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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 81 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
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Zettel Offline




Beiträge: 20.200

25.03.2012 15:20
Marginalie und Meckerecke: Datendiebstahl Antworten

Ich konnte mich nicht so recht entscheiden, ob ich zu diesem Thema eine kleine Meckerecke schreiben sollte, oder eine Marginalie über den Diebstahl von Kreditkarten-Daten in der Gastronomie. Jetzt ist eine Kombination von beidem daraus geworden.

Llarian Offline



Beiträge: 7.121

25.03.2012 16:37
#2 Marginalie zur Meckerecke Antworten

Ärgern kann man sich über viele Dinge, lieber Zettel, manchmal kann man statt Ärger auch größte Verwunderung emfinden.

Ihr Kommentar zur "Sitte, sich bunte Bilder in die Haut stechen zu lassen" löst bei mir jedenfalls beides aus: Nicht nur, dass Sie ein Kulturgut, dass vermutlich wenigstens 9000 Jahre alt sein dürfte (über plus minus 1000 muss man sich da nicht streiten) und damit vermutlich eine der ältesten Kunstformen der Menschheit, als Ärgernis verunglimpfen, nein, Sie müsen auch noch eine elitäre Begründung der Orientierung von Gesellschaftsschichten nachschieben. Dazu sei zu sagen, dass überhaupt nichts dagegen spricht sich an "niederen" Gesellschaftsschichten zu orientieren, insbesondere dann, wenn es sich um Fragen von Kultur, Kunst und Ästhetik handelt, ganz im Gegenteil, es spricht wohl eher vieles dafür sich gerade nicht an einem kulturellen Emfinden einer selbst definierten Oberschicht zu orientieren, deren kultureller (Leit-?) Anspruch sich aus ihrer gesellschaftlichen Stellung begründet. Wenn ich heute sehe, wo kulturelle Werte produziert werden, wieviele Künstler aus eben jener so verachteten Unterschicht stammen, während irgendwelche selbstverliebten Kulturschaffenden aus der selbsternannten Oberschicht es nicht einmal schaffen ohne öffentliche Förderungsmillionen ein Operhaus zu betreiben, kann man nur laut husten.

Entkultivierung gibt es in aller Regel nicht, es gibt nur eben unterschiedliche Auffassungen was Kultur ausmachen sollte, was richtig ist und was falsch. Die von Ihnen so verachtete kulturelle Veränderung des 20. Jahrhunderts ist keine Entkultivierung, es ist nur eine Veränderung. Die Ihnen vielleicht nicht gefällt, aber das ist eine Bewertung, der Begiff einer Entkultivierung ist (entschuldigen Sie die Deutlichkeit meiner Bewertung) vermessen und deplaziert. Es ist dieses elitäre Kulturverständnis, dass mir den ganzen offiziellen "Kulturbetrieb" unserer Republik so leidig macht. Kultur ist da wo Menschen sind, wo sich Menschen für Kunst, Musik, Theater, Bücher, Schauspiel, Tanz und all dem beschäftigen, was wir nicht zum Überleben brauchen.

Loki Offline



Beiträge: 128

25.03.2012 18:56
#3 RE: Marginalie zur Meckerecke Antworten

Zitat von Llarian
Ärgern kann man sich über viele Dinge, lieber Zettel, manchmal kann man statt Ärger auch größte Verwunderung emfinden.



Im Wesentlichen völlig einverstanden, aber weshalb die Verwunderung? Daß Zettel den Kulturbegriff gerne bis an den Rand der Unbrauchbarkeit verengt, ist ja nun nichts neues.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

25.03.2012 19:08
#4 RE: Marginalie zur Meckerecke Antworten

Lieber Llarian,
da sind wir aber kräftig verschiedener Meinung.

Zitat von Llarian
Ihr Kommentar zur "Sitte, sich bunte Bilder in die Haut stechen zu lassen" löst bei mir jedenfalls beides aus: Nicht nur, dass Sie ein Kulturgut, dass vermutlich wenigstens 9000 Jahre alt sein dürfte (über plus minus 1000 muss man sich da nicht streiten) und damit vermutlich eine der ältesten Kunstformen der Menschheit, als Ärgernis verunglimpfen, nein, Sie müsen auch noch eine elitäre Begründung der Orientierung von Gesellschaftsschichten nachschieben.

Nicht alles, was es einmal gab, ist ein tradierenswertes Kulturgut. Es gab in vielen Kulturen zum Beispiel Menschenopfer, in sehr vielen Tieropfer. Es gab - und gibt teilweise - komplexe Tabus, Heiratsvorschriften, Riten usw. Und man hat sich eben auch den Körper bemalt oder tätowiert, sich Scheiben in die Lippen geklemmt, sich alles Mögliche durch alle möglichen Körperteile gestochen usw.

In kaum einer der Hochkulturen ist von dieser primitiven Kulturstufe viel geblieben. Ich sehe das nicht als Verlust.

Zitat von Llarian
Dazu sei zu sagen, dass überhaupt nichts dagegen spricht sich an "niederen" Gesellschaftsschichten zu orientieren, insbesondere dann, wenn es sich um Fragen von Kultur, Kunst und Ästhetik handelt, ganz im Gegenteil, es spricht wohl eher vieles dafür sich gerade nicht an einem kulturellen Emfinden einer selbst definierten Oberschicht zu orientieren, deren kultureller (Leit-?) Anspruch sich aus ihrer gesellschaftlichen Stellung begründet.

Es ist nun einmal so, daß in allen Hochkulturen die Oberschicht auch die kulturtragende Schicht ist. Das muß nicht unbedingt nur die politisch herrschende Schicht sein. Es können auch Mönche und Gelehrte sein, es können die Künstler sein, die für die Kirche arbeiten, für die Reichen. Aber es ist die Oberschicht.

Natürlich gibt es auch immer eine Volkskultur. Sie speist sich größtenteils aus abgesunkener Hochkultur; so, wie die Volkstrachten die Festkleidung vergangener Jahrhunderte sind.

Daß jemals aus der Unterschicht bemerkenswerte kulturelle Leistungen hervorgegangen wären, wüßte ich nicht. Kennen Sie Beispiele? Allerdings sind viele große Künstler aus einfachen Verhältnissen aufgestiegen; aber sie haben dann natürlich keine Volkskunst produziert.

Herzlich, Zettel

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

25.03.2012 19:13
#5 RE: Marginalie zur Meckerecke Antworten

Zitat von Loki
Im Wesentlichen völlig einverstanden, aber weshalb die Verwunderung? Daß Zettel den Kulturbegriff gerne bis an den Rand der Unbrauchbarkeit verengt, ist ja nun nichts neues.

Sagen wir es so, lieber Loki: Ich mag die Ausweitung des Kulturbegriffs nicht mitmachen, die inzwischen Mode ist.

Sie basiert auf dem Irrtum, daß es in der Kultur keine Qualitätskriterien gibt. Dieser Meinung sind - zu meiner Verwunderung - oft dieselben Leute, die bei ihrer Hifi-Anlage, ihrem Auto, ihrer Kleidung und ihrem Essen sehr wohl auf Qualität achten.

Sie bevorzugen selten das, was vor Jahrhunderten Standard beim einfachen Volk gewesen ist. Außer eben, wenn es um Kultur geht. Verstehen Sie das, lieber Loki? Dann erklären Sie's mir.

Herzlich, Zettel

Llarian Offline



Beiträge: 7.121

25.03.2012 21:11
#6 RE: Marginalie zur Meckerecke Antworten

Zitat von Zettel
da sind wir aber kräftig verschiedener Meinung.


In der Tat, lieber Zettel, ziemlich extrem sind wir das. Aber wie mein Chef-Chef gelegentlich sagt: Das macht doch nichts. :)

Zitat
Nicht alles, was es einmal gab, ist ein tradierenswertes Kulturgut. Es gab in vielen Kulturen zum Beispiel Menschenopfer, in sehr vielen Tieropfer. Es gab - und gibt teilweise - komplexe Tabus, Heiratsvorschriften, Riten usw. Und man hat sich eben auch den Körper bemalt oder tätowiert, sich Scheiben in die Lippen geklemmt, sich alles Mögliche durch alle möglichen Körperteile gestochen usw.


Lassen wir die Seitenaspekte wie Menschenopfer mal weg, dann lasse ich auch den Hinweis weg, dass diese Art von Kulturgut nahezu immer auf die gesellschaftliche Oberschicht zurückgeht.
Nicht alles mag tradierenswert sein. Deswegen ist eine Kultur auch ständig im Wandel. Aber wenn ein Kulturgut sich über 9000 Jahre hält (und damit beispielsweise deutlich länger als beispielsweise Musik oder Literatur), dann ist es schon ein bischen seltsam dies als nicht tradierenswert zu betrachten. Sich zu tätowieren gehört zu den ältesten Kunstformen der Menschheitsgeschichte und über die Jahrtausende ist es immer wieder ausgeübt worden. Das spricht durchaus für eine sehr, sehr lange und auch sehr bedeutende Tradition.

Zitat
In kaum einer der Hochkulturen ist von dieser primitiven Kulturstufe viel geblieben.


Doch, durchaus. Sie sehen es nur nicht weil Sie ihren Kulturbegriff als allumfassend deklarieren. In ihrem Umfeld mögen nicht viele Leute tätowiert sein. Aber das gibt Ihnen kaum das Recht andere Formen der kulturellen Bewertung als "primitiv" oder niederstehend zu definieren. Was primitiv ist liegt ziemlich im Auge des Betrachters. Mancher mag es auch als primitiv emfinden ein Fell auf ein Holzstück zu spannen und das Fell mit einem Klöppel zum schwingen zu bringen. Selbst wenn dies in einer Philharmonie geschieht. Ob es das dadurch wird, sei dahingestellt.

Zitat
Ich sehe das nicht als Verlust.


Ich schon.

Zitat
Es ist nun einmal so, daß in allen Hochkulturen die Oberschicht auch die kulturtragende Schicht ist. Das muß nicht unbedingt nur die politisch herrschende Schicht sein. Es können auch Mönche und Gelehrte sein, es können die Künstler sein, die für die Kirche arbeiten, für die Reichen. Aber es ist die Oberschicht.


NEIN. Das mag die Schicht sein, die die Möglichkeit hat ihre Kultur aufwendig zu bewahren. Es mag auch die Schicht sein, die aus ihrem elitären Anspruch heraus definiert, dass das, was sie toll findet, eben die Kultur sein soll. Aber richtig wird es dadurch nicht. Auch ganz einfache Menschen haben seit jeher eine Kultur gelebt, die sich in Ritualen ausdrückt, in Gesängen, in Freizeitbeschäftigungen (so man denn solche hatte).

Zitat
Daß jemals aus der Unterschicht bemerkenswerte kulturelle Leistungen hervorgegangen wären, wüßte ich nicht. Kennen Sie Beispiele? Allerdings sind viele große Künstler aus einfachen Verhältnissen aufgestiegen; aber sie haben dann natürlich keine Volkskunst produziert.


Historisch wird das schwierig umso weiter man zurückgeht, ich schrieb ja schon, dass nur die Oberschicht die Möglichkeit hatte Kultur zu konservieren. Aber umso moderner man wird, umso mehr tritt das in den Hintergrund. Shakespeare hat seine Stücke für das gemeine Volk geschrieben und gilt sicher als einer der größeren Künstler seiner Zeit. Mark Twain gilt als einer der besseren Literaten Amerikas, ein Mann aus einfachen Verhältnissen, der auch für die einfachen Leute schrieb. Karl May stammt auch sicher nicht aus der Oberschicht und dennoch hat er mit 200 Millionen verbreiteten Exemplaren einen ziemlichen Einfluss ausgeübt.

Betrachten wir dagegen die Zeit heute, dann wird es noch offenkundiger, und der Dissenz wird auch klarer. Es gibt einerseits gesehen die eher elitäre Kultur, das was ich als Kulturbetrieb bezeichnen würde, Intellektuelle vom Stile Grass, Walser oder meinetwegen Böll (wenn es was linker sein darf), es gibt klassische, moderne Musik einer Berliner oder Wiener Philharmonie, es gibt immernoch Opern und es soll auch noch Theater geben. Jedes Jahr wird auch immernoch ein Nobelpreis für Literatur vergeben, alles sicher Kultur, die Sie für wertvoll, wichtig und tradierenswert halten.
Um demgegenüber steht ein Michael Jackson, eine schillernde Persönlichkeit, die so gar nicht dem Oberschichtenbild entspricht und in einem Jahr mehr Platten verkauft hat als die 10 besten Philharmonien in den letzten 20 Jahren zusammen. Oder ein Stephen King, ein Mann von ganz unten, der mehr als 500 Millionen Bücher verkauft hat und damit mehr als die letzten 10 Literaturnobelpreisträger zusammen. Der erfolgreichste und vermutlich einflußreichste Regisseur und Produzent, der derzeit noch lebt ist eben nicht Claus Peymann aus Berlin sondern Steven Spielberg aus Cinicinnati. Und selbst 100 Claus Peymanns werden nicht ansatzweise den Impact auf unser Denken haben als ein Steven Spielberg es hat. Und die bedeutendste Buchautorin der letzten 20 Jahre ist eben nicht Elfriede Jelinek sondern die (ebenfalls von ganz unten stammende) Joanne Rowling. Man könnte diese Liste nahezu endlos fortsetzen.

Wir leben eben nicht mehr in einer Zeit in der Fürsten durch Gewalt festlegen konnten welcher Kulturbegriff der richtige zu sein hat. Wir leben in einer Zeit, wo dies auch dem Prinzip der Freiheit unterworfen ist. Und das führt eben auch zu anderen Orientierungen, nämlich zu dem, was einen anspricht. Und die meisten können eben mehr mit einem Film von Steven Spielberg anfangen als sich durch die Blechtrommel zu quälen.

Und eins noch, weils gerade so gut passt: Ich hänge mit jeden morgen ein Stück "Teppich" um den Hals, was bei Licht betrachtet schon ziemlich lächerlich ist, aber eben (kulturelle) Tradition in diesem Land wie auch in den meisten westlichen Ländern für Männer ist. Ich finde es persönlich eher albern, aber es entspricht eben der Tradition. Ist das primitiv ? Ich denke schon. Und dennoch möchte ich vermuten, das wir diesen Zeitvertreib gemeinsam haben, lieber Zettel. Finden Sie ihn nicht auch primitiv ?

Calimero ( gelöscht )
Beiträge:

25.03.2012 21:54
#7 RE: Marginalie zur Meckerecke Antworten

Zitat von Llarian
Betrachten wir dagegen die Zeit heute, dann wird es noch offenkundiger, und der Dissenz wird auch klarer. Es gibt einerseits gesehen die eher elitäre Kultur, das was ich als Kulturbetrieb bezeichnen würde, Intellektuelle vom Stile Grass, Walser oder meinetwegen Böll (wenn es was linker sein darf), es gibt klassische, moderne Musik einer Berliner oder Wiener Philharmonie, es gibt immernoch Opern und es soll auch noch Theater geben. Jedes Jahr wird auch immernoch ein Nobelpreis für Literatur vergeben, alles sicher Kultur, die Sie für wertvoll, wichtig und tradierenswert halten.
Um demgegenüber steht ein Michael Jackson, (...)

Spannende Diskussion . Ohne mich hier einer Seite vollends anschließen zu wollen (was die Bedeutung der U-Musik angeht bin ich bei Llarian), möchte ich zur Literatur noch etwas einwenden. Wenn ich es richtig überblicke, dann behandelt gut verkäufliche Literatur durchaus oft vor allem Oberschichtiges. Könige, Prinzessinnen, Tycoons, Helden (auch wenn sie sich erst von unten hocharbeiten müssen), oder z.B. die weisen Zauberer in Hogwarts. Da orientieren sich die Geschichten schon am Elitären mitsamt dessen Sitten und Etikette, ist also doch kulturell oberschichtgeprägt (wer auch immer der Autor ist).
Lieschen-Müller-Geschichten sind doch nur interessant, wenn sie es (wie auch immer) "nach oben" schafft, oder?

Beste Grüße, Calimero

----------------------------------------------------
Calimeros Rumpelkammer - Ein Raum für freie Rede und Gedanken, mittendrin im Irrenhaus.

stefanolix Offline



Beiträge: 1.959

25.03.2012 22:27
#8 RE: Marginalie zur Meckerecke Antworten

Zitat von Calimero
(…)Ohne mich hier einer Seite vollends anschließen zu wollen (was die Bedeutung der U-Musik angeht bin ich bei Llarian), möchte ich zur Literatur noch etwas einwenden. Wenn ich es richtig überblicke, dann behandelt gut verkäufliche Literatur durchaus oft vor allem Oberschichtiges. Könige, Prinzessinnen, Tycoons, Helden (auch wenn sie sich erst von unten hocharbeiten müssen), oder z.B. die weisen Zauberer in Hogwarts. Da orientieren sich die Geschichten schon am Elitären mitsamt dessen Sitten und Etikette, ist also doch kulturell oberschichtgeprägt (wer auch immer der Autor ist).
Lieschen-Müller-Geschichten sind doch nur interessant, wenn sie es (wie auch immer) "nach oben" schafft, oder?



Um bei J.K.Rowling zu bleiben: Als sie die Harry-Potter-Romane begann, war sie als alleinerziehende Mutter zwar materiell ziemlich schlecht gestellt, aber sie war doch gebildet. Aus der Biographie bei Wikipedia:

Nach ihrem Schulabschluss 1983 studierte sie Französisch und Klassische Altertumswissenschaft an der University of Exeter. Nachdem sie 1987 ihr Studium abgeschlossen hatte, zu dem unter anderem ein einjähriger Aufenthalt als Englischlehrerin in Paris gehört hatte, übte sie verschiedene Bürotätigkeiten aus; unter anderem arbeitete sie zwei Jahre bei Amnesty International in London.

Rowling read for a BA in French and Classics at the University of Exeter, which she says was a "bit of a shock" as she "was expecting to be amongst lots of similar people – thinking radical thoughts." Once she made friends with "some like-minded people" she says she began to enjoy herself. After a year of study in Paris, Rowling moved to London to work as a researcher and bilingual secretary for Amnesty International.

Mit dem Abschluss »Bachelor of Arts« gehört jemand sicher nicht zur Elite, aber doch auf jeden Fall zu den gebildeten Kreisen. In den Romanen gibt es viele Anspielungen, die darauf schließen lassen, dass sie sehr viel gelesen und das Wissen intensiv verknüpft hat (das haben Literaturwissenschaftler und Fans zusammengetragen).

Was die Bedeutung der U-Musik angeht, kann ich Llarian nicht ohne weiteres zustimmen: die Zahlen sagen nichts über die Qualität aus. Ein Groschenroman wird auch durch hunderttausendfachen Verkauf niemals die Qualität eines kleinen Büchleins von Martin Walser haben, ein Musikantenstadel niemals die Qualität eines Konzerts der Dresdner Staatskapelle.

Michael Jackson und Mark Twain haben jeweils in ihrer Zeit Neues geschaffen. Wir müssen abwarten, ob es kommende Generationen noch als wertvoll einstufen werden. Bei Mark Twain sieht es ganz danach aus: Einige seiner Bücher zählen zum Literaturerbe der Menschheit, die Verfilmungen und Neuauflagen bewegen die Menschen immer noch. Von Michael Jackson könnten einige Lieder und Videos die Zeit überdauern — man wird sehen.

C. Offline




Beiträge: 2.639

25.03.2012 22:30
#9 RE: Marginalie zur Meckerecke Antworten

Zitat von Zettel

Daß jemals aus der Unterschicht bemerkenswerte kulturelle Leistungen hervorgegangen wären, wüßte ich nicht. Kennen Sie Beispiele? Allerdings sind viele große Künstler aus einfachen Verhältnissen aufgestiegen; aber sie haben dann natürlich keine Volkskunst produziert.



verkürzt:

Worksongs--->Gospel--->Blues--->Jazz--->Rhythm&Blues--->Rock'n Roll--->Rock--->Pop

Der Riesling gehört zu Deutschland.

MW Offline



Beiträge: 13

25.03.2012 22:48
#10 RE: Marginalie zur Meckerecke Antworten

Kleine Anmerkung hierzu:


Aber wenn ein Kulturgut sich über 9000 Jahre hält (und damit beispielsweise deutlich länger als beispielsweise Musik oder Literatur), dann ist es schon ein bischen seltsam dies als nicht tradierenswert zu betrachten.

----> http://www.focus.de/wissen/wissenschaft/...aid_411097.html

Loki Offline



Beiträge: 128

25.03.2012 23:15
#11 RE: Marginalie zur Meckerecke Antworten

Zitat von Zettel

Zitat von Loki
Im Wesentlichen völlig einverstanden, aber weshalb die Verwunderung? Daß Zettel den Kulturbegriff gerne bis an den Rand der Unbrauchbarkeit verengt, ist ja nun nichts neues.

Sagen wir es so, lieber Loki: Ich mag die Ausweitung des Kulturbegriffs nicht mitmachen, die inzwischen Mode ist.

Sie basiert auf dem Irrtum, daß es in der Kultur keine Qualitätskriterien gibt.




Aha. Daß es in der Kultur keine Qualitätskriterien gibt. Anwendung finden die Kriterien demnach in der Kultur. Und was angeblich auf einem Irrtum basiert, das setzen Sie sogleich voraus, um diesen Irrtum (den auch ich für einen halte) allererst auszudrücken.

Llarian Offline



Beiträge: 7.121

26.03.2012 00:25
#12 RE: Marginalie zur Meckerecke Antworten

Zitat von stefanolix
Mit dem Abschluss »Bachelor of Arts« gehört jemand sicher nicht zur Elite, aber doch auf jeden Fall zu den gebildeten Kreisen. In den Romanen gibt es viele Anspielungen, die darauf schließen lassen, dass sie sehr viel gelesen und das Wissen intensiv verknüpft hat (das haben Literaturwissenschaftler und Fans zusammengetragen).


Entscheidend ist nach meinem Dafürhalten eher, dass Joanne Rowling nie besondere Anerkennung durch den Kulturbetrieb bekommen hätte, wenn sie nicht Abermillionen von Büchern verkauft hätte. Und selbst die Tatsache, dass sie die finanziell erfolgreichste Autorin der bisherigen Geschichte ist, würde sie einem Literaturnobelpreis nie näher bringen als ein Platz auf der Zuschauertribüne. Niemand bestreitet, dass es sicher von Vorteil ist, viel gelesen zu haben, um ein Buch zu schreiben. Nur macht das einen weder zu einer wie auch immer gearteten Elite noch zu einem Kulturschaffenden.

Zitat
Ein Groschenroman wird auch durch hunderttausendfachen Verkauf niemals die Qualität eines kleinen Büchleins von Martin Walser haben, ein Musikantenstadel niemals die Qualität eines Konzerts der Dresdner Staatskapelle.


Ah so. Sagt wer ? Das ist genau der Punkt, um den es geht. Diese Qualitätseinschätzung ist nicht nur subjektiv, sie wird auch offensichtlich nur von einer Minderheit geteilt. Wenn sich hunderttausende einen Drei-Groschen-Roman kaufen, dann genügt dieser offensichtlich deren Qualitätsansprüchen. Und wenn sich das fliehende Pferd von Walser so nun gar nicht verkauft (was ich absolut nachvollziehen kann, denn ich bin auf der Schule mit dem ..... gequält worden), dann genügt die Qualität offensichtlich einer ganzen Reihe Menschen nicht. Ich will mich nicht zum Maß der Dinge machen, aber ich kann mit Walser, Grass oder Böll so nun gar nichts anfangen, ich finde die Geschichten langweilig und es teilweise eine Quälerei es zu lesen. Dagegen habe ich in meiner Jugend sehr viel Freude mit "Gespenster-" und "Spkukgeschichten" aus dem Bastei-Berlag gehabt, also nicht nur Drei-Groschen-Romane (genaugenommen 2 Mark haben die gekostet) sondern das ganze auch noch (igitt) als Comic. Und wissen Sie was ? In diesen Heftchen steckt eine Menge Lebensweisheit, vielleicht deutlich weniger verklausuliert, nicht endlos in Allegorien und Metaphern versteckt, aber eine Menge Gedanken, die sich andere mal gemacht haben.
Entscheidend ist nach meiner Meinung ob man nach dem Lesen eines Buches klüger ist als vorher. Oder sich Gedanken macht, die man sich vorher nicht gemacht hat. Dazu braucht es nicht unbedingt verklausulierte Sprache, es braucht gute Ideen und die Möglichkeit diese zu vermitteln. Um es mit einem Bonmot von Manfred Rommel zu sagen: "Wir Deutschen neigen dazu etwas umso mehr zu verehren, umso weniger wir es verstehen. Wir sind danach aber nicht klüger, sondern dümmer, weil verwirrter." Ich ziehe es vor, weniger verwirrt zu sein. Deshalb ziehe ich Texte vor, die man nicht erst drei Tage lang einer Analyse unterwerfen muss, um sie (vielleicht) zu verstehen.

Zitat
Michael Jackson und Mark Twain haben jeweils in ihrer Zeit Neues geschaffen. Wir müssen abwarten, ob es kommende Generationen noch als wertvoll einstufen werden. Bei Mark Twain sieht es ganz danach aus: Einige seiner Bücher zählen zum Literaturerbe der Menschheit, die Verfilmungen und Neuauflagen bewegen die Menschen immer noch. Von Michael Jackson könnten einige Lieder und Videos die Zeit überdauern — man wird sehen.


Ich fürchte man wird nicht sehen, zumindest wir nicht. Wenn wir in Zeitbegriffen von Mark Twain argumentieren werden wir lange tot sein, bevor sich diese Frage entscheidet.

Loki Offline



Beiträge: 128

26.03.2012 00:36
#13 RE: Marginalie zur Meckerecke Antworten

Zitat
Deshalb ziehe ich Texte vor, die man nicht erst drei Tage lang einer Analyse unterwerfen muss, um sie (vielleicht) zu verstehen.



Es steht natürlich jedem frei, Nicht-Kunst vor Kunst zu bevorzugen, aber das macht Nicht-Kunst nicht zur Kunst.

energist Offline




Beiträge: 322

26.03.2012 01:38
#14 RE: Marginalie zur Meckerecke Antworten

Zitat von Loki

Zitat
Deshalb ziehe ich Texte vor, die man nicht erst drei Tage lang einer Analyse unterwerfen muss, um sie (vielleicht) zu verstehen.



Es steht natürlich jedem frei, Nicht-Kunst vor Kunst zu bevorzugen, aber das macht Nicht-Kunst nicht zur Kunst.




Eine Gegenfrage, werter Loki: wer oder was macht Kunst dann zur Kunst?

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

26.03.2012 02:19
#15 RE: Marginalie zur Meckerecke Antworten

Zitat von Loki

Zitat von Zettel
Sie basiert auf dem Irrtum, daß es in der Kultur keine Qualitätskriterien gibt.



Aha. Daß es in der Kultur keine Qualitätskriterien gibt. Anwendung finden die Kriterien demnach in der Kultur. Und was angeblich auf einem Irrtum basiert, das setzen Sie sogleich voraus, um diesen Irrtum (den auch ich für einen halte) allererst auszudrücken.


Könnten Sie das, lieber Loki, bitte so formulieren, daß auch ich es verstehe? Bei Sätzen mit "sogleich" und "allererst" habe ich oft Verständnisschwierigkeiten.

"In der Kultur" - ja, das war a bisserl unscharf formuliert; meine Frau sagt, wenn ich so etwas kritisiere: "Mitdenken!".

Gemeint war natürlich "in Bezug auf die Literatur". Ist es jetzt für Sie verständlicher?

Herzlich, Zettel

stefanolix Offline



Beiträge: 1.959

26.03.2012 08:14
#16 RE: Marginalie zur Meckerecke Antworten

Zitat von Llarian
Entscheidend ist nach meinem Dafürhalten eher, dass Joanne Rowling nie besondere Anerkennung durch den Kulturbetrieb bekommen hätte, wenn sie nicht Abermillionen von Büchern verkauft hätte. Und selbst die Tatsache, dass sie die finanziell erfolgreichste Autorin der bisherigen Geschichte ist, würde sie einem Literaturnobelpreis nie näher bringen als ein Platz auf der Zuschauertribüne. Niemand bestreitet, dass es sicher von Vorteil ist, viel gelesen zu haben, um ein Buch zu schreiben. Nur macht das einen weder zu einer wie auch immer gearteten Elite noch zu einem Kulturschaffenden.



Das stimmt nicht ganz. Ich weiß es, weil ich damals für meinen älteren Sohn nach Literatur gesucht habe: Der allererste Band wurde in der ZEIT auf sehr sympathische Weise rezensiert, als der Verkaufserfolg definitiv nicht abzusehen war. — Ich mag nicht ganz unbefangen sein, denn ich habe einige Jahre später die »Blitzübersetzung« eines Bandes mit koordiniert und diese Blitzübersetzung mit LaTeX gesetzt. Aber an die erste Rezension in einem Feuilleton erinnere ich mich sehr gut.

Zitat von Llarian
Ah so. Sagt wer ? Das ist genau der Punkt, um den es geht. Diese Qualitätseinschätzung ist nicht nur subjektiv, sie wird auch offensichtlich nur von einer Minderheit geteilt. Wenn sich hunderttausende einen Drei-Groschen-Roman kaufen, dann genügt dieser offensichtlich deren Qualitätsansprüchen. Und wenn sich das fliehende Pferd von Walser so nun gar nicht verkauft (was ich absolut nachvollziehen kann, denn ich bin auf der Schule mit dem ..... gequält worden), dann genügt die Qualität offensichtlich einer ganzen Reihe Menschen nicht. Ich will mich nicht zum Maß der Dinge machen, aber ich kann mit Walser, Grass oder Böll so nun gar nichts anfangen, ich finde die Geschichten langweilig und es teilweise eine Quälerei es zu lesen. Dagegen habe ich in meiner Jugend sehr viel Freude mit "Gespenster-" und "Spkukgeschichten" aus dem Bastei-Berlag gehabt, also nicht nur Drei-Groschen-Romane (genaugenommen 2 Mark haben die gekostet) sondern das ganze auch noch (igitt) als Comic. Und wissen Sie was ? In diesen Heftchen steckt eine Menge Lebensweisheit, vielleicht deutlich weniger verklausuliert, nicht endlos in Allegorien und Metaphern versteckt, aber eine Menge Gedanken, die sich andere mal gemacht haben.



Gut, dann schauen wir uns einfach die BILD [anstelle des Groschenhefts] und die F.A.Z/F.A.S. [anstelle des Walser-Romans] an. Zweifellos sind in der heutigen BILD viele kleine Lebensweisheiten verpackt, vermutlich sogar in ziemlich einfach verständlichen Sätzen. Wer die Bücher von Wolf Schneider gelesen hat, kennt die notwendigen Fertigkeiten — und die BILD-Journalisten wenden sie offensichtlich erfolgreich an.

Zweifellos ist die F.A.Z. auch an diesem Montag wieder schwerer zu lesen und zu verstehen als die BILD. Aber es gibt objektiv deutliche Qualitätsunterschiede: Sie liegen in der Differenzierung, in der Recherche, im Themenspektrum … Greifen Sie irgend ein Thema heraus und Sie werden aus der F.A.Z. mehr erfahren, als aus der BILD.


Zitat von Llarian
Entscheidend ist nach meiner Meinung ob man nach dem Lesen eines Buches klüger ist als vorher. Oder sich Gedanken macht, die man sich vorher nicht gemacht hat. Dazu braucht es nicht unbedingt verklausulierte Sprache, es braucht gute Ideen und die Möglichkeit diese zu vermitteln. Um es mit einem Bonmot von Manfred Rommel zu sagen: "Wir Deutschen neigen dazu etwas umso mehr zu verehren, umso weniger wir es verstehen. Wir sind danach aber nicht klüger, sondern dümmer, weil verwirrter." Ich ziehe es vor, weniger verwirrt zu sein. Deshalb ziehe ich Texte vor, die man nicht erst drei Tage lang einer Analyse unterwerfen muss, um sie (vielleicht) zu verstehen.



Das überzeugt mich nicht. Natürlich stecken selbst im Musikantenstadel einfache Wahrheiten — wer weiß nicht in seinem Innersten, dass »über jedes Bacherl auch a Brückerl« führen kann. Aber einem höheren Anspruch genügt diese synthetische Volksmusik eben nicht. ;-)

Ich denke, es ist alles eine Frage der Maßstäbe. Man kann den Maßstab so weit nach unten transformieren, dass die BILD zu einer Qualitätszeitung wird — knapp vier Millionen Leser können ja nicht irren. Aber ich will das nicht. Ich will Qualitätsunterschiede auch als solche benennen.

Eierkopp Offline



Beiträge: 226

26.03.2012 09:51
#17 RE: Marginalie zur Meckerecke Antworten

Zitat von energist
...wer oder was macht Kunst dann zur Kunst?


Ist eigentlich nicht mein Thema, aber bei der Frage musste ich sofort an dieses Zitat denken:

Zitat von Frank Zappa
The most important thing in art is The Frame. For painting: literally; for other arts: figuratively-- because, without this humble appliance, you can't know where The Art stops and The Real World begins. You have to put a 'box' around it because otherwise, what is that shit on the wall?

Vogelfrei ( gelöscht )
Beiträge:

26.03.2012 10:45
#18 RE: Marginalie zur Meckerecke Antworten

Zitat von energist
...wer oder was macht Kunst dann zur Kunst?


Die EAV dichtete einmal sehr treffend:

Zitat
Alles was i net versteh, des is ka Kunst und fürs WC.



Meines Erachtens verläuft der Graben aber nicht zwischen Kunst/Kultur - keine Kunst/Kultur, sondern es handelt sich um eine rein qualitative Abstufung, denn letztlich ist alles, was nicht ausschließlich der Zweckmäßigkeit dienlich und geschuldet ist, ein Kulturgut.

Grüße

Loki Offline



Beiträge: 128

26.03.2012 11:21
#19 RE: Marginalie zur Meckerecke Antworten

Lieber Zettel,

Zitat von Zettel
Könnten Sie das, lieber Loki, bitte so formulieren, daß auch ich es verstehe? Bei Sätzen mit "sogleich" und "allererst" habe ich oft Verständnisschwierigkeiten.



Sie haben natürlich Recht; die anstößigen Vokabeln können Sie einfach weglassen, da sich die Kernaussage dadurch nicht verändert.

Zitat von Zettel
Gemeint war natürlich "in Bezug auf die Literatur". Ist es jetzt für Sie verständlicher?



Nein. Ursprünglich ging es doch um Tätowierungen, und Literatur wurde an anderer Stelle erst zum Thema. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß Sie Tätowierern und Tätowierungen zur Literatur zählen.

Herzlich, Loki

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

26.03.2012 11:31
#20 RE: Marginalie zur Meckerecke Antworten

Zitat von Loki

Zitat von Zettel
Gemeint war natürlich "in Bezug auf die Literatur". Ist es jetzt für Sie verständlicher?



Nein. Ursprünglich ging es doch um Tätowierungen, und Literatur wurde an anderer Stelle erst zum Thema. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß Sie Tätowierern und Tätowierungen zur Literatur zählen.


Ich wollte auch Ihre Vorsellungskraft nicht testen, lieber Loki, sondern habe mich nur verschrieben.

Natürlich war "Kultur" gemeint, das ergibt sich ja aus dem Kontext.

Wie gesagt - meine Frau sagt in solchen Fällen "Mitdenken!". Wenn Ihnen etwas seltsam vorkommt - überlegen Sie einfach, was gemeint sein könnte. Das hilft in vielen Fällen.

Herzlich, Zettel

Thanatos Offline



Beiträge: 232

26.03.2012 12:01
#21 Tattoos und der ganze Rest Antworten

Eine hochinteressante Diskussion!

Zettel offenbart hier seine wohl konservativste Seite, dazu auch ein starkes Elitenbewußtsein. Kommunistische Gleichmacherei und Erhebung der Arbeiterkunst zur überragenden Führungskultur sind nicht sein Ding. (Zu dieser Erkenntnis hätte es dieses Threads gewiß nicht bedurft).

Zuerst möchte ich feststellen, daß die Kunst als wichtigster Teil der gesamten Kultur für die Elitenbildung eine wichtige, unverzichtbare Rolle spielt. "Bildung" als Distinguierungsmerkmal ist zum größten Teil auf "Kunstbildung" bezogen, also Kenntnisse in Literatur, Malerei, griechische und römische Antike, Musik usw. Bis zum WK II gab es da ganz klare Standards, was man wissen mußte, was zum Kanon gehörte - und es gab eine große Neigung der Oberschicht, sich selbst künstlerisch zu betätigen, vor allem: Gedichte zu machen bzw. Instrumente zu spielen.

Um es zusammenzufassen: am Kunstgeschmack macht sich zu großen Teilen die Schichtenzugehörigkeit fest (neben dem Einkommen und dem Status der Vorfahren). Die Oberschicht definiert sich mit einem kulturellen Habitus, der vom Essen über die Kleidung bis zu Musik und Literatur stets am besten, teuersten, hochpreisigsten und/oder seltensten orientiert ist.

Wer gar nichts liest, steht hierarchisch ganz unten, dann kommen die Groschenheftleser, dann kommen die Harry-Potter-Leser, dann kommen die Thomas-Mann-Leser, und ganz oben stehen die Arno-Schmidt- oder James-Joyce-Leser.

Musikalisch gesehen trifft dasselbe zu. Ganz unten stehen die Diskobesucher, denen die pure Dröhnung schon reicht, dann kommen die Rock- und Pop-Hörer, dann die Gothic-, Metal- und sonstigen Szenefans (die schon dazu neigen, ihrer Musik gewisse philosophische Inhalte zu unterlegen), dann kommen Klassikhörer und Kantoren, und ganz oben stehen die Opernbesucher (Bayreuth et al) und natürlich die Interpreten und Dirigneten der klasssischen Musik selbst.

(Ich muß hier meinen Text teilen - er wird zu lang).

MfG

Thanatos

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Thanatos Offline



Beiträge: 232

26.03.2012 12:30
#22 Tattoos und der ganze Rest, Teil 2 Antworten

Nachdem der Zweck der Kunst als "Abhebungsmerkmal" für die Elite bzw. Oberschicht dargestellt wurde, möchte ich noch zu einer zweiten Problematik kommen. Zettel vertritt den Standpunkt, daß es in der Kultur ganz klare Qualitätsunterschiede gibt, während Llarian das eher gegenteilig sieht.

Natürlich neigt hier jeder dazu, die Sichtweise seiner eigenen Schicht zu verteidigen. Gäbe es keine Qualitätsmerkmale für Kultur, könnte sich eine Elite des Volkes dadurch auch nicht abgrenzen, also muß sie kulturelle Qualitätsabstufung betreiben. Kulturteilhaber, die von der Elite auf niedrigere Stufen eingeordnet werden, möchten natürlich dieser Kränkung entgehen, indem sie die Kultur einer Qualitätsbewertung entziehen.

Das funktioniert aber nicht. Punkt.

Erstens gilt: Masse != Qualität. Das massenhaft Konsumierte wie auch das massenhaft Produzierte ist seltenst von gleicher Qualität wie das Rare, Seltene und mit höchster Kunstfertigkeit, Hingabe und Aufwand Erstellte. Punkt. Was jeder versteht und goutiert, kann nicht auf höchstem Niveau sein.

Das Zentrale in punkto Qualität der Kultur liegt aber woanders: Kultur ist immer und überall (zu mindestens 95%) eine Funktion der Religion (!). Kultur entwickelt sich aus den religiösen Annahmen, Sehnsüchten, Gebräuchen und Vorschriften eines Volkes bzw. eines Künstlers. Sowohl inhaltlich gesehen als auch in der Frage, was hochwertige und minderwertige Kultur ist, bezieht sich das Kulturschaffen auf die geltenden religiösen Standards.

Bevor der Kulturrelativismus (die moderne Standardansicht) Einzug hielt, galten ganz allgemein die folgenden Vorstellungen: Naturvölker und Naturreligionen, Animismus usw. standen auf unterster Stufe, danach folgten die asiatischen Religionen wie Hinduismus, Buddhismus, Taoismus, gleich danach kam der Mohammedanismus, dann das Judentum - und als "Krone" der Kultur rangierte unangefochten das Christentum (unter Einbindung der griechisch-römischen Antike).

In der Blüte der Kolonialzeit war das evident. Kein britischer oder deutscher Kolonialbeamter, kein Missionar hegte einen Zweifel daran, daß man den Kolonialvölkern "Kultur" erst bringen müsse, da sie unzivilisiert und auf kulturell niedrigster Stufe standen. Warum galten Körperverzierungen wie Tattoos, Pflöcke in Ohren und Lippen u.a. mehr als "schlecht"? Weil das Praktiken der Naturvölker im Zusammenhang mit Naturreligion und also "Aberglaube" im Vergleich zum Christentum war, genauso wie die Rituale der Medizinmänner, die Trommelmusik zwecks Extase usw. usf.

Asiatische Musik konnte im Vergleich zu den Werken klassischer europäischer Komponisten niemals als qualitativ gleichwertig empfunden werden. Exotisch ja, aber doch stark entwicklungsbedürftig und noch völlig unbeleckt von den Erkenntnissen der Harmonielehre, Kontrapunktik etc. Übrigens scheint sich diese Einordnung als recht praxistauglich zu erweisen, hat doch der Westen nie ein Interesse daran gehabt, Gamelanmusik zu erzeugen, jedoch die Asiaten ein mittlerweile konkurrenzloses Interesse am Erlernen des klassischen Musizierens sowie am Konsum von Bach und Reger bewiesen.

Diese Hierarchisierung von Kulturleistungen brach erst dann zusammen, als die Bindung der Europäer an Religion (an "ihre" Religion) zerbröselte - nämlich nach dem WK II. Die zwei größten Kriege der Weltgeschichte und der Faschismus hatten einfach die Europäer in massivste Selbstzweifel gestürzt. Je weniger Einfluß das Christentum kulturell und geistig noch hatte, desto weniger konnte sich das Primat der westeuropäischen Kultur noch halten. Selbstkritik (auch wieder eine Funktion des Religiösen, dem Christentum eigentümlich) übernahm das Zepter anstat der vorher herrschenden Selbstgewißheit.

Heute steht die Sache umgekehrt: alles Exotische, Naturalistische, Nichtchristliche ist Hochkultur, während unsere eigenen Kulturleistungen und -traditionen zu dekonstruieren sind, mit allen Mitteln. Man höre sich die sogenannte "Neue Musik" an (in vielen Fällen einfach "höherer Katzenjammer"), man gehe ins Theater oder in die Oper (es geht darum, die Limits der Naturvölker weit zu unterbieten, durch Schrei-, Sex- und Fäkalorgien), man lese "Feuchtgebiete", man schaue sich im Freibad die Galerie großflächiger Tattoos an, deren Beleibtheit "in der Mitte der Gesellschaft" angekommen ist.

Ich glaube, daß dennoch ein Gefühl für die (wirklich vorhandenen) Qualitätsunterschiede in Kunst und Kultur weiterhin existent ist und daß es kein Kulturchauvinismus ist, zu behaupten, eine Bachkantate habe mehr Qualität als ein Buschtrommelkonzert. Ich bin hierin halt ein Hardcore-Konservativer mit stramm christlicher Ausrichtung, ich kann einfach nicht anders denken. Und ich bedaure zutiefst, daß heute allgemein alles andersherum bewertet wird. What we do here is downgrading at it's best.

MfG

Thanatos

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Vogelfrei ( gelöscht )
Beiträge:

26.03.2012 13:14
#23 RE: Tattoos und der ganze Rest, Teil 2 Antworten

Zitat von Thanatos
Ich glaube, daß dennoch ein Gefühl für die (wirklich vorhandenen) Qualitätsunterschiede in Kunst und Kultur weiterhin existent ist und daß es kein Kulturchauvinismus ist, zu behaupten, eine Bachkantate habe mehr Qualität als ein Buschtrommelkonzert.


Das stimmt sehrwohl - der primitiven Kunst oder Kultur in Abrede zu stellen, überhaupt derartiges zu sein, ist es hingegen schon. Und einmal ganz ehrlich: Der Massenmensch ist immer häßlich. Gleich, ob mit oder ohne Körperschmuck - Freibäder sind daher so oder so eine ästhetische Zumutung sondersgleichen...

Grüße

Thomas Pauli Offline




Beiträge: 1.486

26.03.2012 13:41
#24 RE: Tattoos und der ganze Rest, Teil 2 Antworten

Zitat
Ich bin hierin halt ein Hardcore-Konservativer mit stramm christlicher Ausrichtung, ich kann einfach nicht anders denken. Und ich bedaure zutiefst, daß heute allgemein alles andersherum bewertet wird. What we do here is downgrading at it's best.


Ich fürchte, das bin ich auch.
Herzlichen Dank für Ihren schönen Text! Er hat mir wirklich aus der Seele gesprochen. Für mich kommt noch die Überbewertung der Originalität und die Unterbewertung der Kunstfertigkeit zu den Dingen, die mich vom modernen Kunstbegriff abstoßen.

Herzliche Grüße

Thomas

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

26.03.2012 15:18
#25 RE: Marginalie zur Meckerecke Antworten

Ich kann dem geschätzten Zettel nur zustimmen, in jedem Punkt seines Artikels.
Ist auch nicht das erste Mal wenn's um's Eingemachte geht. Konservativ hin oder her.

Viele Grüße, Erling Plaethe

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