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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 82 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
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Libero Offline



Beiträge: 393

14.03.2009 11:20
#26 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

Zitat von Llarian
Das Verletzen anderer während des Heranwachsens ist heute seltener als vor 50 Jahren. Gewalt ist ziemlich verpönt, während man sich vor eben jener Zeit noch auf dem Schulhof kloppen konnte, so ist die Toleranz dessen heutzutage niedrig wie nie. Und das man keine Sachen zerschmeisst ? Nun, dann muss an den 68ern aber eine ganze Erziehungslinie vorbeigegangen sein.
Nein, mal ehrlich, die heutige Gesellschaft, und das schliesst die Jugend ein, ist erheblich gewaltfreier als vor 30 Jahren und noch viel, viel gewaltfreier als meinetwegen vor 70 Jahren. Wir neigen nur dazu die "gute, alte Zeit" zu idealisieren.


Hallo Llarian

es gibt einige Schulen, wo das nicht so ist, wo Gewalt auf dem Schulhof alltäglich ist, aber die Schule in Winningen gehört wohl nicht dazu. Durchlebt man nicht die Prügelphase, so lernt man nicht, das man dabei auch Schmerzen empfinden kann. Dann gibt es auch noch Erfahrungen, die heute selten sind. Wir stromerten, kletterten auf Bäume, rassten auf dem Fahrrad Strassen mit starken Gefälle hinab. Mehrere lebensgefährliche Situationen habe ich überlebt. Bis in Baumkrone gestiegen und dieses plötzlich in der Hand. Viele m am Baumstaum heruntergefallen, bis ich wieder Halt hatte. Kleidung zerfetzt, Schürfwunden am ganzen Körper. Da wird man nicht ängstlich, aber vorsichtig, scheut sich, andere zu verletzen. Jugendliche, die heute in diesen Gegenden leben, wo ich die diese Erfahrungen gemacht, kennen das alles nicht. Das ist schon bei den heute Mitdreissiger oft der Fall.
In Antwort auf:

Ich denke man macht einen ganz erheblichen Fehler von gesellschaftlichen Beobachtungen auf Amokläufer zu schliessen. Amokläufer sind Extremfälle. Ein Mensch wird nicht zum Soziopathen weil die Gesellschaft so und so ist, das ist ein sehr individueller Prozess. Ich frage mich auch, was da schief gelaufen ist, aber ich glaube nicht das man die Antwort im kollektiven Erziehungsprozess findet, der funktioniert nämlich noch.


Solche elementaren Erfahrungen wie die Vermittlung von Werten und Geboten beginnt recht früh, meistens vor der Schule. Der Junge wuchs bei seinen Großeltern auf. Die sollen die Werte nicht vermittelt haben? Das glaube ich nicht.

Der Junge unterscheidet sich von den gewaltätigen Intensivtätern. Er war es nicht zu Verwandten. Manche Verwandte von jungen Intensivtätern wären froh, wenn das auch für sie gelten würde.

Er unterscheidet sich auch von anderen nicht konfliktfähigen Heranwachsenden.

Die Normen, die er vermittelt bekam, wurden durch eine sehr individuelle Veränderung außer Kraft gesetzt. Die Frage ist, durch welche.

Herzlicher Gruß
Libero

Man sollte vorsichtig sein in der Wahl seiner Feinde: Früher oder später wird man ihnen ähnlich.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

14.03.2009 13:39
#27 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

Zitat von john j
Mit DEN "Einschränkungen der Freiheit" kann eine demokratische Gesellschaft imho ganz gut leben.

Aber auch eine freiheitliche Gesellschaft, lieber John?

Wo ziehen Sie die Grenze? Es gibt wenig im Leben, was nicht gefährlich ist. Wer Marx liest, könnte auf den Gedanken kommen, die Revolution zu machen. Also Marx verbieten? Ein Küchenmesser eignet sich prima für einen Amoklauf. Küchenmesser verbieten? Mit einem Auto kann man Menschen totfahren, sogar als Amokfahrer. Autos verbieten? Mit Rattengift kann man Menschen umbringen. usw.

Herzlich, Zettel

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

14.03.2009 13:46
#28 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

Zitat von Llarian
Das Verletzen anderer während des Heranwachsens ist heute seltener als vor 50 Jahren. Gewalt ist ziemlich verpönt, während man sich vor eben jener Zeit noch auf dem Schulhof kloppen konnte, so ist die Toleranz dessen heutzutage niedrig wie nie.

Das kann ich bestätigen, lieber Llarian. Als ich Anfang der fünfziger Jahre in die Grundschule ging, gab es in fast jeder Pause auf dem Hof Prügeleien. Der Pausenlehrer eilte dann zum Ort des Geschehens, trennte die Kontrahenten und schlug sie symbolisch leicht mit dem Kopf gegeneinander, was immer das symbolisieren sollte.

Wirtshausschlägereien unter Jugendlichen waren auch etwas Normales.

Was sich, scheint mir, vor allem geändert hat: Heute braucht Gewalt eine Rechtfertigung. Statt sich einfach zu kloppen, weil es Spaß macht, kämpft man gegen den Faschismus. Oder mindestens für seinen Fußballverein.

Herzlich, Zettel

ruhestörung Offline



Beiträge: 42

14.03.2009 14:39
#29 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

Die zwangsläufige Frage, wie man Taten wie den Amoklauf ein Wittenden in Zukunft verhindern kann, muss meiner Meinung nach offen bleiben. Jeglicher Verweis auf ein Versagen der “Gesellschaft” oder der Erziehung in Familie und Schule offenbart letztlich eine Sichtweise, die von der beliebigen Gestaltbarkeit von Gesellschaften und den sie bildenden Individuen ausgeht. Die Konsequenz einer freien Gesellschaft und des freien Willens ist aber, dass diese Freiheiten auch immer die Möglichkeit des Scheiterns von Lebensentwürfen beinhalten. Taten wie den Amoklauf in Wittenden wird es daher auch in Zukunft geben, so schreklich das ist.

Das ändert allerdings nichts daran, dass nach allem was man weiß, der Amoklauf des Tim K. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre, hätte er nicht Zugriff auf die Schusswaffe seines Vaters gehabt, einem Sportschützen, der offenbar wichtigeres zu tun gehabt hatte, als seine Pistole so sicher zu verwahren, wie es die Vorschriften verlangen und der wusste, dass sein in häuslicher Gemeinschaft lebender Sohn psychisch krank und bereits in stationärer Behandlung gewesen war. Davon, dass Tim K. Kontakte zum organisierten Verbrechen hatte und auch auf andere Weise an eine “illegale” Waffe gelangt wäre, habe ich jedenfalls bislang nichts gelesen.

Der Hinweis auf das vergleichsweise strenge Waffenrecht, das in Deutschland gilt, geht hier fehl, weil es für Sportschützen eben nicht gilt.
Diese Privilegien abzuschaffen, bedeutete zwar einen Eingriff in deren Rechte, ein solcher Eingriff erscheint mir aber bei Abwägung der Gefahren für Leib und Leben anderer vertretbar. Wie soll man eigentlich den Angehörigen der Opfer erklären, dass das Hobby von wenigen, denn nichts anderes ist Schießsport, wichtiger ist, als Menschenleben? Der Hinweis auf die Eigenverantwortlichkeit der Sportschützen führt hier nicht weiter. Genausogut könnte man fordern, den Besitz von waffenfähigem Plutonium zu erlauben, damit jeder der es möchte, damit friedlich forschen kann, immer schön eigenverantwortlich natürlich. Geht dann etwas schief, ist es ein bedauernswertes Versagen des Einzelnen, nicht aber die Schuld des Staates, der so etwas erlaubt.

Llarian Online



Beiträge: 6.920

14.03.2009 16:05
#30 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

Lieber Zettel,

so ich mich an meine Schulzeit erinnere, gabs schon Gründe sich zu kloppen, nur erscheinen die aus der Distanz doch ein wenig nichtig zu sein. Wie dem aber auch genau sei, es ist eine gesellschaftliche Entwicklung die Gewalt ausgrenzt. Ich bin mir nichtmal so sicher, ob das so eine gute Entwicklung ist. Vor Jahren lass ich einen Aufsatz darüber, dass Mädchen in ihrer Entwicklung dadurch benachteiligt werden, dass ihnen nicht gestattet wird, Konflikte offen auszutragen und dann geradezu dazu gedrängt werden sich mit anderem Methoden (beispielsweise der Intrige) auseinanderzusetzen. Ich fand das sehr überzeugend und bin eigentlich kein so radikaler Gegener davon, dass auf dem Schulhof auch schonmal gehauen wird (so lange kein Blut fliesst).

Nur welche Gedanken man sich auch immer dazu machen kann, ich glaube nicht, dass das zum Verständnis von Amokläufern beiträgt.

Eine kleine Antwort übrigens auf die Frage, die hier im Parallelen von Ihnen gestellt wurde: "Wo hört das auf ?"
Das hört genau da auf, wo es einen selbst betrifft. Was das typische Problem einer demokratischen aber nicht liberalen Gesellschaft ist. "Ich brauchs nicht, dann braucht ihr es schonmal gar nicht."


Inger Offline



Beiträge: 296

15.03.2009 13:33
#31 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

Hi ruhestörung,
irgendwie hast Du Dich wohl von Deiner eigenen Hilflosigkeit hinreißen lassen, indem Du ein Verbot des Schießsportes an sich verlangst?
Waffe(n) und Munition sind getrennt von einander sicher zu verschließen. Der Vater muß also mit einer zweifachen Anklage rechnen.
Da der
Rechtsanwalt der Familie so stark gegen den Psychiater vorgeht, bringe ich auch noch einen Punkt zu Spekulation vor: Hat der Junge ein Medikament bekommen, das in seiner Wirkung nicht erforscht ist? Der Junge galt als sehr ruhig, es ist also möglich, daß seine Aggressionshemmung durch ein Medikament aufgehoben wurde. Dann wäre der Vater zu Lasten der Psychiaters teilweise entlastet.
Gruß,
Inger

Gorgasal Offline




Beiträge: 4.021

15.03.2009 13:42
#32 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

Zitat von Inger
Hat der Junge ein Medikament bekommen, das in seiner Wirkung nicht erforscht ist? Der Junge galt als sehr ruhig, es ist also möglich, daß seine Aggressionshemmung durch ein Medikament aufgehoben wurde.

Meines Wissens war er wegen Depressionen in Behandlung. Das geht typischerweise mit einem verringerten Affekt einher.

Zitat von Inger
Dann wäre der Vater zu Lasten der Psychiaters teilweise entlastet.

Nu, erstmal hätte der Vater die Waffe noch viel weniger herumliegen lassen dürfen.

Meine Frau macht gerade eine Ausbildung zur Verhaltenstherapeutin. Ein gutes Argument für eine Berufshaftpflichtversicherung. Muss mal die Klagen und die zugehörigen Summen im Auge behalten...

--
Ultramontan – dies Wort beschreibt vorzüglich die katholische Mentalität: mit einem kleinen Teil des Bewusstseins nicht Deutscher, nicht Zeitgenosse, nicht Erdenbürger zu sein. - Martin Mosebach, Spiegel 7/2009

Inger Offline



Beiträge: 296

15.03.2009 13:56
#33 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

Hi Gorgasal,
volles Einverständnis.
Allmählich haben wir wohl drei Überschriften für dieses Thema und wir drehen uns im Kreise. Auf der einen Seite möchte doch aus so einem Ereignis etwas gelernt werden, was die zukünftigen Amokläufe wenigstens etwas erschwert, auf der anderen Seite scheinen die Trauerrituale, die in den Schulen im Augenblick geübt werden, keine wirkliche Hoffnung zu bringen.
Was sagt denn Deine Frau, wie aus der Angst, die man wie die Hilflosikeit auch erst einmal zugeben muß, herauszukommen ist?

Nola ( gelöscht )
Beiträge:

15.03.2009 14:14
#34 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

Hallo Inger,

das habe ich auch schon überlegt. Wenn der Junge Medikamente genommen hat und sie vielleicht möglicherweise einfach abrupt abgesetzt hat, dann sind die psychischen Folgen wohl auch unabsehbar. Viele Kinder kriegen ja inzwischen sowieso schon haufenweise Medikamente für den Schulbesuch. Gegen Angst vor Klassenarbeiten, gegen Hyperaktivität und noch eine Menge anderer Symptome. Auch das ist, bis auf die Medikamente wegen ADHS die sein müssen, eine Normalität geworden.

Auch die Frage nach anderen Modepillen, die für die Disco oder sonstwas genommen werden. Im TV vor Monaten, sprach mal ein halbwüchsiger Junge davon, als er nach Gewalt gefragt wurde. Man wirft diese Dinger ein und fühlt sich stark und mächtig, war seine Aussage.

Außerdem wenn ich die ganzen Oberverbieter mit allen vordergründigen Verboten jetzt wieder höre und diese wissen ganz genau, daß vor unseren Schulen die Dealer stehen und egal wie es die Polizei oder das Gesetz möglich machen, diese müssen verhaftet und strengstens bestraft werden, zumal es Wiederholungstäter oft sind. Aber, da läßt man sich nicht wirklich was einfallen und so müssen diese Dealer am nächsten Tag wieder freigelassen werden und stehen an genau der gleichen Stelle wieder.

♥lich Nola

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

15.03.2009 19:39
#35 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

Lieber Ruhestörung,

Zitat von ruhestörung
Jeglicher Verweis auf ein Versagen der “Gesellschaft” oder der Erziehung in Familie und Schule offenbart letztlich eine Sichtweise, die von der beliebigen Gestaltbarkeit von Gesellschaften und den sie bildenden Individuen ausgeht. Die Konsequenz einer freien Gesellschaft und des freien Willens ist aber, dass diese Freiheiten auch immer die Möglichkeit des Scheiterns von Lebensentwürfen beinhalten. Taten wie den Amoklauf in Wittenden wird es daher auch in Zukunft geben, so schreklich das ist.

So ist es. Es wird auch immer Verkehrsunfälle geben, Menschen werden an Krankheiten sterben, es werden Häuser einstürzen und Flugzeuge vom Himmel fallen. Kein Kontrollwahn wird das verhindern können.
Zitat von ruhestörung
Das ändert allerdings nichts daran, dass nach allem was man weiß, der Amoklauf des Tim K. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre, hätte er nicht Zugriff auf die Schusswaffe seines Vaters gehabt, einem Sportschützen, der offenbar wichtigeres zu tun gehabt hatte, als seine Pistole so sicher zu verwahren, wie es die Vorschriften verlangen

Das scheint so zu sein; nach dem, was bisher bekannt ist. Die Konsequenz ist, daß der Vater sich einer Anklage gegenübersehen wird.

Wenn jemand gegen Gesetze verstößt, ist das aber kein Grund, diese Gesetze zu ändern.
Zitat von ruhestörung
und der wusste, dass sein in häuslicher Gemeinschaft lebender Sohn psychisch krank und bereits in stationärer Behandlung gewesen war.

Er war offenbar einige Male bei einem Psychologen oder Psychiater. "Psychisch krank" ist jemand nicht unbedingt, der sich psychologisch beraten läßt; in der Regel nicht. Stationär war die Behandlung meines Wissens nicht.
Zitat von ruhestörung
Der Hinweis auf das vergleichsweise strenge Waffenrecht, das in Deutschland gilt, geht hier fehl, weil es für Sportschützen eben nicht gilt.

Es gilt für sie. Sogar die Beschaffenheit des Tresors ist vorgeschrieben, in dem sie ihre Waffen aufbewahren müsssen.

Es ist auch vorgeschrieben, daß man nicht betrunken Autofahren darf. Trotzdem tun das Leute. Der Vater Kretschmer hat sich nicht an das Gesetz gehalten. Nochmals: Wieso sollte das ein Grund sein, dieses Gesetz zu ändern?
Zitat von ruhestörung
Diese Privilegien abzuschaffen, bedeutete zwar einen Eingriff in deren Rechte, ein solcher Eingriff erscheint mir aber bei Abwägung der Gefahren für Leib und Leben anderer vertretbar.

Ich sehe das, lieber Ruhestörung, nicht als Privilegien. Wenn der Sportschütze sich an das Gesetz hält, besteht ja eben keine Gefahr. Daß Menschen Gesetze übertreten, kann man nicht durch Gesetze verhindern.
Zitat von ruhestörung
Wie soll man eigentlich den Angehörigen der Opfer erklären, dass das Hobby von wenigen, denn nichts anderes ist Schießsport, wichtiger ist, als Menschenleben?

Ein Sportflugzeug stürzt auf ein Haus; es kommen Menschen ums Leben. Soll man ergo die Sportfliegerei verbieten, auch ein "Hobby von wenigen"?

Bei der Rettung eines verunglückten Bergsteigers kommen Helfer ums Leben. Soll man also die Bergsteigerei verbieten, auch sie ein "Hobby von wenigen"?

Soll man, aktuelles Beispiel, das Skifahren verbieten, dieses Hobby von wenigen, weil dabei Menschen ums Leben kommen?

Lieber Ruhstörung, ich verstehe Ihre Besorgnis. Aber wenn man das, was Sie fordern, zu Ende denkt, dann wird man in einem Obrigkeitsstaat landen. Einer Diktatur des Sicherheitsdenkens.

Herzlich, Zettel

Gorgasal Offline




Beiträge: 4.021

15.03.2009 19:59
#36 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

Zitat von Zettel
Zitat von ruhestörung
Wie soll man eigentlich den Angehörigen der Opfer erklären, dass das Hobby von wenigen, denn nichts anderes ist Schießsport, wichtiger ist, als Menschenleben?

Ein Sportflugzeug stürzt auf ein Haus; es kommen Menschen ums Leben. Soll man ergo die Sportfliegerei verbieten, auch ein "Hobby von wenigen"?

Bei der Rettung eines verunglückten Bergsteigers kommen Helfer ums Leben. Soll man also die Bergsteigerei verbieten, auch sie ein "Opfer von wenigen"?

Soll man, aktuelles Beispiel, das Skifahren verbieten, dieses Hobby von wenigen, weil dabei Menschen ums Leben kommen?

Oder auch: es gibt viele giftige Zierpflanzen, deren Blüten und Früchte kleine Kinder gerne essen. Sollen die den Hobbygärtnern verboten werden?

--
Ultramontan – dies Wort beschreibt vorzüglich die katholische Mentalität: mit einem kleinen Teil des Bewusstseins nicht Deutscher, nicht Zeitgenosse, nicht Erdenbürger zu sein. - Martin Mosebach, Spiegel 7/2009

Shin Offline




Beiträge: 26

15.03.2009 22:44
#37 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

Zitat von Zettel
Bei allen diesen Versuchen, Zusammenhänge zu konstruieren, scheint mir das Offensichtliche zu kurz zu kommen: Ein Mensch hat moralisch versagt. Dieser Tim Kretschmer - ja kein Kind, sondern strafmündig, wenn auch dem Jugendstrafrecht unterworfen - hat sich entschieden, Menschen zu töten.

Danke. Vielen, vielen Dank. Ich habe ähnliches in den letzten Tagen zig Leuten entgegnet, die ganz dem Klischee getreu je nachdem ob sie eher rechts oder links waren entweder bei Ballerspielen oder Waffengesetzen den Schuldigen suchten, und erntete zumeist nur Unverständnis. Der Schuldige ist immer der Täter selbst, und es tut gut das auch mal von jemand anderem zu hören. Ich bin mittlerweile zu dem Schluss gelangt, dass die Tatsache, dass Amokläufer sich meist selbst richten, im Bewusstsein vieler Menschen eine Art "Schuldvakuum" erzeugt ("Wen sollen wir denn jetzt bestrafen?"), welches dann durch den je nach persönlicher Ideologie bevorzugten Sündenbock gefüllt wird.

Libero Offline



Beiträge: 393

16.03.2009 09:21
#38 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

Zitat von Zettel
Bei allen diesen Versuchen, Zusammenhänge zu konstruieren, scheint mir das Offensichtliche zu kurz zu kommen: Ein Mensch hat moralisch versagt. Dieser Tim Kretschmer - ja kein Kind, sondern strafmündig, wenn auch dem Jugendstrafrecht unterworfen - hat sich entschieden, Menschen zu töten.
Lieber Herr Zettel

welcher Zusammenhang besteht zwischen ihrem ersten Satz und dem Täter und inwiefern ist dieser Satz, vor allem durch die Verwendung des Begriffes "das Offensichtliche" nicht konstruiert? Das ist so offensichtlich für Sie? Anderen werfen Sie es vor, wenn sie so urteilen.

Für mich ist nur offensichtlich, daß er in der Schule bis auf einen Jungen nur Mädchen und Frauen gefühllos ermordet hat. Das ist das offensichtlich.

Die Frauen wahrscheinlich deshalb, weil sie sich ihm in den Weg stellten oder vor ihre Schüler stellten. Ich glaube nicht, daß er auf Lehrerinnen abgesehen hatte. Hätten die still dargestanden, nicht auf ihn reagiert und zugesehen, wie er ihre Schülerinnen exekutiert hätte, wären ihnen wahrscheinlich nicht viel passiert. Außer das sie sich bis an das Ende ihrer Tage dafür geschämt hätten. Damit kann man nicht leben, auch dann nicht, wenn man nur dadurch überlebt. Die toten Lehrinnen haben moralisch nicht versagt, verantwortlich und nicht bloß eigenverantwortlich gehandelt.

Um mal eins klar zu stellen.

Ab dem Augenblick, wo Tim K. mit der Waffe die Schule betrat, bestand nur eine Option. Ihn so zu treffen, daß er nicht mehr schießen konnte.
Ab dem Augenblick, wo er selbst schoss, bestand nur die Option, ihn tödlich zu treffen.
Ab dem Augenblick, wo Tim K. von einem anderen Menschen als tödliche Gefahr für seine Mitmenschen erkannt wurden wäre, bestand auch nur eine Option. Sofortiger und wahrscheinlich langanhaltender Verlust der Freiheit.

Was denn sonst.

Hier beginnt das Problem. Selbst wenn ein Arzt erkennt, daß ein Mensch auf einem problematischen Lebensweg ist, der zur Verletzung und Schlimmeren seiner Mitmenschen führen kann, hängt es von dem Menschen selbst ab, es ebenfalls so zu sehen. Sie schrieben, er war ja NUR in ambulanter Behandlung. Das hat er und wahrscheinlich vor allem sein Vater entschieden, der seinen Sohn als nicht auffällig wahrnehmen wollte. Das läuft dann so ab. Mein Sohn ist nicht krank, er ist geistig völlig in Ordnung. Krank sind die Ärzte, die so urteilen. In unserer Familie gibt es so etwas nicht. Das sind dann so die Sprüche, die zum Beispiel auch Lehrer von Eltern zu hören bekommen.

Zu ihrer Aussage.

Ein Mensch hat moralisch versagt.

Das gibt ja. Zwischen 1933 und 1945 haben viele Menschen unterschiedlich schwer moralisch versagt. Kriegzeiten sind Zeiten, wo auch für alltägliche Menschen die Gefahr besteht, abzustumpfen oder zu verrohen. Wie reagieren Menschen, die solche Zeiten überleben, auf ein solchen Urteil? Sie leugnen entweder die Taten oder sie schämen sich. Beides ist ein Eingeständnis der Schuld. Ein Amoktäter würde weder die Taten leugnen, noch sich dafür schämen.

Können wir uns darauf einigen, daß das Offensichtliche eher in dieser Aussage steht.

Ein Mensch konnte nicht mehr moralisch handeln. Dann ist er eine Gefahr für die Menschen seiner Umgebung.

Herzlicher Gruß
Libero

Man sollte vorsichtig sein in der Wahl seiner Feinde: Früher oder später wird man ihnen ähnlich.

ex-blond Offline




Beiträge: 155

16.03.2009 10:28
#39 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

... weil es zu dieser Diskussion passt:

Gerade sehe ich nach den Nachrichten auf FAZ.net, da traue ich doch meinen Augen nicht.
DIESES BILD: http://www.faz.net/s/RubF44DB96803344C01...ommon~SMed.html
ist ein absoluter Skandal in meinen Augen. Wie verdreht muss man sein, um sowas aufzustellen?

Hiermit widerspreche auch auch ausdrücklich Libero's Satz

Zitat von Libero
"Ein Mensch konnte nicht mehr moralisch handeln."
(Hervorhebung von mir). Ich halte es für ganz extrem unwahrscheinlich, dass einem Menschen, der solch ein bewusstes Shooting veranstaltet, vorher von einem Moment auf den anderen die Sicherung durchgebrannt ist. Da gibt es eine lange Vorgeschichte, in der es garantiert 'zig Ausgänge gegeben hätte für den Attentäter, aus seiner destruktiven Spirale nach unten auszusteigen. Ich mache hier sehr wohl den Attentäter verantwortlich.

http://ex-blond.com
http://antialleinerziehende.wordpress.com/

vielleichteinlinker ( gelöscht )
Beiträge:

16.03.2009 11:36
#40 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten
Damit dieses Argument zieht müsste man aber annehmen dass:
1.) Schon lange vorher für den Täter absehbar war dass er irgendwann mit einer Waffe durch seine Schule rennt.
2.) Er, obwohl er diesem Wunsch näher kommt, noch immer rational und mit den normalen moralischen Maßstäben sein Handeln und Denken reflektieren kann.

Zettels Aussage, hier habe jemand moralisch versagt ist richtig aber wenig hilfreich. Und schließt keines der Argumente aus und beantwortet keine der Frage die überall gestellt werden. Warum? Wie? Wie hätte man es verhindern können? Villeicht liege ich falsch aber unterliegt hier jemand der beliebten Verwechlung von Urteil und Erklärung?

PS.: Nachdem ich jetzt das Bild gesehen habe muss ich zugeben dass es besonders schlimm ist um Menschen zu trauern die Böse sind. Wem fällt denn sowas ein?
Zettel Offline




Beiträge: 20.200

16.03.2009 12:57
#41 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

Zitat von Shin
Ich bin mittlerweile zu dem Schluss gelangt, dass die Tatsache, dass Amokläufer sich meist selbst richten, im Bewusstsein vieler Menschen eine Art "Schuldvakuum" erzeugt ("Wen sollen wir denn jetzt bestrafen?"), welches dann durch den je nach persönlicher Ideologie bevorzugten Sündenbock gefüllt wird.

Ein interessanter und einleuchtender Gedanke, lieber Shin. De mortuis nil nisi bene.

Jedenfalls ist es schon erstaunlich, wie wenig Wut sich gegen den Täter richtet - ganz anders, als wenn ein siebzehnjähriger Sexualmörder ein einziges Kind umgebracht hat.

Da verhalten wir - wir alle, glaube ich - uns schon sehr irrational.

Herzlich, Zettel

tilia Offline



Beiträge: 26

16.03.2009 13:08
#42 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

In Antwort auf:
http://www.faz.net/s/RubF44DB96803344C01...ommon~SMed.html
ist ein absoluter Skandal in meinen Augen. Wie verdreht muss man sein, um sowas aufzustellen?


Aus dem Herzchen anstatt eines Punktes über dem "i" folgere ich, dass es von einem oder mehreren Kindern (vermutlich Mädchen) aufgestellt wurde. Wenn die Information, dass die Kinder nach der Tat stundenlang im Schulgebäude von Psychologen betreut (= bearbeitet) wurden, richtig ist, dann fällt es mir nicht schwer zu erraten, wer für diese Verdrehung des Denkens mit verantwortlich sein dürfte. Gerade Mädchen dieser Altersstufe lassen sich sehr leicht in eine mea-culpa-Richtung lenken, wie mir unsere 17jährige Tochter schon seit Jahren immer wieder aus ihrem Schulalltag berichtet.
Dass die FAZ dieses Bild abdruckt ist in der Tat ein Skandal und völlig unverantwortlich.

Niemand hat den Täter zum Morden getrieben, dies zu tun war seine eigene Entscheidung. Schuld und Verantwortung liegen nur bei ihm und nicht bei seiner Umgebung, ob sie ihm nun viel oder wenig Beachtung geschenkt haben mag.
Frustrationen gehören zu Leben. Wie man damit umgeht, dafür ist jeder selbst verantwortlich, das macht den Menschen aus.

In Antwort auf:
Hiermit widerspreche auch auch ausdrücklich Libero's Satz
Zitat von Libero
"Ein Mensch konnte nicht mehr moralisch handeln."
(Hervorhebung von mir). Ich halte es für ganz extrem unwahrscheinlich, dass einem Menschen, der solch ein bewusstes Shooting veranstaltet, vorher von einem Moment auf den anderen die Sicherung durchgebrannt ist. Da gibt es eine lange Vorgeschichte, in der es garantiert 'zig Ausgänge gegeben hätte für den Attentäter, aus seiner destruktiven Spirale nach unten auszusteigen. Ich mache hier sehr wohl den Attentäter verantwortlich.
[/quote]

Genau so ist es.

tilia

Libero Offline



Beiträge: 393

16.03.2009 13:27
#43 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten
Zitat von ex-blond

Ich halte es für ganz extrem unwahrscheinlich, dass einem Menschen, der solch ein bewusstes Shooting veranstaltet, vorher von einem Moment auf den anderen die Sicherung durchgebrannt ist.


Wie kommen Sie auf den entzückenden Gedanken, daß ich das anders sehe? Natürlich hat das einen Vorlauf von mehreren Monaten, wo er sich von der Welt, in der wir leben, abschnürte und sein Universum lebte, das nur einen einzigen Bewohner hatte. Ihm sind auch nicht die Sicherungen durchgebrannt, er hatte keine mehr. Keine Maßstäbe mehr, was gut und was böse ist.

Sie geruhten, zu überlesen, was ich vorher geschrieben.
In Antwort auf:
Ab dem Augenblick, wo Tim K. mit der Waffe die Schule betrat, bestand nur eine Option. Ihn so zu treffen, daß er nicht mehr schießen konnte.
Ab dem Augenblick, wo er selbst schoss, bestand nur die Option, ihn tödlich zu treffen.
Ab dem Augenblick, wo Tim K. von einem anderen Menschen als tödliche Gefahr für seine Mitmenschen erkannt wurden wäre, bestand auch nur eine Option. Sofortiger und wahrscheinlich langanhaltender Verlust der Freiheit.


Ich bin also nicht ein Gutmensch, wie sie vielleicht vermuten. Und schon gar kein Linker

Ich habe Ihnen wahrscheinlich etwas voraus. Ich habe Erfahrung mit Menschen mit Einschränkungen. Mein Wahlsohn hatte eine Sauerstoffunterversorgung vor der Geburt und einiges mehr dank "hilfreicher" Ärzte. Er ist dank anderer heilender Ärzte fit und selbständiger im Beruf, als man es nach seiner Vorgeschichte annehmen könnte. Aber deswegen schreibe ich das nicht.

Er hat eine medizinische Odyssee erlebt und wir mit ihm. Dabei lernt man andere Menschen in gleicher und anderer Lage kennen. Menschen, die es von Geburt an sind, Menschen, die es durch Kinderkrankheiten oder zum Beispiel schwere Unfälle mit Kopfverletzungen wurden und Menschen, die es im Alter wurden. Nicht alle diese Menschen sind das, was viele vorher waren, warmherzige mitfühlende Menschen. Das ist, wie sie sich denken können, besonders für die Angehörigen, die sie ganz anders in Erinnerung haben und behalten wollen, eine ganze schwere Prüfung, die oft genug nicht nur mit dem Leben eines Menschen endet.

Ja und dann gab es eben Menschen, die ohne die oben genannten Ereignisse seltsam wurden, sich völlig von der Welt abschnürten und regelrecht abstumpfen. Sich bis zur Rohheit und Gefühllosigkeit steigern. Manche wirken dann regelrecht fremdbestimmt. Ob immer eine Disposition für dieses Verhalten vorhanden sein muß, wer will das sicher sagen. Ich glaube inzwischen, das es möglich ist, sich selbst in diese Lage zu bringen. Das dauert vielleicht gar nicht mal so lange, wenn man sich vor der Welt verschließt. Möglich, das er eine Disposition hatte, aber ich glaube, er hat zugelassen, daß er diesen Weg geht, der ihn von Menschen wegführte. Dafür ist er verantwortlich, ohne Einschränkungen.

Menschen auf den Weg, denn sie verlassen haben, zurückzuführen, gelingt manchmal nach der Wandlung. Sprechen Sie mit Angehörigen, werden sie hören, daß dieser Mensch, den Sie jetzt wahrnehmen, vor dieser Zeit und vor diesem Ort, ein anderer Mensch war. Die Prognose ist natürlich wesentlich günstiger, wenn man erkennt, daß ein Mensch sich wandelt und eingreift, bevor er alle Sicherungen verliert.

In Antwort auf:
in der es garantiert 'zig Ausgänge gegeben hätte für den Attentäter, aus seiner destruktiven Spirale nach unten auszusteigen


Ja, gewiss. Ich denke, bis zu dem Zeitpunkt, wo er in die Ambulanz ging, war das noch möglich. Schwierig zu mutmaßen, was passiert ist. Oft denken Menschen in solcher Lage ganz anders über die Ursachen ihrer Lage, suchen die Schuld nur bei Anderen und erkennen nicht, was sie selbst tun können, um sich aus dieser Lage zu befreien. Das wird ein guter Arzt ihnen auch sagen und es gibt Menschen, die das gar nicht hören wollen. Bis zu diesem Zeitpunkt war sein Weg wahrscheinlich noch reversibel. Am Tage des Amoklaufes und einige Zeit vorher nicht mehr. Da war er irreversibel. Da konnten ihn nur noch andere Menschen zwingen, den destruktiven Weg zu beenden. Zwingen heisst nicht Händchenhalten, sondern mindestens von der Öffentlichkeit fernhalten.

...............

Wie Sie so richtig schrieben, steht er jetzt vor einem anderen Richter. Wollen Sie das Urteil Gottes vorwegnehmen?

Gruß
Libero

Man sollte vorsichtig sein in der Wahl seiner Feinde: Früher oder später wird man ihnen ähnlich.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

16.03.2009 13:42
#44 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

Zitat von vielleichteinlinker
Damit dieses Argument zieht müsste man aber annehmen dass:
1.) Schon lange vorher für den Täter absehbar war dass er irgendwann mit einer Waffe durch seine Schule rennt.
2.) Er, obwohl er diesem Wunsch näher kommt, noch immer rational und mit den normalen moralischen Maßstäben sein Handeln und Denken reflektieren kann.

Nein, lieber Vielleichteinlinker. Jedenfalls für die Schuldfähigkeit im juristischen Sinn reicht es aus, daß - Paragraph 20 StGB - jemand fähig ist, "das Unrecht der Tat einzusehen" und "nach dieser Einsicht zu handeln". Es gibt keinen Grund, anzunehmen, daß das auf Tim Kretschmer nicht zutraf.
Zitat von vielleichteinlinker
Zettels Aussage, hier habe jemand moralisch versagt ist richtig aber wenig hilfreich. Und schließt keines der Argumente aus und beantwortet keine der Frage die überall gestellt werden. Warum? Wie? Wie hätte man es verhindern können? Villeicht liege ich falsch aber unterliegt hier jemand der beliebten Verwechlung von Urteil und Erklärung?

Um etwas zu erklären, muß man es erst einmal konstatieren. In der momentanen Diskussion wird gar nicht konstatiert, daß hier jemand eine schwere Schuld auf sich geladen hat. Hätte er - ich habe darauf vorhin in einem anderen Beitrag hingewiesen - nicht zahlreiche Menschen umgebracht, sondern ein einziges Kind, nachdem er es sexuell mißbraucht hatte, dann gäbe es mit Sicherheit keine Kerzen, dafür aber die Frage der Schuld.

Sie haben gewiß Recht - damit, daß man die Schuld konstatiert, ist noch nicht gesagt, wie es zu diesem schuldhaften Verhalten gekommen ist.

Ich glaube aber, lieber Vielleichteinlinker, nicht, daß das Spekulieren weiterhilft. Man müßte die Biografie des Mörders kennen, sein Verhältnis zu den Eltern, seine Grübeleien, seine Aggressionen. Man müßte auch vor allem die Art seiner Depression kennen. Dann seine Lektüre, seine Helden, seine Phantasien.

Vielleioht findet sich ein Tagebuch, das weiterhilft, oder eine Mail-Korrespondenz.

Ohne solche Informationen kann man meines Erachtens nicht viel mehr sagen, als daß dieser Mensch sich unverantwortlich, brutal, ja unmenschlich verhalten hat. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Aber natürlich gibt es für das Tun jedes Mörders Erklärungen. Auch für das der größten Massenmörder.

Herzlich, Zettel

Libero Offline



Beiträge: 393

16.03.2009 13:57
#45 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

In Antwort auf:
als daß dieser Mensch sich unverantwortlich, brutal, ja unmenschlich verhalten hat.


Lieber Herr Zettel.

Machen Sie aus ummenschlich ein Substantiv. Er hat eine Grenze überschritten, weitgehend durch seine Nichttun, die ihn zu einem Unmenschen werden liess. Das ist doch genau der Punkt. Das Überschreiten dieser Grenze ist leider eine Option der menschlichen Entwicklung. Es geht nicht um Entschuldigungen, es geht um das Wahrnehmen, wann sich ein Mensch dieser Grenze nähert. Um ihn daran zu hindern, diese Grenze zu überschreiten, denn schon vorher ist er nicht in der Lage, sich selbst als das wahrzunehmen, was er geworden ist, ein Irrläufer. Dann MUSS er seine Freiheit verlieren. Im Augenblick sieht es so aus, das er bis zum letzten Atemzug unmässig frei ist. Frei zu töten und frei sich selbst zu töten.

Herzliche Grüße
Libero

Man sollte vorsichtig sein in der Wahl seiner Feinde: Früher oder später wird man ihnen ähnlich.

john j Offline




Beiträge: 591

16.03.2009 15:03
#46 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

Zitat von Zettel
Zitat von john j
Mit DEN "Einschränkungen der Freiheit" kann eine demokratische Gesellschaft imho ganz gut leben.

Aber auch eine freiheitliche Gesellschaft, lieber John?
Wo ziehen Sie die Grenze? Es gibt wenig im Leben, was nicht gefährlich ist. Wer Marx liest, könnte auf den Gedanken kommen, die Revolution zu machen. Also Marx verbieten? Ein Küchenmesser eignet sich prima für einen Amoklauf. Küchenmesser verbieten? Mit einem Auto kann man Menschen totfahren, sogar als Amokfahrer. Autos verbieten? Mit Rattengift kann man Menschen umbringen. usw.
Herzlich, Zettel


Ich sehe keinen wesentlichen Unterscheid zwischen demokratisch und "freiheitlich". Sie schon?

Jede demokratische Gesellschaft waegt laufend die Rechte des Einzelnen gegen die Rechte der Gesellschaft als ganzes ab. Warum soll das bei privatem Besitz von Schusswaffen anders sein als bspw bei der Erlassung eines Tempolimits auf einem Autobahnstueck?

Um ihre Frage zu beantworten: Die Grenze ziehe ich bsw bei 16 Schusswaffen in einem einzigen Haushalt. Ich ziehe sie dort wo die Rechte von sog. "Sportschuetzen" wichtiger sein sollen als das Recht der Allgemeinheit auf Sicherheit und das Leben ihrer Kinder. Und ich ziehe sie dort wo jemand mit weismachen will dass eine demokratische oder von mir aus freiheitliche Gesellschaft sich an dem (weitgehend unkontrollierten) privatem Besitz von Schusswaffen misst.

ex-blond Offline




Beiträge: 155

16.03.2009 15:32
#47 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten
Zitat von Libero
Ich bin also nicht ein Gutmensch, wie sie vielleicht vermuten. Und schon gar kein Linker

Lieber Libero, das habe ich keinen Moment lang vermutet - ich lese Ihre Beiträge hier immer (wenn ich hier lese) mit großem, positiven Interesse!

Ich sehe es wie Sie, dass es vorher eine längere Entwicklung gegeben haben muss. Trotzdem habe ich Sie in diesem Fall so verstanden, dass Sie während dieser Entwicklung die äußeren Umstände dafür verantwortlich machen, dass es soweit kommen konnte, und nicht den Mörder selbst.

Nun schreiben Sie aber:
Zitat von Libero
Ich glaube inzwischen, das es möglich ist, sich selbst in diese Lage zu bringen. Das dauert vielleicht gar nicht mal so lange, wenn man sich vor der Welt verschließt. Möglich, das er eine Disposition hatte, aber ich glaube, er hat zugelassen, daß er diesen Weg geht, der ihn von Menschen wegführte. Dafür ist er verantwortlich, ohne Einschränkungen.

Genau so sehe ich es auch.

Zu welchem Zeitpunkt es tatsächlich keine Umkehr mehr gab ist reine Spekulation. Ich denke (anders als Sie), es hätte zu jedem Zeitpunkt eine Umkehr geben können, aber ich kann mich da auch täuschen.
Zitat von Libero
Wie Sie so richtig schrieben, steht er jetzt vor einem anderen Richter. Wollen Sie das Urteil Gottes vorwegnehmen?

Eine gute Frage. Ich komme wahrscheinlich recht aggressiv und absolut sicher in meiner Sache rüber - bin ich aber nicht. Ich bin ziemlich sicher, aber nicht ganz sicher. Ich denke, dass nur Gott wirklich weiß, wie weit Tim schuldig ist. Dem irdischen Anschein nach aber ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass er sehr große Schuld auf sich geladen hat, dass er sozusagen vom Unschuldigen zum Bösen geworden ist.

Ich thematisiere die Schuldfrage deshalb so lauthals, weil ich die Art, die Welt zu betrachten, die Leute haben, die solche Kerzen auf einen Zettel mit Herzchen-Tim stellen, für nachgerade gefährlich halte. DAs sind dieselben Leute, die auch einen Massenmörder Saddam Hussein verteidigen und den Irak-Krieg verdammen, die in G.W. Bush das personifizierte Böse sehen usw.

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ex-blond Offline




Beiträge: 155

16.03.2009 15:44
#48 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

Nochmal zu dem Bild.

Ich finde, man kann die Leute, die Kerzen für Tim Kretschmer aufstellen und ihm in Trauer gedenken vergleichen mit Leuten, die für einen SS-Mann, der im KZ an einem Massengrab unschuldige Jugendliche und Frauen erschossen hat, Kerzen aufstellt und den Namen des SS-Mannes mit einem Herzchen ziert.

Was glaubt Ihr, wie groß der Aufschrei über sowas in dieser Republik wäre! Das gäbe eine Skandal erster Klasse. Hunderttausende auf den Straßen. Lichterketten. Offizielle Entschuldigungen seitens der Zeitung, die das Trauerkerzen-für-SS-Bild als Illustration druckte. Ein gekündigter Redakteuer. Usw....

Den SS-Mann Vergleich habe ich auch in der FAZ als Leserkommentar geschrieben. Großer Aufschrei! Wie ich diese Vergleich wagen könnte ...

Es ist aber ein passender Vergleich. Der SS-Mann müsste in den Augen der Kerzenhinsteller sogar unschuldiger als Tim K. sein. Denn: der SS-Mann war vermutlich in einer Ideologie erzogen, die ihn im Glauben an 'unwertes Leben' erzog. Er dachte, er würde gegen einen 'volksimmanenten' Feind vorgehen. Er wurde von seinem unmittelbaren Umfeld untestützt. Er bekam vielleicht sogar noch Belohnungen für sein Tun. Er stand unter starkem äußeren Druck - hätte er offenen Widerstand gezeigt, wäre es ihm vielleicht selbst an den Kragen gegangen.

Tim K. dagegen hatte keine passende Umwelt, er wusste, dass ihn diese Tat eine lange Haftstrafe (leider gibt es bei uns kein lebenslängliches Lebenslänglich) oder der Tod kosten würde. Er wuchs nicht in einem passenden ideologischen Umfeld auf. Usw.

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Libero Offline



Beiträge: 393

16.03.2009 16:26
#49 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten

Zitat von ex-blond
Zu welchem Zeitpunkt es tatsächlich keine Umkehr mehr gab ist reine Spekulation. Ich denke (anders als Sie), es hätte zu jedem Zeitpunkt eine Umkehr geben können, aber ich kann mich da auch täuschen.


Hallo Ex-Blond

Das ist genau der Punkt. Sie gehen von einer Reversibilität des Verhaltens und Objektivität der Beurteilung des Verhaltens aus, die nicht mehr gegeben ist

Das was er subjektiv und objektiv als Kind erlebte, teilt er mit vielen anderen Heranwachsenden. Wenn Eltern glauben, daß sie alles wissens, was mit ihrem Kind den Tag über passiert, dann irren sie sich meistens. Kleine Katastrophen passieren jeden Tag, weil man auch vieles nicht versteht, was mit einem selbst geschieht. Körper und Gehirn verändern sich, man macht manchmal verrückte Dinge, über die man rückblickend als Erwachsener nur den Kopf schütteln kann. Es gibt Erfolge, es gibt Mißerfolge. Wer erlebt schon immer nur Erfolge, gerade in der Pubertät. Das unglückliche Verliebtsein, das nicht Erwählt werden, erleben doch nicht nur Jungs, sondern auch Mädchen. Viele Mißerfolge sind ja auch nur eingebildete Mißerfolge oder Zurückweisungen, die auf die eigene Schüchternheit zurückzuführen sind.

Was diesen Jungen unterschied, war das er nicht mit Niederlagen, Grenzen und den Nichtgewolltsein umgehen konnte. Das kann man lernen und wenn nicht durch die Eltern, dann durch andere Menschen. Aber selbst erkennen, daß man anders damit umgeht, als die anderen, kann man meistens nicht. In vielen Familien kann man nicht damit umgehen, daß das eigene Kind zum Psychologen oder gar zum Psychiater gehen muß. Manchmal reicht auch ein verständiger Verwandter, es sind ja alles keine Probleme, wo ein lebenserfahrener Mensch nicht helfen kann und es auch leichter mit einem Verwandten darüber zu sprechen. Wenn man es kann. Dieser Junge konnte es offenbar nicht. Aus eigentlich alltäglichen Problemen des Heranwachsens wurde ein Amoklauf.

Libero

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ex-blond Offline




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16.03.2009 16:40
#50 RE: Zitat des Tages: Warum wurde Tim K. zum Mörder? Antworten
Zitat von Libero
Dieser Junge konnte es offenbar nicht. Aus eigentlich alltäglichen Problemen des Heranwachsens wurde ein Amoklauf.

Dann aber war er moralisch unschuldig.

Und genau in diesem Punkt bin ich anderer Meinung. Ich denke, dass ein geistig normal begabter, heranwachsender Junge die Fähigkeit hat, zu erkennen, dass er mit einer Tat liebäugelt, die für andere größtes Leid bedeutet und dass dies falsch und moralisch verwerflich ist.
Natürlich hat es Gründe, warum er sich mit solch finsteren Gedanken herumtrug und sich mit solch finsteren Hobbies (Horrofilme, krasse ego-Shooter Spiele) beschäftigte. Diese Gründe konnte er vielleicht nicht selbst beseitigen.

Er hätte sich aber zumindest Hilfe holen können, da er gewusst haben muss (er war ja nicht geistig umnachtet), dass er sich und andere gefährdet. Was Menschen davon abhält, sich Hilfe zu holen, ist der Stolz.

Interessanterweise gilt der Stolz in der kath. Kirche als Todsünde - und zwar als erste Hauptsünde.

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