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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 55 Antworten
und wurde 8.527 mal aufgerufen
 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Seiten 1 | 2 | 3
Noricus Offline



Beiträge: 2.362

17.03.2014 18:27
#26 RE: Zitat des Tages: Der verklärte Blick auf die DDR Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #21

Zitat
Die Unzulänglichkeit des Arguments, in der DDR sei ja nicht alles schlecht gewesen ...

Dieses "es war ja nicht alles schlecht" ist ja schon eine typische Strohmann-Argumentation.
Denn eigentlich gibt es wohl niemand der ernsthaft behauptet, es wäre in der DDR wirklich alles schlecht gewesen. Sondern es gab natürlich nette Menschen, lustige Feiern, schöne Urlaube und so weiter.

Präzise müßte es heißen: Es war fast alles schlecht, was die SED zu verantworten hatte. Und was gut war zu DDR-Zeiten, das haben die dort lebenden Menschen nicht wegen, sondern trotz der Diktatur hinbekommen.




Sehr schön gesagt, lieber R.A.

Ulrich Elkmann Online




Beiträge: 14.423

17.03.2014 18:36
#27 RE: Zitat des Tages: Der verklärte Blick auf die DDR Antworten

Man sollte nicht übersehen, daß die "relative Kommodität" der DDR. d.h. der mit Abstand höchste Lebensstandard im Warschauer Pakt, ein Facharbeiterbonus war. Für den gesamten Ostblock war die DDR der Gesamtlieferant von Elektronik, Feinmechanik, Qualitätsoptik - fürs Grobmechanische waren auch Polen & die CSSR zuständig; letztere zudem für die eher seltenen Bodenschätze; Polen zudem für Landwirtschaftsprodukte im leicht gehobeneren Bereich (für RealSoz-Verhältnisse). Robotron hatte im Ostblock ein Alleinstellungsmerkmal; Jena-Optik ditto. (Das war auch der Grund, warum von all der groß austrompeteten Hightech auf dem heimischen Markt nix ankam: das ging entweder nach Osten oder in den Export zur Devisenbeschaffung).

PS: Für Papier galt das übrigens auch. Wenn man 1x eine beliebige DDR-Ausgabe neben die entsprechende russische Ausgabe - die Deutschen Klassiker bei Aufbau neben jede Puschkin- oder Tolstoi-Ausgabe; oder den Zauberer der Smaragdenstadt neben Волшебник* Изумрудного города legt, ist das Ergebnis schlagend. (* Für Nicht-Putin-Schutzbefohlene: das heißt wolschebnik, nicht Bolschewik .]

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

17.03.2014 19:01
#28 RE: Zitat des Tages: Der verklärte Blick auf die DDR Antworten

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #22
Die "sozialen Wohltaten" als Ruhigstellung des Proletariats wurden hauptsächlich von Marcuse propagiert, ...

Sicher, die These war schon älter. Aber der Dreh, die Existenz der DDR als "sozialistischer Alternative" und der "Systemwettbewerb" hätten die Kapitalisten von den schlimmsten Auswüchsen abgehalten - das kam m. E. erst nach 1990 auf. Als neues Narrativ im Kampf gegen den "Sozialabbau".

Obwohl es nun wirklich keinen Arbeiter im Westen gegeben hat, der seinen Lebensstandard irgendwie mit den Kollegen in der DDR verglichen hätte.

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

17.03.2014 21:06
#29 RE: Zitat des Tages: Der verklärte Blick auf die DDR Antworten

Zitat von Noricus im Beitrag #26
Zitat von R.A. im Beitrag #21

Zitat
Die Unzulänglichkeit des Arguments, in der DDR sei ja nicht alles schlecht gewesen ...

Dieses "es war ja nicht alles schlecht" ist ja schon eine typische Strohmann-Argumentation.
Denn eigentlich gibt es wohl niemand der ernsthaft behauptet, es wäre in der DDR wirklich alles schlecht gewesen. Sondern es gab natürlich nette Menschen, lustige Feiern, schöne Urlaube und so weiter.

Präzise müßte es heißen: Es war fast alles schlecht, was die SED zu verantworten hatte. Und was gut war zu DDR-Zeiten, das haben die dort lebenden Menschen nicht wegen, sondern trotz der Diktatur hinbekommen.




Sehr schön gesagt, lieber R.A.


Ja, es ist eben wichtig den Pluralismus von Staat und Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Aber in der Diskussion ob und was in der DDR gut war, geht es eben nicht um die Lebensumstände die sich die Menschen selbst schufen.
Es geht darum was der Staat ihnen "Gutes" tat.

Entsprechend werden ja dann auch die "sozialen Errungenschaften"der DDR aufgerechnet.
Eine derartige Bewertung eines Staates wird nach nur einer Kategorie vorgenommen:
Wie sozial(istisch) ist dieser Staat?
Nicht wie wirtschaftlich frei oder wie politisch frei er ist, nicht wie hoch das BIP oder das Durchschnittseinkommen ist.
Und weil den Repräsentanten Bundesrepublik, bis zum heutigen Tag, die Kategorie "sozial" die wichtigste bei der Eigendarstellung ist, können Kommunisten immer wieder bei Vergleichen zwischen DDR und BRD punkten.
Auch dann, wenn sich die "Errungenschaften" als Mittel zum Machterhalt einer Diktatur erweisen.
Auch die Sozialleistungen in der Bundesrepublik werden mit wirtschaftlicher Freiheit erkauft.

Viele Grüße, Erling Plaethe

Am_Rande Offline




Beiträge: 196

17.03.2014 22:43
#30 RE: I beg to differ! Antworten

Sehr verehrter Herr,

Ihren Entschluss in allen Ehren, aber es hat seinen guten Sinn, dass ich Anführungsstriche verwendet habe.



Ich mache mir bestimmt keine Illusionen über die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in der DDR.

Aber auch nicht über die in der Bundesrepublik…



Mit freundlichen Grüßen
Am_Rande

Am_Rande Offline




Beiträge: 196

17.03.2014 22:47
#31 RE: I beg to differ! Antworten

Sehr verehrter „Noricus“,

natürlich muss man differenzieren.

Aber wenn die westdeutsche Intelligenzija vor und nach 1989 wirklich so antisozialistisch gewesen wäre, wäre das Narrativ von der „kommoden Diktatur“, bei der man die „Lebensleistung der Menschen“ dieser „Nischengesellschaft“ unbedingt anerkennen müsse, nie auf so fruchtbaren Boden gefallen.

Und haben Sie ein prominentes Beispiel für einen „desillusionierten Westlinken, der in das nichtlinke Lager gewechselt" ist?
Ich meine die Frage ehrlich.



Denn Ost-Berlin 1953, Ungarn 1956, Prag 1968, Warschau 1981 sollten einem klugen Menschen schon vor 1989 die Augen über das wahre Wesen des Sozialismus geöffnet haben.

Rayson Offline




Beiträge: 2.367

17.03.2014 23:05
#32 RE: I beg to differ! Antworten

Zitat von Am_Rande im Beitrag #31
Und haben Sie ein prominentes Beispiel für einen „desillusionierten Westlinken, der in das nichtlinke Lager gewechselt" ist? Ich meine die Frage ehrlich. Denn Ost-Berlin 1953, Ungarn 1956, Prag 1968, Warschau 1981 sollten einem klugen Menschen schon vor 1989 die Augen über das wahre Wesen des Sozialismus geöffnet haben.
Das ist genau der Punkt. Wer im Westen überhaupt als Linker die Souveränität aufbrachte, sich von der Realität desillusionieren zu lassen, für den war spätestens mit der Niederschlagung des Prager Frühlings der Zeitpunkt dazu gekommen. Wer danach noch dabei blieb, der hatte auch nach 1989 nichts anderes im Kopf, als den eigenen Irrtum weiter tapfer zu verteidigen.

Mir war es im übrigen immer ein Rätsel, wie man einem System Sympathien entgegenbringen konnte, das diejenigen, die ihm den Rücken kehren wollten, einfach abknallte oder von Maschinen zerfetzen ließ. Da brauchte es keine weitere Argumentation.

--
L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat)
Je länger das Dritte Reich tot ist, um so stärker wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen. (Johannes Gross)

AldiOn Offline




Beiträge: 983

17.03.2014 23:48
#33 RE: I beg to differ! Antworten

Zitat von Am_Rande im Beitrag #31
Und haben Sie ein prominentes Beispiel für einen „desillusionierten Westlinken, der in das nichtlinke Lager gewechselt" ist?
Wenn man mit Linken spricht, behaupten die immer wieder, daß die DDR - überhaupt alle Länder des Real Existierenden Sozialismus - gar keine sozialistischen Staaten gewesen seien. Und wenn man dann fragt woran man das erkennen kann, wird darauf verwiesen, daß diese Länder nicht demokratisch waren. Das das ja keinen Einfluß auf die Wirtschaftspolitik hat, wird dann nicht weiter beachtet oder mit komplizierten (=für mich unverständlichen) Konstruktionen weggeführt.

Ich habe den Verdacht, daß es dann doch wieder auf dasselbe hinausläuft.


Zitat von Am_Rande im Beitrag #31
Ich meine die Frage ehrlich.
Das will ich doch hoffen.

Ulrich Elkmann Online




Beiträge: 14.423

18.03.2014 00:28
#34 RE: I beg to differ! Antworten

Zitat von Am_Rande im Beitrag #31
Und haben Sie ein prominentes Beispiel für einen „desillusionierten Westlinken, der in das nichtlinke Lager gewechselt" ist?


Da wird es in der Tat schwierig. Orwell & Koestler haben sich ja auch nach ihrer Desillusion Ende der 30er als links betrachtet, nur nicht länger als Kommunisten. Sperber, Milosz & Kolakowski kamen aus dem Osten & waren wohl nie, außer vielleicht in allererster Nachkriegsbegeisterung, irgendwie links grundiert, außerdem auf katholisches Fundament gegründet. Vargas Llosa hatte immer nur Lateinamerika im Blick; die Anwanzung Castros an Chruschtschow hat ihn aller Illusionen über die Möglichkeit eines gangbaren Sozialismus beraubt. Gerd Koenen war nie richtig Promi. Vielleicht Christopher Hitchens; oder Andre Glucksmann (ob auch andere nouveaux philosophes? BHL dürfte sich wohl noch als links bezeichnen) - womit ein Knackpunkt angezeigt wird, der in Westdeutschland so nicht bestand: CH wie AG kamen ja aus der trotzkistischen Ecke - wie gar nicht wenige im Englischen oder Frankophonen Bereich: & da konnte man Stalin & Erben eben pauschal als Verräter an der Guten Idee verbuchen. Für diese beiden Bereiche, ob nun orthodox oder reformiert, war dann Solschenizyn der Moment, als die Eisdecke der Lebensgewißheit einbrach.

Frankenstein Offline




Beiträge: 891

18.03.2014 00:38
#35 RE: Zitat des Tages: Der verklärte Blick auf die DDR Antworten

Zitat von adder im Beitrag #24
Alle genannten (FR, DE, SE, NO, FI) haben starke sozialistische oder sozialdemokratische Regierungen gehabt. Alle genannten haben einen Sozialstaat, der diesen Begriff tatsächlich auch verdient. Ob man diese Staaten abseits der Sozialpolitik als sozialistisch bezeichnen kann, ist nicht relevant (das kann man nicht). In jedem von ihnen war das Leben besser, selbst auf der untersten Stufe der Gesellschaft, als es in sozialistischen Ländern je gewesen wäre.

Ja sicher, aber das steht in keinerlei Zusammenhang zu dem, was ich geschrieben habe. Keines dieser Länder war zu irgendeinem Zeitpunkt sozialistisch. Die NATO-Mitgliedschaft von FR, DE, NO stand zu keinem Zeitpunkt in Frage und auch SE und FI waren fest in der westlichen Welt verankert.

adder Offline




Beiträge: 1.073

18.03.2014 07:58
#36 RE: Zitat des Tages: Der verklärte Blick auf die DDR Antworten

Zitat von Frankenstein im Beitrag #35
Ja sicher, aber das steht in keinerlei Zusammenhang zu dem, was ich geschrieben habe. Keines dieser Länder war zu irgendeinem Zeitpunkt sozialistisch. Die NATO-Mitgliedschaft von FR, DE, NO stand zu keinem Zeitpunkt in Frage und auch SE und FI waren fest in der westlichen Welt verankert.


Lieber Frankenstein, Sie meinen also eigentlich, dass Sie von allen Ostblockländern und den sozialistischen Diktaturen in Asien und Lateinamerika, Afrika am liebsten in der DDR gelebt hätten, korrekt? Auch da wäre ich mir nicht ganz so sicher, ob nicht der "Vorteil" der DDR ausschließlich im Materiellen lag - höchstwahrscheinlich waren Systemgegner in einigen anderen Staaten auch nicht schlimmer dran und lebte das "wohlwollend neutrale" Volk auch nicht weniger unfrei in der DDR. Pauschal würde mir da sofort wieder die CSSR einfallen (die Vorgänge direkt nach dem Einmarsch der Sowjets mal rausgelassen, obwohl 17.06.1953 in der DDR ja auch...), aber auch Polen.

Sei`s drum. Die Fragestellung ist aber eigentlich uninteressant, da ich in jedem Fall viel lieber nicht in einem dieser Länder gelebt hätte. Nicht nur, dass man in DE, NO, SE und FI viel freier gelebt hat, vielmehr waren auch die Sozialstandards zu jeder Zeit besser als in der DDR. Und damit alleine wäre der Beweis erbracht, dass Kapitalismus und Sozialdemokratie effektiver soziale Misslagen bekämpfen können als Sozialismus es jemals könnte.
Leider haben heute die sogenannten Sozialdemokraten vollkommen vergessen, dass das so ist, und wenden sich vielerorts wieder sozialistischen Positionen zu. Könnte ich entscheiden, wie die Positionen der Regierung aussehen müssen, Tage Erlanders „Der Sinn des Sozialstaates besteht darin, den Menschen zu helfen, und nicht, ihnen die Verantwortung zu nehmen.“ gehörte sicherlich dazu.

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

18.03.2014 19:23
#37 RE: I beg to differ! Antworten

Zitat von Am_Rande im Beitrag #31

Aber wenn die westdeutsche Intelligenzija vor und nach 1989 wirklich so antisozialistisch gewesen wäre, wäre das Narrativ von der „kommoden Diktatur“, bei der man die „Lebensleistung der Menschen“ dieser „Nischengesellschaft“ unbedingt anerkennen müsse, nie auf so fruchtbaren Boden gefallen.


Da haben Sie Recht, lieber Am Rande. Aber ich habe ja auch nicht behauptet, dass die Westlinken vor und nach 1989 antisozialistisch gewesen seien. Wobei wohl der Meinungspluralismus innerhalb der Linken früher größer war als heute, wie man etwa am seinerzeitigen Vorhandensein einer einigermaßen bedeutenden nicht kulturrelativistischen Strömung sehen konnte.

Mein Punkt war, dass das Ende der DDR bzw die Details, die man anlässlich der Aufarbeitung der DDR-Geschichte erfuhr, auf eine nicht ganz unerhebliche Zahl von West-Altlinken desillusionierend wirkten. Anders gesagt: Ich denke, dass vor 1989 viel mehr Menschen an das Narrativ von der kommoden Diktatur glaubten als nach 1989.

Natürlich, und da hat Rayson Recht: Über einen Staat, der fluchtwillige Menschen niederkartätschen lässt, ist alles gesagt. Aber der durchschnittliche Westlinke legte sich das wohl so zurecht, dass es ja auch im Westen tödliche Polizeigewalt gab. Und wenn tödliche Staatsgewalt im Westen systemwidrig war, dann war sie es halt auch im Osten. Bzw wenn zwei dasselbe taten, war das halt auch das Gleiche. Diese Illusion wurde nun durch die Aufarbeitung in den Jahren ab 1989 unhaltbar.

Zitat
Und haben Sie ein prominentes Beispiel für einen „desillusionierten Westlinken, der in das nichtlinke Lager gewechselt" ist?



Ich hatte an einige Persönlichkeiten aus dem als neokonservativ bzw liberal verorteten Publizistenmilieu gedacht, muss aber gestehen, dass es schwierig ist, für deren Abwendung von der Linken das Jahr 1989 als Stunde 0 zu belegen. Aus diesem Text scheint mir aber doch eine gewisse Bedeutung des Mauerfalls für die ideologische Neuausrichtung des Autors Reinhard Mohr herauszulesen zu sein.

Zitat
Denn Ost-Berlin 1953, Ungarn 1956, Prag 1968, Warschau 1981 sollten einem klugen Menschen schon vor 1989 die Augen über das wahre Wesen des Sozialismus geöffnet haben.



Ja, natürlich. Aber in ihrem antikapitalistischen Furor haben wohl viele Linke eine sehr selektive Sicht auf die Dinge gepflegt. Ab 1989 war dies dann für die Intelligenteren bzw Redlicheren nicht mehr möglich.

Am_Rande Offline




Beiträge: 196

19.03.2014 17:31
#38 RE: I beg to differ! Antworten

Sehr verehrter „Noricus“,

vielen Dank für Ihre ausführliche Antwort.

Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich den Autor Reinhard Mohr nicht auf meiner Rechnung gehabt habe.
Ja, dass ich bisher noch nicht einmal etwas von ihm gelesen habe.
Mal schauen, wann ich das nachhole.



Was mir bei dem Thema aber noch eingefallen ist:

Ist es nicht komisch, dass es bei der „Wende 1983“ mit Frau Matthäus-Maier und Herrn Günter Verheugen zwei sehr prominente Personen gegeben hat, die das Lager gewechselt haben; mir aber für die „Wende 1989“ kein Sozialdemokrat oder Grüner einfiele, der einen ähnlichen Schritt getan hätte.

Komisch. Oder eher bezeichnend…?

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

20.03.2014 06:34
#39 RE: I beg to differ! Antworten

Zitat von Am_Rande im Beitrag #38

Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich den Autor Reinhard Mohr nicht auf meiner Rechnung gehabt habe.
Ja, dass ich bisher noch nicht einmal etwas von ihm gelesen habe.
Mal schauen, wann ich das nachhole.


Macht ja nichts, lieber Am Rande. Mir ist Mohr aufgefallen, als er noch für den (gedruckten) SPIEGEL schrieb. Seitdem lese ich seine Stücke, wenn ich ihnen begegne.

Zitat
Ist es nicht komisch, dass es bei der „Wende 1983“ mit Frau Matthäus-Maier und Herrn Günter Verheugen zwei sehr prominente Personen gegeben hat, die das Lager gewechselt haben; mir aber für die „Wende 1989“ kein Sozialdemokrat oder Grüner einfiele, der einen ähnlichen Schritt getan hätte.



Ja, lieber Am Rande, das ist schon bemerkenswert. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Am_Rande Offline




Beiträge: 196

20.03.2014 22:21
#40 Kurze Antwort Antworten

Sehr verehrter „Noricus“,

ich würde nun gerne Blaise Pascal bemühen und schreiben:

„Entschuldigen Sie meine lange Antwort. Aber für eine kurze hatte ich keine Zeit.“

Aber ich habe nicht mal Zeit für eine lange Antwort.



Sie schrieben:

Zitat
Haben Sie eine Erklärung dafür?



Nun, ganz knapp gefasst, hängt das, meiner Meinung nach, mit der Unfähigkeit zum politischen Denken auf der linken Seite zusammen.
Mit der Theorielosigkeit der Linken.

Ich bin wirklich fest davon überzeugt, dass nur der Liberalismus - und vor allem der Klassische Liberalismus - eine solide politische Ideologie darstellt.

Leider sind aber die meisten Lliberalen der Ansicht, der Sozialliberalismus sei dem Klassischen Liberalismus überlegen, er wäre moderner und umfassender.

Daher waren Liberale, wie Frau Matthäus-Maier und Herr Günter Verheugen, sicher davon überzeugt, dass die „Wende 1983“ hin zu einer „wirtschaftsliberalen“ Ausrichtung à la Graf Lambsdorff ein Schritt in die falsche, rückwärtsgewandte Richtung war.
Und dass man in der "linksliberalen" SPD als Liberaler besser aufgehoben wäre.

Nun, die Linken bei der SPD und den Grünen denken gar nicht soweit.

Sie haben es sich in ihrer Theorielosigkeit gemütlich gemacht.
Daher konnten sie bei der „Wende 1989“ bequem denken: „Was hat das mit mir zu tun? So einen Sozialismus wollte ich ja sowieso nicht…“

Just my two cents…

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

21.03.2014 07:03
#41 RE: I beg to differ! Antworten

Zitat von Am_Rande im Beitrag #38


Ist es nicht komisch, dass es bei der „Wende 1983“ mit Frau Matthäus-Maier und Herrn Günter Verheugen zwei sehr prominente Personen gegeben hat, die das Lager gewechselt haben; mir aber für die „Wende 1989“ kein Sozialdemokrat oder Grüner einfiele, der einen ähnlichen Schritt getan hätte.

Komisch. Oder eher bezeichnend…?




Ohne das jetzt genau auf 1989 festlegen zu können, dürfte aber Thomas Schmid (Herausgeber der Tageszeitung "Die Welt") eine dieser gesuchten Personen sein.
Es gibt noch eine ganze Reihe von "Renegaten", nur ist es schwierig ihre endgültige Abkehr auf ein Jahr festzulegen. Aber ich möchte mal behaupten, dass es auf alle einen erheblichen Einfluss hatte.

Viele Grüße, Erling Plaethe

Frankenstein Offline




Beiträge: 891

21.03.2014 09:11
#42 RE: Zitat des Tages: Der verklärte Blick auf die DDR Antworten

Zitat von Am_Rande im Beitrag #40

Zitat
Haben Sie eine Erklärung dafür?


Nun, ganz knapp gefasst, hängt das, meiner Meinung nach, mit der Unfähigkeit zum politischen Denken auf der linken Seite zusammen.
Mit der Theorielosigkeit der Linken.


Es ist wohl eher das ökonomische Analphabetentum.

Man muss sich auch die Frage stellen, warum so viele aufgeweckte, engagierte, empathische, kreative Menschen als Jugendliche im linksradikalen Milieu heimisch sind.

Den Menschen einfach Dummheit und Ignoranz zu unterstellen, griffe jedenfalls zu kurz. Es gibt andere, wichtigere Gründe, dass konservative und liberale Positionen bei vielen Menschen so verhasst sind. Neben der Scheinheiligkeit, Verlogenheit und Arroganz eines grossen Teils der Politiker von Union und FDP sehe ich die Hauptursache im Schulsystem, das Freiheit und Demokratie predigt und dessen Institutionen letztlich bessere Verwahranstalten sind und in den höheren Klassen fast ausschliesslich Lehrinhalte vermittelt, die für den einzelnen Schüler im späteren Leben grösstenteils irrelevant sind. Dadurch verlieren dessen wahrgenommene Repräsentanten an Glaubwürdigkeit und machen die Abneigung gegenüber den Institutionen des demokratischen Rechtsstaats salonfähig.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

21.03.2014 10:04
#43 RE: Zitat des Tages: Der verklärte Blick auf die DDR Antworten

Zitat von Frankenstein im Beitrag #42
Neben der Scheinheiligkeit, Verlogenheit und Arroganz eines grossen Teils der Politiker von Union und FDP sehe ich die Hauptursache im Schulsystem, das Freiheit und Demokratie predigt und dessen Institutionen letztlich bessere Verwahranstalten sind und in den höheren Klassen fast ausschliesslich Lehrinhalte vermittelt, die für den einzelnen Schüler im späteren Leben grösstenteils irrelevant sind. Dadurch verlieren dessen wahrgenommene Repräsentanten an Glaubwürdigkeit und machen die Abneigung gegenüber den Institutionen des demokratischen Rechtsstaats salonfähig.

Da mag viel dran sein. Beispielsweise führe ich meine früh und tief verinnerlichte Abneigung gegen linke Denkweisen u.a. darauf zurück, daß ich in eine stark links orientierte Schule gegangen bin.

Generell scheint mir das Theorem plausibel, daß man, wenn man der jungen Generation etwas von Grund auf verleiden will, es nur zum Schulpflichtfach machen muß. Von daher bin ich hinsichtlich der Wirkung der neuen Vorstöße im Sexualkundeunterricht in BW sehr optimistisch.

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.007

21.03.2014 10:23
#44 RE: Zitat des Tages: Der verklärte Blick auf die DDR Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #43
Generell scheint mir das Theorem plausibel, daß man, wenn man der jungen Generation etwas von Grund auf verleiden will, es nur zum Schulpflichtfach machen muß. Von daher bin ich hinsichtlich der Wirkung der neuen Vorstöße im Sexualkundeunterricht in BW sehr optimistisch.

Aus persönlicher Erfahrung möchte ich dem widersprechen.

Ich bin mit Metallica, Motorhead und ähnlichem aufgewachsen, während mein Musiklehrer alles dazu tat mir klassische Musik gründlich zu verleiden. So mußten wir zum Beispiel Wagners komplette Ringsaga dreimal durchleiden. Einmal auf Platte, einmal auf Video und einmal im Original mit KLassenfahrt. Wagners Bombastik dreimal in geballten 17 1/2h Gesamtspielzeit. Ich kann mir keine grausamere Therapie vorstellen und einem jugendlichen Rockfan, klassische Musik auf immer zu vergällen.

Heute halte ich Mozart für das größte musikalische Genie welches jemals lebte, liebe Beethovens Musik und mag viele andere klassische Komponisten.

Schönheit und Wahrheit setzt sich durch, wenn man sich darauf einläßt. Will man Menschen von Schönheit und Wahrheit fernhalten, muß man ihnen vergällen sich auf Unbekanntes einzulassen. Das wäre mein Theorem. Wahrscheinlich auch das der grünen Zeitgeister, wenn man sieht was sie alles ächten in der Hoffnung, dass sich die Menschen davon fern halten.

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

21.03.2014 11:44
#45 RE: Zitat des Tages: Der verklärte Blick auf die DDR Antworten

Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #44
Zitat von Fluminist im Beitrag #43
Generell scheint mir das Theorem plausibel, daß man, wenn man der jungen Generation etwas von Grund auf verleiden will, es nur zum Schulpflichtfach machen muß. Von daher bin ich hinsichtlich der Wirkung der neuen Vorstöße im Sexualkundeunterricht in BW sehr optimistisch.

Aus persönlicher Erfahrung möchte ich dem widersprechen.

Ich bin mit Metallica, Motorhead und ähnlichem aufgewachsen, während mein Musiklehrer alles dazu tat mir klassische Musik gründlich zu verleiden. So mußten wir zum Beispiel Wagners komplette Ringsaga dreimal durchleiden. Einmal auf Platte, einmal auf Video und einmal im Original mit KLassenfahrt. Wagners Bombastik dreimal in geballten 17 1/2h Gesamtspielzeit. Ich kann mir keine grausamere Therapie vorstellen und einem jugendlichen Rockfan, klassische Musik auf immer zu vergällen.

Heute halte ich Mozart für das größte musikalische Genie welches jemals lebte, liebe Beethovens Musik und mag viele andere klassische Komponisten.

Schönheit und Wahrheit setzt sich durch, wenn man sich darauf einläßt. Will man Menschen von Schönheit und Wahrheit fernhalten, muß man ihnen vergällen sich auf Unbekanntes einzulassen. Das wäre mein Theorem. Wahrscheinlich auch das der grünen Zeitgeister, wenn man sieht was sie alles ächten in der Hoffnung, dass sich die Menschen davon fern halten.


Lieber nachdenken_schmerzt_nicht, Sie haben recht, ich muß meinen Satz präzisieren. Gemeint hatte ich "zunächst einmal von Grund auf verleiden"; späteres Dazulernen ist ja nicht ausgeschlossen. Aus Ihrer Äußerung entnehme ich auch, daß Sie noch nicht wirklich zum Wagnerianer geworden sind. Daß Wagner und Mozart in dieselbe Abteilung "klassische Musik" geworfen werden, ist ja nur eine Äußerlichkeit. Andererseits hat z.B. metal eine große Ähnlichkeit zur Barockmusik (basso ostinato, Terrassendynamik (allerdings mit Vorliebe für die obere Terrasse), kleines Ensemble, Spiel mit Rhythmik und Harmonik).

Ihrem Theorem stimme ich zu. Das größte Problem in den Schulen ist wohl die Fixation auf gewisse Inhalte, anstatt auf die allgemeinen Methoden des Wissenserwerbs (die man natürlich an Inhalten schult). Das muß ich meiner linken Schule damals zugute halten, daß man implizit durch die Dürftigkeit des Lehrstoffs und auch explizit zum Selberentdecken und Selberlernen motiviert wurde. Daß die Welt viel größer und vielfältiger ist als das, was in einem Lehrbuch steht, lernt man an einer schlampigen Schule wahrscheinlich sogar schneller und leichter als an einer perfekt durchorganisierten.

Im Hinblick auf mein Theorem bin ich meinen damaligen Deutschlehrern noch immer dankbar, daß sie nur Böll, Brecht u. dgl. durchnahmen und die wirklichen Perlen der deutschen Literatur zum späteren frischen Selbstfinden aufsparten.

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.007

21.03.2014 12:16
#46 RE: Zitat des Tages: Der verklärte Blick auf die DDR Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #45
Aus Ihrer Äußerung entnehme ich auch, daß Sie noch nicht wirklich zum Wagnerianer geworden sind.
Lieber Fluminist, da haben Sie in der Tat Recht. Beim Schreiben kam mir auch der Gedanke, aber er passte nicht so schön in mein Theorem . Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder man kann tatsächlich durch "Überfluten" auch "vergällen" oder Wagner ist einfach nicht schön. Mir zumindest sind es einfach viel zu viele Noten... und das nicht etwa, weil ich von der Fülle der Eindrücke bestürzt wäre, sondern von dem zur Schau getragenen Pathos.

Zitat von Fluminist im Beitrag #45
Das größte Problem in den Schulen ist wohl die Fixation auf gewisse Inhalte, anstatt auf die allgemeinen Methoden des Wissenserwerbs
Absolut!
Dem Wesen nach sollte Schule nur Neugier wecken (die man natürlich an Inhalten schult ;-)). Deutsche Schulen gleichen aber vielmehr Indoktriantionsanstalten des korrekten Denkens.

Zitat von Fluminist im Beitrag #45
Das muß ich meiner linken Schule damals zugute halten
Kennen sie "nichtlinke" Schulen, oder lassen Sie mich so fragen: Schulen mit nicht überwiegend links verorteten Lehrkräften?

Zitat von Fluminist im Beitrag #45
Im Hinblick auf mein Theorem bin ich meinen damaligen Deutschlehrern noch immer dankbar, daß sie nur Böll, Brecht u. dgl. durchnahmen und die wirklichen Perlen der deutschen Literatur zum späteren frischen Selbstfinden aufsparten.
Auch hier die Frage: Sind vielleicht Brecht und Böll eher überschätzte Zeitgeistapologenten, denn große Literaten oder sind es doch Genies die einem durch "Überfluten" vergällt wurden?

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

21.03.2014 12:39
#47 RE: Zitat des Tages: Der verklärte Blick auf die DDR Antworten

Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #46
Zitat von Fluminist im Beitrag #45
Das muß ich meiner linken Schule damals zugute halten
Kennen sie "nichtlinke" Schulen, oder lassen Sie mich so fragen: Schulen mit nicht überwiegend links verorteten Lehrkräften?

Aus eigener Erfahrung nicht, deshalb kam es mir zunächst ganz natürlich vor. Aber später an der Universität sah ich an einigen meiner Kommilitonen, daß es auch anders geht. Ich war überrascht bis schockiert, mit welch wohlsortierten Schubfächerhirnen manche aus ihrer Schulzeit hervorgingen; mit den extremeren Fällen habe ich dann auch keinen gemeinsamen intellektuellen Nenner gefunden (allerdings vor allem, wenn die Schubfächer wieder hauptsächlich auf links sortiert waren - das kam wohl eher bei Absolventen einer konservativ ausgerichteten Schule vor: es ist eben wohl sehr prägend, gegen welche Institution man seine Teenage Rebellion erlebt.)
Aber das liegt jetzt schon 3, 4 Jahrzehnte zurück und hat daher wenig bis gar nichts mit der Situation an den Schulen heute zu tun.

Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #46
Zitat von Fluminist im Beitrag #45
Im Hinblick auf mein Theorem bin ich meinen damaligen Deutschlehrern noch immer dankbar, daß sie nur Böll, Brecht u. dgl. durchnahmen und die wirklichen Perlen der deutschen Literatur zum späteren frischen Selbstfinden aufsparten.
Auch hier die Frage: Sind vielleicht Brecht und Böll eher überschätzte Zeitgeistapologenten, denn große Literaten oder sind es doch Genies die einem durch "Überfluten" vergällt wurden?

Da ich an mein Theorem glaube, bin ich nicht qualifiziert diese Frage zu beantworten. Mit irgendwelchem Genuß habe ich sie nie lesen können. Für mich persönlich sind sie einfach nicht in der Kategorie von z.B. Arno Schmidt.

adder Offline




Beiträge: 1.073

21.03.2014 12:46
#48 RE: I beg to differ! Antworten

Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #46
Zitat von Fluminist im Beitrag #45
Aus Ihrer Äußerung entnehme ich auch, daß Sie noch nicht wirklich zum Wagnerianer geworden sind.
Lieber Fluminist, da haben Sie in der Tat Recht. Beim Schreiben kam mir auch der Gedanke, aber er passte nicht so schön in mein Theorem . Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder man kann tatsächlich durch "Überfluten" auch "vergällen" oder Wagner ist einfach nicht schön. Mir zumindest sind es einfach viel zu viele Noten... und das nicht etwa, weil ich von der Fülle der Eindrücke bestürzt wäre, sondern von dem zur Schau getragenen Pathos.


Zwei Dinge tragen zu Ihrer Abneigung bei: 1) natürlich wurde Ihnen Wagner (ganz im Gegensatz zu Mozart) "vergällt" und 2) Sie haben einen unvollkommenen Einblick in Wagner bekommen.
Wagner besteht aus dem Ring, den Gralsopern Parsifal und Lohengrin (im Weiteren Sinn auch Tristan und Isolde) und den durchaus bedeutenden kleineren Opern Tannhäuser und Der Fliegende Holländer. Gerade letztere sind vollkommen anders als der Ring - aber genauso gut.
Ach ja - und dann gibt es da noch die Schandflecke wie "Die Meistersinger" - aber darauf verzichte ich gerne. Ich liebe die beiden "kleineren" - und ich bin durchaus bereit, in den Ring oder die Gralsopern zu gehen, falls die Inszenierung stimmt, aber nach Bayreuth in die Meistersinger? Nie im Leben.
Mir wurde im Übrigen in der Schule der Mozart vergällt. Was haben wir nicht alles Mozart rauf und runter. Auch viel der Rockmusik - inklusive Punk und Schlager - haben wir behandelt, und heute höre ich Wagner (der absolut verpönt war), Heavy und sonstiges Metal (Pagan, Viking, Battle, Power) - alles war unserem Internatsleiter und den Musiklehrern so was von "Teufelszeug"...

Zitat
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Zitat von Fluminist im Beitrag #45
Das größte Problem in den Schulen ist wohl die Fixation auf gewisse Inhalte, anstatt auf die allgemeinen Methoden des Wissenserwerbs
Absolut!
Dem Wesen nach sollte Schule nur Neugier wecken (die man natürlich an Inhalten schult ;-)). Deutsche Schulen gleichen aber vielmehr Indoktriantionsanstalten des korrekten Denkens.



Abgesehen vom grauenvollen Musikunterricht (den ich folglicherweise auch schnellstmöglich hinter mir gelassen habe), war mein bischöflich-münsteranisches Gymnasium da wohl eine absolute Ausnahme. Unter unserem Schulleiter hatte ich einen Deutschunterricht, in dem wir statt der üblichen "Textanalyse" von Gedichten oder Prosa auch das genaue Gegenteil machen durften - nämlich selber schreiben, was passend war. Dort haben wir auch so abseitiges wie August Stramm oder Bachmann gelesen - und nicht wie in einer anderen Klasse üblich Salinger (im Deutschunterricht?!). Im Religionsunterricht wurde tatsächlich über Religionen geredet - was mich aber offenbar so beeinflusste, dass ich jetzt bekennender Heide bin

Zitat
Zitat von Fluminist im Beitrag #45
Das muß ich meiner linken Schule damals zugute halten
Kennen sie "nichtlinke" Schulen, oder lassen Sie mich so fragen: Schulen mit nicht überwiegend links verorteten Lehrkräften?



siehe oben: wir hatten gefühlt genausoviele CDU-Mitglieder wie SPD-Mitglieder. Allerdings war der Anteil an Parteimitgliedern gefühlt eben auch sehr hoch. Man bekam aber keine schlechteren Noten oder Ärger, wenn man bestimmte Präferenzen hatte.

Zitat
Zitat von Fluminist im Beitrag #45
Im Hinblick auf mein Theorem bin ich meinen damaligen Deutschlehrern noch immer dankbar, daß sie nur Böll, Brecht u. dgl. durchnahmen und die wirklichen Perlen der deutschen Literatur zum späteren frischen Selbstfinden aufsparten.
Auch hier die Frage: Sind vielleicht Brecht und Böll eher überschätzte Zeitgeistapologenten, denn große Literaten oder sind es doch Genies die einem durch "Überfluten" vergällt wurden?

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Auch hier würde ich "beides" sagen. Natürlich gehört in die Schule das eine oder andere an Prosa oder Poetik. Wir haben aber eben auch Theater gehabt - und sogar Oper im Deutschunterricht. Max Frisch, Böll, Brecht, Mozart, Goethe, Mann (Heinrich und Thomas). Auch nicht schlecht. Frisch und Heinrich Mann mag ich immer noch. Böll und Brecht waren nie meins. Thomas Mann ist mir zu lang. Im Englisch-Unterricht haben wir sogar Tolkien gelesen - und den habe ich mir als Erwachsener dann auch wieder in Englisch gegönnt.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

21.03.2014 13:00
#49 RE: I beg to differ! Antworten

Zitat von adder im Beitrag #48
Zwei Dinge tragen zu Ihrer Abneigung bei: 1) natürlich wurde Ihnen Wagner (ganz im Gegensatz zu Mozart) "vergällt" und 2) Sie haben einen unvollkommenen Einblick in Wagner bekommen.
Wagner besteht aus dem Ring, den Gralsopern Parsifal und Lohengrin (im Weiteren Sinn auch Tristan und Isolde) und den durchaus bedeutenden kleineren Opern Tannhäuser und Der Fliegende Holländer. Gerade letztere sind vollkommen anders als der Ring - aber genauso gut.
Ach ja - und dann gibt es da noch die Schandflecke wie "Die Meistersinger" - aber darauf verzichte ich gerne. Ich liebe die beiden "kleineren" - und ich bin durchaus bereit, in den Ring oder die Gralsopern zu gehen, falls die Inszenierung stimmt, aber nach Bayreuth in die Meistersinger? Nie im Leben.

Bayreuth ist da auch nicht die richtige Adresse . Auch bei den Meistersingern kommt es sehr auf die Inszenierung und auf die Qualität des Hans Sachs (der gefühlt 80% der Singarbeit macht) an. Vor ein paar Jahren habe ich eine phantastische Aufführung der Welsh National Opera mit Bryn Terfel gesehen (und vor allem gehört), die es unerwarteterweise sogar geschafft hat kurzweilig zu sein, so daß das halbe Dutzend Stunden wie im Fluge verging.

Sie haben recht, ein Kenner von Wagner, der diesen einem anderen näherbringen will, setzt ihm nicht den Ring vor, sondern den Fliegenden Holländer oder Tannhäuser. Schon Lohengrin erfordert einen Vorschuß von Enthusiasmus.
Ich habe wirklich nichts gegen Wagner allgemein, aber der Ring geht mir auch auf die Nerven. Das Rheingold ist gut und schön (und relativ kurz), aber danach ist für mich Schluß.

Ulrich Elkmann Online




Beiträge: 14.423

21.03.2014 13:50
#50 RE: I beg to differ! Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #49
Auch bei den Meistersingern kommt es sehr auf die Inszenierung und auf die Qualität des Hans Sachs (der gefühlt 80% der Singarbeit macht) an.


Hmmm...

Zitat FAZ 03.01.1996, Nr. 2, S. 23: "Und es leuchten die Titel - James Levine ist bekehrt: Auch die Met bietet nun Oper in Simultanübersetzung"
______________________
In der Met hat jeder Zuschauer seinen eigenen Minibildschirm, eingebaut in eine Leiste, die mit dem hausüblichen weinroten Samt bezogen und auf der Rückenlehne des Vordermanns angebracht ist. Logen sind mit freischwingenden Armaturen ausgestattet, Stehplatzbesuchern leuchtet das dramatische Grundwissen aus den Armstützen entgegen. Die Neuheit war der Firma Metropolitan Opera beinahe drei Millionen Dollar wert und wurde, mit einem Copyright versehen, auf den Namen Met Titles getauft.
...
Titlers titeln bar jeglicher poetischer Ambition. Was Hans Sachs bestätigen mag. Wenn er über den Wahn monologisiert, informiert sein computerisierter Übersetzer: "madness, madness, everywhere madness". "Die Meistersinger" enthüllen noch ein anderes Problem: das der Ensembles. Da kommt es vor, daß der Bildschirm einer Figur den Vorzug gibt, doppelspaltig Bericht erstattet oder sich völlig verdüstert. Nicht unbedingt ein Unglück. Plötzlich alles zu verstehen könnte manch unvorbereitetem Besucher die Laune verderben, zumal im Fall "Meistersinger". Die titlers nähern sich den heiklen Stellen mit unterschiedlichen Strategien. Sachs darf seiner Vorliebe für alles, was "German and true" sein soll, originalgetreu Ausdruck verleihen. Wo er hingegen von "falscher wälscher Majestät" orakelt und "wälschen Dunst mit wälschem Tand" tadelt, will die Met lediglich "evil influences" erkennen.
______________________

(Das elektrische Archiv der FAZ hat übrigens den Autor - if memory serves: Jordan Meijas - glatt unterschlagen.)

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