Zitat von R.A. Man hat die Identität seines Volks und die des Gesamtstaats. Der Vielvölkerstaat funktioniert, wenn die Identifikation mit dem Staat groß genug ist. Ein Bayer fühlt sich als Bayer, aber gleichzeitig auch als Deutscher - damit funktioniert Deutschland. Der Vielvölkerstaat funktioniert nicht (bzw. nur mit Zwang), wenn die Identifikation mit dem Gesamtstaat zu schwach ist.
So ist es. Womit sich die Frage stellt, wovon denn diese Identifikation abhängt.
Das kann nun sehr verschieden sein. Preußen zum Beispiel war ein Vielvölkerstaat, der durch seine Dynastie zusammengehalten wurde; vielleicht auch durch den Stolz auf dieses in mancher Hinsicht vorbildliche Land. Die USA werden durch die Identifikation mit den amerikanischen Werten zusammengehalten; von der Überzeugung, daß man the greatest country on earth ist.
Die Kommunisten haben versucht, die UdSSR samt Satelliten durch die kommunistische Ideologie zusammenzuhalten; das hat bekanntlich nicht so sehr gut funktioniert. Dem Osmanischen Reich fehlte ein solcher Kitt ganz und gar; es wurde nur durch Despotie zusammengehalten, wie auch das zaristische Rußland.
Und um nun zu Europa zurückzukehren, was Sie dankenswerterweise getan haben, lieber R.A.: Ich sehe keinen Kitt, der Finnen und Malteser, der Polen und Schotten miteinander verbinden könnte. Nicht im Ansatz.
Es gibt einfach kein europäisches Gemeinschaftsgefühl. Dazu ist die Vielfalt zu groß, sind die nationalen Traditionen zu mächtig. Und so etwas kann man nicht erzwingen.
Hätte man es bei den Sechs des Vertrags von Rom belassen, dann hätte so etwas vielleicht entstehen können - Neukarolingien, wie ich es im Scherz genannt habe. Ich habe damals, als der Vertrag von Rom unterzeichnet wurde, daran geglaubt und es auch befürwortet. Eine Art Schweiz eben.
Heute denke ich, daß auch das eine schwierige Entwicklung gewesen wäre. Denn ein solches Neukarolingien wäre ein Machtprotz geworden, dem kein anderes Land in Europa hätte ein Gegengewicht entgegensetzen können. Eine Bedrohung für alle seine Nachbarn.
Das begann sich ja abzuzeichnen, als man die EFTA als Gegengewicht gründete. Am Ende taugte das aber auch nichts, und es blieb als alleinige Option die schrittweise Erweiterung.
Damit war der Traum - oder Alptraum - von einem Bundesstaat Europa ausgeträumt. Man hätte es bei einer wirtschaftlichen Verflechtung, dem Abbau der Binnenzölle usw. belassen sollen. Ein Europa der Vaterländer, wie es de Gaulle vorschwebte.
Stattdessen doktert man jetzt an einem Gebilde herum, das nicht Fisch und nicht Fleisch ist, halb Bundesstaat und halb Staatenbund. Daraus wird nichts werden; davon bin ich immer mehr überzeugt.
Zitat von ZettelEs gibt einfach kein europäisches Gemeinschaftsgefühl. Dazu ist die Vielfalt zu groß, sind die nationalen Traditionen zu mächtig.
Genau das sehe ich deutlich anders (bei der grundsätzlichen Einordnung von "Vielvölkerstaat" etc. scheinen wir dagegen Konsens gefunden zu haben).
Es gibt dieses Gemeinschaftsgefühl auf jeden Fall, man erlebt das sehr häufig.
Nur mal drei kleine Beispiele:
Selbst für EU-Skeptiker ist ein Haupt-Argument gegen den Türkei-Beitritt, daß das "kein europäisches Land" wäre. Die Abgrenzung "Europäer" vs. "Nicht-Europäer" ist da ganz zentral. Es gibt auch genügend Leute, die halten den Bulgarien-Beitritt für falsch, wg. wirtschaftlichen Argumenten oder strukturpolitischen. Aber daß Bulgarien grundsätzlich "einer von uns" ist, das wird eigentlich nie in Frage gestellt.
Beobachten sie mal eine gemischte Reisegruppe im Ausland. In erster Linie werden sich da die Leute nach Nationalitäten zusammen finden (z. B. beim Mittagstisch), man sucht natürlich auch Leute, mit denen man sprachlich zurecht kommt. Aber wenn von jeder Nation nur wenige da sind, dann glucken in erster Linie die Europäer zusammen. Da sitzen im Zweifelsfall der Deutsche, der Spanier und der Holländer an einem Tisch und die Amis mit den Kanadiern am anderen.
Ich hatte schon berichtet, daß wir beim WM-Spiel Frankreich-Nigeria waren. Natürlich waren die meisten Zuschauer Deutsche, d.h. im Prinzip "neutral". Es wurden zwar auch die Nigerianer höflich beklatscht - aber es war völlig klar, daß für die deutschen Zuschauer die Franzosen "unsere Mannschaft" war, denen wurde zugejubelt (wenn auch nicht mit der Intensität einer deutschen Beteiligung).
Es gibt dieses europäische Gemeinschaftsgefühl. Und es ist in den letzten zwei Generationen deutlich gewachsen - im alten Kern-EU-Europa ("Neukarolingien") deutlich stärker als im Rest.
Aber Sie haben natürlich recht, daß es bisher immer noch deutlich schwächer ist als die nationalen Gemeinschaftsgefühle. Vielleicht auch noch lange schwächer bleiben wird. Aber als Basis für einen vernünftig organisierten Bundesstaat durchaus ausreichend.
Zitat von ZettelEs gibt einfach kein europäisches Gemeinschaftsgefühl. Dazu ist die Vielfalt zu groß, sind die nationalen Traditionen zu mächtig.
Genau das sehe ich deutlich anders (bei der grundsätzlichen Einordnung von "Vielvölkerstaat" etc. scheinen wir dagegen Konsens gefunden zu haben).
Es gibt dieses Gemeinschaftsgefühl auf jeden Fall, man erlebt das sehr häufig.
Natürlich, lieber R.A., stehen einem seine Nachbarn näher als Leute, die weit weg wohnen. Aber man möchte deshalb mit diesen Nachbarn doch nicht gleich eine Wohngemeinschaft bilden, oder gar eine Familie.
Zitat von R.A.Beobachten sie mal eine gemischte Reisegruppe im Ausland. In erster Linie werden sich da die Leute nach Nationalitäten zusammen finden (z. B. beim Mittagstisch), man sucht natürlich auch Leute, mit denen man sprachlich zurecht kommt. Aber wenn von jeder Nation nur wenige da sind, dann glucken in erster Linie die Europäer zusammen. Da sitzen im Zweifelsfall der Deutsche, der Spanier und der Holländer an einem Tisch und die Amis mit den Kanadiern am anderen.
Hm, ich kenne das eher von Konferenzen. Und da gibt es so etwas nicht.
Ich habe mich übrigens bei den Amis meist wohler gefühlt als bei den Briten; man kommt viel leichter ins Gespräch. Small talk mit Briten hat mich gelegentlich an die "Kahle Sängerin" erinnert.
Zitat von Uwe RichardWer hat denn je durch Schuldenmachen seinen Wohlstand erhöht? Schulden, die er mit neuen Krediten tilgt?
Nun, das ist ganz einfach: Derjenige, der auch vorher schon nichts mehr hatte, was man ihm wegnehmen kann, oder auch derjenige, dem man die Schulden letztlich erlässt. Die Schuldenaufnahme diente dann immerhin dazu, sich eine Zeit lang einen Konsum zu erlauben, der mit eigenen Mitteln nie hätte realisiert werden können. Vorher ein Bettler, zwischendurch ein König, dann wieder ein Bettler - rational gesehen schlägt das die Variante "immer Bettler" deutlich. Zumal man immer darauf hofft, dass das Schneeballsystem, sofern man es als solches erkannt hat, lange genug funktioniert, oder dass, wenn die Blase platzt, jemand anderes die Zeche zahlt.
Zu dem Zeitpunkt, an dem man sie macht, dienen Schulden aber immer der Steigerung des Wohlstands, so wie jeder Tauschakt. Sonst würde er nicht stattfinden.
Da ich immer gerne dazulerne, und meine Kenntnisse der (Volks)wirtschaft sich im mehrmaligen Durcharbeiten des Werkes: „Grundzüge der Volkswirtschaftslehre“, von Mankiv/Taylor 2008 (4. Auflage, umfassend aktualisiert und um ein Kapitel zur Europäischen Währungsunion erweitert, harr, harr ;-) erschöpfen, habe ich noch einige Fragen zum Thema.
Doch zuerst möchte ich kurz und grob verallgemeinernd meinen „Kenntnisstand“ umreißen:
Griechenland oder „die Griechen“ (Banken, Regierung oder wer auch immer) sind bei nichtgriechischen Banken (und oder großen Versicherungsgesellschaften?) über ihre Verhältnisse verschuldet. Die Hauptgläubiger sitzen vermutlich in Frankreich und Deutschland, sowie in Italien, Spanien oder auch in der Schweiz. Was die Gläubiger betrifft, kann ich nur Vermutungen, die sich (auch oder hauptsächlich) auf das Verhalten der jeweiligen Regierungen stützen, anstellen.
Diese Schulden hatten „die Griechen“ (eigentlich Griechischen Steuerzahler, denn letztendlich müssen die dafür geradestehen) groß- oder größtenteils schon, bevor sie der Währungsunion beigetreten sind. Trifft das zu?
Und was hat die EZB mit diesen (Alt)schulden zu tun, die den Wohlstand „der Griechen“ (der griechischen Steurzahler?) soo sehr gesteigert haben sollen?
Und noch 'ne Vermutung: Die jeweiligen nichtgriechischen Regierungen helfen ihren im jeweiligen Staat angesiedelten Banken, indem sie via EZB eingreifen lassen, das aber nur solange, bis die Banken sich irgenwie herausgewunden (mir fällt kein besserer Begriff ein) haben, um sodann ein Umschuldungsprogramm (gesteuerte Insolvenz nebst Neuanfang Griechenlands) zu starten. Ist diese Vermutung realitätsnah, oder ist sie meinem mangels konkretem Wissen für Verschwörungstheorien anfälligen Gehirn zuzuschreiben und hat nichts mit der Realität gemein?
Mit freundlichem Gruß
-- „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ – sagt Ingeborg Bachmann
Ich bin auch kein Ökonom, interessiere mich aber sehr für diese Fragen. Und zumindest weiß ich, wo man gewisse Dinge "nachschlagen" kann. Zu der Frage der griechischen Verschuldung, vor und nach der Einführung des Euros - da hilft das "CIA World Factbook" weiter, das man auch online findet. Da der Euro am 1. Januar 1999 als Buchgeld eingeführt wurde, hier mal zwei Zahlen:
Debt - external: $41.9 billion (1998) und Debt - external: $86.72 billion (31 December 2007)
Jetzt können Experten, von denen ich ja keiner bin, darüber streiten, ob gerade diese Ziffer "external debt" die "richtige", d. h. aussagekräftigste ist; aber sie gibt meiner Meinung nach doch einen gewissen "Trend" an. Dabei erinnere ich mich auch, dass ich damals, bei der Einführung des Euros, einen Bericht über die griechische Wirtschaft gesehen habe, in dem als großer Vorteil des "harten" Euros gegenüber der "weichen" Drachme angeführt wurde, dass nun Kredite mit längerer Laufzeit ausgehandelt werden konnten. Da man ja nun den Wertverlust der Währung (Inflationsrate) besser kalkulieren konnte als vorher. Man kann also vielleicht sagen, dass die neue Währung in Griechenland einen Teil des guten Rufs der alten Währung in Deutschland "geerbt" hatte. ("Ich werde jedenfalls dafür sorgen, dass der Euro so hart wird wie die D-Mark." Theo Waigel November 1996)
Inwieweit das zu der Schuldenmacherei der öffentlichen Hand in Griechenland beigetragen hat, also der Fall eines "moral hazard" aufgetreten ist, darüber kann man dann wieder trefflich streiten...
Muss ich mich da wieder angesprochen fühlen? Und warum?
Ganz ehrlich: Die Situation Griechenlands umfassend zu beschreiben, erforderte einen größeren Aufsatz. In ihm müsste von zu niedrigen Zinsen, Importüberschüssen und - was vermutlich nicht im Mankiw steht- von der "Austrian Theory of the Business Cycle" die Rede sein.
Zitat von Uwe RichardUnd was hat die EZB mit diesen (Alt)schulden zu tun, die den Wohlstand „der Griechen“ (der griechischen Steurzahler?) soo sehr gesteigert haben sollen?
Die EZB hat mit den Altschulden in sofern etwas zu tun, als sie bereit ist, sie aufzukaufen. Mit ihrem Zustandekommen kann sie, da sie ja vorher nicht existiert hat, nach all meiner geballten ökonomischen, philosophischen und historischen Kompetenz nicht viel zu tun haben.
Zitat von Uwe RichardDie jeweiligen nichtgriechischen Regierungen helfen ihren im jeweiligen Staat angesiedelten Banken, indem sie via EZB eingreifen lassen, das aber nur solange, bis die Banken sich irgenwie herausgewunden (mir fällt kein besserer Begriff ein) haben, um sodann ein Umschuldungsprogramm (gesteuerte Insolvenz nebst Neuanfang Griechenlands) zu starten. Ist diese Vermutung realitätsnah, oder ist sie meinem mangels konkretem Wissen für Verschwörungstheorien anfälligen Gehirn zuzuschreiben und hat nichts mit der Realität gemein?
Das wäre cool, denn das bedeutete ja, dass die Regierungen überlegt und planvoll vorgingen. Tatsächlich scheint ja ein Teil des politischen Auswegs zu sein, die Schulden Griechenlands von den Banken in die EZB oder den Rettungsfonds zu verlagern. Das wäre ein anderer Weg als bei der Lehman-Krise, den Steuerzahler an den Verlusten der Banken zu beteiligen. Ich kann aber nicht erkennen, dass die Regierungen bereit wären, eine Umschuldung ins Auge zu fassen, wenn sie nicht von den Realitäten erbarmungslos dazu gezwungen werden. Denn sie fürchten natürlich, dass nach einem solchen Ereignis, das implizit in Form einer Art stillschweigenden Garantie von den Euro-Staaten ausgeschlossen wurde - jedenfalls so von den Märkten verstanden - auch ganz andere Staaten ins "Default" rutschen würden, und was passiert, wenn der Herdentrieb der Finanzmärkte über Italien hereinbricht, das will kein Politiker sehen.
-- L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat)
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18.07.2011 09:57
#58 RE: Zitat des Tages: Eine Strategie für Europa?
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