Vor Jahren habe ich einmal einen paranoiden Schizophrenen kennengelernt. Es war eine Zufallsbekanntschaft, an der Hotelbar. Der Mann reiste als Fan zu allen Auswärtsspielen seines Vereins, und er war überzeugt, daß ein ganzer Schwarm von bösen Menschen mitreiste, die ihn im Stadion beobachteten und die ihm nach dem Leben trachteten.
Er war ein netter junger Mann, mit dem man durchaus vernünftig reden konnte. Aber was er da sagte, hat mich natürlich besorgt gemacht. Ich habe ihm geraten, einmal zu einem Arzt zu gehen. Da war er sofort hellwach: Aha, auch ich war Teil der Verschwörung gegen ihn. Man hatte mich in dieses Hotel geschickt, um ihm das zu sagen.
Solche Fälle sind klar. Ich hatte aber auch einmal eine Studentin, die mir erzählt hat, sie würde vom Verfassungsschutz verfolgt, ihre Wohnung heimlich durchsucht usw. Auch eine paranoide Schizophrenie, oder borderline, oder noch nicht einmal das?
Die Diagnose Breiviks hat mich überrascht. Aufgrund dessen, was mir bisher bekannt war, hätte ich keine eindeutigen Symptome einer Psychose erkannt, sondern Breivik eher als einen paranoiden, narzißtischen, zur Empathie unfähigen Psychopathen gesehen.
Er wäre damit nicht schuldunfähig; nach deutschem Recht nicht und offenbar auch nicht nach norwegischem.
Aber es gibt hier ja nicht nur die schwierige Frage dieser Differentialdiagnose; sondern es gibt die noch schwierigere: Darf man jemanden bestrafen, weil sein Gehirn von der Norm abweicht? Das Gehirn jedes Psychopathen weicht sehr wahrscheinlich von der Norm ab. Auch das Hitlers. Das ist ja nicht auf Psychosen beschränkt.
Kurz nach den Morden war zu lesen, dass es in Norwegen ein höchstes Strafmaß von 21 Jahren gibt. Ich sehe diese Diagnose als wichtigen Schritt Breivik lebenslang einzusperren.
Zitat von xanoposKurz nach den Morden war zu lesen, dass es in Norwegen ein höchstes Strafmaß von 21 Jahren gibt. Ich sehe diese Diagnose als wichtigen Schritt Breivik lebenslang einzusperren.
Aber wenn das das Motiv ist, ist das ein schlechtes Zeichen für das norwegische Justizsystem. Wenn die Diagnose getroffen wurde, um ein Justizsystem auszuhebeln, das nicht die Macht hat, einen tatsächlich gemeingefährlichen Täter lebenslang einzusperren.
Zitat von ZettelNorwegen ist ein Land, das Breiviks Verbrechen als sich nicht zugehörig, als etwas sozusagen dieser freundlichen, solidarischen Kultur Fremdes angesehen hat. Wenn nun entschieden werden sollte, daß Breivik einfach nur ein Geisteskranker ist, dann entlastet das. Die Welt ist dann wieder mehr in Ordnung.
Offensichtlich scheint die norwegische Kultur gar keine unumkehrbare Gemeingefährlichkeit anzunehmen, sonst wäre ja die lebenslange Haft im Gesetz möglich.
Gruß Petz
"The problem with quotes from the Internet is that it is difficult to determine whether or not they are genuine" - Abraham Lincoln
Zitat von Meister Petz Offensichtlich scheint die norwegische Kultur gar keine unumkehrbare Gemeingefährlichkeit anzunehmen, sonst wäre ja die lebenslange Haft im Gesetz möglich.
Anstatt der lebenslangen Haft ist aber die lebenslange Verwahrung möglich, schreibt die "Welt":
Zitat Während im deutschen Strafrecht die Sicherungsverwahrung nach der Verbüßung der eigentlichen Freiheitsstrafe beginnt, kann in Norwegen die Verwahrung bereits nach dem Verurteilung beginnen. Nach 21 Jahren „forvaring“ kann diese Strafe dann zunächst um bis zu fünf Jahre verlängert werden. Da die Anzahl dieser Verlängerungen um jeweils fünf Jahre nicht begrenzt ist, ist es nach Ansicht norwegischer Strafrechtsexperten möglich, dass ein so verurteilter Täter bis zu seinem Tod hinter Gittern sitzt.
[quote="Erling Plaethe"]Anstatt der lebenslangen Haft ist aber die lebenslange Verwahrung möglich, schreibt die "Welt": Zitat:
Ja, aber es erinnert an Geschichten aus der Sowjetunion, wo man anscheinend Dissidenten in die Psychiatrie 'entsorgt' hat. Dann werden die Gutachter zu Handlangern der Justiz, und jeder der außerhalb der 'Norm' mordet, wird als schizophren erklärt.
Die Kategorien "unzurechnungsfähig" (schuldunfähig) und "gemeingefährlich" sind juristisch zwei ganz verschiedene Dinge.
Im deutschen Strafrecht wird zwischen Sicherungsverwahrung und Unterbringung in der Psychiatrie unterschieden. Beides sind Maßregeln, in ihrem Ausmaß also nicht (wie Strafen) durch das Maß der Schuld des Täters begrenzt. Die Sicherungsverwahrung setzt die Verurteilung zu einer Strafe voraus, und damit die Schuldfähigkeit des Täters. Es wird also eine schuldangemessene Strafe verhängt und zusätzlich aufgrund der Gefährlichkeit die Verwahrung. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erfolgt dagegen in Fällen, in denen der Täter gemeingefährlich, aber schuldunfähig ist und deswegen nicht zu einer Strafe verurteilt werden kann. Die sehr knappe Erläuterung des norwegischen "Forvaring" bei Wikipedia hört sich so an, als entspräche sie in etwa unserer Sicherungsverwahrung, da sie wohl an eine Haftstrafe anschließt. Eine Übersetzung des Gesetzestextes habe ich auf die Schnelle nicht gefunden.
____________________________________________________ "I want my republic back!"
Zitat von Martin Ja, aber es erinnert an Geschichten aus der Sowjetunion, wo man anscheinend Dissidenten in die Psychiatrie 'entsorgt' hat. Dann werden die Gutachter zu Handlangern der Justiz, und jeder der außerhalb der 'Norm' mordet, wird als schizophren erklärt.
Nein, das tut es eben nicht. Es gibt eben zwei Möglichkeiten die Gesellschaft vor Anders Breivik zu schützen. Die lebenslange Verwahrung findet in der Justiz und nicht in der Psychiatrie statt. Ich zitiere weiter aus dem Artikel der "Welt":
Zitat Psychisch kranke Straftäter, die als vermindert schuldfähig oder schuldunfähig eingestuft werden, kommen in Norwegen ähnlich wie beim deutschen Maßregelvollzug in eine geschlossene Fachklinik. Einige weiterhin als gefährlich für die Allgemeinheit geltende Patienten saßen in der Bundesrepublik 30 und mehr Jahre bis zu ihrem Tod in der Klinik. Das ist auch in Norwegen möglich, wo der Aufenthalt in der Psychiatrie ebenfalls nicht von vornherein zeitlich befristet ist. Ein Staatsanwalt kann alle drei Jahre den Aufenthalt dort verlängern. Ein psychisch kranker Straftäter hat das Recht, einmal im Jahr seine Entlassung zu beantragen.
Ob Andres Breivik strafunfähig oder straffähig ist, spielt im Falle eines Schuldspruches hinsichtlich eines dauerhaften Freiheitsentzugs für ihn, keine Rolle. Er wird nicht weggesperrt weil er schuldfähig und unschuldig ist, sondern weil er entweder schuldig und schuldunfähig in die Psychiatrie oder weil er schuldig und schuldfähig in die lebenslange Verwahrung kommt. In beiden Fällen werden die Verlängerungen überprüft.
Dass Breivik, umgangssprachlich, einen an der Klatsche hat, dürfte offensichtlich sein. Ob es für strenge, medizinisch-juristische Kriterien reicht ist, zumindest nach dem Artikel, eine Grenzwanderung für die Gutachter. So oder so wird er weggesperrt werden und man wird Mittel und Wege finden ihn solange einzusperren bis man davon ausgeht er sei ungefährlich(so es denn jemals dazu kommt). Von daher macht das, denke ich, für die Öffentlichkeit eigentlich keinen so großen Unterschied.
Zitat von isildurVon daher macht das, denke ich, für die Öffentlichkeit eigentlich keinen so großen Unterschied.
Das stimmt, lieber isildur. Aber aus meiner Sicht geht es um eine sehr fundamentale Frage: Wann ist ein Mensch eigentlich verantwortlich für das, was er tut?
Je mehr die Hirnforschung voranschreitet, umso offensichtlicher wird, daß "Seelisches" und "Geistiges" seine neuronale Grundlage hat. Auch der Psychopath, auch der Mensch mit einer Persönlichkeitsstörung handelt so, wie er handelt, weil sein Gehirn so ist, wie es ist.
Wie bringen wir das mit unserer Überzeugung von Schuld und Verantwortlichkeit zusammen? Mir scheint das eine zentrale Frage zu sein. Und ich will gleich sagen, daß ich keine Antwort weiß.
Je mehr die Hirnforschung voranschreitet, umso offensichtlicher wird, daß "Seelisches" und "Geistiges" seine neuronale Grundlage hat. Auch der Psychopath, auch der Mensch mit einer Persönlichkeitsstörung handelt so, wie er handelt, weil sein Gehirn so ist, wie es ist.
Vor längerer Zeit habe ich einmal etwas dazu gelesen, dass bei "Psychopathen" die Gehirnregionen, die für Furcht / Angst und die Hemmung von Verhalten zuständig sind, sich u.a. in Bezug auf ihre Größe von denen "gesunder" unterschieden. Ist meine Erinnerung richtig?
Was die Verantwortlichkeit für Verhalten betrifft nehme ich an, das Breivik (wie auch anderen) durchaus bewusst war, dass gesellschaftlich der Massenmord nicht akzeptabel und "verboten" ist. Entsprechend umsichtig wird die Tat vorbereitet. Inwieweit Breivik sich hätte gegen die Durchführung seiner Tat entscheiden können oder ob diese zwangsweise geschehen musste, kann ich nicht beurteilen. Können sie etwas zur Handlungsfreiheit von psych. Kranken ausführen?
Zitat von ZettelDie Diagnose Breiviks hat mich überrascht. Aufgrund dessen, was mir bisher bekannt war, hätte ich keine eindeutigen Symptome einer Psychose erkannt, sondern Breivik eher als einen paranoiden, narzißtischen, zur Empathie unfähigen Psychopathen gesehen.
Lieber Zettel,
es gab keinerlei Informationen, die irgendjemand (und da schließe ich auch Psychologen, Psychiater und Psychoanalytiker ein) in die Lage versetzen konnte eine qualifizierte Einschätzung des Gesundheitszustandes von Breivik aus der Distanz vorzunehmen. Es sei denn, man hätte tatsächlich entgegen aller wissenschaftlichen Usancen "das Manifest" und das was über die Morde bekannt war, zur Grundlage genommen eine psychologische Einschätzung vorzunehmen. Das ist allerdings genauso gewagt wie die tatsächlich durchgeführte politische Instrumentalisierung einzelner Passagen aus dem Werk eines vermutlich psychisch kranken Mannes.
Ich hatte mich damals sehr darüber geärgert mit welch Hemmungslosigkeit und Schamlosigkeit interessierte Kreise Bruchstücke aus dem Manifest für politische Zwecke oder auch zur Befriedigung der eigenen Eitelkeit eingesetzt haben. Bei genauerem Hinsehen hatten sich diese Kommentare als Geblubber herausgestellt. Weil es so schön gepasst hat, ist man dem verrücktem Breivik mit Hingabe auf den Leim gegangen.
Ich hatte am 31.7.2011 nachdem ich mich so widerwillig wie auch oberflächlich mit dem Manifest beschäftigt hatte, geschrieben:
Zitat von C.Es ist ungemein schwierig bei der Lektüre dieser 1500 Seiten herauszufinden, was Dichtung und Wahrheit ist. Breivik operiert mit zwei Kunstfiguren, "Sigurd, den Kreuzfahrer" und "Andrew Berwick", dem Ideologen, wobei ersterer eine Rollenspielfigur ist, die nichts mit der Realität zu tun hat und trotzdem oder gerade deshalb einen Massenmord begeht.
Die Tempelritter-Mystik, die er aufbaut, erscheint mir lediglich als Drohkulisse, damit der Eindruck entsteht, dass er nicht isoliert ist, sondern zu einer geheimnisvollen Organisation gehört. Nur damit kann er Angst und Schrecken auch nach seiner Festnahme oder seinem Tod verbreiten. Gegen die Theorie einer Organisation spricht zum Beipiel seine Problem bei der Waffenbeschaffung. Jeder, der nicht völlig gesellschaftlich isoliert ist, kann ohne großes Aufsehen sich in der nächsten Großstadt illegal Waffen besorgen, wenn er nur will oder kennt jemand, der das kann. Sein geheimer Orden ist ein wildes Produkt seiner Fantasie, erkennbar unter anderem daran, dass er den angeblichen Eid einfach von einem anderen real existierenden Orden abkopiert hat.
Auch der Ideologe Andrew Berwick ist ein Stümper des Copy&paste, der wild Texte gesammelt hat und sie entweder im Original einkopiert oder mit leichten Veränderungen als sein eigens geistiges Eigentum zum besten gibt, wie zum Beispiel das Manifest des Theodore Kaczynski. Die von ihm selbst erstellten Texte wirken auf mich infantil und lassen den Schluß zu, dass er sich weniger mit Theorie beschäftigt hat als mit sich selber. Die meisten von ihm ausgewählten Fremdtexte stehen im Widerspruch zu seiner gesellschaftlichen Vision des autoritären Staates.
Ich habe es allerdings als zu verwegen erachtet, aus der Ferne eine Schizophrenie zu dianostizieren, erstens bin ich nicht vom Fach und zweitesn reichen ein paar hundert Seiten, von denen niemand weiss, wie sie zustande gekommen sind, nicht aus um zu beurteilen, inwieweit diese Kunstfiguren Besitz von der Psyche des Patienten genommen haben. Wenn die Gutachter zu dem Schluss kommen, dass er zum Zeitpunkt der Tat an Wahnvorstellungen litt (und immer noch leidet), ist das für mich nachvollziehbar. Auf "nicht schuldfähig" zu erkennen ist somit folgerichtig.
Jemand, der nicht schuldfähig ist, kann nicht bestraft werden. Allerdings wird Breivik diese Diagnose als weitaus vernichtender ansehen als eine Verurteilung zu lebenslänglicher Haft. Sein Manifest ist ein Haufen Altpapier, aber das wussten diejenigen, die es zumindest mal überflogen* hatten, schon vorher.
*mit überflogen meine ich nicht, es nach passagen durchsucht zu haben, die gegen einen politischen oder persönlichen Gegner hilfreich sein könnten.
Zitat von ReisenderVor längerer Zeit habe ich einmal etwas dazu gelesen, dass bei "Psychopathen" die Gehirnregionen, die für Furcht / Angst und die Hemmung von Verhalten zuständig sind, sich u.a. in Bezug auf ihre Größe von denen "gesunder" unterschieden. Ist meine Erinnerung richtig?
Eine Suche bei PubMed mit den Schlagwörtern "structural antisocial", eingeschränkt auf Reviews, liefert beispielsweise dies:
Zitat Data in the literature report a reduction in prefrontal gray matter volume, gray matter loss in the right superior temporal gyrus, amygdala volume loss, a decrease in posterior hippocampal volume, an exaggerated structural hippocampal asymmetry, and an increase in callosal white matter volume in psychopathic individuals. These findings suggest that psychopathy is associated with brain abnormalities in a prefrontal-temporo-limbic circuit-i.e. regions that are involved, among others, in emotional and learning processes.
-- Defender la civilización consiste, ante todo, en protegerla del entusiasmo del hombre. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito
Zitat von C. *mit überflogen meine ich nicht, es nach passagen durchsucht zu haben, die gegen einen politischen oder persönlichen Gegner hilfreich sein könnten.
Guter Punkt. Ich denke für solche Leute kommt Breiviks Diagnose eher ungelegen, da man dem politischen Gegner die Tat jetzt noch schlechter anlasten kann. Zumindest wenn man logisch denkt.
Zitat von Martin Ja, aber es erinnert an Geschichten aus der Sowjetunion, wo man anscheinend Dissidenten in die Psychiatrie 'entsorgt' hat. Dann werden die Gutachter zu Handlangern der Justiz, und jeder der außerhalb der 'Norm' mordet, wird als schizophren erklärt.
Norwegen ist nicht die Sowjetunion, Breivik ist kein Dissident und die Gutachter sind keine Handlanger der Justiz. Sie wären Handlanger der Justiz gewesen, wenn sie eine psychische Erkrankung, die sie festgestellt haben, leugnen würden, weil "die Gesellschaft" Rache oder Genugtuung verlangt, weil sie der Meinung ist, dass sie das den Opfern schuldig ist oder weil von Dritten Druck ausgeübt wird.
Zitat Der zweite Irrtum ist ein epistemologischer, wenn komplexes psychosoziales Verhalten, das Mitteilungen über uns selbst und über die uns umgebende Welt enthält, als bloßes Symptom neurologischer Aktivität gedeutet wird. Anders gesagt, es handelt sich nicht um Beobachtungsfehler oder falsche Schlussfolgerungen, sondern um die Art und Weise, wie wir unser Wissen organisieren und ihm Ausdruck verleihen.
Zitat von Martin Ja, aber es erinnert an Geschichten aus der Sowjetunion, wo man anscheinend Dissidenten in die Psychiatrie 'entsorgt' hat. Dann werden die Gutachter zu Handlangern der Justiz, und jeder der außerhalb der 'Norm' mordet, wird als schizophren erklärt.
Norwegen ist nicht die Sowjetunion, Breivik ist kein Dissident und die Gutachter sind keine Handlanger der Justiz. Sie wären Handlanger der Justiz gewesen, wenn sie eine psychische Erkrankung, die sie festgestellt haben, leugnen würden, weil "die Gesellschaft" Rache oder Genugtuung verlangt, weil sie der Meinung ist, dass sie das den Opfern schuldig ist oder weil von Dritten Druck ausgeübt wird.
Liebe(r) C.,
Festzustellen, dass Breivik kein Dissident ist war mir etwas zu trivial. Sollte aber ein psychiatrisches Gutachten bewusst so gefertigt worden sein, dass damit eine Begrenzung der Haft vermieden werden kann, dann wird der Gutachter ganz sicher zu Handlanger.
Zitat von ZettelWie bringen wir das mit unserer Überzeugung von Schuld und Verantwortlichkeit zusammen? Mir scheint das eine zentrale Frage zu sein. Und ich will gleich sagen, daß ich keine Antwort weiß.
Der große Kantianer Zettel wird doch nicht vor ein paar FMRIs kapitulieren? Jede Art von zwischenmenschlicher Kommunikation und Handeln beruht auf der Prämisse der Zurechnungsfähigkeit, nämlich dass eine Handlung einer Entscheidung eines Menschen zugeordnet werden kann. Das gehört zur conditio humana, und sämtliche Versuche, diese Prämisse materialistisch zu eliminieren, sind bisher fehlgeschlagen.
Gruß Petz
"The problem with quotes from the Internet is that it is difficult to determine whether or not they are genuine" - Abraham Lincoln
Zitat von MartinFestzustellen, dass Breivik kein Dissident ist war mir etwas zu trivial.
Vermutlich benutzen wir unterschiedliche Definitionen von Dissident. Für mich ist jemand ein Dissident, der aktiv und öffentlich Kritik am herrschenden Gesellschaftssystem übt, obwohl Repressionen zu befürchten sind. Breivik war bis zu der Tat in dieser Beziehung in keinster Weise auffällig geworden, wenn ich von ein paar Internetbeiträgen absehe, die zumindest bis heute und in Norwegen nichts anderes als Wahrnehmung der Meinungsfreiheit darstellen. Selbst das "Manifest" rechne ich noch zur Meinungsfreiheit. Zumindestens ist mir nicht bekannt, dass es bis jetzt zu Strafanzeigen wegen Veröffentlichung, Weiterleitung oder Zitierung gegeben hat. Es bliebe für Dissidententum lediglich der Massenmord.
Zitat von martin Sollte aber ein psychiatrisches Gutachten bewusst so gefertigt worden sein, dass damit eine Begrenzung der Haft vermieden werden kann, dann wird der Gutachter ganz sicher zu Handlanger.
Wenn es so wäre, dann ja. Aber ich sehe nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür.
Es gab vor kurzem eine ähnliche Diskussion in Deutschland im Zusammenhang mit dem Prozess gegen den Mörder von Marwa El-Sherbini:
Zitat von SpOnDer am 12. November 1980 geborene Alexander Igorewitsch Nelsin wurde seit Juli 2000 in einer psychiatrischen Beratungsgruppe wegen "undifferenzierter Schizophrenie mit episodischem Verlauf und zunehmenden Defiziten" betreut. Das geht aus einem Fax der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation hervor, das am Dienstagnachmittag im Prozess gegen den Russlanddeutschen verlesen wurde.
Wahlverteidiger Veikko Bartel scheiterte am Dienstag mit einem Antrag auf einwöchige Unterbrechung des Prozesses. Danach wurde die Öffentlichkeit für die erneute Befragung des Gutachters ausgeschlossen. Der Psychiater hatte den Angeklagten für voll schuldfähig erklärt.
Zitat von Justiz SachsenDie Kammer hielt den Angeklagten im Tatzeitpunkt für voll schuldfähig, weil weder eine Wahnsymptomatik erkennbar war noch Anhaltspunkte für eine Schizophrenie bestanden. Auch schloss die Kammer aus, dass der Angeklagte im Affekt gehandelt habe. Schließlich stellte die Kammer die besondere Schwere der Schuld fest
Ich habe noch immer so viel Glauben an den Rechtsstaat, sowohl in Deutschland als auch in Norwegen, dass ich die Gutachter für unbeeinflussbar halte, zumal ich nicht die Kompetenz oder Informationen besitze, um ein Gutachten anzuzweiflen. Auch glaube ich noch an die Unabhängigkeit der Rechtssprechung. (Völlig anders sieht mein Vertrauen in Politik und Medien aus.) Auch würde ich den Mörder von Marwa el Sherbini nicht als Dissident ansehen, selbst wenn er eine tausendseitige Copy and Paste Orgie ins Internet gestellt hätte.
Zitat von ZettelWie bringen wir das mit unserer Überzeugung von Schuld und Verantwortlichkeit zusammen? Mir scheint das eine zentrale Frage zu sein. Und ich will gleich sagen, daß ich keine Antwort weiß.
Der große Kantianer Zettel wird doch nicht vor ein paar FMRIs kapitulieren? Jede Art von zwischenmenschlicher Kommunikation und Handeln beruht auf der Prämisse der Zurechnungsfähigkeit, nämlich dass eine Handlung einer Entscheidung eines Menschen zugeordnet werden kann.
Zitat von ZettelWie bringen wir das mit unserer Überzeugung von Schuld und Verantwortlichkeit zusammen? Mir scheint das eine zentrale Frage zu sein. Und ich will gleich sagen, daß ich keine Antwort weiß.
Der große Kantianer Zettel wird doch nicht vor ein paar FMRIs kapitulieren? Jede Art von zwischenmenschlicher Kommunikation und Handeln beruht auf der Prämisse der Zurechnungsfähigkeit, nämlich dass eine Handlung einer Entscheidung eines Menschen zugeordnet werden kann.
Gilt das auch für Breivik?
Ja, und zwar unabhängig davon, ob die Gutachter mit ihrer Diagnose recht haben. Die Diagnose der Unzurechnungsfähigkeit setzt ja voraus, dass es diesen Unterschied zur Zurechnungsfähigkeit gibt; um Breivik als anormal zu diagnostizieren, muss man einen Normalzustand annehmen.
Und zwar aus meiner Sicht unabhängig von der subvenienten neuronalen Ebene. Denn wenn wir die Prämisse fallen lassen, hätte man sich die ganze Gutachterei sparen können. Es gäbe keinen Unterschied mehr, ob jemand Unrechtsbewusstsein hat oder nicht, weil es "just firing neurons" ist. Nehmen wir eine mögliche Welt an, in der kein Unrechtsbewusstsein existiert, eine Person, die solches aufweisen würde, würde dann mit Wahnvorstellungen diagnostiziert werden.
Gruß Petz
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Zitat von Meister PetzDie Diagnose der Unzurechnungsfähigkeit setzt ja voraus, dass es diesen Unterschied zur Zurechnungsfähigkeit gibt; um Breivik als anormal zu diagnostizieren, muss man einen Normalzustand annehmen.
Ja, gern eingeräumt, lieber Petz.
Aber wie ist die Grenze definiert? Es scheint, daß sie sich mit dem Fortschritt der Neurologie verschiebt. Oder nicht?
Zitat von Meister PetzDie Diagnose der Unzurechnungsfähigkeit setzt ja voraus, dass es diesen Unterschied zur Zurechnungsfähigkeit gibt; um Breivik als anormal zu diagnostizieren, muss man einen Normalzustand annehmen.
Ja, gern eingeräumt, lieber Petz.
Aber wie ist die Grenze definiert? Es scheint, daß sie sich mit dem Fortschritt der Neurologie verschiebt. Oder nicht?
Ich denke gerade drüber nach, was der Fortschritt ist, wenn man die forensische Psychiatrie durch eine forensische Neurologie als Paradigmawissenschaft ersetzen würde (wäre ja nicht der erste Paradigmenwechsel, wir hatten auch schon die Theologie, es gab Versuche mit der Physiognomik etc.). Im Prinzip würde gleich bleiben, dass ein medizinischer Teilbereich eine Art Normalzustand definiert, der dann mit dem individuellen Zustand des Täters abgeglichen wird. Entsprechen die jeweiligen Merkmale dem Normalzustand, gibts ein Urteil; wenn nicht, eine Verwahrung. Ich muss zugeben, ich kenne mich mit neuronalen Merkmalen von Straftätern nicht aus und kann auch daher nichts zur externen Beeinflussbarkeit sagen. Die forensische Psychiatrie nimmt ja für sich in Anspruch, Täter zu therapieren und die Rückfallquote zu verringern, vielleicht hätte man da einen Paradigmenwechsel zu erwarten?
Ich denke aber, dass unser grundsätzliches System des Rechts nicht vollständig empirisch begründet und begründbar ist, sondern immer rechts- und moralphilosophische Begründungen hat. Z. B. die Frage, ob eine Strafe eine Vergeltung für die Tat ist, ob eine Strafe abschreckend wirken soll oder nicht. Da hilft uns die Empirie sehr wenig weiter, weil wir uns auf so supervenienten Ebenen bewegen, die sehr schwierig monokausal reduzierbar sind. Wir müssen der conditio humana folgen und so tun, als ob es Zurechnungsfähigkeit gäbe. Und wenn es nur dafür ist, die "normalen Gehirnzustände" zu definieren, gemäß denen eine Schuldfähigkeit angenommen kann. Denn vor Dennett sind die alle gleich!
Gruß Petz
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Zitat Das stimmt, lieber isildur. Aber aus meiner Sicht geht es um eine sehr fundamentale Frage: Wann ist ein Mensch eigentlich verantwortlich für das, was er tut?
Je mehr die Hirnforschung voranschreitet, umso offensichtlicher wird, daß "Seelisches" und "Geistiges" seine neuronale Grundlage hat. Auch der Psychopath, auch der Mensch mit einer Persönlichkeitsstörung handelt so, wie er handelt, weil sein Gehirn so ist, wie es ist.
Wie bringen wir das mit unserer Überzeugung von Schuld und Verantwortlichkeit zusammen? Mir scheint das eine zentrale Frage zu sein. Und ich will gleich sagen, daß ich keine Antwort weiß.
Herzlich, Zettel
Da möchte ich Ihnen zustimmen, lieber Zettel. Könnte man die Frage nicht umformulieren und Fragen ob "der Mensch" über oder unter diesen biologischen "Fakten" steht? Ob sein Wille, sein Geist nicht auch die neuronalen Fakten beeinflussen kann? Wenn ich mich so wage erinnere bekommen wir doch eigentlich bei Geburt alle einen Rohbau dahin gestellt den wir dann im Laufe unserer Entwicklung ausbauen. Manch einer klebt die Tapete auf den Fußboden(eigenverschuldet) und bei einigen hatte vielleicht schon das Rohbaufundament einen dicken Riss(angeborener Gehirnschaden). Ihre Fachkenntnis ist da mit Sicherheit ungleich größer, ich könnte mir allerdings vorstellen, dass man über die Klärung dieser Frage den Widerspruch zwischen der Gehirnforschung und dem Konzept des eigenverantwortlichen Menschen entschärfen könnte.
Zitat von Meister PetzIch denke aber, dass unser grundsätzliches System des Rechts nicht vollständig empirisch begründet und begründbar ist, sondern immer rechts- und moralphilosophische Begründungen hat. Z. B. die Frage, ob eine Strafe eine Vergeltung für die Tat ist, ob eine Strafe abschreckend wirken soll oder nicht. Da hilft uns die Empirie sehr wenig weiter, weil wir uns auf so supervenienten Ebenen bewegen, die sehr schwierig monokausal reduzierbar sind.
Das Problem, lieber Petz, scheint mir zu sein, daß es keine Brückengesetze gibt. Nada.
Wir können sagen, daß Psychisches auf Physisches superveniert [Für diejenigen, die sich da nicht so auskennen wie Petz: Wenn das Gehirn in einem bestimmten Zustand ist, dann ist daran ein bestimmter psychischer Zustand fest gebunden. Bestimmte Neurone feuern, und man sieht die Farbe Grün, beispielsweise. Unweigerlich].
Das Problem ist, daß niemand auch nur einen Schimmer hat, warum das so ist. Es hat zu dieser Frage in Jahrhunderten der Hirnforschung keinen Millimeter Fortschritt gegeben.
Zitat von isildurKönnte man die Frage nicht umformulieren und Fragen ob "der Mensch" über oder unter diesen biologischen "Fakten" steht? Ob sein Wille, sein Geist nicht auch die neuronalen Fakten beeinflussen kann?
Man kann das nicht ausschließen, lieber isildur; aber es gibt das nach unserer Kenntnis in der Natur nicht. Komplexes entsteht aus dem dem Einfachen (Emgergenz, Supervenienz). Aber es wirkt als solches nicht auf das Einfache. Die einfachen Prozesse interagieren; das ist die Komplexität.
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