir uns da einig?

Und nun der Fall C:
Im Flugzeug sitzen 100 Personen. Im Stadion sitzen 100.000 Personen.
Hier sagen Sie nun, dass ein Abschuss unbedingt gerechtfertigt sei.

Irgendwo zwischen 101 und 100.000 Zuschauern gibt es für sie also einen Kipp-Punkt.
Ab diesem Punkt ist ein Abschuss gerechtfertigt. Davor noch nicht.
Wo setzen sie nun diesen Kipp-Punkt? Bei 110? 120? 130?

Und ist es wirklich so abwegig, dass andere Menschen den Kipp-Punkt an einer anderen Stelle sehen?
Es gibt also einen Bereich, in dem manche Menschen einen Abschuss bereits für gerechtfertigt halten. Andere nicht. Dass nun ein Abschuss erfolgen "muss", nur weil die Zahl über ihrem persönlichen Kipp-Punkt liegt, sehe ich nicht als zwingend an.

Und was Ihren Punkt 2 betrifft:
auch da hat Fischer m.E. gut argumentiert.
Ob der Pilot straffrei gestellt werden muss, hängt von seiner eigenen Motivlage ab und kann nicht verallgemeinert werden.
(Fischers Beispiel: wenn der Pilot in seine Abwägung einfließen lässt, dass im Flugzeug sein steinreicher Erbonkel sitzt oder der Liebhaber seiner Frau, dann wäre eine Strafbarkeit wohl eher zu bejahen).

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.425

21.10.2016 00:43
#16 RE: Moral und der Mob Antworten

1. Das Beispiel im TV-Spiel ist schon älter; es wurde id 70ern beständig hochgeschossen (sit venia verbo), wenn es um die AKW-Sicherheit, den RAF-Terrorismus & idealerweise um eine Verquickung aus beidem ging.
2. Die Bewertung fürs RL haben am 11. 9. 2001 ein halbes Dutzend Passagiere des United-Airlines-Flugs 93 entschieden.



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

fedchan Offline



Beiträge: 129

21.10.2016 01:02
#17 RE: Moral und der Mob Antworten

Zitat
Florian zu Pos 1:
Die Formulierung mit "muss" kann ich schon einmal nicht teilen.
Ein "ist gerechtfertigt" würde ich aber mitgehen.


Das Adjektiv „gerechtfertigt“ meint in der Juristensprache, dass ein Rechtfertigungsgrund vorliegt, daher habe ich mit der Formulierung ein bisschen ein Problem. Aber ich denke, ich weiß, was Sie meinen.

Zitat
Nehmen wir einen anderen Fall A:
Im Flugzeug sitzen 100 Personen. Im Stadion sitzen 100 Personen.
Muss die Maschine abgeschossen werden?
Vermutlich nicht, oder?


Warum nicht? In der hypothetischen Situation, dass 100 Personen im Flugzeug nach menschlichem Ermessen sicher sterben werden, sehe ich nicht ein, wofür 100 weitere geopfert werden sollen. Das gilt sogar schon bei einer Person im Stadion.

Ich konzediere, dass in der Praxis die Anzahl der Personen im Stadion die Entscheidung beeinflusst, ab welchem Punkt ein Risiko, weiterfliegen zu lassen, nicht mehr als vertretbar betrachtet wird. Ich halte jedoch nicht für vertretbar, auch nur ein Menschenleben bewusst zu opfern, wenn ich davon ausgehe, dass andere auf jeden Fall sterben werden.

Zitat
Und ist es wirklich so abwegig, dass andere Menschen den Kipp-Punkt an einer anderen Stelle sehen?


Wir haben anscheinend Konsens in der Frage, ob eine Situation denkbar ist, in der ein Abschuss moralisch geboten ist. Viel mehr wollte ich nicht sagen.

Zitat
Ob der Pilot straffrei gestellt werden muss, hängt von seiner eigenen Motivlage ab und kann nicht verallgemeinert werden.


Ok.

Frank2000 Offline




Beiträge: 3.424

21.10.2016 08:17
#18 RE: Moral und der Mob Antworten

Werter fedchan,

Sie schreiben:

"Die Rechtsordnung des Grundgesetzes kann nicht billigen, dass 1. geschieht. Das ist meiner Wahrnehmung nach auch offensichtlich: In meinem Kollegenkreis war vor dem Urteil völlig klar, dass das BVerfG so entscheiden würde."

Mir ist weiterhin unklar, wieso. Können Sie dieses Postulat wenigsten ansatzweise begründen?

___________________
Kommunismus mordet.
Ich bin bereit, über die Existenz von Einhörnern zu diskutieren. Aber dann verlange ich außergewöhnlich stichhaltige Beweise.

Frank2000 Offline




Beiträge: 3.424

21.10.2016 08:40
#19 RE: Moral und der Mob Antworten

Werter Florian,

Sie schreiben:

"Aber ich sehe durchaus, dass ein vernünftiger Mensch auch dies begründet ablehnen kann."

Das sehe ich nicht. Die VERNUNFT sagt einem, dass in unausweichlichen Situationen zwischen "Schlecht" und noch "Noch schlechter" gewählt werden muss. Das ist im Krieg so oder bei Epidemien oder Terrorangriffen oder vielen anderen Situationen, in denen in Nichthandeln auch ein Handeln zum Schaden anderer ist.

Das Beispiel wurde nun so konstruiert, dass die Folgen des Nichthandelns klar zu erkennen sind. In der Praxis gibt es offensichtlich viele Situationen, in denen die Golgen des Nichthandelns nicht so leicht erkennbar sind.
Beispiel : Soll ein tödlicher Schuss auf einen Entführer abgegeben werden der das Leben des Opfers bedroht oder ist doch noch eine andere Lösung denkbar? Ich finde eine solche Frage sachlich und ethisch viel schwieriger, weil viel schneller Gedanken wie "wertvolles Leben" (Entführungsopfer) kontra "wertloses Leben" (Entführer) auftauchen.

Aber in dem diskutierten Fall ist -wie sagt man? Jenseits eines vernünftigen Zweifels- mit weiteren Todesopfern zu rechnen. Wie man da auf Vernunftbasis zu einem anderen Urteil als Abschuss kommen kann, erschliesst sich mir nicht.

___________________
Kommunismus mordet.
Ich bin bereit, über die Existenz von Einhörnern zu diskutieren. Aber dann verlange ich außergewöhnlich stichhaltige Beweise.

Krischan Online




Beiträge: 641

21.10.2016 08:41
#20 RE: Moral und der Mob Antworten

Zitat von Frank2000 im Beitrag #18
Werter fedchan,

Sie schreiben:

"Die Rechtsordnung des Grundgesetzes kann nicht billigen, dass 1. geschieht. Das ist meiner Wahrnehmung nach auch offensichtlich: In meinem Kollegenkreis war vor dem Urteil völlig klar, dass das BVerfG so entscheiden würde."

Mir ist weiterhin unklar, wieso. Können Sie dieses Postulat wenigsten ansatzweise begründen?


Lieber Frank2000,
zwar bin ich kein Jurist, kann mir aber vorstellen, dass das staatliche Rechtfertigen der Tötung von bestimmten Menschen, um andere Menschen zu retten (und um nichts weiter ging es in der Neufassung des Gesetzes), die Tür öffnet zu weiteren ähnlichen Abwägungen staatlicherseits. Im Grundgesetz und der uns (noch) umgebenden Rechtsordnung ist die Würde des Menschen und sein Leben nun einmal der Güter höchstes und darf nicht durch Gesetze beeinträchtigt werden. Eigentum genießt einen geringeren Rang, auch andere Rechte, deswegen können diese dann eingeschränkt werden durch staatliches Handeln. Wie gesagt, es ging hier nur um den Staat als Akteur.

fedchan kann das sicher juristisch noch klarer formulieren, ich hoffe aber mal, ich habe den Geist der Norm getroffen.

Freundlichst,
Krischan

Deutsche Wurst - alles andere ist Käse.

xanopos ( gelöscht )
Beiträge:

21.10.2016 11:43
#21 RE: Moral und der Mob Antworten

Zitat von Florian im Beitrag #15
Wenn ich einmal Advocatus Diaboli spielen darf:

Nehmen wir einen anderen Fall A:
Im Flugzeug sitzen 100 Personen. Im Stadion sitzen 100 Personen.
Muss die Maschine abgeschossen werden?
Vermutlich nicht, oder?

Nehmen wir Fall B:
Im Flugzeug sitzen 100 Personen. Im Stadion sitzen 101 Personen.
Muss die Maschine abgeschossen werden?
Vermutlich auch hier noch nicht. Sind wir uns da einig?

Und nun der Fall C:
Im Flugzeug sitzen 100 Personen. Im Stadion sitzen 100.000 Personen.
Hier sagen Sie nun, dass ein Abschuss unbedingt gerechtfertigt sei.

Irgendwo zwischen 101 und 100.000 Zuschauern gibt es für sie also einen Kipp-Punkt.
Ab diesem Punkt ist ein Abschuss gerechtfertigt. Davor noch nicht.
Wo setzen sie nun diesen Kipp-Punkt? Bei 110? 120? 130?

Und ist es wirklich so abwegig, dass andere Menschen den Kipp-Punkt an einer anderen Stelle sehen?
Es gibt also einen Bereich, in dem manche Menschen einen Abschuss bereits für gerechtfertigt halten. Andere nicht. Dass nun ein Abschuss erfolgen "muss", nur weil die Zahl über ihrem persönlichen Kipp-Punkt liegt, sehe ich nicht als zwingend an.

Woher wissen wir überhaupt, dass die Terroristen das Station überhaupt treffen wollen? Normalerweise erfährt man das erst nach der Tat.

Woher wissen wir, wenn die Terroristen das Station treffen wollen, sie dazu überhaupt in der Lage sind? Ich habe kürzlich in einem Buch gelesen, dass die irakische Luftwaffe in den 80ern selbst mit damals modernsten Bombern nicht in der Lage war einen 300 Meter langen Öltanker zu treffen, und daher dann die relativ teuren Exocets dafür verwendet haben.

Ich bezweifle auch stark, dass ein Flugzeugcrash alle Menschen im Stadion gefährden würde. Ein Jumbojet vs. eine Wohnhausanlage: https://en.wikipedia.org/wiki/File:Bijlm...ithout_link.jpg
Irgendwie hätte ich mir bei einem 70 Meter langen Flugzeug mehr erwartet. Größenvergleich Flugzeug und Zielgebäude: https://en.wikipedia.org/wiki/File:Bijlm...mpact_model.TIF

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

21.10.2016 11:59
#22 RE: Moral und der Mob Antworten

Zitat von fedchan im Beitrag #17
Warum nicht? In der hypothetischen Situation, dass 100 Personen im Flugzeug nach menschlichem Ermessen sicher sterben werden, sehe ich nicht ein, wofür 100 weitere geopfert werden sollen. Das gilt sogar schon bei einer Person im Stadion.

Das ist sachlich richtig.
Genau wie auch die von xanopos gebrachten Einwände sachlich richtig sind.

Das sind aber alles Schwächen im gewählten Beispiel (das ja bewußt an aktuelle Diskussionen anknüpfen sollte). Wir sollten die besser nicht benutzen, um dem Kern der Fragestellung auszuweichen. Die ganze Diskussion über moralische und juristische Aspekte ist eigentlich nur sinnvoll, wenn man von nur zwei möglichen Varianten ausgeht, deren Rahmenbedingungen als gesichert angenommen werden.
Entscheidend ist nur, daß es in den beiden Varianten unterschiedliche Betroffene gibt, und daß die in ihren Grundrechten beeinträchtigt werden (im Extremfall eben in ihrem Recht auf Leben).

Wobei die Abwägung zwischen diesen beiden Varianten und die Bewertungskriterien nur dann sinnvoll diskutiert werden können, wenn es wirklich einen (wenigstens moralischen) Zwang gibt, sich aktiv für eine der Varianten zu entscheiden.

Und da liegt m. E. bei vielen Leuten (auch dem BVerfG!) der Denkfehler bzw. sie versuchen sich vor dem Dilemma zu drücken: Denn ziemlich jedes Beispiel kann nur so konstruiert werden, daß eine Variante dem Handeln (Abschuß) des Entscheiders entspricht und die andere Variante dem Nicht-Handeln (Flugzeug ins Stadion fliegen lassen).
Und die "Drückeberger" argumentieren schlicht so, daß nur das Handeln schuldig machen kann, das Nicht-Handeln aber per se die unschädliche Wahl wäre und der Entscheider für die schlimmen Folgen des Nicht-Handelns nicht verantwortlich zu machen ist.

Das ist die Position, die ich im Text mit "Putin-Pazifisten" bezeichnete, die aber natürlich insgesamt den politischen Pazifismus trifft: Man verweigert eine (gewalttätige) Handlung, weil man damit Schuld auf sich laden würde (z. B. "Kollateralschäden"). Und akzeptiert nicht, daß man durch das Nicht-Handeln viel schlimmere Konsequenzen ermöglicht.

Ich halte die Diskussion darüber, was nun "schlimmer" ist für eigentlich nebensächlich.
Siehe Beispiel von Florian: Wo nun der "Kipp-Punkt" zwischen "101 Tote sind gleichwertig zu 100 Toten" und "100.000 Tote sind schlimmer als 100 Tote" genau liegt ist wohl kaum vernünftig zu definieren.

Sondern kritisch ist die Frage, ob jemand (auch der Staat) den Tod von 100.000 Menschen in Kauf nehmen darf ohne sich schuldig zu machen, obwohl er bewußt auf das Verhindern der Tat verzichtet hat.

dirk Offline



Beiträge: 1.538

21.10.2016 12:16
#23 RE: Moral und der Mob Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #22

Ich halte die Diskussion darüber, was nun "schlimmer" ist für eigentlich nebensächlich.
Siehe Beispiel von Florian: Wo nun der "Kipp-Punkt" zwischen "101 Tote sind gleichwertig zu 100 Toten" und "100.000 Tote sind schlimmer als 100 Tote" genau liegt ist wohl kaum vernünftig zu definieren.

Sondern kritisch ist die Frage, ob jemand (auch der Staat) den Tod von 100.000 Menschen in Kauf nehmen darf ohne sich schuldig zu machen, obwohl er bewußt auf das Verhindern der Tat verzichtet hat.



Man kann das Beispiel von Florian noch ausweiten. Was, wenn der Tod der 100 nicht sicher ist sondern nur wahrscheinlich? Also etwa wenn sich ein Terrorist in einem groesseren Mietshaus befindet wo sich der Ausloeser fuer eine Bombe befindet, die 100.000 toeten wuerde und aus irgendeinem Grund nur eine Bombardierung des Hauses in Frage kommt. (Fuer die theoretische Erwaegung sei der Realismus des Beispiels aussen vor). Nun koennten sich in dem Haus Unschuldige befinden oder auch nicht. Gilt dann die gleiche Abwaegung?

Und wenn es um ein so grundsaetliches Prinzip geht (Humanismus, Menschenwuerde,...), heisst dies, dass diese Abwaegung grundsaetzlich nicht staatlicherseits vorgenommen werden darf? Also auch im Ausland? Was ist mit Kriegseinsaetzen? Sind die dann nicht ausgeschlossen?

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

21.10.2016 13:49
#24 RE: Moral und der Mob Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #22
Das ist die Position, die ich im Text mit "Putin-Pazifisten" bezeichnete, die aber natürlich insgesamt den politischen Pazifismus trifft: Man verweigert eine (gewalttätige) Handlung, weil man damit Schuld auf sich laden würde (z. B. "Kollateralschäden"). Und akzeptiert nicht, daß man durch das Nicht-Handeln viel schlimmere Konsequenzen ermöglicht.
Ich verstehe Sie jetzt so: Die Fragen nach dem moralisch richtigen Handeln ("Schuld auf sich laden") und nach den Konsequenzen sind zweierlei. Normalerweise soll man nicht absichtlich Schuld auf sich laden, aber wenn die Konsequenzen besonders schlimm sind, ist die Moral doch nicht mehr zuständig und die Frage nach dem richtigen Handeln ist plötzlich doch identisch mit der Frage nach den Konsequenzen. Moral ist sozusagen nur für die Kleinigkeiten, aber wenn es richtig ernst wird, darf man sich nur noch nach den Konsequenzen richten.

Ich frage nach, weil mich diese Haltung bei Ihnen überraschen würde. Und ehrlich gesagt halte ich eine konsequentialistische Ethik, die hier anklingt, für unvereinbar mit dem Liberalismus.

Zitat von R.A. im Beitrag #22
Sondern kritisch ist die Frage, ob jemand (auch der Staat) den Tod von 100.000 Menschen in Kauf nehmen darf ohne sich schuldig zu machen, obwohl er bewußt auf das Verhindern der Tat verzichtet hat.
Kann es sein, daß sie in dieser Situation den Terroristen jede Schuldfähigkeit absprechen, als würde der Tod der 100.000 von einem naturgesetzlich erwartbaren Ereignis bedroht?
Wenn 100.000 durch die Hand von Terroristen sterben, ist es selbstverständlich die Schuld der Terroristen, nicht die Schuld eines anderen, der Gewalt gegen die Terroristen hätte ausüben müssen. Es ist wie mit Geiselnehmern (z.B. die von Hans-Martin Schleyer), die ihre Schuldfähigkeit negieren, indem sie versuchen, die Entscheidung zur Ermordung der Geisel den Erpreßten zuzuschieben. Es gehört zur Falschheit ihrer Tat und darf nicht geglaubt werden. Der Unterschied zwischen einem Helmut Schmidt und den Pazifisten ist also, daß die Pazifisten diese Abschiebung der Schuldfähigkeit tatsächlich glauben. Die Pazifisten glaubten ja auch, die KPdSU-Parteimenschen hätten angesichts der NATO-Nachrüstung keine Entscheidungsfreiheit (und also duch keine Schuldfähigkeit) mehr über Krieg und Frieden.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

21.10.2016 15:17
#25 RE: Moral und der Mob Antworten

Zitat von Emulgator im Beitrag #24
Ich verstehe Sie jetzt so: Die Fragen nach dem moralisch richtigen Handeln ("Schuld auf sich laden") und nach den Konsequenzen sind zweierlei.

Das wollte ich bestimmt nicht ausdrücken. Denn "Schuld" hat ja sehr viel mit den Konsequenzen zu tun.
Ich wollte mit dem ganzen Absatz nur darstellen, daß Nicht-Handeln und dessen Konsequenzen ziemlich ähnlich "Schuld" bedeuten kann wie Handeln.

Zitat
Kann es sein, daß sie in dieser Situation den Terroristen jede Schuldfähigkeit absprechen, als würde der Tod der 100.000 von einem naturgesetzlich erwartbaren Ereignis bedroht?


Natürlich nicht. Die wesentliche Schuld der Terroristen bleibt immer. Aber wenn etwas Schlimmes passiert, können ja durchaus mehrere Leute schuld sein. Es lassen sich auch analoge Beispiele konstruieren, wo die Entscheidung des Piloten ähnliche Konsequenzen bei Handeln oder Nicht-Handeln hat, die eigentliche Bedrohung aber nicht durch Terroristen, sondern durch eine Naturkatastrophe entstanden ist.

Die mögliche Schuld des Piloten ist relativ unabhängig davon, wie die Gefahr entstanden ist, die er abwenden kann (wenn er die Opfer in Kauf nimmt).

Zitat
Es ist wie mit Geiselnehmern (z.B. die von Hans-Martin Schleyer), die ihre Schuldfähigkeit negieren, indem sie versuchen, die Entscheidung zur Ermordung der Geisel den Erpreßten zuzuschieben. Es gehört zur Falschheit ihrer Tat und darf nicht geglaubt werden.


Natürlich darf ihnen nicht geglaubt werden, wenn sie damit ihre eigene und wesentliche Schuld negieren wollen.

Trotzdem haben sich Schmidt und andere Entscheider natürlich mit schuldig am Tode Schleyers gemacht, weil sie seinen Tod bewußt für die Staatsraison und das Wohl der Vielen in Kauf genommen haben. Aber das ist eben eine unvermeidliche Schuld bei einer juristisch und moralisch richtigen Entscheidung.

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