Zitat von GorgasalUnd bei jemandem eine klinische Depression zu diagnostizieren (die - anders als in Zettels Artikel darstellt - sehr wohl von gelegentlichen Phasen einer depressiven Verstimmung unterschieden werden), nimmt dem Patienten in keinster Weise moralische Verantwortung ab oder infantilisiert ihn.
Lieber Gorgasal, ich habe jetzt nochmals meinen Artikel nachgelesen. Zur Differentialdignose im Bereich der Depression äußere ich mich gar nicht. Sie schreiben mir etwas zu, was ich schlicht nicht behauptet habe.
Das einzige, was ich in diesem Zusammenhang schrieb, war:
Zitat Menschen geht es oft seelisch schlecht. Das gehört nun einmal zum Leben. Man trauert, man ist deprimiert, man hat sich nicht so unter Kontrolle, wie man das gern hätte. Früher besprach man das mit Freunden und Verwandten, vielleicht mit dem Pfarrer. Meist berappelte man sich wieder; wie auch heute.
Aber heute gerät jemand, dem es einmal nicht so gut geht, schnell in die Fänge der Gesundheitsindustrie. Er wird "diagnostiziert"; seinem Problem wird ein Etikett aufgepappt (labeling). Und flugs landet er als ein Fall in den Statistiken. Zur Freude der Helfer, die gern an ihm verdienen möchten.
Daß es das gibt, erscheint mir schwer bestreitbar. Der von Ihnen verlinkte William Briggs drückt es so aus:
Zitat Yes, the occasional sleepless night is now a mental disorder. As are “panic disorder,” epilepsy, agoraphobia, “cannabis dependence,” and multiple sclerosis. Because it’s better safe than sorry, toss in “hyperkinetic disorders/ADHD” and “conduct disorder.” Oh, yes, headache, too. All this adds up. Betcha didn’t know that “13% of global disease is due to disorders of the brain, surpassing both cardiovascular diseases and cancer.”
It’s still worse again, because the authors conclude, “In every year over a third of the total EU population suffers from mental disorders. The true size of ‘disorders of the brain’ including neurological disorders is even considerably larger.”
Nun aber zur Sache selbst.
Psychische Störungen sind etwas grundlegend Anderes als (die meisten) somatischen Erkrankungen. Man "hat" sie nicht, so wie man einen grippalen Infekt hat oder Krebs oder eine Herzerkrankung. Sondern in dem ungemein komplexen Geschehen im Gehirn sind Funktionsstörungen eingetreten, von denen keine derjenigen bei einem anderen Individuuum genau gleicht. Es ist ungefähr so, wie wenn eine Gesellschaft nicht mehr richtig funktioniert. Da vereinigen sich viele Ursachen, und jede solche Störung in irgendeinem Land zu irgendeiner Zeit trägt ihren eigenen Stempel.
Man muß das natürlich irgendwie ordnen, um eine Diagnose zu haben. Aber die Schemata, die man dazu verwendet, sind weitgehend willkürlich. Nicht in dem Sinn, daß es keine Unterschiede in den Erkrankungsformen gäbe. Diese sind im Gegenteil so groß, daß man die Grenze hier oder auch da ziehen könnte, daß man die einzelnen Syndrome enger oder weiter definieren könnte.
Ist Ihnen daran schon einmal aufgefallen, daß das Klassifikationssystem voll ausgeschöpft wird, mit genau 99 Erkrankungen? Bei IDF-9 war es noch so, daß auch in jeder Kategorie genau 10 Erkrankungen verzeichnet waren, also F0-F9, F10-F19 uns so fort. So, als hätte der liebe Gott eine prästabilierte Harmonie geschaffen, welche die psychischen Erkrankungen so verteilt, daß sie gerade ein dekadisches Klassifikationssystem ausfüllen.
Jetzt, bei ICD-10, hat man das bei einigen Kategorien noch so gelassen. Teilweise wurden Kodes gestrichen; so daß es zu Lücken in der Klassifikation kommt. Gerade an diesen Lücken ist noch der dekadische Wahn von ICD-9 zu erkennen.
Ihnen geht es um die Differentialdiagnose im Bereich depressiver Erkrankungen, also F30-F39. Bitte Sehen Sie sich einmal dieses Verzeichnis von Diagnosen(Kodierungen) an:
Wer vor der Zeit, als ICD Standard war, Psychiatrie studiert hat, der kann nur den Kopf schütteln. Damals gab es die Diagnose "Manisch-depressive Psychose". Punktum. Daß die Verlaufsformen ganz verschieden sein können; daß beim einen Patienten hypomanische und beim anderen depressive Episoden überwiegen; daß nur ein Teil den typischen zyklischen Verlauf zeigt, das war jedem klar. Aber man hielt es - meines Erachtens zu Recht - für falsch, das alles mit einem eigenen Etikett zu versehen. Aus dem guten Grund, daß dies ins Uferlose führt. Denn jede dieser Kategorien könnte man beliebig weiter unterteilen.
F30 hat bei ICD-10 genau zehn Unterkategorien, ebenso F31 und so fort. Nicht anders ist es beim schizophrenen Formkreis:
Dort gibt es klassische Unterformen - Hebephrenie, Katatonie, Paranoia -, die relativ gut abgrenzbar sind. Sie sind auch als F20.0 bis F20.2 aufgelistet. Dann aber geht es los mit dem Wahn, auf die Zahl von zehn Diagnosen kommen zu müssen:
F20.3 Undifferentiated schizophrenia; F20.4 Post-schizophrenic depression; F20.5 Residual schizophrenia; F20.6 Simple schizophrenia; F20.8 Other schizophrenia; F20.9 Schizophrenia, unspecified (F20.7 fehlt in ICD-10; ich bin sehr sicher, daß da bei ICD-9 auch etwas gestanden hatte, das man offenbar rausgeworfen hat).
Ähnlich, und noch komplizierter, ist es bei allen dem, was unter "Depression" rubriziert wird. Wir können das, lieber Gorgasal, gern auch besprechen; ich will dann gern zeigen, wie willkürlich die Abgrenzungen sind, und wie problematisch die Differentialdiagnose oft ist.
Nochmals: Das heißt nicht, daß nicht unter jedem dieser Etikette ganz Verschiedenes gefaßt wird. Sondern es heißt, daß die Verschiedenheit, die Individualität jedes einzelnen Falls so groß ist, daß das Kodieren und erst recht die Differentialdiagnose auf der Grundlage eines Kodierungsschemas wie ICD-10 mit einem großen Maß an Willkürlichkeit behaftet ist.
Erst recht dann, wenn es - das war ja das Ausgangsthema - darum geht, zu entscheiden, welche Beschwerden Krankheitswert haben und welche noch im Bereich dessen liegen, was jeden Menschen gelegentlich psychisch belastet. Denken Sie etwa an die früher so genannte "reaktive Depression" (heute F32.0, F32.1).
Zitat von ZettelAber fragen Sie einmal eine orthodoxen Freudianer, was er von der Verhaltenstherapie hält, oder umgekehrt. Auch RET, NLP, Gestalttherapie und viele andere verstehen sich nach wie vor als Schulen und nicht einfach als Verfahren unter anderen.
Lieber Herr Zettel, die Lehre der Psychologie befindet sich in der letzten Zeit in einem ziemlich hohen Wandel. Daher sind viele Ansätze und Erkentnisse, welche Psychologen von früher haben und sich nicht mit der aktuellen Lehre beschäftigen oft etwas veraltet. Es ist eigentlich egal was ein "orthodoxen Freudianer" sagt. Die aktuellen Psychotherapeuten-Ausbildung bilden Psychotherapeuten aus mit speziellen Vertiefungen. Und bitte mischen Sie das NLP da nicht mit rein. Dieses hat mit der Psychotherapie kaum was gemeinsam.
Zitat von ZettelDiese letztere hat niemals einen Wirkungsnachweis geliefert; es ist ein Skandal, daß sie "anerkannt" ist.
Da streiten sich die Geister. Diese können die einzelnen Verfahrensbefuerwörter untereinander nicht eindeutig klären. Da werden wir beide es sicherlich auch nicht können.
Zitat von ZettelKorrigieren Sie mich, lieber johngalt: Jedenfalls Grawe und sein Team haben keinen einzigen wissenschaftlichen Wirkungsnachweis für die Psychoanalyse gefunden. Worauf stützen Sie ihre Aussage?
Das wurde jetzt doch zu sehr in die Tiefe gehen. Aber grob besteht die Behauptung von den Psychoanalytiker dass die Auswertungsmatrix falsch aufgestellt wurde da eben von Verhaltenstherapeuten. Und auch dass die Wirksamkeit der Psychoanalyse eh schon lange bewiesen ist. Da will ich mich aber ungern vertiefen, weil ich es auch nicht bewerten kann/will wer da in wie weit Recht hat.
Zitat von ZettelDafür sehe ich keinen Beleg. Die Metaanalyse seines Teams war von makelloser Objektivität; auch, was die Bewertung der Reliabilität der einzelnen publizierten Ergebnisse angeht. Daß Verhaltenstherapeuten wissenschaftlich sauberer arbeiten als, sagen wir, NLPler, ist ja nicht die Schuld Grawes.
An dem Vergleich mit NLPler will ich mich nicht beteiligen. Diese haben mit der Gruppe eh nichts zu tun. Aber psychoanalytische und tiefenpsychologische Verfahren werden einfach oft für unterscheidliche Störungsbilder verwendet als die Verhaltenstherapie. Alle drei haben deren Darseinsberechtigung (in meinen Augen :) ). Aber wie schon geschrieben, bin ich persönlich auf jeden Fall nicht so sehr involviert um mir eine globale Beurteilung anzumassen.
Zitat Psychische Erkrankungen sind Störungen der Hirntätigkeit. Je besser wir die beteiligten Hirnmechanismen verstehen, umso wirksamer wird man medikamentös therapieren können.
Zitat Bei Depressionen beispielsweise sind die Störungen im Serotonin-Haushalt schon recht gut verstanden. Schizophrenie wurde noch in den siebziger Jahren bevorzugt mit "double bind" erklärt; heute zweifelt kaum noch jemand daran, daß Störungen des Dopamin-Haushalts vor allem im Frontalhirn der entscheidende Faktor sind.
Aber auch die Psychotherapie setzt da an. Auch dort werden oft die speziellen Hirngebiete therapiert. Aber wieweit beantwortet es meine Frage? Sehen Sie sich als Befürwörter der medikamentösen Behandlung? Und wie stehen Sie dann eigentlich zu psychosomatischen Erkrankungen?
Ich diskutiere gern mit Ihnen über diese Themen. Aber wie Sie auch schon schrieben, das Thema ist sehr komplex. Und ich sehe es so, dass Menschen unterschiedlich diese Dinge sehen und wahrnehmen. Ich kennen sehr viele Menschen denen die Psychotehrapie ermöglicht hat deren Leben besser in den Griff zu bekommen. Und auch viele Menschen, welchen Mediziner nicht geholfen oder evtl. sogar geschadet haben. Aber natürlich auch andersherum. Daher wurde ich nie eine Gruppe verdammen oder denen unterstellen, dass die Scharlatanerie betreiben. Daher meine Meinung, dass die Menschen es für sich individuell auswählen sollen. Und wenn auch immer mehr Ärzte, trotz anfänglich oft grossen Vorbehalte, die Vorteile der Psychologie und Psychotherapie erkennen und diese gern mit in Ihre Behandlung integrieren, dann spricht es für mich persönlich auch schon irgendwie für die Wirksamkeit.
Zitat von ZettelAber fragen Sie einmal eine orthodoxen Freudianer, was er von der Verhaltenstherapie hält, oder umgekehrt. Auch RET, NLP, Gestalttherapie und viele andere verstehen sich nach wie vor als Schulen und nicht einfach als Verfahren unter anderen.
Lieber Herr Zettel, die Lehre der Psychologie befindet sich in der letzten Zeit in einem ziemlich hohen Wandel. Daher sind viele Ansätze und Erkentnisse, welche Psychologen von früher haben und sich nicht mit der aktuellen Lehre beschäftigen oft etwas veraltet.
Schön wär's. Aber die "Tiefenpsychologie" ist eben nicht "veraltet", sondern wird von den Kassen bezahlt.
Zitat von johngaltEs ist eigentlich egal was ein "orthodoxen Freudianer" sagt. Die aktuellen Psychotherapeuten-Ausbildung bilden Psychotherapeuten aus mit speziellen Vertiefungen. Und bitte mischen Sie das NLP da nicht mit rein. Dieses hat mit der Psychotherapie kaum was gemeinsam.
Sagen Sie. Ich kenne eine habilitierte Psychologin, die an der betreffenden Uni NLP lehrt. Ebenso wird orthodoxe Psychoanalyse gelehrt; und zwar auch im universitären Bereich. Das Sigmund-Freud-Institut ist eine Stiftung des öffentlichen Rechts. Der Neubau wird vom Land Hessen finanziell gefördert. Der Direktor des Sigmund-Freud-Instituts, Rolf Haubl, ist zugleich Professor an der Universität Frankfurt.
Zitat von johngalt
Zitat von ZettelDiese letztere hat niemals einen Wirkungsnachweis geliefert; es ist ein Skandal, daß sie "anerkannt" ist.
Da streiten sich die Geister. Diese können die einzelnen Verfahrensbefuerwörter untereinander nicht eindeutig klären. Da werden wir beide es sicherlich auch nicht können.
Ich sehe keinen streitenden Geister. Vielleicht sagen Sie, welche Untersuchungen Sie kennen, die die Wirksamkeit von Psychoanalyse belegen? Grawe et al. haben keine finden können.
Zitat von johngalt
Zitat von ZettelKorrigieren Sie mich, lieber johngalt: Jedenfalls Grawe und sein Team haben keinen einzigen wissenschaftlichen Wirkungsnachweis für die Psychoanalyse gefunden. Worauf stützen Sie ihre Aussage?
Das wurde jetzt doch zu sehr in die Tiefe gehen. Aber grob besteht die Behauptung von den Psychoanalytiker dass die Auswertungsmatrix falsch aufgestellt wurde da eben von Verhaltenstherapeuten. Und auch dass die Wirksamkeit der Psychoanalyse eh schon lange bewiesen ist. Da will ich mich aber ungern vertiefen, weil ich es auch nicht bewerten kann/will wer da in wie weit Recht hat.
Gehen Sie in die Tiefe, lieber johngalt. Mit diesen allgemeinen Aussagen von Ihnen kann ich leider wenig anfangen.
Welche "Auswertungsmatrix" meinen Sie? Grawe et al. haben alle (damals) verfügbaren einschlägigen Publikationen berücksichtigt und nach wissenschaftlichen Standard-Methoden ausgewertet. Also danach, ob überhaupt ein Wirksamkeitsnachweis geführt wurde und wenn ja, wie (Prä-Post-Vergleich; Vergleich mit einer Wartegruppe; Vergleich zwischen verschiedenen Therapieformen usw.) Dabei muß man logischerweise die Größe der Stichprobe berücksichtigen, die Sicherungen gegen Artefakte, das erreichte Signifikanzniveau usw.
Das hat, lieber johngalt, nichts mit einer Bevorzugung der Verhaltenstherapie zu tun; es ist schlicht sauberes wissenschaftliches Arbeiten. Daß Grawe dafür von manchem "Therapeuten" gescholten wurde, der noch nie eine Varianzanalyse gerechnet hat, dafür konnte ja Grawe nun nichts.
Zitat von johngaltAber psychoanalytische und tiefenpsychologische Verfahren werden einfach oft für unterscheidliche Störungsbilder verwendet als die Verhaltenstherapie.
Nicht durchweg. Ich hatte ja nicht zufällig Phobien genannt. Sie sind ein klassisches Betätigungsfeld der Psychoanalyse (Sie kennen sicher Freuds "Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben", des "kleinen Hans"), und sie sind ein klassisches Betätigungsfeld der Verhaltenstherapie; und zwar sowohl ursprünglich der systematischen Desensibilisierung als inzwischen auch der Konfrontationstherapie (flooding).
Zitat von GorgasalUnd bei jemandem eine klinische Depression zu diagnostizieren (die - anders als in Zettels Artikel darstellt - sehr wohl von gelegentlichen Phasen einer depressiven Verstimmung unterschieden werden), nimmt dem Patienten in keinster Weise moralische Verantwortung ab oder infantilisiert ihn.
Lieber Gorgasal, ich habe jetzt nochmals meinen Artikel nachgelesen. Zur Differentialdignose im Bereich der Depression äußere ich mich gar nicht. Sie schreiben mir etwas zu, was ich schlicht nicht behauptet habe.
Das einzige, was ich in diesem Zusammenhang schrieb, war:
Zitat Menschen geht es oft seelisch schlecht. Das gehört nun einmal zum Leben. Man trauert, man ist deprimiert, man hat sich nicht so unter Kontrolle, wie man das gern hätte. Früher besprach man das mit Freunden und Verwandten, vielleicht mit dem Pfarrer. Meist berappelte man sich wieder; wie auch heute.
Aber heute gerät jemand, dem es einmal nicht so gut geht, schnell in die Fänge der Gesundheitsindustrie. Er wird "diagnostiziert"; seinem Problem wird ein Etikett aufgepappt (labeling). Und flugs landet er als ein Fall in den Statistiken. Zur Freude der Helfer, die gern an ihm verdienen möchten.
Offen gestanden ist mir der Unterschied zwischen Ihren Ausführungen ("Aber heute gerät jemand, dem es einmal nicht so gut geht, schnell in die Fänge der Gesundheitsindustrie. Er wird "diagnostiziert"; seinem Problem wird ein Etikett aufgepappt (labeling).") und meiner Zusammenfassung "eine klinische Depression wird (nicht) von gelegentlichen Phasen einer depressiven Verstimmung unterschieden" nicht ganz klar. Aber sei's drum.
Zitat von ZettelDaß es das gibt, erscheint mir schwer bestreitbar.
Nicht? Nach meinem Kenntnisstand wird die Differentialdiagnose von seriösen Therapeuten sehr wohl angewandt. Natürlich gibt es auch nicht seriöse Leute, die bei jedem alles diagnostizieren, um Kundschaft zu haben - und das haben Sie mindestens ebenso bei Ärzten und Automechanikern. Was kein Grund ist, analog über diese Berufsgruppen herzuziehen.
Oder haben Sie irgendwelche Belege, dass das bei den Psychotherapeuten häufiger stattfindet? Denn bislang, mit Verlaub, haben Sie und Briggs nur Bauchgefühle geliefert, dass die berichteten Zahlen nicht realistisch seien.
Nehmen Sie es mir nicht übel, aber im ICD kenne ich mich überhaupt nicht aus... Überdies ist mein Bauchgefühl , dass unter klinischen Psychologen das DSM-IV-TR deutlich verbreiteter ist, und dort verfängt Ihre durchaus berechtigte Kritik an der Systematisierung des ICD nicht mehr. Depressive Störungen sind etwa wie folgt sortiert:
Zitat 300.4 Dysthymic disorder Major depressive disorder Major depressive disorder, recurrent 296.36 In full remission 296.35 In partial remission 296.31 Mild 296.32 Moderate 296.33 Severe without psychotic features 296.34 Severe with psychotic features 296.30 Unspecified Major depressive disorder, single episode 296.26 In full remission 296.25 In partial remission 296.21 Mild 296.22 Moderate 296.23 Severe without psychotic features 296.24 Severe with psychotic features 296.20 Unspecified 311 Depressive disorder NOS
-- Defender la civilización consiste, ante todo, en protegerla del entusiasmo del hombre. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito
Zitat von GorgasalOder haben Sie irgendwelche Belege, dass das bei den Psychotherapeuten häufiger stattfindet? Denn bislang, mit Verlaub, haben Sie und Briggs nur Bauchgefühle geliefert, dass die berichteten Zahlen nicht realistisch seien.
Kein Bauchgefühl (was ist das überhaupt? Schmerzen bei Blähungen? ), sondern die Überschlagsrechnung, die ich schon erwähnt habe:
Wenn die Zahlen, die offenbar von Wittchen et al. an die Presse gegeben wurden, zutreffen, dann wären deutlich mehr als 38 Prozent der Europäer psychisch krank; und um ihnen allen zu helfen, brauchten wir rund 60 Therapeuten pro 10.000 Einwohner (wie erinnerlich: die Ärztedichte für alle Ärzte beträgt rund 35 pro 10.000 Einwohner).
Nun sagt mir meine Lebenserfahrung, daß die allermeisten Menschen, die ich kenne und gelegentlich kennenlerne, nicht psychisch krank sind. Jeder hat einmal Probleme. Fast alle werden damit fertig, ohne sich deswegen für krank zu halten und zu meinen, sie "hätten" etwas, das man "heilen" müsse (das heißt ja therapieren auf deutsch).
Mir fällt unter den Leuten, die ich a bisserl kenne, überhaupt nur eine Person ein, die sich für seelisch krank hielt und deshalb von einer Therapie zur anderen wanderte. Das war eine Schülerin meiner Frau; Sozialhilfeempfängerin wie schon ihre Mutter und wie vermutlich auch ihre Tochter. Sie war stolz auf ihre Therapien; das war ihr wesentlicher Lebensinhalt.
Sonst kenne ich niemanden, der seelisch so krank war oder ist, daß er einer Behandlung bedürfte. Natürlich kann es eine Dunkelziffer geben. Vielleicht gehen Leute heimlich zum Psychiater oder Verhaltenstherapeuten. Aber ich glaube das eher nicht.
Ich selbst habe Höhenangst; seit meiner Kindheit. Auf den Gedanken, sie "therapieren" zu lassen, bin ich nie gekommen. Ich vermeide es halt, auf Türme zu steigen oder schmale Bergpfade entlang eines Abgrunds entlangzuwandern. Interessanterweise ist der Blick aus einem Flugzeug überhaupt kein auslösender Reiz; ich weiß nicht, ob es dazu Untersuchungen gibt.
Hätte ich Flugangst und wäre auf's häufige Fliegen angewiesen, dann würde ich eine Verhaltenstherapie machen.
Also, lieber Gorgasal, es widerspricht einfach gröblich meiner Lebenserfahrung, daß weit über 38 Prozent (das soll ja nur eine untere Schätzgrenze sein) der Deutschen psychisch krank sind. Widerlegen kann ich diese Behauptung damit natürlich nicht.
Wie will man sie widerlegen? Welches Außenkriterium will man denn haben? Standard-Tests wie der MMPI wurden an psychiatrischen Diagnosen validiert und werden jetzt ihrerseits eingesetzt, um psychiatrische Diagnosten zu überprüfen. Da beißt sich die Katze in den Schwanz.
Es gibt keine Möglichkeit, objektiv zu ermitteln, ob jemand seelisch krank ist. Man kann behaupten, wir seien das alle, weil irgendwie alle zivilisationsgeschädigt. Freud war der Meinung, daß mittels Psychoanalyse (ich zitiere jetzt aus dem Gedächtnis) das neurotische Leid in das normale Elend überführt werden könne. Aber dieses normale Elend kann man natürlich seinerseits als behandlungsbedürftig ansehen.
Manuale wie das ICD-10 oder das DSM-IV-TR erwecken den Eindruck einer Objektivität, die es nicht gibt. Nochmal: Es handelt sich nicht um Krankheiten, die man "sich holt" wie einen Schnupfen oder von denen man getroffen wird wie von einem Herzinfarkt, sondern es handelt sich um mehr oder weniger schwere Beeinträchtigungen im Funktionieren des komplextesten Systems, das wir kennen, im menschlichen Gehirn.
Wohlgemerkt, ich rede von seelischen Erkrankungen. Bei Geisteskrankheiten, also Psychosen, ist es anders; ebenso bei neurologischen Störungen etwa aufgrund eines Traumas oder einer Gehirnblutung.
Zitat von ZettelSchön wär's. Aber die "Tiefenpsychologie" ist eben nicht "veraltet", sondern wird von den Kassen bezahlt.
Ich glaube wir haben uns hier missverstanden. Die Ausbildung zum Psychotherapeuten beinhaltet heute unterschiedliche Aspekte der Verfahren. Es werden Grundzüge aller drei anerkannten Verfahren gelehrt wobei jeweils auf einem der Schwerpunkt liegt. Auf jeden Fall schliessen sich diese Verfahren nicht mehr aus, sondern versuchen sich zu ergänzen.
Zitat Sagen Sie. Ich kenne eine habilitierte Psychologin, die an der betreffenden Uni NLP lehrt. Ebenso wird orthodoxe Psychoanalyse gelehrt; und zwar auch im universitären Bereich.
Ich wollte damit nicht sagen, dass NLP nicht gelehrt wird. Aber diese kann man nicht mit den Verfahren wie Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologie oder Psychoanalyse vergleichen. Die Grundzüge des NLP sind eh in den psychologischen Lehren enthalten. Es ist aber nur ein minimaler Auszug aus der allgemeinen psychologischen Lehre.
Zitat Das Sigmund-Freud-Institut ist eine Stiftung des öffentlichen Rechts. Der Neubau wird vom Land Hessen finanziell gefördert
Die staatliche Förderung verteidige ich nicht. Aber ich bin überzeugt, dass auch unter medizinischen Lehren es diverse Beispiele gibt wo Forschungen staatlich gefördert werden, welche von anderen Gruppen diese nicht als sinnvoll empfunden werden.
Zitat Gehen Sie in die Tiefe, lieber johngalt. Mit diesen allgemeinen Aussagen von Ihnen kann ich leider wenig anfangen.
Das ist klar. Ich hatte da aber auch schon darauf hingewiesen, dass ich mich nicht imstande sehe, in diesem Bereich eine Konsenz zu finden bzw. es zu bewerten. Da verzweifeln schon die wirklichen "Spezialisten".
Mir geht es viel mehr um den Sinn oder Unsinn der Psychotherapie und einer möglichen Prävention. Soweit ich Ihren Ausführungen folgen kann, sehen Sie schon einen Sinn darin, aber nur für eine viel kleinere Gruppe von Menschen? Natürlich ist es auch eine legitime Sicht. Wenn ich eine Gruppe von z.B. 1000 Menschen habe und sage, dass maximal 1% davon als gestört gelten dürfen. Dann kann man es so sehen. Man definiert dann die restlichen 990 Menschen als Normal. So ähnlich könnte ich aber auch dann bei den somatischen Erkrankungen vorgehen. Aber für mich geht es nicht um Prozentzahlen. Ich sehe es eher so: Wenn es den Mesnchen hilft deren Alltag besser in den Griff zu bekommen, dann finde ich es gut. Wenn einer zum Arzt geht und diese Ihm Placebo verschreibt und der Mensch fühlt sich danach auch besser, dann finde ich es auch gut. Und ich empfinde, dass eine Prävention, besonders im Kindesalter, sinnvoll ist, um diesen später viele Probleme zu ersparen. Und so wie ich versuchen wurde die Kinder und Erwachsene zu überzeugen das Rauchen schädlich ist. So wurde ich auch versuchen den Eltern z.B. die Bindungstheorie nah zu legen, um da auch die möglichen Schäden bei Kindern zu minimieren.
Zitat von GorgasalOder haben Sie irgendwelche Belege, dass das bei den Psychotherapeuten häufiger stattfindet? Denn bislang, mit Verlaub, haben Sie und Briggs nur Bauchgefühle geliefert, dass die berichteten Zahlen nicht realistisch seien.
Kein Bauchgefühl (was ist das überhaupt? Schmerzen bei Blähungen? ), sondern die Überschlagsrechnung, die ich schon erwähnt habe:
Wenn die Zahlen, die offenbar von Wittchen et al. an die Presse gegeben wurden, zutreffen, dann wären deutlich mehr als 38 Prozent der Europäer psychisch krank; und um ihnen allen zu helfen, brauchten wir rund 60 Therapeuten pro 10.000 Einwohner (wie erinnerlich: die Ärztedichte für alle Ärzte beträgt rund 35 pro 10.000 Einwohner).
Nun, aus der Inzidenz psychischer Störungen folgt erst einmal ja nicht, dass sie unbedingt therapiert werden sollten (oben ging es schon darum, dass einige Leute therapiert werden, die das nicht brauchen). Sie beschreiben Ihre Höhenangst. Ein Bekannter von mir hat eine Spinnenphobie. Spinnenphobie ist recht gut durch kontrollierte Exposition therapierbar; er hat das trotzdem nie gemacht. Das ist auch in Ordnung so, aber es ändert nichts daran, dass Sie eben eine Höhenangst und er eine Spinnenphobie hat.
Zitat von ZettelNun sagt mir meine Lebenserfahrung, daß die allermeisten Menschen, die ich kenne und gelegentlich kennenlerne, nicht psychisch krank sind.
Zitat von Pauline Kael zugeschriebenI don't know how Richard Nixon could have won. I don't know anybody who voted for him.
Erstens haben Sie als grundbürgerlicher Mensch möglicherweise wenig Kontakt mit alkoholkranken oder drogenabhängigen Menschen, wie auch viele andere Störungen sich in anderen sozialen Schichten häufen. Und zweitens schreibe ich hier nun seit fast genau drei Jahren mit und habe ZR vorher schon lange gelesen, und heute erfahre ich zum ersten Mal von Ihrer Höhenangst. Wieviele der Menschen, denen Sie jeden Tag begegnen, mögen eine Störung im Sinne Wittchens aufweisen, ohne dass Ihnen das bewusst ist?
-- Defender la civilización consiste, ante todo, en protegerla del entusiasmo del hombre. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito
Zitat von johngaltDie Ausbildung zum Psychotherapeuten beinhaltet heute unterschiedliche Aspekte der Verfahren. Es werden Grundzüge aller drei anerkannten Verfahren gelehrt wobei jeweils auf einem der Schwerpunkt liegt. Auf jeden Fall schliessen sich diese Verfahren nicht mehr aus, sondern versuchen sich zu ergänzen. (...) Aber diese kann man nicht mit den Verfahren wie Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologie oder Psychoanalyse vergleichen.
Ich kann mir nicht recht vorstellen, lieber johngalt, daß ein hard-nosed Verhaltenstherapeut wirklich meint, daß die Verhaltenstherapie durch Psychoanalyse "ergänzt" werden kann; die doch alle Verhaltenstherapeuten für pseudowissenschaftlichen Humbug halten. Umgekehrt sind Psychoanalytiker der Meinung, daß die Verhaltenstherapie nur Symptome kuriert, aber an dem zugrundeliegenden Leiden nichts ändert, das dann in Form von Symptomverschiebung wieder zutage tritt.
Sie haben sicher Recht, lieber johngalt, daß es heute nicht mehr solche aufgeregten Kämpfe zwischen den "Schulen" gibt wie noch vor einigen Jahrzehnten. Dazu wollte ja Grawe beitragen; nicht zufällig heißt sein Buch im Untertitel "Von der Konfession zur Profession". Kaum jemand hat so überzeugt und so überzeugend argumentiert, daß die Wahl der Therapie eine Frage der Indikation sein sollte und nicht der wissenschaftlichen Grundüberzeugung.
Aber gerade für die Psychoanalyse gilt das nicht. Sie versteht sich noch immer als eine Schule. Und noch einmal gefragt: Sie schreiben jetzt schon mehrfach, daß neben VT "Tiefenpsychologie und Psychoanalyse" anerkannte Verfahren seien. Was ist denn der Unterschied? "Tiefenpsychologie" ist im Deutschen ein Oberbegriff für allerlei Verfahren, die alle auf die orthodoxe Psychoanalyse zurückgehen, einschließlich dieser selbst.
Andererseits erwähnen Sie die GT nicht. Ist diese denn inzwischen kein anerkanntes Verfahren mehr?
Zitat von GorgasalOder haben Sie irgendwelche Belege, dass das bei den Psychotherapeuten häufiger stattfindet? Denn bislang, mit Verlaub, haben Sie und Briggs nur Bauchgefühle geliefert, dass die berichteten Zahlen nicht realistisch seien.
Kein Bauchgefühl (was ist das überhaupt? Schmerzen bei Blähungen? ), sondern die Überschlagsrechnung, die ich schon erwähnt habe:
Wenn die Zahlen, die offenbar von Wittchen et al. an die Presse gegeben wurden, zutreffen, dann wären deutlich mehr als 38 Prozent der Europäer psychisch krank; und um ihnen allen zu helfen, brauchten wir rund 60 Therapeuten pro 10.000 Einwohner (wie erinnerlich: die Ärztedichte für alle Ärzte beträgt rund 35 pro 10.000 Einwohner).
Nun, aus der Inzidenz psychischer Störungen folgt erst einmal ja nicht, dass sie unbedingt therapiert werden sollten
Wenn ich Wittchen richtig verstehe, fordert er aber genau das.
Zitat von GorgasalSie beschreiben Ihre Höhenangst. Ein Bekannter von mir hat eine Spinnenphobie. Spinnenphobie ist recht gut durch kontrollierte Exposition therapierbar; er hat das trotzdem nie gemacht. Das ist auch in Ordnung so, aber es ändert nichts daran, dass Sie eben eine Höhenangst und er eine Spinnenphobie hat.
Aber das ist doch keine Krankheit, lieber Gorgasal.
Wir sind da, glaube ich, beim Knackpunkt. Generationen von Frauen stiegen auf den Stuhl, wenn ein Mäuslein im Zimmer war. Meine Frau hatte Spinnenangst, hat sich dann als Biologin gerade deshalb mit Spinnen befaßt und findet sie heute faszinierend.
Es gibt Leute, die gern trinken und gern spielen. Es gibt welche, die Unsummen dafür ausgeben, bei jedem Konzert ihres Stars zu sein, dessen Fan sie sind. Es gibt jede Menge spleens, Marotten, Ticks und Verschrobenheiten. Die einen kriegen Panik, wenn sie ein Stück Metall an Glas entlangratschen hören, die anderen können keinen Fisch essen.
Jeder von uns hat seine Macken. Bei mir ist eine die Höhenangst. Damit bin ich doch nicht krank; so wenig, wie ich krank wäre, wenn ich keine Rockmusik hören könnte oder so gern Schokolade essen würde wie Helmut Kohl
Der Wahnwitz ist doch, lieber Gorgasal, daß von denjenigen, die daran - im doppelten Wortsinn - professionell interessiert sind, das alles in den Status von therapiebedürftigen Erkrankungen erhoben wird. Jetzt gibt es schon die Internetsucht! Unter der "leide" ich wahrscheinlich auch.
Ebenso ist es mit "Legasthenie", ADHD usw. usw. Wenn Kinder nicht richtig lesen können, dann müssen sie es eben ordentlich lernen, statt "therapiert" zu werden. Zapplige Kinder gab es immer schon; siehe den "Struwwelpeter". Auch Kinder, die schlecht rechnen können. Heute "haben" sie "Dyskalkulie". Als ich darüber einmal mit einem Psychologen gesprochen habe, habe ich erwähnt, daß ich in der Schule in Turnen miserabel war. Zweifellos hatte ich Turnasthenie.
Es ist ein Aspekt des Nanny-Staats, uns mit Diagnosen zu überziehen.
Wie schon in dem Artikel geschrieben: Natürlich gibt es einen harten Kern von wirklichen Erkrankungen, die dringend therapiert werden müssen. Sie sind fast alle dadurch gekennzeichnet, daß Menschen die Kontrolle über ihr Verhalten verloren haben. Das gilt für die klassischen Psychosen ebenso wie für Suchtkrankheiten. Aber sehr viele der Menschen, die von "Therapie" zu "Therapie" rennen oder weitergereicht werden, sind nicht in diesem Sinn psychisch oder geistig krank.
Vor Jahren habe ich einmal von einer Frau gelesen, die, wie man so sagte, "therapieerfahren" war, der aber keine Therapie "wirklich etwas gebracht" hatte. Dann stieß sie zum Buddhismus, und war fortan geheilt.
Lieber Herr Zettel, meinen Fragen weichen Sie aber aus, oder? Aber gern versuche ich Ihnen zu antworten soweit es in meinen Möglichkeiten liegt.
Zitat von ZettelIch kann mir nicht recht vorstellen, lieber johngalt, daß ein hard-nosed Verhaltenstherapeut wirklich meint, daß die Verhaltenstherapie durch Psychoanalyse "ergänzt" werden kann; die doch alle Verhaltenstherapeuten für pseudowissenschaftlichen Humbug halten. Umgekehrt sind Psychoanalytiker der Meinung, daß die Verhaltenstherapie nur Symptome kuriert, aber an dem zugrundeliegenden Leiden nichts ändert, das dann in Form von Symptomverschiebung wieder zutage tritt.
Ich habe nicht behauptet, dass alle "Verhaltenstherapeuten" oder "Psychoanalytiker" es so sehen. So wird es aber in der aktuellen Psychotherapieausbildung gelehrt. Und so werden es die besseren Psychotherapeuten sehen und handeln. Auch bei Ärzten empfinde ich es als wichtig, wenn Die über deren Tellerrand schauen. Und so auch bei den Psychoanalytiker wo die Themen auch doch ziemlich zusammenhängen.
Zitat von ZettelAber gerade für die Psychoanalyse gilt das nicht. Sie versteht sich noch immer als eine Schule. Und noch einmal gefragt: Sie schreiben jetzt schon mehrfach, daß neben VT "Tiefenpsychologie und Psychoanalyse" anerkannte Verfahren seien. Was ist denn der Unterschied? "Tiefenpsychologie" ist im Deutschen ein Oberbegriff für allerlei Verfahren, die alle auf die orthodoxe Psychoanalyse zurückgehen, einschließlich dieser selbst.
Anerkannte Verfahren ist wahrscheinlich von mir falsch betitelt. Die gesetzliche Definition regelt es aber so. Laut Psychotherapeutengesetz werden nur diese drei Formen anerkannt. Also VT, TP und PA. Daher wird von den meisten Psychotherapetuen in der Abrechnung bzw. Darstellung jede Behandlung auf eins dieser Verfahren zurückgeführt. Das ist aber oft nicht das, was die Psychotherapeuten wirklich für ein Verfahren anwenden. Die wenden eben das Verfahren an, mit welchem sie sich erhoffen den meisten Nutzen bei dem Behandelten zu erzielen. Aber das ist jetzt nur meine Vermutung. Ich kann nicht für alle Psychotherapeuten reden.
Zitat von ZettelAber das ist doch keine Krankheit, lieber Gorgasal.
Sie haben Recht. Man spricht inzwischen nicht mehr von Krankheiten, sondern von Störungen.
Zitat von ZettelEbenso ist es mit "Legasthenie", ADHD usw. usw. Wenn Kinder nicht richtig lesen können, dann müssen sie es eben ordentlich lernen, statt "therapiert" zu werden.
OK! Aber es gibt dann immer noch diverse Kinder die es nicht hinbekommen bzw. deren Eltern es nicht hinbekommen. Was ist da Ihr Vorschlag? Leider sind meist ja die Eltern das Problem und nicht die Kinder. Aber die Eltern entziehen sich einfach der Verantwortung. Die geben das Kind ab und sagen, mach mal mein Kind gesund. Und das auch meist, wenn es schon sehr schlimm geworden sind, so dass Sie es gar nicht mehr unter Kontrolle haben. Keine einfache Basis für die Jugendtherapeuten.
Zitat von ZettelEs ist ein Aspekt des Nanny-Staats, uns mit Diagnosen zu überziehen.
Nur teilweise gebe ich Ihnen Recht. Das Problem ist, dass immer mehr Eltern es eben nicht hinbekommen deren Kinder adequat zu erziehen. Wobei man sich jetzt streiten könnte was genau es sein soll.
Psychotherapie ist für den Behandelten ein sehr hartes Stück Arbeit. Es erfordert von diesem eine intensive Auseinandersetzung und geht wirklich an die Substanz. Keiner wird sich dem wirklich freiwillig unterziehen, ausser man hat ein hohen Leidensdruck. Oder aber man möchte einfach oberflächlich mit jemand reden. Das ist aber dann keine Psychotherapie. Es ist dann ein Verwandten- oder Freunde-Ersatz. So geht es auch sehr vielen Ärzten, wo die Menschen nur kommen um mit jemand mal reden zu können. Das sollten wir aber nicht mit der wirklichen Therapie verwechseln.
Zitat von ZettelAber gerade für die Psychoanalyse gilt das nicht. Sie versteht sich noch immer als eine Schule. Und noch einmal gefragt: Sie schreiben jetzt schon mehrfach, daß neben VT "Tiefenpsychologie und Psychoanalyse" anerkannte Verfahren seien. Was ist denn der Unterschied? "Tiefenpsychologie" ist im Deutschen ein Oberbegriff für allerlei Verfahren, die alle auf die orthodoxe Psychoanalyse zurückgehen, einschließlich dieser selbst.
Anerkannte Verfahren ist wahrscheinlich von mir falsch betitelt. Die gesetzliche Definition regelt es aber so. Laut Psychotherapeutengesetz werden nur diese drei Formen anerkannt. Also VT, TP und PA.
Hm, das war mir neu. Ich habe jetzt nachgesehen. Hier ist der Text des deutschen Psychotherapeutengesetzes von 1998. Hier finden Sie das österreichische Psychotherapiegesetz von 1990. In keinem der beiden konnte ich das finden, was Sie schreiben.
Allerdings stimmt es, daß die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland im Augenblick nur die drei von Ihnen genannten Therapieverfahren als erstattungsfähig anerkennen, nicht aber die Gesprächstherapie. Was aus wissenschaftlicher Sicht absurd ist; denn neben der VT ist die GT die mit Abstand am besten hinsichtlich ihrer Wirksamkeit dokumentierte Therapie.
Da haben Sie also Recht, und ich habe mich geirrt. Daß man zwischen "tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie" und "analytischer Psychotherapie (Psychoanalyse)" derart unterscheiden könnte, daß man sie als getrennte Verfahren der VT gegenüberstellt, wäre mir nie in den Sinn gekommen.
Es ist abwegig und zeugt von mangelnder wissenschaftlicher Kenntnis. Die "tiefenpsychologisch fundierte Therapie" ist nichts anderes als die sogenannte "Kurzanalyse" oder "kleine Psychoanalyse", eine abgespeckte Form der "großen Psychoanalyse", die sich bekanntlich oft über mehrere Jahre erstreckt.
Wenn man daraus zwei Kategorien macht, dann hätte man ebenso bei der VT zwischen auf klassischem Konditionieren, auf operantem Konditionieren und auf Reizkonfrontation basierenden Verfahren unterscheiden können.
Die Erstattungspraxis der Kassen ist offenkundig Ausdruck des Umstands, daß Ärzte mit der Zusatzbezeichnung "Psychotherapie" oft keine formale Ausbildung in VT oder GT haben, sich aber per "Fortbildung" die abgespeckte Psychoanalyse angeeignet haben. Ein aus wissenschaftlicher Sicht ganz fragwürdiges Verfahren.
Herzlich, Zettel
PS: Ich habe es nicht absichtlich versäumt, Ihre Fragen zu beantworten. Können Sie diese bitte noch einmal auflisten? Ich beantworte sie dann Punkt für Punkt.
Zitat OK! Aber es gibt dann immer noch diverse Kinder die es nicht hinbekommen bzw. deren Eltern es nicht hinbekommen. Was ist da Ihr Vorschlag? Leider sind meist ja die Eltern das Problem und nicht die Kinder. Aber die Eltern entziehen sich einfach der Verantwortung. Die geben das Kind ab und sagen, mach mal mein Kind gesund. Und das auch meist, wenn es schon sehr schlimm geworden sind, so dass Sie es gar nicht mehr unter Kontrolle haben. Keine einfache Basis für die Jugendtherapeuten.
Das klingt jetzt vielleicht hart, aber dadurch wird das Verhalten weder zur Krankheit noch zur Störung (Ausweichbegriff für "Krankheit"), sondern bleibt (in den Fällen die Sie beschrieben haben) schlechte Erziehung...
Das es hier Unterstützung geben sollte steht auf einem anderen Blatt. Dafür bräuchte man aber weder das Label "Krankheit" noch "Störung", das dient offenbar anderen Zwecken...
Zitat von TechniknörglerDas klingt jetzt vielleicht hart, aber dadurch wird das Verhalten weder zur Krankheit noch zur Störung (Ausweichbegriff für "Krankheit"), sondern bleibt (in den Fällen die Sie beschrieben haben) schlechte Erziehung...
Wie immer man es nennen will. Das Problem bleibt bestehen. Man kann es jetzt ignorieren oder versuchen aktiv was zu veraendern. Und ich sehe eine sinnvolle Veraenderung in der Berücksichtigung der vorliegenden Erfahrungen. Und diese besagen, dass die groessten Erfolge durch Prävention und Umdenken bei der Erziehung und Anforderungen an die Kinder zu finden ist.
auf der Achse publizierte heute ein prominenter Fürsprecher ihrer These:
Zitat von Prof. Dr. Beda M. Stadler Laut der Fachzeitschrift European Neuropsychopharmacology weisen 38,2 Prozent der Europäer mental disorders auf(...) Betrachtet man die allgemeine WHO-Definition für Gesundheit — «. . . ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen» —, erstaunt es nicht, dass so viele Europäer psychisch krank sein sollen.
Die aufsehenerregenden Daten sind aber frisiert. Verwendet man dieselben Diagnosen wie 2005, wären derzeit bloss 27,1 Prozent, gleich viele wie damals, psychisch krank. Der Anstieg auf 38,2 Prozent kam zustande, weil neue Diagnosen wie die Schlaflosigkeit oder die Demenz mit einbezogen wurden. Von den somatoformen Störungen wurde übrigens und glücklicherweise das Kopfweh ausgeschlossen. Dank der Studie wissen wir nun, dass mehr als 4 Prozent der Europäer drogen- oder alkoholabhängig sind, was in der Untersuchung selber übrigens von den nationalen Experten bezweifelt wird: Die Zahlen seien viel zu gering!
Dieser Gedanke zieht sich durch die ganze Untersuchung. Man findet, die Zahlen seien generell viel zu niedrig. Freuen wir uns auf die Folgestudie in fünf Jahren, die Autoren fordern nämlich Geld, um weiterzumachen. Dann werden wir sicherlich lesen können, jeder zweite Europäer sei psychisch krank. Derzeit sind nämlich unter den Essstörungen nur die Anorexie und die Bulimie aufgeführt. In der nächsten Studie wird mit Sicherheit die Fresssucht auftauchen. Jetzt, da das Bundesgericht entschieden hat, dass Raucher auch krank sind, kann man die dann getrost auch dazuzählen. (...)
Zitat von Prof. Dr. Beda M. StadlerDie aufsehenerregenden Daten sind aber frisiert. Verwendet man dieselben Diagnosen wie 2005, wären derzeit bloss 27,1 Prozent, gleich viele wie damals, psychisch krank. Der Anstieg auf 38,2 Prozent kam zustande, weil neue Diagnosen wie die Schlaflosigkeit oder die Demenz mit einbezogen wurden.
Dass jetzt im Gegensatz zur Vorgängerstudie 2005 die Demenz einbezogen wird - von der hoffentlich niemand leugnen wird, dass sie eine klinisch bedeutsame psychische Störung ist, die im Zuge der Alterung der Gesellschaft sicher noch häufiger wird - bedeutet, dass die neuen Daten "frisiert" sind? Da hat sich aber jemand vergaloppiert...
-- Defender la civilización consiste, ante todo, en protegerla del entusiasmo del hombre. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito
Zitat von TechniknörglerDas klingt jetzt vielleicht hart, aber dadurch wird das Verhalten weder zur Krankheit noch zur Störung (Ausweichbegriff für "Krankheit"), sondern bleibt (in den Fällen die Sie beschrieben haben) schlechte Erziehung...
Wie immer man es nennen will. Das Problem bleibt bestehen. Man kann es jetzt ignorieren oder versuchen aktiv was zu veraendern. Und ich sehe eine sinnvolle Veraenderung in der Berücksichtigung der vorliegenden Erfahrungen. Und diese besagen, dass die groessten Erfolge durch Prävention und Umdenken bei der Erziehung und Anforderungen an die Kinder zu finden ist.
Natürlich sollte in solchen Fällen die Erziehung geändert werden. Das ist eine Binsenweisheit. Aber ist das eine Therapie?
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