Zitat von Johanes im Beitrag #75Das ist ein sehr schönes Beispiel.
Wenn auch wohl eher umgekehrt, als oft gemeint wird. Genau diese Versuchsanordnung ist seit ~20 Jahren in der empirischen Psychologie eins der Felder zur Erhebung empirisch belastbarer Meßreihen. Die Versuchsanordnung ist simpel, die Variablenzahl maximal herabgesetzt. (Man zeigt Bildserien auf einem Computermonitor & zeichnet per Webcam die sakkadischen Augenbewegungen nach, plus Pupillenerweiterung.) Das hat den Vorteil, daß hier der Bildinhalt & das Erfassungsmuster 1:1 korreliert werden können, also auch die Wahrscheinlichkeit von Störfaktoren gleich null ist; zudem kann der Proband DAS nun gar nicht kontrollieren (das Gleiche ist beim Polygraphen & EEG der Fall). Es ist natürlich einer der ältesten Hüte solcher Tests (seit ca. 1900), die Aufmerksamkeit der Probanden abzulenken. (Eines der Ergebnisse, hauptsächlich von Binet, zu seinem Untersuchungen über die Unsicherheit von Zeugenaussagen. Eins dieser Experimente, das einien einigermaßen legendären Status wg. seiner Skurrilität erreicht hat, findet sich bei S. Jaffa: Ein psychologisches Experiment im kriminalistischen Seminar der Universität Berlin. Beiträge zur Psychologie der Aussage. Hg. von Stern (1), 79-99. 1903. beschrieben: der "Mordversuch im Hörsaal"). Zudem kam man große Meßreihen erheben, so daß individuelle Facetten ausgebügelt werden. Als trivialste Erkenntnise filtern sich dann die Schrecksekunde (1/3 Sek.) & die berüchigten 7 Sekunden (zur ersten Einschätzung eines unbekannten Gegenübers) heraus. Natürlich wird sich jeder brauchbare Empiriker hüten, aus solchen Mosaiksteinchen auf komplexe Situationen hochzurechnen, aber man muß ihnen Rechnung tragen.
Zitat Ist der freie Wille nicht eine der Grundpositionen des Liberalismus und läuft diese Grundposition nicht den methodischen Voraussetzungen der Sozialwissenschaften entgegen?
Das sieht zunächst so aus. Mir scheint aber, das ist unter einen Hut zu bekommen. Zum einen bestehe ich auf weitgehend liberalen Positionen, zum anderen streite ich das Vorhandensein eines freien Willens, ziemlich kategorisch, rundweg ab. Das scheinbare Paradoxon wird aufgelöst durch das Modell des neuronalen Darwinismus, wie ihn zB Gerald Edelman oder später Francis Crick vertreten haben: danach werden komplexe Anregungsmuster in den zuständigen Hirnrindenbereichen ein Leben lang auf Effizienz, auf Erfolg oder Strafe hin, optimiert & entsprechend angepasst; die Aktivierung oder Hemmung solcher Areale durch die umliegenden Bereiche kommt als Steuerfunktion hinzu (für einzelne Synapsen ist dies das Einzige, was man als Schöler aus dem Biologieunterricht mitnimmt); stören & als Irritant tritt das über die Schwelle der Aufmerksamkeit, wenn das neuronale Netz wie Buridans Esel zwischen mehreren Reaktionsoptionen aporetisch festsitzt. Die Illusion, hier aus freiem Willen eine Entscheidung: rote Pille? blaue Pille? getroffen zu haben, wird nachträglich auf der "Benutzeroberfläche" erzeugt, die uns als "Bewußtsein", als "ich", als "Beobachter im Kopf" geläufig ist. Nota bene: zum einen ist die Illusion, dort im Sattel zu sitzen, unabdingbar für das Funktionieren des Gesamtsystems "Geist/Hirn" (& 95% aller Reaktionen laufen weit unter der dort anfälligen "Sichtbarkeit" ab; v.a, siehe oben, die meisten "Entscheidungen", auf die sich die Philosophischen Gedankenexperimente kaprizieren); zum andern die die "Freiheit", die Bandbreite der Reaktionen genauso groß wie in dem Fall, wenn ein freilaufender Wille nach Abprüfung aller Optionen ad libitum zu dem oder jenem Handeln entschlösse.
Von Gregory Bateson gibt es die Wendung "a difference that makes a difference"; Luhmann hat das dann später übernommen. In diesem Sinn läuft meine Haltung, philosophisch gesehen, auf eine "agnostische" hinaus: Es macht keinerlei Unterschied, ob ich nun einen freien Willen habe oder mir dies nur, zu meinem Besten, beständig einbilde.
Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #76Zudem kam man große Meßreihen erheben, so daß individuelle Facetten ausgebügelt werden.
Da haben Sie nicht ganz verstanden, was ich gemeint hatte. Das grundsätzliche Problem ist ja, ob das Experiment repräsentativ für die Wirklichkeit ist. Ein aktuelles Beispiel: Nehmen wir die Stickoxidemissionen eines Kfz. Im Experiment sehen die Messungen anders aus als in der Wirklichkeit, sofern "das Auto merkt", daß es sich nicht im Experiment befindet. Oder nehmen wir als anderes Beispiel das Gesetz der kinetischen Energie. Versuchsaufbauten für den Schulunterreicht erreichen nur geringen Geschwindigkeiten eines Körpers. Für die Erklärung der von Leibniz' vis viva reicht das: Lokal hängt die kinetische Energie linear vom Quadrat der Geschwindigkeit ab. Erst bei sehr hohen Geschwindigkeiten würde man sehen, daß man so die kinetische Energie unterschätzt. Solche Probleme würden Sie auch bei solchen Psycho-Experimenten haben. Analog zum Autoexperiment würden Sie wohl versuchen den Versuchsaufbau so zu kontrollieren und einzuschränken, daß Abschaltmechanismen nicht möglich sind, andererseits analog zum Experiment über die kinetische Energie so uneingeschränkt, daß Meßbereiche mit völlig anderem Verhalten auch abgedeckt sind. Das ist eine Zwickmühle. Wie soll man das lösen?
Anders gesagt: Nehmen wir an, Sie haben eine Meßreihe von n Individuen: X_1, ..., X_i. Sie intererssieren sich für den Mittelwert von Y_i = X_i + Z_i. Z_i ist der (aus Sicht des Experiments zufällige) Einfluß des freien Willens. Sie können ihn nicht beobachten. Wie kommen Sie nun an Y_i heran? Da helfen auch große Stichprobenumfänge nichts.
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #76Nota bene: zum einen ist die Illusion, dort im Sattel zu sitzen, unabdingbar für das Funktionieren des Gesamtsystems "Geist/Hirn" (& 95% aller Reaktionen laufen weit unter der dort anfälligen "Sichtbarkeit" ab; v.a, siehe oben, die meisten "Entscheidungen", auf die sich die Philosophischen Gedankenexperimente kaprizieren); zum andern die die "Freiheit", die Bandbreite der Reaktionen genauso groß wie in dem Fall, wenn ein freilaufender Wille nach Abprüfung aller Optionen ad libitum zu dem oder jenem Handeln entschlösse.
Dann erkennen Sie das Vorhandensein des Freien Willens durchaus an. Zwar als Illusion, aber doch als eine, die für das Funktionieren des Gesamtsystems --und hier sage ich Geist/Hirn/soziale Interaktion-- unabdingbar ist (so ähnlich wie die Illusion, man würde vom eigenen Ehepartner geliebt ). Die Frage nach dem Freien Willen ist ja nicht, ob man lückenlose Erklärungen für menschliches Verhalten hat, sondern ob es überhaupt vernünftig denkbar ist, eigenständig zu wollen. Für Luther, Mohammed oder Marx war der Gedanke schon völlig unmöglich.
Zitat von Johanes im Beitrag #75Ist der freie Wille nicht eine der Grundpositionen des Liberalismus und läuft diese Grundposition nicht den methodischen Voraussetzungen der Sozialwissenschaften entgegen?
Ja. Das ist aber kein Problem, sondern der Vorzug des Liberalismus. Der Liberalismus wurde ja nie als "wissenschaftliche Weltanschauung" verkauft. Für die wissenschaftlichen Weltanschuungen war es sehr wichtig, daß die Menschen in ihrem Verhalten durch ihre Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht, einer Rasse, durch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale oder Präferenzen oder durch eine nichtwissenschaftliche Weltanschauung sehr gut determiniert seien. Entsprechend muß man einschüchtern, umerziehen oder vergasen, damit hinterher als Ergebnis die zwangsläufige Gesellschaft herauskommt. Die Anhänger wissenschaftlicher Weltanschauungen verstehen sich ja nur als Agenten einer angeblich zwangsläufigen "wissenschaftlich erkannten" Entwicklung; sei es einer Entwicklung zur kommunistischen oder rassereinen oder sonsteiner Gesellschaft.
Was jetzt die Soziologie angeht: Diese Disziplin hatte ursprünglich das Programm, "vernünfig" ohne religiöse Voreingenommenheit die Gesetzlichkeiten des sozialen Lebens zu erforschen, zum sie zu verstehen und zu lenken. Die besten Kunden so einer Disziplin sind natürlich die Anhänger "wissenschaftlicher Weltanschauungen" über die zwangsläufige Gesellschaft. Für Liberale sind fragen nach der Gesellschaft hingegen nicht so interessant, weil das einzige, was liberal geregelt werden kann, das "lokale" Verhältnis zum jeweiligen Gegenüber ist. Es ist für Liberale unwichtig, ob die anderen ihre Religion rechtgläubig leben oder ob sie in die zwangsläufige Zielgesellschaft der Evolution passen würden.
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #76Das hat den Vorteil, daß hier der Bildinhalt & das Erfassungsmuster 1:1 korreliert werden können, also auch die Wahrscheinlichkeit von Störfaktoren gleich null ist; zudem kann der Proband DAS nun gar nicht kontrollieren (das Gleiche ist beim Polygraphen & EEG der Fall).
Bei einen Polygraphen ("Lügendetektor") ist doch grade der Witz, dass ein geübter Proband ihn durchaus austricksen kann.
Zitat Zum einen bestehe ich auf weitgehend liberalen Positionen, zum anderen streite ich das Vorhandensein eines freien Willens, ziemlich kategorisch, rundweg ab.
Ist es dann nicht ein Problem, dass das Individuum letztlich gar nicht für die Wahl die er getroffen hat verantwortlich ist, weil diese Wahl vollständig durch die Anlage + Lernbiographie des Individuums erklärbar ist?
Was spricht dann gegen z. B. den ein oder anderen nudge in die richtige Richtung? Abgesehn davon, dass man oft unterschiedlicher Meinung darüber ist, welche Richtung denn die Richtige ist.
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #53Der Mensch ist der Teil des Universums, der es diesem ermöglicht, sich selbst zu erkennen und über sich selbst nachzudenken.
Als ich das formuliert habe, hatte ich keinerlei Ahnung von den vorhergehenden Formulierungen dieses Gedankens: - Carl Sagan, "Cosmos" (1980): "We are a way for the cosmos to know itself." ... - Julian Huxley, "Transhumanism" (in: New Bottles for New Wine, London: Chatto and Windus, 1957):
Die Idee ist älter:
Zitat I am the eye with which the Universe / Beholds itself...
Percy Bysshe Shelley, "Hymn of Apollo". Posthumous Poems, hg. von Mary Shelley. 1824.
Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire
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