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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 65 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
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R.A. Offline



Beiträge: 8.171

01.09.2014 16:10
#51 RE: Das Land ohne Außenpolitik Antworten

Zitat von Rayson im Beitrag #49
und zwar ist mir die deutsche Außenpolitik viel eher Ausfluss von etwas, das sie nicht will: deutsche Interessen vertreten.

Darüber habe ich jetzt einige Tage nachgedacht.

Aus Sicht der binnenorientierten Deutschen gibt es wohl gar keinen Unterschied zwischen "das Rechtssystem wahren" und "deutsche Interessen vertreten". Weswegen letztere auch gar nicht explizit formuliert werden müssen.
Dem braven Deutschen genügt es, wenn die internationalen Beziehungen genauso laufen, wie er das von Deutschland her kennt. Er will gar keine Extrawurst.

Braucht er auch gar nicht: Denn zufällig ist ein Umfeld, das nach deutschen Vorstellungen konstruiert wird, auch günstig für deutsche Interessen.
Mal als plattes (und unrealistisches) Beispiel: Es ist völlig logisch und gerechtfertigt und weltweit einzig vernünftige Lösung, daß privater Waffenbesitz verboten ist, ein Tempolimit aber die Freiheit von Menschen unzulässig einschränken würde. Das kann man moralisch vertreten völlig ohne Rücksicht darauf, daß das letztere Verbot Exportchancen deutscher Firmen schaden würde, das erstere dagegen nicht.

Rayson Offline




Beiträge: 2.367

01.09.2014 19:23
#52 RE: Das Land ohne Außenpolitik Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #51
Braucht er auch gar nicht: Denn zufällig ist ein Umfeld, das nach deutschen Vorstellungen konstruiert wird, auch günstig für deutsche Interessen.
Gut, dass zwingt mich, meine Definition zu erweitern bzw. einzugrenzen: Exportinteressen gelten in Deutschland durchaus als legitim. Aber dann ist auch Schluss.

--
L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat)
Je länger das Dritte Reich tot ist, um so stärker wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen. (Johannes Gross)

Florian Offline



Beiträge: 3.163

01.09.2014 20:20
#53 RE: Das Land ohne Außenpolitik Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #51
Zitat von Rayson im Beitrag #49
und zwar ist mir die deutsche Außenpolitik viel eher Ausfluss von etwas, das sie nicht will: deutsche Interessen vertreten.

Darüber habe ich jetzt einige Tage nachgedacht.

Aus Sicht der binnenorientierten Deutschen gibt es wohl gar keinen Unterschied zwischen "das Rechtssystem wahren" und "deutsche Interessen vertreten". Weswegen letztere auch gar nicht explizit formuliert werden müssen.




Dieser Blickwinkel gefällt mir sehr gut.

Es ist ja durchaus nicht so, dass Deutschland keine eigenen Interessen verfolgen würde. Aber es ist für die deutsche Sicht auf Außenpolitik wahnsinnig wichtig, dass man dies mit einer legalistischen Aura umgeben kann.

Im Themenkreis "Schwarzgeld" ist Deutschland z.B. mit extrem harten Bandagen gegen die Schweiz vorgegangen. Nicht nur, dass man die Schweiz mit geheimdienstlichen Methoden unterwandert hat. Man hat das auch noch mit brutaler Rhetorik garniert (siehe z.B. Steinbrücks "Kavallerie").
Eindeutig ging es da um die Durchsetzung nationaler deutscher Interessen.
Aber es war für die innenpolitische Diskussion in Deutschland sehr wichtig, dass man sich dabei auf der moralisch und juristisch richtigen Seite sehen konnte.
Nach dieser Lesart setzt man da also keine nationalen Interessen durch, sondern man verhalf dem Recht zur Durchsetzung.

Auch Deutschlands Position in der Euro-Krise war durchaus an nationalen Interessen orientiert.
Kein Politiker käme aber auf die Idee, dies so zu formulieren.
Sondern es wird sich dabei auf das formaljuristische Argument mit den Maastrichtkriterien und dem Euro-Vertragswerkt zurückgezogen.
Deuschland verteidigt nach dieser Lesart also nur Recht und Gesetz.

Oder nehmen wir den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan:
Wenn dieser in der öffentlichen Diskussion verteidigt wurde, dann nie mit den (eigentlich dahinter stehenden, durchaus legitimen) nationalen Interessen.
Sondern etwa mit dem Argument, man müsse die Menschenrechte afghanischer Mädchen auf Schulbesuch durchsetzen.


Das Problem an dieser deutschen Geisteshaltung ist eigentlich nur folgendes:
es erschwert eine ehrliche politische Diskussion in Deutschland.
Es ist z.B. durchaus möglich, Bundeswehrsoldaten nach Afghanistan zu schicken (sofern man ein geeignetes moralisch-juristisches Narrativ dafür findet).
Aber weil die eigentlich dahinter stehenden nationalen Interessen aus polit-hygienischen Gründen nie offen genannt werden dürfen, kann auch nie eine Evaluation der Außenpolitik stattfinden.

Im Falle Afghanistan war z.B. vorgeschobene Gründe "Aufbau der Gesellschaft und Stärkung der Menschenrechte in Afghanistan".
Der echten machtpolitischen deutschen Interessen waren aber (vermutlich) eher "Zurückdrängen der Taliban".
Wenn man nun beurteilen wollte, ob der Einsatz erfolgreich war, müsste man ihn an diesm Ziel messen.
Eine entsprechende Erfolgs-Evaluation ist in der deutschen Öffentlichkeit aber tabuisiert. Und weil wir nie darüber sprechen, was wir außenpolitisch eigentlich wollen, bekommen wir eben auch keine sinnvollen Ergebnisse.

Rayson Offline




Beiträge: 2.367

01.09.2014 20:43
#54 RE: Das Land ohne Außenpolitik Antworten

Zitat von Florian im Beitrag #53
Dieser Blickwinkel gefällt mir sehr gut.
Aber das ist doch der Punkt: Je mehr der Legalismus als vorgeschoben erkannt wird, um so weniger lassen sich deutsche Interessen wirklich vertreten.

--
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Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.334

01.09.2014 20:53
#55 RE: Das Land ohne Außenpolitik Antworten

Zitat von Florian im Beitrag #53
Oder nehmen wir den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan:
Wenn dieser in der öffentlichen Diskussion verteidigt wurde, dann nie mit den (eigentlich dahinter stehenden, durchaus legitimen) nationalen Interessen.
Sondern etwa mit dem Argument, man müsse die Menschenrechte afghanischer Mädchen auf Schulbesuch durchsetzen.


Die Sache ist nur die, daß es diese "deutschen Interessen" in Afghanistan nicht gibt, nicht gab, und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nie geben wird. Der deutsche Einsatz verdankt sich vor allem dem Mißmut der Allierten darüber, daß die Deutschen nie und nimmer einen Finger bei den Einsätzen seit 1989 krumm machen wollten - als zweitgrößter Nato-Partner - sondern lieber damit auf jeden Politiker zeigten, der das anordnete & das Gleichheitszeichen zwischen ihn & Hitler setzten. Speziell diese Mission verdankt sich diesem Vergleich in Richtung George W. Bush. Die "historische Freundschaft" zwischen Afghanistan & Alemanistan, auf die 2003/4 in unsern Medien mitunter sehr-sehr verdruckst angespielt wurde, bestand darin, daß die Deutschen 2x, einmal 1915, zum zweiten 1938/39, mit einigem Aufwand versucht haben, den Emir von Kabul (#1) bzw. den afghanischen König (#2) zum Überfall auf Indien zu bewegen, um den Engländern im schon angelaufenen bzw. in Aussicht stehenden Krieg in den Rücken zu fallen. Die "Mädchenschulen" waren allen Deutschen wie allen Europäern seit jeher Hekuba; es war auch ein rein nach innen verwendetes Verkaufsargument. Woanders ist dies nie registriert worden; es hätte auch nur den Eindruck befestigt, die Deutschen seien zwar mittlerweile harmlos wie ein Plüschbär, aus dem das Sägemehl rinnt, im Sachen außenpolitischen Realismus aber auch von dessen Intelligenz.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

02.09.2014 10:14
#56 RE: Das Land ohne Außenpolitik Antworten

Zitat von Rayson im Beitrag #52
Exportinteressen gelten in Deutschland durchaus als legitim. Aber dann ist auch Schluss.

Da habe ich mich wohl nicht klar genug ausgedrückt. Exportinteressen waren hier nur ein Beispiel, sie sind aber m. E. nicht privilegiert gegenüber anderen Interessen.

Was ich darstellen wollte ist das, was jetzt Florian sehr schön illustriert hat: Die hochmoralische Verteidigung der Rechtsgrundsätze (wenn diese in deutscher Weise interpretiert werden) trifft sich verblüffend oft mit einem faktischen Vorteil für deutsche Interessen. Und deswegen muß man über letztere nicht reden, und trotzdem kann Deutschland recht ellenbogenstark seine Positionen international verfolgen und oft durchsetzen.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

02.09.2014 11:03
#57 RE: Das Land ohne Außenpolitik Antworten

Zitat von Rayson im Beitrag #54
Zitat von Florian im Beitrag #53
Dieser Blickwinkel gefällt mir sehr gut.
Aber das ist doch der Punkt: Je mehr der Legalismus als vorgeschoben erkannt wird, um so weniger lassen sich deutsche Interessen wirklich vertreten.

Die deutsche Außenpolitik hat eine gewisse Übung entwickelt, legalistische Argumente für die Interessenvertretung zu finden.
Die Frage ist nun - wer soll die als vorgeschoben erkennen?
Innerhalb Deutschlands ist das Risiko gering. Und außerhalb Deutschlands interessiert die deutsche Binnendiskussion nicht.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

02.09.2014 11:06
#58 RE: Das Land ohne Außenpolitik Antworten

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #55
Die Sache ist nur die, daß es diese "deutschen Interessen" in Afghanistan nicht gibt, nicht gab, und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nie geben wird.

Ich stimme zu, daß das Land selber fast komplett uninteressant für uns ist.
Aber Deutschland hat sehr wohl ein hohes Interesse, daß es nicht wieder ein Islamisten-Stützpunkt wird. Denn es wird nicht auf Dauer möglich sein, sich vom islamistischen Terror freizukaufen und darauf zu bauen, daß es in erster Linie die Amis treffen wird.

Zitat
die Deutschen seien zwar mittlerweile harmlos wie ein Plüschbär, aus dem das Sägemehl rinnt, im Sachen außenpolitischen Realismus aber auch von dessen Intelligenz.


Ich liebe diese schönen Bildvergleiche.

Florian Offline



Beiträge: 3.163

03.07.2018 21:52
#59 RE: Das Land ohne Außenpolitik Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #1
Schon länger angedacht - aber angesichts der aktuellen Entwicklung mußte diese kleine Artikelserie nun geschrieben werden.
Mein Erklärungsversuch dafür, daß die Deutschen so überraschend wenig Wissen und Verständnis für außenpolitische Themen haben.


Diese Artikelserie ist ja m.E. eines der High-Lights dieses Forums.
In Tichys Einblick gibt es übrigens jetzt einen Beitrag, der in die genau gleiche Richtung geht:
https://www.tichyseinblick.de/meinungen/...-und-als-fluch/

Lesenswert.

Zitatfetzen:
"Hier offenbart sich eine der Schattenseiten des spezifisch deutschen Glaubens an das Recht: man setzt darauf, dass sich Probleme entpolitisieren lassen, indem man sie zu rein juristischen Fragen umdefiniert. (...)
die Richter- und Juristenherrschaft hat in Deutschland sehr viele tiefere Wurzeln. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation, das 1806 sein Ende fand, war vor allem eine Rechtsgemeinschaft, die zusammengehalten wurde durch die Rechtsprechung der Reichsgerichte. (...)
Die doch sehr ausgeprägten Unterschiede der politischen Kulturen Deutschlands und Frankreichs sind daher keineswegs nur ein Produkt der Geschichte des 20. Jahrhunderts, sondern in einer langen historischen Entwicklung angelegt. "

dirk Offline



Beiträge: 1.538

03.07.2018 22:26
#60 RE: Das Land ohne Außenpolitik Antworten

Zitat von Florian im Beitrag #59
Zitat von R.A. im Beitrag #1
Schon länger angedacht - aber angesichts der aktuellen Entwicklung mußte diese kleine Artikelserie nun geschrieben werden.
Mein Erklärungsversuch dafür, daß die Deutschen so überraschend wenig Wissen und Verständnis für außenpolitische Themen haben.


Diese Artikelserie ist ja m.E. eines der High-Lights dieses Forums.
In Tichys Einblick gibt es übrigens jetzt einen Beitrag, der in die genau gleiche Richtung geht:
https://www.tichyseinblick.de/meinungen/...-und-als-fluch/

Lesenswert.

Zitatfetzen:
"Hier offenbart sich eine der Schattenseiten des spezifisch deutschen Glaubens an das Recht: man setzt darauf, dass sich Probleme entpolitisieren lassen, indem man sie zu rein juristischen Fragen umdefiniert. (...)
die Richter- und Juristenherrschaft hat in Deutschland sehr viele tiefere Wurzeln. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation, das 1806 sein Ende fand, war vor allem eine Rechtsgemeinschaft, die zusammengehalten wurde durch die Rechtsprechung der Reichsgerichte. (...)
Die doch sehr ausgeprägten Unterschiede der politischen Kulturen Deutschlands und Frankreichs sind daher keineswegs nur ein Produkt der Geschichte des 20. Jahrhunderts, sondern in einer langen historischen Entwicklung angelegt. "




Das liegt daran, dass der Deutsche Regeln um der Regel willen befolgt. Auch wenn bei Nichtbefolgung keine Sanktion droht. Machen ausser uns nur Autisten.

Zudem existiert "Europarecht" in anderen Laendern schlicht nicht. Kann es auch gar nicht, denn kein Land mit Verfassung (ausser Deutschland) kann Souveraenitaet abgeben.

Es ist auch voellig absurd, dass Rechtsvorschriften in deutschen Gesetzbuechern von einem Heuhaufen langwieriger PDF Dokumenten ueberlagert werden nur weil die den Titel "EU Verordnung" tragen.

Florian Offline



Beiträge: 3.163

04.07.2018 00:35
#61 RE: Das Land ohne Außenpolitik Antworten

Zitat von dirk im Beitrag #60
Das liegt daran, dass der Deutsche Regeln um der Regel willen befolgt.


Nun, im Artikel wird ja erklärt, wie es zu diesem historischen deutschen juristischen Sonderweg gekommen sein könnte.

So oder so:
Ich bin natürlich kompletter juristischer Laie.
Aber ob europäisches Recht nun über deutschem Recht steht, scheint mir eine recht komplexe Frage zu sein.
(Siehe z.B. hier: https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/1...tz-und-eu-recht
oder hier an einem konkreten Fall incl. Konflikt zwischen BVerfG und EuGH:
https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/b...uerde-eu-recht/ )

Angesichts dieser zumindest unklaren Lage finde ich es schon beachtlich, wenn die Frau Bundeskanzlerin in ihrer jüngsten Regierungserklärung sagt:
An den Grenzen gilt: „Europäisches vor deutschem Recht“
https://www.welt.de/politik/deutschland/...chem-Recht.html

In wie weit dies noch kompatibel ist mit ihrem Amtseid kann man sicher diskutieren. (Der Kanzler schwört, er werde "das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen").
Zumindest ist es aber eine überraschend klare Festlegung in einem juristischen Graubereich.
Und es sagt viel über den Zustand der deutschen Politik, dass diese Festlegung kaum öffentliche Beachtung oder Kritik hervorgerufen hat.

Emulgator Offline



Beiträge: 2.870

04.07.2018 12:23
#62 RE: Das Land ohne Außenpolitik Antworten

Zitat von Florian im Beitrag #61
So oder so:
Ich bin natürlich kompletter juristischer Laie.
Aber ob europäisches Recht nun über deutschem Recht steht, scheint mir eine recht komplexe Frage zu sein.
(Siehe z.B. hier: https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/1...tz-und-eu-recht
oder hier an einem konkreten Fall incl. Konflikt zwischen BVerfG und EuGH:
https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/b...uerde-eu-recht/ )


Die Formel, ob nun das eine über dem anderen stehe, ist auch zu einfach. Wenn man anerkennt, daß man alles Recht letztlich nur in Form von Rechtsprechung erleben kann, wird es etwas einfacher.

Deutsche Gerichte entscheiden demzufolge auf der Grundlage deutscher Gesetze. Das sind GG, Gesetze, Verordnungen und insbesondere die "Transformationsgesetze", durch die völkerrechtliche Vereinbarungen in Bundesrecht übernommen werden (steht dann im BGBl. Teil II). Die Beschränkung auf völkerrechtliche Normen aus der Binnensicht ist sinnvoll, weil deutsche Gerichte sowieso nur Rechtsverhältnisse innerhalb der Bundesrepublik klären. Das war so lange Zeit ausreichend. Völkerrechtliche Normen haben lange Zeit sowieso die Bürger nur in wenig strittigen Randbereichen berührt, sondern fast nur Träger hoheitlichen Handelns. Kollisionen, in denen ein nationales Gericht ein Transformationsgesetz so anwendet, daß sich ein anderer Staat dadurch verletzt fühlte, waren selten, aber sehr ungemütlich, denn in diesem Fall sah sich die Regierung (in einem gewaltengeteilten Staat) in völkerrechtlicher Haftung für die Entscheidung eines Gerichtes, für die sie nichts kann. Als aktuelles Beispiel gibt es den Streit über die Auslieferungsverbote (z.B. Gülens) an die Türkei. Die US-Exekutive muß hier einfach den türkischen Unwillen und allfällige türkische Drohungen aushalten, weil die US-Gerichte in der Entscheidung für ein Auslieferungsverbot unabhängig sind.

Indem immer mehr auf völkerrechtlicher Ebene geregelt wird, insbesondere auf europäischer Ebene, um den Handel und die Freiheit zu verbessern, ist diese Situation nicht mehr angemessen. Deswegen gibt es inzwischen internationale Gerichte, die für die Auslegungsbedürftigkeit völkerrechtlicher Rechtsquellen zuständig sind und nur dafür. Die Schiedsgerichte der Freihandelsorganisationen sind da von derselben Art wie der EuGH. Damit die durch ein internationales Gericht harmonisierte Auslegung des transstaatlichen Rechts in Wirkung tritt, müssen natürlich die nationalen Gerichte die Auslegungsentscheidungen des internationalen Gerichts anerkennen.

So etwas ähnliches gibt es übrigens schon im Verhältnis zum BVerfG: Landes- oder Bundesgerichte legen nicht das GG aus sondern die einfachen Gesetze. Gibt es dennoch Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes oder einer gerichtlichen Entscheidung, wird diese Entscheidung an das BVerfG überwiesen. Nach dessen Entscheidung geht der Fall zurück an das vorherige Gericht, das nun an die BVerfG-Entscheidung gebunden entscheidet.

Insofern kann man tatsächlich sagen, Europarecht verhält sich zu Bundesrecht (inklusive GG) wie Verfassungsrecht zu einfachgesetzlichem Recht. Ob nun das eine über dem anderen steht, kann man so vereinfacht nicht sagen.

Emulgator Offline



Beiträge: 2.870

04.07.2018 12:47
#63 RE: Das Land ohne Außenpolitik Antworten

Zitat von Florian im Beitrag #61
Angesichts dieser zumindest unklaren Lage finde ich es schon beachtlich, wenn die Frau Bundeskanzlerin in ihrer jüngsten Regierungserklärung sagt:
An den Grenzen gilt: „Europäisches vor deutschem Recht“
https://www.welt.de/politik/deutschland/...chem-Recht.html

Nachtrag: Merkel hat bei der Haushaltsdebatte im Bundestag gerade gesagt, der Umgang mit der Migration würde entscheiden, ob die EU Bestand hätte. Ich verstehe jetzt, was die Frau meint. Man ersetze "Europa" durch "Merkel". Dann hat das alles seinen realistischen Sinn. Der Umgang mit der Migration entscheidet tatsächlich, ob ihre Regierung bestand hat. Das weiß sie sicher inzwischen sehr genau. Und was sie in ihrer Regierungserklärung gesagt hat, wird sie sicher auch so gemeint haben: "Merkelrecht geht vor deutschem Recht."

dirk Offline



Beiträge: 1.538

04.07.2018 14:22
#64 RE: Das Land ohne Außenpolitik Antworten

Zitat von Florian im Beitrag #61
Zitat von dirk im Beitrag #60
Das liegt daran, dass der Deutsche Regeln um der Regel willen befolgt.

Aber ob europäisches Recht nun über deutschem Recht steht, scheint mir eine recht komplexe Frage zu sein.
(Siehe z.B. hier: https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/1...tz-und-eu-recht
oder hier an einem konkreten Fall incl. Konflikt zwischen BVerfG und EuGH:
https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/b...uerde-eu-recht/ )



Wenn es um das Grundgesetz, also Verfassungsrecht geht, dann sicher nicht. Nichtmal in Deutschland.*

Die Haltung Deutschland zur Fluechtlingskrise laesst sich ja so zusammenfassen: "Wir springen fuer alle anderen Staaten ein, und uebernehmen an deren Stelle das Dublin Verfahren, auch wenn es dafuer keine gesetzliche Grundlage gibt, es sogar explizit gegen deutsche Gesetze verstoesst (e.g. $18 AsylG und ehemals 27a AsylverfG) und damit ohne Parlamentsbeschlus Dublin aussetzt". Also offenkundig wird hier schon Europarecht (naemlich die Rechte von Fleuchtlingen aus Dublin) ueber deutsches Recht gestellt. In der Anwendung, seit Jahren, weitestgehend ohne Widersprochen.

Und kaum einer fragt nach der Rechtsgrundlage dieser Politik. Also kann die bei Tichys Einblick gegebene Erklaerung nicht ganz richtig sein. Es ist wohl eher die alte Autoritaetshoerigkeit und der einhergehenden gleichheit der Untertanen in der Sklaverei (Muelltrennung), die den deutschen zum Fan von Regeln macht.

Zitat
Angesichts dieser zumindest unklaren Lage finde ich es schon beachtlich, wenn die Frau Bundeskanzlerin in ihrer jüngsten Regierungserklärung sagt:
An den Grenzen gilt: „Europäisches vor deutschem Recht“



In der Tat eine bemerkenswerte Aussage fuer eine deutsche Kanzlerin mit deutschem Amtseid.


* Allerdings haengt das Recht, als ja nun wirkliches soziales Konstrukt, leider von der Auslegung ab. Und wenn sich hier genug postmoderne Winkeladvokaten finden....

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

17.07.2018 09:08
#65 RE: Das Land ohne Außenpolitik Antworten

Zitat von dirk im Beitrag #60
Das liegt daran, dass der Deutsche Regeln um der Regel willen befolgt. Auch wenn bei Nichtbefolgung keine Sanktion droht. Machen ausser uns nur Autisten.

Das ist nicht ganz richtig. Auch in vielen anderen Ländern gilt Regelbefolgung per se als richtig. Und umgekehrt verstoßen auch Deutsche gerne und häufig gegen Regeln. Nicht nur im Straßenverkehr, sondern auch in vielen anderen Lebensbereichen (u.a. deswegen, weil ohnehin niemand alle einschlägigen Regeln kennt).
Der Unterschied liegt eher darin, daß in Deutschland die Schriftlichkeit von Regeln eine größere Rolle spielt ("wo steht das?" ist eine typisch deutsche Frage), informelle Regeln sind deutlich nachgeordnet.

Zitat
Zudem existiert "Europarecht" in anderen Laendern schlicht nicht. Kann es auch gar nicht, denn kein Land mit Verfassung (ausser Deutschland) kann Souveraenitaet abgeben.


Das ist schlicht falsch. In allen EU-Ländern existiert Europarecht und ist Teil der zu beachtenden Regeln. Sieht man schon sehr gut daran, daß sich die Brexiteers an diesem Aspekt besonders stören - auch in GB existiert und gilt aktuell EU-Recht. Und selbstverständlichkeit kann jedes Land Souveränität abgeben. Die Existenz einer Verfassung ist dabei nicht relevant, vor Abschluß von souveränitätsbeschränkenden Verträgen muß halt sichergestellt werden, daß die verfassungskonform sind.

Zitat
Es ist auch voellig absurd, dass Rechtsvorschriften in deutschen Gesetzbuechern von einem Heuhaufen langwieriger PDF Dokumenten ueberlagert werden nur weil die den Titel "EU Verordnung" tragen.


Das ist nicht absurd, sondern sinnvolle und gültige Praxis in allen Bereichen, in denen die EU zuständig ist.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

17.07.2018 09:19
#66 RE: Das Land ohne Außenpolitik Antworten

Zitat von Florian im Beitrag #59
In Tichys Einblick gibt es übrigens jetzt einen Beitrag, der in die genau gleiche Richtung geht

Sehr interessant, vielen Dank.
Beim historischen Hintergrund sieht der Autor das in der Tat ziemlich ähnlich. Seine Betrachtungen fürs aktuelle Europa und die angebliche Rechtspraxis in anderen Ländern halte ich aber für weitgehend merkwürdig.

Zitat
Aber ob europäisches Recht nun über deutschem Recht steht, scheint mir eine recht komplexe Frage zu sein.


Richtig. Es gibt Bereiche, die sind explizit über Vertrage in EU-Kompetenz gegeben worden. Und da steht dann unzweifelhaft europäisches Recht über deutschem Recht.
Aber wie bei allen juristischen Abgrenzungen gibt es da natürlich Randbereiche, da kann man streiten, wo die eine Kompetenz aufhört und die andere anfängt. Gibt es genauso zwischen Bund und Ländern.

Zitat
Angesichts dieser zumindest unklaren Lage finde ich es schon beachtlich, wenn die Frau Bundeskanzlerin in ihrer jüngsten Regierungserklärung sagt:
An den Grenzen gilt: „Europäisches vor deutschem Recht“


Da sie die wichtige Einschränkung "an den Grenzen" sagt, hat sie hier wohl recht.
Mit dem Schengen-Abkommen haben die Teilnehmerstaaten ziemlich komplett auf ihre eigenen Kompetenzen beim Grenzregime verzichtet, da gilt europäisches Recht.

Zitat
In wie weit dies noch kompatibel ist mit ihrem Amtseid kann man sicher diskutieren. (Der Kanzler schwört, er werde "das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen").


Das ist absolut kompatibel, da das GG solche Kompetenzübertragungen erlaubt und die Gesetze des Bundes Schengen umgesetzt haben.

Der Knackpunkt ist nicht, daß Merkel den Vorrang von EU-Recht betont. Der Knackpunkt ist, daß sie selber die EU-Regeln nur beachtet, wenn sie ihr politisch gerade passen.

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