Langsam scheint man sich in den Redaktionsstuben der deutschen Leitmedien darauf zu besinnen, dass man um eine seriöse Auseinandersetzung mit der Alternative für Deutschland nicht mehr herumkommt. "Und wenn die AfD Recht hat?", lautet der Titel eines lesenswerten, (nicht obwohl, sondern) weil aus linker Perspektive geschriebenen Beitrages von Jana Hensel auf ZEIT-Online. Dass auch der Werwohlf zur Lektüre anempfohlene Gedanken über die AfD zu Bildschirm gebracht hat, wird regelmäßige Gäste seiner digitalen Höhle nicht verwundern.
In diesem Klima der (für die Leitmedien neuen) Sachlichkeit im Umgang mit den Rechtspopulisten möchte auch der Verfasser dieser Zeilen, sich auf Hensel und den Werwohlf beziehend, nicht davon abstehen, nach den Gründen des Erfolgs der AfD zu fragen - eines Erfolges, der zu einem guten Teil nicht hausgemacht ist, sondern von den Fehlern der anderen lebt.
Mir fehlen ganz wesentliche Punkte in der Analyse der AfD, so dass ich dem Artikel nicht zustimmen kann.
Die beschriebenen Elemente sind zwar nicht falsch, würden aber von der Wirkung her weit eher auf den politischen Erfolg der "moralischen Wende" Helmut Kohls passen.
Es stimmt, dass die AfD weit bürgerlicher ist, als die öffentliche Meinung das glauben möchte. Es stimmt, dass die Auseinandersetzung mit der AfD fragwürdig ist. Aber all das war nicht der Grund, warum die AfD gegründet wurde. Es war nicht der Grund, warum die AfD die ersten Wahlerfolge unter Lucke bekam. Und es ist schon lange nicht der Grund, warum die AfD heute trotzdem noch Erfolge hat. Und was ich mit "trotzdem" meine, erkläre ich noch.
Meiner Meinung nach, kann man die AfD nicht erklären, ohne das Wort "Themen" in den Mund zu nehmen. Denn der Erfolg einer AfD erklärt sich gerade nicht durch weiche Faktoren (Wohlfühlfaktor, Identifikation, Tradition, ...). ds alles trifft doch bei weitem viel mehr auf eine CDU oder SPD zu.
Ganz im Gegenteil ist die AfD zutiefst zerrissen, die Führungspersönlichkeiten werden hinterfragt, kaum ein Wähler traut sich, sich offen zur AfD zu bekennen. Wie man unter diesen Umständen von einem "gemeinsamen Wertegefühl" sprechen kann und das gar noch als bestimmenden Fakor für Bereitschaft zur Stimmenabgabe zu Gunsten einer AfD werten kann, ist mir schleierhaft.
Wenn ich heute im Bekanntenkreis jemand finde, der eine bereitschaft zeigt, die AfD zu wählen, dann AUSSCHLIESSLICH WEGEN THEMEN. Die typische Aussage wäre dann "Im Wahl-o-Mat steht die AfD ganz vorn bei mir... quasi alternativlos, wenn ich bestimmte Themen wählen will... aber die AfD selbst ist doch irgendwie abstoßend..."
Obwohl die AfD inzwischen eine Spaltung hintersich hat, bei der ein Viertel der Mitglieder verloren wurde, ist die Rest-AfD eher noch zerstrittener als zuvor. Eine agressive extreme Rechte erobert zwar immer mehr Positionen in der AfD, aber das bedeutet nicht, dass die AfD immer geschlossener hinter diesen PERSONEN stehen würde - geschweige denn, hinter der politischen Gefühlswelt dieser Personen. Lediglich THEMEN sind ein mühsamer Kitt, der das Gebilde zusammenhält.
Es ist ja gerade das abstoßende Element der heutigen AfD, dass Leute am Ruder sind und das sagen haben, die jeden Kontakt zur Realität verloren haben. Höcke, Poggenpohl und Co leben in dem Wahn einer "Revolution", eines "Deutschland erwache!" - und dabei geht es dann tatsächlich um eine Gefühlswelt, um ein "Früher war alles besser" und "Deutschland muss aufgeräumt werden". Aber solche ekelhaften Vorstellungen sind eben Fantastereien: weder in der AfD und schon gar nicht in der AfD-Wählerschaft gibt es eine Mehrheit für solche Ideologien. Und schon absolut hundert Prozent gar nicht gibt es in der deutschen Wählerschaft Unterstützung für solchen Schwachsinn. Die Unterstützung für solche Ideologien liegt eher unter 5% als drüber.
Wenn die AfD grundsätzlich also ein Wählerpotential von 20% hat (wie einige Landeswahlen bewiesen haben), dann liegt das ganz gewiss nicht an gemeinsamen Wertewelten, Wohlfühlfaktoren oder gemeinsamen Feindbildern. Solche Punkte sind höchsten hilfreich; aber nicht der Grund für ein Potential von 20%.
Der Artikel bei der Zeit vermeidet ja gerade zu PANISCH, die AfD-Themen auch nur zu streifen, auch nur anzudeuten. In so weit ist der Artikel das exakte Gegenteil: ich empfinde den zeit-Artikel als Versuch, sich gerade NICHT mit der AfD auseinandersetzen zu müssen. Die AfDler werden als ein bischen zurückgeblieben, politisch unmündig und bemitleidenswert beschrieben. Und das war´s. Jetzt können sich die (politisch links stehenden) Zeit-Leser zufrieden zurücklehenen und sich in dem Gefühl suhlen, es schon immer gewusst zu haben.
Mit den Themen der AfD muss man sich nicht auseinandersetzen. Das sind einfach nur etwas zu kurz gekommene und intellektuell minderbemittelte Protestwähler.
Alles in allem: Ich bin komplett anderer Meinung in der Analyse.
___________________ Kommunismus mordet. Ich bin bereit, über die Existenz von Einhörnern zu diskutieren. Aber dann verlange ich außergewöhnlich stichhaltige Beweise.
Zitat von Der Erfolg der AfD Die AfD lebt nicht unwesentlich von den Fehlern ihrer Widersacher.
Ich würde in der Formulierung noch einen Schritt weitergehen: Die Existenz der AfD (in ihrer momentanen Ausprägung) ist die Folge gravierender Fehler ihrer Widersacher.
In meinen Augen (und in diesem Schluß bin ich mittlerweile ziemlich gefestigt) ist die Entstehung (und der Erfolg) der AfD der Nachweis dafür, dass die parlamentarische Demokratie hierzulande durchaus noch gut funktioniert. Der Umstand, dass die AfD dabei kaum Konzepte entwickelt die in diesem Forum hier besonders beliebt wären, ist einzig der Tatsache geschuldet, das in diesem Forum herrschende Ansichten in Deutschland ganz allgemein kaum mehrheitsfähig sein dürften.
Wenn eine parlamentarische Demokratie funktioniert, es aber kaum wirkliche liberale Kräfte innerhalb der Gesellschaft gibt, sondern vor allem Protektionisten und Ideologen, ensteht eben das Parteienspektrum, welches wir haben.
Herzlich
nachdenken_schmerzt_nicht
"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu
Zitat von Frank2000 im Beitrag #2Alles in allem: Ich bin komplett anderer Meinung in der Analyse.
Das ist ja auch gut so, sonst wäre das Diskutieren fad.
Themen halten eine Partei nur bedingt zusammen. Die großen Volksparteien leisteten sich früher zwei Flügel mit zum Teil doch sehr unterschiedlichen Schwerpunkten. Auf den Parteitagen erfolgten dann halt Deals, bei denen wechselseitig Kröten geschluckt wurden, oder ein Flügel majorisierte den anderen. Oder es wurde etwas beschlossen, das dem einen Flügel wichtig, dem anderen jedoch gleichgültig war, und die Indifferenten gaben dann halt mit Blick auf den Parteifrieden oder ein Zuckerl der anderen Seite ihr Plazet.
Wenn Themen die conditio sine qua non wären, müsste der konservative CDU-Flügel Muttis Partei geschlossen verlassen haben und, soweit an einer Fortsetzung des politischen Engagements interessiert, bei den LKR (vormals ALFA) oder der AfD gelandet sein oder eine neue Partei gegründet haben, und die Post-Essen-AfD müsste nicht nur weiterhin zerstritten, sondern in zwei oder mehrere Nachfolgeparteien gespalten sein. Denn Höcke verfolgt eine andere Agenda als zum Beispiel Petry.
Natürlich definiert sich eine Partei auch über Themen, aber dies m.E. eher ex negativo: Man ist z.B. gegen eine grenzenlose Migration, aber wie die Einwanderungsregulierung konkret aussehen soll, dafür gibt es unterschiedliche Konzepte, die nicht miteinander vereinbar sein müssen.
Was die AfD derzeit zusammenhält, ist m.E. sehr wohl die Stigmatisierung durch den politischen und publizistischen Mainstream. Das erleichtert die (Fassade der) Geschlossenheit, welche die Parteiführung so kurz vor der Bundestagswahl zeigen möchte. Thematische Auseinandersetzungen wurden auf dem Parteitag ja gerade vermieden. Stattdessen stellt man ein Catch-all-Spitzenteam auf, das jeden Geschmack bedient und nach innen und außen demonstrieren soll, wie einig in der Vielfalt man sich doch ist.
Also erst mal zu der wagemutigen und doch stark irritierenden Behauptung: "Thematische Auseinandersetzungen wurden auf dem Parteitag ja gerade vermieden". Im Gegenteil: Der Parteitag hat sich zum überwiegenden Teil seiner Zeit mit der Diskussion und Abstimmung des Wahlprogrammes beschäftigt. Zudem wurden die Mitglieder vorher über Internet um ihre Meinung gefragt (interessante Vorgehensweise, oder?). Da ging es nur um Themen!
Aber viel wichtiger ist folgendes: Die entscheidende Frage bei der Wahl sind/sollten doch gerade die Themen sein. Welche Partei kann man heute wählen, wenn man mit der Euro-Politik, der Energiewende oder dem Umgang mit Migranten etc. nicht einverstanden ist??? Warum wohl werden gerade die Themen bei der Auseinandersetzung mit der AfD immer konsequent ausgespart? Warum wohl beschränkt sich die Auseinandersetzung mit der AfD (mal abgesehen vom offensichtlich gern gesehenen Einsatz des Pöbels, der offen Gewalt ausübt) auf die Beschäftigung mit dem Zustand der Partei (bis zum letzten Kreisfunktionär)? Warum behauptet man wieder mal (trotz wohlbekannter gegenteiliger Erkenntnisse) es handle sich bei ihren Anhängern nur um Abgehängte, Ängstliche, Ossies und natürlich Rechtsradikale?
Und warum wurde wohl Trump in den USA gewählt, obwohl er nun wirklich (wie auch Teile der AfD) kein weißer Ritter ist?
Da ich mich dafür entschieden habe, als Werwohlf ein eher graues Fell zu zeigen, können mich Noricus' Worte auch nicht erröten lassen. Aber ich schwöre: Sonst hätten sie es getan
Wir mir scheint, ergänzen sich unsere Beiträge recht gut. Noricus vertieft einige Aspekte, die ich entweder gar nicht oder nur sehr grob anschnitt, und ich kann ihm dabei auch in allen Belangen folgen. Über die Komplizenschaft von an den Interessen globalisierten Unternehmen ausgerichteter Politik und linken "Emanzipations"-Bestrebungen bei der Eliminierung tradierter Lebensformen und Erschütterung lange akzeptierter Werte müsste man noch diverse Monografien verfassen, sie spielt aber unzweifelhaft auch eine Rolle bei der Entstehung der AfD - und deswegen sollte sich niemand wundern, dass der als "rechts" plakatierte Furor immer wieder Zuflucht bei bekannten linken Mustern sucht, wenn es um wirtschaftliche Fragen geht. Von daher ist die AfD in erster Linie Konkurrent von zwei Parteien: der CDU und der "Linken". Und mir scheint aufgrund bekannter Reaktionen, die beiden sehen das genau so.
Jedoch würde ich dem Aspekt widersprechen, der auch hier in der Diskussion als wesentlich empfunden wird: Die Methoden des politischen Establishments beim Kampf gegen den neuen Konkurrenten erklären m.E. den Erfolg der AfD nicht, aber sie erhöhen die Solidität seines Fundaments. Niemand fühlt sich zur AfD hingezogen, weil die Attacken gegen sie von Bigotterie nur so strotzen, aber wenn man schon auf AfD-Linie ist, bestärken sie. Wie groß der Effekt ist, dass Leute, die an der AfD mehr zu kritisieren als zu loben haben, wie z.B. diverse Autoren/Kommentatoren hier und auch der Werwohlf, sich wegen der Heuchelei der Superdemokraten immer wieder für die demokratischen Rechte der neuen Partei einsetzen, vermag ich nicht zu beziffern. Er mag auch eine Rolle spielen, aber nur eine kleine, denn eine solche, von einer berühmten, immer wieder wohl fälschlich Voltaire zugeschriebenen Aussage motivierte Differenzierungsfähigkeit trifft man in freier Wildbahn nur selten an.
Wenn ich einen Extrapunkt zu vergeben hätte, entfiele der zweifellos auf diese Formulierung: "der aus der Mythologie bekannten Minderheit der Liberalen". Bin zwar selbst keiner (vielleicht war ich's mal), aber mein Auge würde wohlgefällig auf einem ruhen, wenn ich ihn denn je zu Gesicht bekäme (okay, ich kenne persönlich, also von Angesicht zu Angesicht, genau einen aus alten dol2day-Zeiten, aber der ist nicht politisch aktiv).
-- Bevor ich mit den Wölfen heule, werd‘ ich lieber harzig, warzig grau, verwandele ich mich in eine Eule oder vielleicht in eine graue Sau. (Reinhard Mey)
Zitat von Noricus im Beitrag #1der Titel eines lesenswerten, ... Beitrages von Jana Hensel auf ZEIT-Online.
Lesenswert im Sinne von "interessant, was für einen Unsinn linke Journalisten so bringen.
Ich glaube nicht, daß es in deutschen Redaktionen jetzt einen Meinungswandel gibt. M. E. war den Führungsleuten schon klar, daß das blinde AfD-Bashing einer Außenseiterpartei taktisch nützt. Auch ein Maas ist intelligent genug um zu wissen, daß seine Initiativen die AfD eher stärken. Aber Mobilisierung "gegen rechts" nützt den Auflagen und den Wahlergebnissen. Wenn sämtliche "Nazis" bzw. als solche bezeichnete Parteien und Organisationen über Nacht verschwinden würden, hätten links diverse Gruppen und Personen ein echtes Problem ...
Interessant am ZEIT-Artikel finde ich eher, warum die Autorin bei der AfD "richtige Fragen" unterstellt. Das sind nämlich im Prinzip dieselben Fragen, die ihr Kollege schon bei den "Linken" gesehen hat. Weil sowohl "Linke" wie AfD in ihrer nostalgischen Weltsicht die wesentlichen Vorurteile der ZEIT-Redaktion teilen: Früher war fast alles besser, die pöse Globalisierung hat die Gesellschaft kaputt gemacht, der Staat kümmert sich nicht mehr fürsorglich um die Schwachen, die "soziale Gerechtigkeit" ist kaputt gemacht worden. Schon die intensive Verwendung von "Neoliberalismus" (und der fängt dann schon ausgerechnet bei Schröder an) ist ein sicheres Indiz für diese Weltsicht, bei der sich die Sozialisten von links und rechts einig sind.
Die eigentliche Ironie ist doch, daß die Medien seit Jahren offensiv Propaganda für die Inhalte der "Linken" machen und das Zerrbild einer immer ungerechteren Gesellschaft verbreiten. Und jetzt kommt die AfD und nutzt dieses Wählerpotential. Oder in der Formulierung der ZEIT: Die AfD stellt die richtigen Fragen, gibt aber die falschen Antworten. Schon frustierend für die Journalisten, wenn jahrelange Arbeit nicht die gewünschten Ergebnisse bringt.
Zitat Nun sind aber – worauf Hensel zu Recht hinweist – Erwerbsarbeit und Familienbande in den letzten Jahrzehnten prekär geworden.
Genau das halte ich für einen Mythos (bei dem links- und rechts-außen mit der Presse übereinstimmen). Die Welt vor 30 Jahren war nicht so rosa wie sie in der Erinnerung mancher Leute erscheint.
Zitat Man hat keinen Beruf mehr, sondern einen Job.
Gibt es dafür echte Belege? Ich würde eher vermuten: Mehr Leute als früher wählen die Ausbildung und den Berufsweg, mit dem sie sich identifizieren können. Insbesondere gibt es ja auch mehr Selbständigkeit. Und man wechselt die Arbeitsstellen zwar häufiger als früher, aber oft weil man sich verbessern möchte.
Zitat Die Nachfrage nach einfachen Tätigkeiten für Gering- oder Nichtqualifizierte ist massiv gesunken.
Ist das wirklich so? Die echte Wegrationalisierung schlichter Jobs durch Automatisierung erfolgte ja weitgehend in den 50er bis 70er Jahren. Seitdem sind immer noch viele Jobs im einfachen Bereich weggefallen, aber viele auch dazu gekommen. Und umgekehrt gibt es ein geringeres "Angebot" an Unqualifizierten (wer einen Abschluß hat, aber schlecht ausgebildet wurde, zählt ja formal nicht in diesen Sektor).
Zitat Die Angst, plötzlich auf der Straße zu stehen, ist gleichwohl noch in vielen Köpfen gespeichert.
Das ist aber im wesentlichen eine Folge realitätsferner Medienpropaganda. Das Risiko von längerer Arbeitslosigkeit ist heute nicht größer als vor 30 Jahren.
Zitat Jede zweite bis dritte Ehe wird geschieden.
Auch das ist kein wirklich neues Phänomen. Schon in den 80er Jahren wurde jede dritte Ehe geschieden, in den 90er stieg das auf jede zweite - aber seit 15 Jahren ist der Trend wieder rückläufig. Und eigentlich müßte man noch genauer untersuchen, wie stark die Scheidungsrate von Leuten nach oben getrieben wird, die sich mehrfach scheiden lassen. Und wie oft überhaupt Familien betroffen sind, kinderlose Scheidungen sind nicht wirklich schwerwiegend.
Zitat Das nach wie vor gültige Ideal einer konstanten Erwerbsarbeit und einer ebenso stabilen Ehe und Familie wird in der Praxis zunehmend selten als erfüllbar wahrgenommen. Die Gereiztheit derjenigen, die es dennoch zu leben versuchen, gegenüber den genannten Medienhypes ist wohl zuvörderst in dieser Verunsicherung begründet.
Betonung auf "wahrgenommen" und "Medienhype". Richtig ist, daß die völlig konstante Lebensführung mit stabiler Familiengründung und 50 Jahren Tätigkeit bei derselben Firma noch seltener geworden ist (die Regeln war es ohnehin nie). Aber durch höheren Wohlstand, mehr Ersparnismöglichkeiten und deutlich ausgebaute Sozialsystem ist es viel leichter geworden, mit Brüchen umzugehen. Ein Jobwechsel, auch mit einigen Monaten Arbeitslosigkeit, ist keine Tragödie. Nur die Wahrnehmung hat sich verschoben, es werden fast nur die Risiken gesehen, sehr selten die Chancen. Je mehr das Angebot des Sozialstaats ausgebaut wird, desto heftiger werden vermeintliche Defizite zum Beleg eines "Sozialabbaus" angeführt.
Der gemeinsame Mythos von "Linken", AfD und ZEIT lautet: "Früher konnte ein alleinverdienender Familienvater noch eine ganze Familie mit Wohlstand versorgen und wurde bei Problemen vom Sozialstaat unbürokratisch und vollständig versorgt". Und an diesem fiktiven Ideal wird die Gegenwart gemessen und als sozial kalt und "neoliberal" kritisiert.
Ich kann noch immer keinen Beleg, ja nicht mal eine schlüssige Begründung in den vorigen Beiträgen finden, warum "Früher war alles besser" oder "wir fühlen uns als verfolgte Minderheit" a) die AfD zusammenhalten sollte und vor allem b) das Motiv ist, warum die AfD gewählt wird. Das sind doch wilde Spekulationen und die Logik spricht sogar noch eher gegen diese Spekulationen.
Ich kenne in meinem direkten Umfeld ein halbes Dutzend potentielle AfD-Wähler. Von denen will niemand "zu denen" gehören - damit fällt die These vom Zugehörigkeitsgefühl schon mal weg. Und es will auch keiner von denen zurück zum kalten Krieg.
Die AfD als identitäre Bewegung? Das trifft doch höchstens auf ein paar 10.000 Mitglieder und ein paar 100.000 Wähler zu. Die AfD ist nur über die Themen erklärbar. Würde sich die AfD lediglich auf "Wir propagieren das Familienmodell 2-3" beschränken, dann kriegen die keine 2% Wahlstimmen. Darauf verwette ich eine Kiste Bier.
___________________ Kommunismus mordet. Ich bin bereit, über die Existenz von Einhörnern zu diskutieren. Aber dann verlange ich außergewöhnlich stichhaltige Beweise.
Zitat von Werwohlf im Beitrag #11Die Methoden des politischen Establishments beim Kampf gegen den neuen Konkurrenten erklären m.E. den Erfolg der AfD nicht
Die Methoden im Vorgehen gegen den Gegner nicht. Die stärken lediglich das Identitätsgefühl eines Teiles der Wählerschaft, wie du richtig anmerkst. Die Einseitigkeit bei der Positionierung zu vielen Themen ist es aber, welche meines Ermessens die Erklärung bietet. Und die kommt ebenfalls vom "politischen Establishment".
Zitat von Frank2000 im Beitrag #14Die AfD als identitäre Bewegung? Das trifft doch höchstens auf ein paar 10.000 Mitglieder und ein paar 100.000 Wähler zu. Die AfD ist nur über die Themen erklärbar.
Ich teile daher diese Einschätzung. Es gibt diesen identitären Kern, der die AfD vielleicht als Partei auch ausmacht. Für ihren Wahlerfolg bei den zurückliegenden Landtagswahlen halte ich ihn allerdings für nicht ausschlaggebend. Ausschlaggebend ist, nach meinem Dafürhalten, der Wunsch des Wählers nach Differenzierung im Spektrum angebotener politischer Meinung, an Stellen wo es diese Differenzierung lange Zeit so gut wie gar nicht gab.
Die AfD und ihren Erfolg über ein einziges Phänomen erklären zu wollen, kann meines Ermessens nur in die Irre gehen. Dieses Phänomen hat mehrere Komponenten. Es gibt die identiäre (vielleicht Pegida) Bewegung in der AfD ebenso, wie völkische Wirrköpfe. Die Bindekräfte für das gemäßigte Bürgertum sind aber trotzdem da, aufgrund der "Marginalisierung" vieler Lebensentwürfe durch das "politische Establishment" und aufgestauter Wut (aus vielerlei Gründen) auf den politischen Prozeß der letzten Jahre.
Im Ergebnis nimmt die CDU aktuell Positionen ein, für die jemand vor zwei Jahren noch mit dem Hakenkreuz gebranntmarkt worden wäre. Oder meint irgendwer, der Innenminister hätte das Wort "Leitkultur" vor zwei Jahren auch nur einen Tag politisch überlebt? Unsere parlamentarische Demokratie atmet noch. Dass sie Dinge nicht hervrobringt, welche mir persönlich wichtig wären, liegt weniger in ihrer Dysfunktionalität, als in meinen Wünschen begründet.
Herzlich
nachdenken_schmerzt_nicht
"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu
Zitat Nun sind aber – worauf Hensel zu Recht hinweist – Erwerbsarbeit und Familienbande in den letzten Jahrzehnten prekär geworden.
Genau das halte ich für einen Mythos (bei dem links- und rechts-außen mit der Presse übereinstimmen). Die Welt vor 30 Jahren war nicht so rosa wie sie in der Erinnerung mancher Leute erscheint.
Nun ja - ich schreibe jetzt einfach mal ein paar rein subjektive Eindrücke aus vergangenen Zeiten zusammen...
Als fast lebenslanger Brillenträger kann ich mich noch an Zeiten erinnern, als Brillen von der Krankenkasse bezahlt wurden. Ich meine sogar, dass dies auch mal für Zahnersatz galt. Und einer der ersten Sätze, die ich als Grundschuljunge lesen konnte, stand auf einem Plakat, m.W. vom Müttergenesungswerk: "Mutti macht Kurlaub". Muss so Anfang/Mitte der 70er gewesen sein. Ja, zugegeben: das waren Zeiten, als das Wort "Staatsverschuldung" den meisten Leuten nichts sagte. Und trotzdem: von den Beitragssätzen zur Krankenkasse, die meine Eltern damals zahlten, kann ich heute nur träumen. Und wenn jemand auf den demographischen Wandel verweisen will: die Verrentung der Babyboomer beginnt ja gerade erst, das kann also noch nicht wirklich der Grund sein, dass die Beitragssätze (auch zur Rentenversicherung) seither gewaltig gestiegen sind...
Aber bleiben wir bei den 70ern. 1973 bezogen wir das erste eigene Haus, in einer ländlichen Neubausiedlung. Mein Vater war als Hostentwickler tätig (nachdem er noch in der Bauphase auf EDV umgeschult hatte), meine Mutter stieg teilzeit wieder in den Beruf ein, als meine kleine Schwester in die Schule kam. Es half natürlich, dass in dem Haus auch meine Großmutter wohnte, die für die Familie das Essen machte. Dieser familiäre Zusammenhalt über die Generationen hinaus scheint mir heute nicht mehr ganz so gegeben zu sein.
Was die Nachbarn angeht, sofern ich mich noch erinnern kann: einer arbeitete bei einem Computerhersteller, die Frau blieb zuhause und kümmerte sich um Haushalt und Kinder. Ein anderer war kaufmännisch bei einem Bekleidungshaus tätig, die Frau halbtags als Bürokraft. Der nächste war Bauarbeiter und oft die Woche über auswärtig unterwegs, die Gattin verdiente mit Putzstellen etwas dazu. Ein weiterer war bei der Sparkasse, wo die Gattin in Teilzeit ab und an einsprang. Wieder ein anderer war bei der Bundeswehr - nicht als Offizier, sondern in einem normalen Dienstrang - und die Frau arbeitete teilzeit (m.W. Spätschicht) bei der Post. Einer arbeitete (zumeist Nachtschicht) bei der Bahnpost, die Frau war m.W. nicht berufstätig.
Zusammengefasst: eine Siedlung dessen, was ich als erweiterte Mittelschicht bezeichne. Und alle waren mit einem oder maximal anderthalb Durchschnittsgehältern in der Lage, zumeist zwei oder drei Kinder großzuziehen, ein Haus zu bauen, auch mit gewisser Regelmäßigkeit ein neues Auto zu kaufen, mindestens einmal im Jahr in Urlaub zu fahren, und im Großen und Ganzen mehr als ordentlich zu leben.
Rechnen mussten unsere Eltern natürlich schon - zu meinen Kindheitserinnerungen gehört auch das Bild meiner Eltern, wie sie abends bei einem Glas Wein am Wohnzimmertisch Einnahmen und Ausgaben miteinander verrechneten oder in Urlaubskatalogen nach dem besten Angebot suchten. An existentielle Sorgen erinnere ich mich aber nicht. (Gut, die hat man als Kind wahrscheinlich eh nicht...)
Und ich frage mich schon, ob es heutzutage noch möglich wäre, mit etwa einem Durchschnittsgehalt noch all das auf die Beine zu stellen, was unsere Elterngeneration schaffte. Die Welt mag damals nicht rosa gewesen sein, aber düster war sie mit Sicherheit auch nicht.
Zitat Die AfD als identitäre Bewegung? Das trifft doch höchstens auf ein paar 10.000 Mitglieder und ein paar 100.000 Wähler zu.
Ich finde jetzt, dass "ein paar 10.000" bei 25.000 Mitgliedern insgesamt (Stand Januar 2017) gar nicht so wenig sind...
Gruß Petz
"Ein paar 10.000" halte ich auch für deutlich zu hoch gegriffen. Mir scheint, dass "identitäre" oder "nationalistische" Positionen in den meisten westlichen Landesverbänden eher eine Randgruppe darstellen. Im Osten sieht das natürlich anders aus, was sich m.E. aus den nach wie vor recht unterschiedlichen biographischen Erfahrungen herleiten lässt. Kurz nach den Volkskammerwahlen 1990 fuhr ich in einer Gruppe aus meinem damaligen FDP-Kreisverband in die noch existierende DDR, um einen dortigen LDPD-Kreisverband zu besuchen. Einige Äusserungen mancher Gastgeber führten auf der Rückfahrt zu einer Aussage meinerseits: "Wenn das die Liberalen in der DDR sind, will ich die anderen gar nicht erst kennenlernen..."
Als "Wessis" haben wir ja die weitgehende Auflösung des Nationalen, in Form von wirschaftlicher Integration, Reisemöglichkeiten, und ja: auch zumeist in Form der Zuwanderung - sei es das Essen "beim Jugo" oder das Einkaufen "beim Türken" - als durchaus positiv wahrgenommen. Für die "Ossis" gab es dagegen den reichlich verlogenen "sozialistischen Internationalismus" und den Status als "Deutsche zweiter Klasse" an Balaton und Goldstrand... Ich denke, sowas prägt auch auf ziemlich lange Sicht.
Zitat von Carlo M Dimhofen im Beitrag #17... Und einer der ersten Sätze, die ich als Grundschuljunge lesen konnte, stand auf einem Plakat, m.W. vom Müttergenesungswerk: "Mutti macht Kurlaub". Muss so Anfang/Mitte der 70er gewesen sein. ...
Nun, Mutter-Kind-Kuren (und nach der Gleichstellung auch Väter-Kind-Kuren, das gibt es auch, das treibt so manchen Muttis die Wut in die Augen, gerade bei getrennt lebenden Eltern) gibt es nach wie vor für wenig Geld mit attraktivem Leistungsspektrum.
Ich bin mir nicht bewusst, ob es seriöse Untersuchungen zur Motivation der AfD-Wähler (nicht Parteimitglieder!) gibt, außer den üblichen nicht-repräsentativen Befragungen der Fernsehsender und politischen Stiftungen, gleichwohl ist meine Wahrnehmung im engeren Umfeld die der typischen Protestwähler: Blöd, wenn die an die Macht kämen, aber erstens passiert das nicht, und zweitens sprechen die die Themen an, die wichtig sind. Und es funktioniert ja auch, siehe Innenminister und "Wir sind nicht Burka". Die etablierten Parteien bewegen sich und beziehen halbwegs klare Standpunkte. Genau das ist ja die Rolle einer Partei wie der AfD - den nicht-Gehörten Gehör zu verschaffen. Wichtig ist die inhaltliche Auseinandersetzung, und ein Großteil der Wähler weiss das auch, wenn auch oft auf einem niedrigen Niveau. Aber so ist das eben mit der Demokratie, Teilhabe ist nicht an formelle Bildung gebunden.
Zitat von Carlo M Dimhofen im Beitrag #17Als fast lebenslanger Brillenträger kann ich mich noch an Zeiten erinnern, als Brillen von der Krankenkasse bezahlt wurden.
Das werden sie auch heute noch. Aber dann bekommt man eben nur das berüchtigte "Kassengestell", mit dem man auch in den 70ern schon das klassische Ziel für Häme auf dem Schulhof war.
Insgesamt sind zwar einige Leistungen im Gesundheitsbereich gekürzt worden (gerade bei den Kuren wurde ja auch viel Schindluder getrieben), aber umgekehrt sind die ärztlichen Leistungen ja unglaublich ausgeweitet worden.
Zitat von den Beitragssätzen zur Krankenkasse, die meine Eltern damals zahlten, kann ich heute nur träumen.
Aber vom entsprechenden Versorgungslevel kann man nur alpträumen. Viele heute üblichen Behandlungen gab es damals schlicht nicht. Da mußte man halt leiden oder sterben. Seit 1970 haben wir in Deutschland fast 10 Jahre Lebenserwartung zugelegt, das hat ganz wesentlich mit der ausgeweiteten medizinischen Versorgung zu tun. Und die zehn Jahre mehr führen ja auch zu noch mehr Ausgaben bei den Sozialversicherungen.
Zitat Dieser familiäre Zusammenhalt über die Generationen hinaus scheint mir heute nicht mehr ganz so gegeben zu sein.
Das ist richtig, aber kein Nachteil. Die Oma wohnt heute nicht mehr im Haus, weil wir das wegen höheren Wohlstand nicht mehr nötig haben. Die Oma hat jetzt ihre Wohnung (oder sogar noch ihr Haus) und die nächste Generation hat ihren eigenen Bereich. Auch Familien mit viel Zusammenhalt empfinden das als vorteilhaft und Fortschritt.
Zitat Zusammengefasst: eine Siedlung dessen, was ich als erweiterte Mittelschicht bezeichne. Und alle waren mit einem oder maximal anderthalb Durchschnittsgehältern in der Lage, zumeist zwei oder drei Kinder großzuziehen, ein Haus zu bauen, auch mit gewisser Regelmäßigkeit ein neues Auto zu kaufen, mindestens einmal im Jahr in Urlaub zu fahren, und im Großen und Ganzen mehr als ordentlich zu leben.
Das ist auch heute noch problemlos möglich. Ländlicher Raum und anderhalb Mittelschichtsgehälter - damit läßt sich ordentlich leben. Und natürlich vom Standard her deutlich besser als vor 30 Jahren: Das Haus hat einige Annehmlichkeiten mehr, das Auto ist deutlich besser und man verfügt über zusätzliche schöne Sachen wie Computer und Internet. Und nicht zu vergessen: Damals wohnte die Oma nicht nur zur Kostenersparnis im Haus. Die mußte im Zweifelsfall auch irgendwann betreut und gepflegt werden. Und das blieb weitgehend an der Familie hängen (also an der Ehefrau). Heute kümmern sich wohl noch die meisten Familien ordentlich um Oma und Opa, aber die Pflege und andere Pflichten haben sie weitgehend versicherungsfinanziert an Pflegedienste und Heime abgegeben. Das ist ein enormer Gewinn an Lebensqualität (auf jeden Fall für die Familien, meistens auch für die Senioren).
Zitat Die Welt mag damals nicht rosa gewesen sein, aber düster war sie mit Sicherheit auch nicht.
Sicher war sie nicht düster, sondern absolut lebenswert. Das war eben der übliche Standard und es ging den Leuten deutlich besser als der Generation vor ihr. Und genauso ist das heute. Jedenfalls im Großen und Ganzen - es gibt natürlich (wie in jeder Generation vorher) auch einige neue Probleme. Aktuell z. B. die schlichte Überlast in manchen Großstädten, in denen verschiedene Trends (Revitalisierung der Innenstädte, teureres Pendeln, mehr Einwohner und mehr Quadratmeteranspruch pro Einwohner) das Angebot/Nachfrage-Verhältnis bei den Wohnungen in kurzer Zeit stark verschoben haben. Aber das muß halt gezielt politisch gelöst werden, für "früher war alles besser" geben solche Einzelprobleme nichts her.
Zitat von Carlo M Dimhofen im Beitrag #17Aber bleiben wir bei den 70ern. (...) Und alle waren mit einem oder maximal anderthalb Durchschnittsgehältern in der Lage, zumeist zwei oder drei Kinder großzuziehen, ein Haus zu bauen, auch mit gewisser Regelmäßigkeit ein neues Auto zu kaufen, mindestens einmal im Jahr in Urlaub zu fahren, und im Großen und Ganzen mehr als ordentlich zu leben.
R.A. hat darauf schon richtig geantwortet: Es gab von den 1970ern bis heute schon noch gewaltige Steigerungen der Lebensqualität. Die Verbesserungen sind z.T. quantitativ (vielleicht 2 Autos statt einem, 2 Urlaube im Jahr statt einem, etc.). Vor allem aber qualitativ:
Autos sind heute viel bequemer, langlebiger und v.a. sicherer geworden. Ein typischer Familienurlaub meiner Mittelschichts-Freunde in den 1970ern ging mit dem Auto nach Südtirol. Heute mit dem Flugzeug in die USA. Ein Ferngespräch war in den 1970ern noch ein kleiner Luxus. Ein Telefonat in die USA sogar ein großer Luxus. Heutzutage kann man via Facetime praktisch gratis Videokonferenzen nach Australien aufbauen. Die Auswahl im Supermarktregal ist heutzutage VIEL größer als in den 70ern. Heutzutage hat jeder Dorf-Supermarkt ein Asia-Sortiment und exotische Früchte, die in den 1970ern selbst in Delikatess-Läden nicht zu finden waren. In meiner Grundschulklasse war in den 1970ern noch ein Kind, das an Kinderlähmung litt (und mittlerweile verstorben ist). Diese Krankheit ist mittlerweile weltweit praktisch ausgerottet. usw.usf.
Dennoch: Ich kann das Gefühl von Carlo M Dimhofen nachvollziehen. Was in der Rückschau wirklich faszinierend ist: Unsere Eltern führten in den 1970ern im Prinzip ein "modernes Leben", dass wir so ähnlich auch heute führen. Mit gewissen materiellen Verbesserungen (s.o.). Aber grundsätzlich nicht komplett anders. (Es gab auch damals schon das Familienauto, den Familienurlaub, Kühhlschrank, Elektroherd, Fernseher, Doppelhaushälte, Zentralheizung, usw.). Diesen "modernen Lebensstandard" und dieses moderne Lebensgefühl hatten unsere Eltern und Großeltern in gerade mal 20 Jahren von 1949 bis 1970 aufgebaut. In dieser kurzen Zeit gab es einen gewaltigen materiellen, geistigen und gesellschaftlichen Wandel. In den 40 Jahren seither war es nur noch ein vergleichsweise langsame, qualitative Veränderung. (Meine Eltern haben mich in den 1970ern z.B. in etwa so erzogen, wie auch heute Kinder erzogen werden. Schläge gab es z.B. keine. Sanktionierungsmittel war eher Fernseh-Verbot o.ä. Man vergleiche das mal mit dem vollkommen anderen gesellschaftlichen Modell in den 1940ern)
Zitat von Florian im Beitrag #21Es gab von den 1970ern bis heute schon noch gewaltige Steigerungen der Lebensqualität. [...] Was in der Rückschau wirklich faszinierend ist...
... ist ganz sicher nicht mit materiellen Vergleichen zu begreifen.
Aus meiner persönlichen Erfahrung waren die 70er und 80er Jahre deutlich liberaler was Geisteshaltung angeht als das hier und jetzt. Meine teilweise grün/sozilistischen Anwandlungen wurden ebenso akzeptiert, wie meine reaktionären Phasen. Ich hatte dezidiert "links positionierte" Lehrer mit welchen man ohne jeglichen moralischen Impetus trefflich streiten konnte.
Wir haben heute dagegen einen geistigen und moralischen Muff, welcher im Vergleich dazu erdrückend wirkt. Zu vielen Themen ist es heute unmöglich Gegenargumente anzubringen, ohne aufgrund moralisch induzierter Entrüstung die Diskussion zu sprengen. Selbst bei wissenschaftlichen Themen.
Damals galt im täglichen Leben was heute nicht mehr zu gelten scheint im Hinblick auf Meinungen: Leben und lassen.
Es mag sein, dass damals ein aus heutiger Sicht antiquiertes Gesellschaftsbild vorherrschte und auch gepflegt und verteidigt wurde. Aber die geistige Freiheit und Toleranz im täglichen Umgang war ungleich höher als heute. - Was allerdings auch nicht wirklich schwer ist.
Herzlich
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"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu
Zitat von Florian im Beitrag #21... Es gab von den 1970ern bis heute schon noch gewaltige Steigerungen der Lebensqualität.
Das ist richtig, gleichwohl: Ich denke da immer an einen schönen Vergleich, den Mark Steyn in einer Kolumne mal gezogen hat: Versetze jemanden aus dem Jahr 1890 nach 1950, und er wird die Welt nicht wiedererkennen - Elektrizität, Kühlschränke, TV, Radio, Flugverkehr, Individualverkehr mit Autos, erschwingliche Telekommunikation, Revolutionen in der Medizin. In diesen 60 Jahren ist mehr an Innovation in der breiten Masse angekommen als jemals in der Menschheitsgeschichte vorher. Dagegen: Versetze jemanden aus 1950 nach 2010 - soviel Unterschied ist da nicht. Und das auch eher in der Qualität. Die Autos sehen anders aus, Kühlschränke und Fernseher auch, die Funktionalität wurde erweitert, aber jemand aus den 50ern würde sich heute noch genauso gut zurechtfinden. Das einzig neue ist das Internet, und das benutzen wir für Katzenvideos auf youtube .
Ich habe oft das Gefühl, als wären wir als Gesellschaft saturiert, wir bauen die Innovationen in der Qualität aus, besser, billiger, aber für wirklich Neues, für Risiko fehlt uns größtenteils der Mut. Zumindest in Deutschland scheint mir das so. Ja, es mag Inseln der Innovation geben, wahrscheinlich auch eher bei privatwirtschaftlichen Akteuren - eine gesellschaftliche Relevanz erzeugt das leider nicht.
Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #22Aus meiner persönlichen Erfahrung waren die 70er und 80er Jahre deutlich liberaler was Geisteshaltung angeht als das hier und jetzt. Meine teilweise grün/sozilistischen Anwandlungen wurden ebenso akzeptiert, wie meine reaktionären Phasen. Ich hatte dezidiert "links positionierte" Lehrer mit welchen man ohne jeglichen moralischen Impetus trefflich streiten konnte.
Daß diese Zeit wirklich so viel liberaler war, würde ich einmal bestreiten. Strauß - als Kanzlerkandidat - wurde von Linken mit ziemlich genau derselben Haltung bekämpft, mit der man heute die AfD bekämpft. Und auch auf der Gegenseite sah es m.E. nicht viel anders aus.
Was sich geändert hat, ist daß sich die etablierten Medien und die Spitzenebene der Politik insgesamt deutlich nach "links" bewegt haben. Wäre heute z.B. ein Gerhard Löwenthal als Moderator denkbar? Oder auch nur ein TV-Format wie "Frontal" in den frühen 90ern, dessen Konzept explizit auf dem politischen Gegensatz der beiden Moderatoren basierte?
Was sich geändert hat, ist daß sich die etablierten Medien und die Spitzenebene der Politik insgesamt deutlich nach "links" bewegt haben. Wäre heute z.B. ein Gerhard Löwenthal als Moderator denkbar? Oder auch nur ein TV-Format wie "Frontal" in den frühen 90ern, dessen Konzept explizit auf dem politischen Gegensatz der beiden Moderatoren basierte?
Lieber DrNick, ich bin mir nicht so sicher, ob es am Linksruck der Medien liegt (nur ein kleiner, kleiner Schritt zur "Lügenpresse"), oder eher an der damals wesentlich ausgeprägteren Fähigkeit, auch gegenteilige, kontroverse Meinungen auszuhalten und trotzdem, im Großen und Ganzen, manierlich miteinander umzugehen und respektvoll auf den anderen zugehen. So habe ich politische Diskussionen aus meiner Jugend in den 90ern auch in Erinnerung, mit Ausnahmen, die aber genau das waren - Ausnahmen.
Heute, so scheint mir, ist nicht Dissens und Meinungsbildung anhand von Argumenten das Idealbild (auch wenn das "früher" nicht durchweg so gelebt wurde, aber es war das Ziel), sondern Konsens. Sobald jemand Fragen stellt, den Konsens dessen, was "man" sagt oder nicht, verlässt, wird derjenige zum Paria erklärt. Inhaltliche Auseinandersetzung ist selten das Ziel, eher die Ausgrenzung und Verächtlichmachung abweichender Meinungen.
Und ich glaube, der Common Sense der Bevölkerung registriert dieses Verhalten ganz gut, und ist peinlich berührt. Daher auch die Sympathie für die AfD - nicht inhaltlich unbedingt, eher durch den Mut, kontroverse Themen auf das Tapet zu bringen.
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