Zitat von Meister Petz im Beitrag #1Während ganz Deutschland heute völlig kirre auf ein historisch nie (na ja 25 Jahre nicht) dagewesenes Ereignis starrt, macht Putin auch in Geschichte. Und in Theologie.
Aber nicht in Jurisprudenz. Daß das Referendum nicht frei, gleich, geheim und öffentlich war, ferner gar nicht legal und das Restparlament der Krim gar nicht mehr beschlußfähig war, unterschlägt der feiner Herr. Diese ganzen Regeln haben ja ihren Sinn.
Aber das weiß ja jeder, der hier liest.
Zum Thema meine ich, daß die Geschichte eine höchst ungeeignete und überhaupt nicht überzeugende Begründung für Gegenwartspolitik im Allgemeinen und teritoriale Zugehörigkeiten ist. Ganz einfache Beobachtung: Jeder, der eine historische Begründung für seine Gebietsforderungen nimmt, wählt ausgerechnet die Zeit der größten Ausdehnung des Reiches ("Blütezeit"), mit dem er seinen heutigen Staat identifiziert. Und damit sind nicht nur die historischen Grenzen eines früheren Zeitpunktes gemeint, sondern dann plötzlich ganz unhistorisch die Vereinigungsmenge aller Gebiete, die jemals zu diesen Reich gehört haben. Denn würde man Putin beim Wort nehmen, daß Rußland genau das Gebiet des Kiewer Rus ausmachen sollte, dann müßte sein Staat die ganzen rohstoffreichen sibirischen, fernöstlichen und kaukasischen Gebiete, die erst in der Neuzeit vom Zarenreich kolonisiert wurden, an die dortigen autochtonen Völker (Tuwiner, Jakuten, Baschkiren, Tschuktschen, Tschetschenen usw.) wieder abtreten.
Überhaupt: Warum dreht man die Argumentation nicht einfach um? Warum sagt man nicht, die Ukraine sei die wahre Traditionserbin des Großfürsten Wladimir und folglich müsse Putins Reich sich dem Schokoladenproduzenten unterwerfen? Schließlich haben doch die Großrussen das alte Zentrum Kiev verlassen!
Man sollte auch bedenken, daß ein Alleinherrscher wie Putin gar nicht so notwendig in der russischen Geschichte sind. Man denke nur an die mächtigen Republiken Novgorod und Smolensk.
Und mit dem Flugzeug ist Großfürst Wladimir auch nie geflogen. Warum macht es dann Putin?
Zitat von Emulgator im Beitrag #2Überhaupt: Warum dreht man die Argumentation nicht einfach um? Warum sagt man nicht, die Ukraine sei die wahre Traditionserbin des Großfürsten Wladimir und folglich müsse Putins Reich sich dem Schokoladenproduzenten unterwerfen? Schließlich haben doch die Großrussen das alte Zentrum Kiev verlassen!
Oder einfach alles an die Mongolei abgeben.
Aber das ist nicht mein Punkt, sondern Putins Verständnis der russischen Nation. Darin ist kein Platz für eine ukrainische, weißrussische, tartarische oder sonstige Nationalität. Nicht umsonst sieht Putin sie Sowjetunion als Phase einer kontinuierlichen russischen Geschichte an.
Gruß Petz
"The problem with quotes from the Internet is that it is difficult to determine whether or not they are genuine" - Abraham Lincoln
Zitat von Meister Petz im Beitrag #3Aber das ist nicht mein Punkt, sondern Putins Verständnis der russischen Nation. Darin ist kein Platz für eine ukrainische, weißrussische, tartarische oder sonstige Nationalität.
Das nehme ich ihm nicht ab. Putin ist kein Idealist. Was Sie zitiert haben, ist doch nur ad hoc gewesen. Putin läuft nur der Stimmung hinterher, die sich im Inland bildet. Da ist er nicht anders als Merkel, Cameron oder Obama. In Rußland war ein gewisser Nationalismus nie ausgestorben, wurde vielmehr durch die Sowjetunion geschürt. In jüngster Zeit hat nun die Kirche erheblichen Zulauf gefunden, also wird eben die Taufe Wladimirs bemüht. Also versucht Putin, mit einer billigen Kopie des serbischen Amselfeldereignisses zu punkten, und nimmt dafür ein Ereignis, das so ähnlich auch bei vielen anderen europäischen Völkern stattgefunden hat (z.B. Dänen oder Kroaten).
Nun ja, Herr Putin bietet seinem Fernsehpublikum ein Programm, das einen wesentlichen Vorteil hat: Es kostet nichts. Große nationale Narrative mythologischer Art. Auf den empirischen bzw. empirisch-historischen Wahrheitsgehalt bzw. auf eine diesbezügliche Plausibilität kommt es selbstverständlich nicht an. Gleichwohl sind Mythen keine Lüge sondern eine höhere Form der Wahrheit – transempirisch, sozusagen.
Zur Unterlegung dieser Geschichten hat Herr Putin immerhin etwas, was man in Resteuropa nicht hat: Ein leistungsfähiges Militär, das zuschlagen kann.
Im Westen und namentlich in D ist das anders: Das Narrativ, das das Fernsehpublikum erwartet, spielt im Kaufhaus und heißt Konsum. Nicht, dass die Russen das nicht auch gerne hätten, aber ersatzweise ist man an alt-hergebrachte transzendente Erzählungen, auf deren Klaviatur Putin spielt, gewohnt und eine gewisse Verzichtskultur ist durchaus verkäuflich. Im Westen würde dergleichen nicht (mehr; vielleicht aber auch noch nicht wieder!) ankommen, fürs Herz und als Konsum-Ablassbrief gibt's statt Geschichtsmythen reichlich Öko-Kitsch, der allerdings den Nachteil hat, dass er teuer bezahlt werden muss.
Putin hat einen weiteren Vorteil: Um die Ukraine mit Finanzzuckerlis (und angesichts der Zustände reicht da kein Kleingeld) zu ködern, sind westlicherseits keine Mittel da und er kann des Weiteren damit rechnen, dass das schuldenfinanzierte Konsumnarrativ, mit dem Merkel, Hollande und all die anderen ihre Leute daheim beglücken, an die Wand fährt, weil Schuldentürme nicht in den Himmel wachsen und solche Geschichten, wie sie Putin erzählt, möglicherweise auch im Westen wieder zunehmend gefragt werden. Dafür sind dann Mme. Le Pen und ähnliche Leute zuständig, die von Putin in entsprechender Erwartung schon mal großzügig gefüttert werden. Und dummerweise brauchen die Europäer westlich von Russland für alles Militärische die Amerikaner, die beim Publikum in D, F und anderwärts in Europa alles andere als hoch-beliebt sind. Die militärische europäische Identität, über die seit mehr als 60 Jahren geredet wird, kommt nie: Zu teuer; Otto Normalverbraucher würde einen diesbezüglichen Konsumverzicht nie akzeptieren.
Man könnte sich also als harter Empiriker über Putins verbogene, um nicht zu sagen verlogene, Geschichtsbilder lustig machen – sollte man aber nicht. Es nutzt, wie gesagt, auch nix, wenn man qua historische Expertise "Fehler" nachweist. Auch wenn man auf dem Olymp nach Göttern sucht, wird man feststellen: Die laufen da nicht rum; ist aber völlig wurscht, die Wirkmächtigkeit von Mythen funktioniert anders.
Die Karten, die Putin in der Hand hält, sind also (leider) gar nicht soooo schlecht. Über die Leistungsfähigkeit Russlands, sozusagen eine Leistungsfähigkeit eigener, eher ungemütlicher, rustikaler Art, haben sich schon viele Leute geirrt.
Zitat von Meister Petz im BlogbeitragWenn also Putin vor dem Hintergrund einer nationalen, historisch-theologisch begründeten Annexion der Krim durch Russland gleichzeitig die Kiewer Rus als Wiege der unteilbaren russischen Nation und eines russischen Zentralstaats religiös überhöht, ist das eine eindeutige Ansage Richtung Kiew, die man verkürzt zusammenfassen kann:
Gott will keine unabhängige Ukraine.
Für das Verständnis von Putins Imperialismus ist Dein Artikel von erheblicher Bedeutung, lieber Meister Petz. Ich stimme Dir vollkommen zu, das Sakrale unterstreicht vor allem die Ernsthaftigkeit seiner Bestrebungen so viel wie irgend möglich von der alten Sowjetunion wieder herzustellen. Es erklärt auch die Reaktion der maßgeblichen Politiker der SPD. Sie sind geschockt, haben Angst und wollen nicht wahrhaben, was in der Tat die Situation von Europa grundlegend ändert. Anders die Bundeskanzlerin, sie sieht der Realität ins Auge. Putin ist es absolut ernst. Und darum ist es dies auch für uns.
Zitat von Meister Petz im Beitrag #3Aber das ist nicht mein Punkt, sondern Putins Verständnis der russischen Nation. Darin ist kein Platz für eine ukrainische, weißrussische, tartarische oder sonstige Nationalität.
Das nehme ich ihm nicht ab. Putin ist kein Idealist. Was Sie zitiert haben, ist doch nur ad hoc gewesen. Putin läuft nur der Stimmung hinterher, die sich im Inland bildet. Da ist er nicht anders als Merkel, Cameron oder Obama. In Rußland war ein gewisser Nationalismus nie ausgestorben, wurde vielmehr durch die Sowjetunion geschürt. In jüngster Zeit hat nun die Kirche erheblichen Zulauf gefunden, also wird eben die Taufe Wladimirs bemüht. Also versucht Putin, mit einer billigen Kopie des serbischen Amselfeldereignisses zu punkten, und nimmt dafür ein Ereignis, das so ähnlich auch bei vielen anderen europäischen Völkern stattgefunden hat (z.B. Dänen oder Kroaten).
Es ist natürlich immer schwierig zu beurteilen, wieviel ein Propagandist von seiner eigenen Propaganda glaubt. Bei Russland um so mehr, schließlich kennt die Geschichte für diese Art von Spekulation sogar einen eigenen Begriff.
Abgesehen davon, dass ich gerade bei Merkel und Obama nicht wahrnehme, dass sie der Stimmung hinterherlaufen (Cameron vielleicht eher, aber Obama setzt Obamacare gegen Volkes Stimme durch und Merkel kümmert sich zumindest außenpolitisch einen Dreck um die Volksmeinung): Ich glaube, dass dem Durchschnittsrussen ziemlich egal ist, ob Lugansk oder Kiew Teil der russischen Föderation sind. Natürlich will man gegenüber dem Westen stark dastehen, aber da wären ökonomische Erfolge völlig ausreichend.
Ich weiß auch nicht, ob Putin ein Idealist ist. Aber eines stimmt keinesfalls: dass diese Äußerungen ad hoc sind. Putin hat definitiv eine "großrussische" Agenda, und nicht erst seit heute.
Gruß Petz
"The problem with quotes from the Internet is that it is difficult to determine whether or not they are genuine" - Abraham Lincoln
Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #5Nun ja, Herr Putin bietet seinem Fernsehpublikum ein Programm, das einen wesentlichen Vorteil hat: Es kostet nichts. Große nationale Narrative mythologischer Art. Auf den empirischen bzw. empirisch-historischen Wahrheitsgehalt bzw. auf eine diesbezügliche Plausibilität kommt es selbstverständlich nicht an. Gleichwohl sind Mythen keine Lüge sondern eine höhere Form der Wahrheit – transempirisch, sozusagen.
Mir geht es nicht um die Wahrheit des Mythos; dazu gibt es eine großartige Monographie von Kurt Hübner, die ich sehr empfehlen kann. Sondern um den Einsatz eines bestimmten Mythos in einem konkreten politischen Konflikt. Dieser Einsatz findet immer post factum statt; eine schöne Parallele ist z. B. die Verbringung der Reichskleinodien nach Nürnberg NACH dem Anschluss Österreichs. Das interessante an diesem Fall ist aber, dass die Wahl des Mythos vielmehr in die Zukunft weist.
Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #5Im Westen und namentlich in D ist das anders: Das Narrativ, das das Fernsehpublikum erwartet, spielt im Kaufhaus und heißt Konsum. Nicht, dass die Russen das nicht auch gerne hätten, aber ersatzweise ist man an alt-hergebrachte transzendente Erzählungen, auf deren Klaviatur Putin spielt, gewohnt und eine gewisse Verzichtskultur ist durchaus verkäuflich. Im Westen würde dergleichen nicht (mehr; vielleicht aber auch noch nicht wieder!) ankommen, fürs Herz und als Konsum-Ablassbrief gibt's statt Geschichtsmythen reichlich Öko-Kitsch, der allerdings den Nachteil hat, dass er teuer bezahlt werden muss.
Putin bezahlt ja auch. Das Militär ist teuer, die Sanktionen auch kein Pappenstiel , das schlimmste aber: Er ist zum Erfolg verdammt.
Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #5Putin hat einen weiteren Vorteil: Um die Ukraine mit Finanzzuckerlis (und angesichts der Zustände reicht da kein Kleingeld) zu ködern, sind westlicherseits keine Mittel da und er kann des Weiteren damit rechnen, dass das schuldenfinanzierte Konsumnarrativ, mit dem Merkel, Hollande und all die anderen ihre Leute daheim beglücken, an die Wand fährt, weil Schuldentürme nicht in den Himmel wachsen und solche Geschichten, wie sie Putin erzählt, möglicherweise auch im Westen wieder zunehmend gefragt werden. Dafür sind dann Mme. Le Pen und ähnliche Leute zuständig, die von Putin in entsprechender Erwartung schon mal großzügig gefüttert werden. Und dummerweise brauchen die Europäer westlich von Russland für alles Militärische die Amerikaner, die beim Publikum in D, F und anderwärts in Europa alles andere als hoch-beliebt sind. Die militärische europäische Identität, über die seit mehr als 60 Jahren geredet wird, kommt nie: Zu teuer; Otto Normalverbraucher würde einen diesbezüglichen Konsumverzicht nie akzeptieren.
Das "schuldenfinanzierte Konsumnarrativ" fährt überhaupt nicht an die Wand - wenn wir schon mit postmodernem Budenzauber um uns werfen wollen: es ist das einzige Narrativ, das bislang einigermaßen Erfolg hat, weil es nämlich dem Bürger mehr bringt, als es ihm abverlangt. Deshalb verzichtet er nicht darauf, wie Sie ja richtig feststellen; und die ganze antiamerikanische Rhetorik halte ich eher für ein Wohlstandsphänomen.
Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #5Man könnte sich also als harter Empiriker über Putins verbogene, um nicht zu sagen verlogene, Geschichtsbilder lustig machen – sollte man aber nicht. Es nutzt, wie gesagt, auch nix, wenn man qua historische Expertise "Fehler" nachweist. Auch wenn man auf dem Olymp nach Göttern sucht, wird man feststellen: Die laufen da nicht rum; ist aber völlig wurscht, die Wirkmächtigkeit von Mythen funktioniert anders.
Ich bin nicht im Bilde darüber, ob die Russen Putin seine Geschichte abkaufen. Aber was die Wirkmächtigkeit angeht, so ist diese um so größer, je weniger man vom Mythos betroffen ist. Nehmen Sie mal den Kommunismus - dieser Mythos funktionierte am besten bei BRD-Bürgern mit Verbeamtung auf Lebenszeit. Auch die Ossis finden ihn erst wieder toll, seitdem sie unbegrenzten Zugang zu Südfrüchten haben. Das hat nebenbei keineswegs damit zu tun, ob die tatsächliche Geschichte geglaubt wird. Ich glaube, dass die meisten westlichen Selbsthasser kein Iota von dem glauben, was Putin so dahersalbadert. Den Mythos von der erstrebenswerten Unabhängigkeit gegenüber den USA und der einseitigen Aggression des Westes sowie die ganzen postmateriellen Phantasien (der Spätkapitalismus dauert nun auch schon fast 50 Jahre) inhalieren sie geradezu. Aber nur so lange, bis es ihnen ans eigene Tofu geht.
Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #5Die Karten, die Putin in der Hand hält, sind also (leider) gar nicht soooo schlecht. Über die Leistungsfähigkeit Russlands, sozusagen eine Leistungsfähigkeit eigener, eher ungemütlicher, rustikaler Art, haben sich schon viele Leute geirrt.
Außenpolitisch sind seine Karten natürlich gut, weil er um die Schwäche des Westens weiß. Allerdings ist nicht gesagt, dass die Russen mitgehen.
Warum muss er dann eine Amnestie für Kapitalflucht versprechen? Ich glaube, dass Putin, wenn er so weitermacht, eine Menge finanzielles, aber auch kreatives Potenzial aus dem Land vertreibt. Oder er muss derartige Zugeständnisse an die Oligarchen machen, dass sie ihm ordentlich dreinreden können. Und ob die genauso auf Konfrontation aus sind wie er?
Gruß Petz
"The problem with quotes from the Internet is that it is difficult to determine whether or not they are genuine" - Abraham Lincoln
"Geschichten statt Geschichte:Wie Wladimir Putin seinen Russen die Historie zurechtbiegt"
"Die Krim sei für die Russen so wichtig wie der Tempelberg für die Juden, der Hitler-Stalin-Pakt sei richtig gewesen, da die Sowjetunion „nicht kämpfen wollte“. Die Annexion der Krim begründete Putin mit der Taufe seines Namenspatrons, des heiligen Wladimir, im Jahr 988. Der war allerdings nicht Fürst von Moskau, sondern von Kiew. Dort steht hoch über dem Dnjepr ein riesiges Wladimir-Denkmal, eine der drei Kiewer Kathedralen ist ihm geweiht, sein Konterfei prangt auf Geldscheinen – er ist ukrainischer Nationalheiliger.
Darüber hinaus widersprechen auch die nackten Zahlen der Geschichtsdeutung Putins: 1991 stimmten 54 Prozent der Bevölkerung auf der Krim für die Unabhängigkeit der Ukraine, somit auch ein Teil der dort lebenden Russen, die laut der letzten Volkszählung von 2001 immerhin 58 Prozent ausmachten. [...] Auch über die ebenfalls „nicht kämpfen wollende“ Rote Armee weiß man in der Ukraine und vor allem in Polen anderes als Wladimir Putin: Nur 17 Tage nach dem deutschen Angriff auf Polen am 1. September 1939 fiel die Rote Armee von Osten in das Land ein, auf der Grundlage des geheimen Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt."
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #9...heute in der Süddeutschen:
PS (& OT): Was ist eigentlich mit der Prantl-Pravda los? Neben dem Urban bespricht sie heute noch Erzählungen von Harlan Ellison? - Aber da kann man wenigstens beruhigt sein: es wird die gewohnte Qualität geliefert: "Harlan Ellison ist ein Enfant terrible der amerikanischen phantastischen Literatur, die er seit Jahrzehnten lustvoll aufmischt – dieses Jahr ist er achtzig geworden. Seine Produktivität ist unerhört, mehr als 1800 Erzählungen, Dutzende von Sammelbänden, von ihm herausgegeben, Fernseh- und Filmkritik, Drehbücher, unter anderem zu den Serien „Outer Limits“ und „Raumschiff Enterprise“..." Eher weniger: die "von ihm herausgegebenen Sammelbände" beschränken sich auf 2 (Dangerous Visions (1967) & Again, Dangerous Visions (1972)) & an Stories hat er, eingerechnet der Zeiten 1958-1965, als er vom Zeilenschinden lebte, ~350 - und ind den letzten 20 Jahren nur alle 3 Jahre eine einzige.
Zitat von Emulgator im Beitrag #4Putin ist kein Idealist.
Nicht im romantisch-naiven Sinne. Aber seine Hauptmotivation ist irrational und kann eigentlich nur als "idealistisch" bezeichnet werden - weil sie "höhere Ziele" (russisch-nationalistische) Ziele verfolgt. Wenn es ihm pragmatisch nur um Macht, Geld und Einfluß ginge, dann würde er völlig anders agieren. Dann wäre auch eine Kooperation mit dem Westen viel interessanter für ihn als der verlustreiche Kampf um völlig bedeutungslose Gebiete.
In der Ukraine kann man ja noch so etwas wie echten Nutzen als vages Ziel erkennen. Immerhin geht es da um Industriezentren, die potentiell etwas bringen würden. Aber sein langjähriges Engagement in einer trostlosen Gegend wie Transnistrien hat gezeigt, daß es ihm schon immer um großrussische Ziele ging, also um "Idealismus".
Zitat Jeder, der eine historische Begründung für seine Gebietsforderungen nimmt, wählt ausgerechnet die Zeit der größten Ausdehnung des Reiches ("Blütezeit"), mit dem er seinen heutigen Staat identifiziert.
Richtig. Im Disput mit deutschen Putinisten gibt es eine ultimate Argumentation. Wenn die mit großem Aufwand begründen wollen, daß die Krim doch aus historischen Gründen "eigentlich" russisch wäre - dann braucht man nur zu sagen: "Darüber ist erst zu reden, wenn Putin uns Königsberg wiedergibt". Immer ein schöner Volltreffer, Diskussion erledigt.
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #9Thomas Urban heute in der Süddeutschen:
"Geschichten statt Geschichte:Wie Wladimir Putin seinen Russen die Historie zurechtbiegt"
Zitat "Die Krim sei für die Russen so wichtig wie der Tempelberg für die Juden, der Hitler-Stalin-Pakt sei richtig gewesen, da die Sowjetunion „nicht kämpfen wollte“. Die Annexion der Krim begründete Putin mit der Taufe seines Namenspatrons, des heiligen Wladimir, im Jahr 988. Der war allerdings nicht Fürst von Moskau, sondern von Kiew. Dort steht hoch über dem Dnjepr ein riesiges Wladimir-Denkmal, eine der drei Kiewer Kathedralen ist ihm geweiht, sein Konterfei prangt auf Geldscheinen – er ist ukrainischer Nationalheiliger.[...]
Ukrainischer Nationalheiliger und Gestalt der russischen Geschichte - das schließt sich doch nicht gegenseitig aus. Insofern ist der Vergleich mit Jerusalem nicht verkehrt, das ja auch Vielen vieles Verschiedenes bedeutet. Daß die Kiewer Rus' den Russen als ihre historische Wurzel gilt, ist nichts Neues, ich kann mich noch gut an das Trara zum 1000. Jahrestag der "Taufe Rußlands" 1988 erinnern, als die in Frage stehenden Regionen noch fest in atheistisch-marxistisch-leninistischer Hand waren. Siehe etwa auch hier:
Zitat von Wikipädia: Kiewer Rus'Russische Darstellung Eine direkte Herrschaftsfolge zwischen dem Kiewer und Moskauer Reich ist in das russische Geschichtsverständnis eingegangen, da sich die rurikidischen Moskauer Großfürsten und Zaren als direkte Nachfahren und die einzig verbliebenen legitimen Erben der Kiewer Fürsten sahen. Darüber hinaus wird in der russischen Historiographie das Kiewer Reich traditionell als einheitliches ostslawisches (russisches) Reich verstanden. In der Zarenzeit herrschte die Ansicht vor, dass es sich bei den Groß-, Klein- und Weißrussen um drei Linien des russischen Volkes handelt, das schon zur Zeit der Kiewer Rus bestand. In der Sowjetunion hatten die Ukrainer und die Weißrussen im Gegensatz dazu den Status eigenständiger Völker, die sich jedoch, wie auch das russische, aus einem zwischenzeitlich vollständig herausgebildeten altrussischen Volk entwickelten. Sowohl das Russische Kaiserreich als auch die Sowjetunion besaßen das Selbstverständnis eines „gemeinsamen Staates der Ostslawen“ und sahen sich nicht nur dazu berechtigt, sondern auch in der historischen Pflicht, alle ostslawisch geprägten, ehemaligen Gebiete der Kiewer Rus in sich zu vereinen. Ukrainische Sichtweise Die moderne ukrainische Historiographie beansprucht das Erbe der Kiewer Rus vor allem für die Ukraine und verweist darauf, dass das Gebiet um Kiew deren Kernland war. Die ersten im 18. und 19. Jahrhundert tätigen ukrainischen Historiker bestritten zwar nicht die enge Verwandtschaft der Klein- und Großrussen, kritisierten jedoch den vorherrschenden Moskau-Zentrismus bei der Frage des kulturellen und politischen Erbes der Kiewer Rus. Spätere Historiker wie Mychajlo Hruschewskyj versuchten hingegen, in teilweiser Anlehnung an die traditionelle polnische Historiographie, die Beziehung der Großrussen zur Kiewer Rus auf ein Minimum zu reduzieren und die Ukrainer (Ruthenen) als die einzig legitimen Erben der Kiewer Rus darzustellen. Vor allem seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 wird die Kiewer Rus in den Werken vieler Publizisten als ukrainischer Staat dargestellt.
Insofern sind die Prämissen der Putinschen Ausführungen nichts wirklich Neues. Andererseits kann er, da er nun schon im Mittelalter herumkramt, dort auch noch interessantere Präzedenzfälle aufspüren, z.B. den hier aus der Endzeit der Kiewer Rus':
Zitat von wikipedia: Kievan Rus'In 1169, as the Kievan Rus' state was full of internal conflict, Andrei Bogolyubsky of Vladimir sacked the city of Kiev. The sack of the city fundamentally changed the perception of Kiev and was evidence of the fragmentation of the Kievan Rus'.
Im Jahr 1169, als die Kiewer Rus' innerlich zerrissen war, plünderte Andrej Bogoljubskij von Wladimir[!] die Stadt Kiew. Dieses Ereignis änderte den Status von Kiew grundlegend und bezeugte die Zersplitterung der Kiewer Rus'.
It is only by the collision of adverse opinions that the remainder of the truth has any chance of being supplied. - J. S. Mill
Zitat von Fluminist im Beitrag #12Ukrainischer Nationalheiliger und Gestalt der russischen Geschichte - das schließt sich doch nicht gegenseitig aus.
Richtig. Wir kennen ja aus unserem historischen Kontext ein ähnliches Beispiel: Karl der Große ist für Deutsche wie für Franzosen der große "Nationalheilige". Und zu seiner Zeit gab es eben noch ein Frankenreich wie es zu Wladimirs Zeit das gemeinsame Reich der Kiewer Rus gab. Und in beiden Fällen haben sich die ehemals unter einer Herrschaft vereinten Landesteile später zu verschiedenen Völker auseinanderentwickelt. Was aber keines dieser Nachfolgevölker berechtigt, unter Berufung auf den Gründervater andere anzugreifen.
Putins Begründung der Krimbesetzung wg. des angeblichen Tauforts ist ähnlich absurd als würden die Franzosen morgen Aachen besetzen, um sich das Erbe Karls des Großen wiederzuholen.
Irgendwie scheinen historische Fehldeutungen derzeit Konjunktur zu haben. Was Erdogan in Sachen Türkei so fabriziert ist ähnlicher Mumpitz wie die Rede Putins.
Zitat von R.A. im Beitrag #13Karl der Große ist für Deutsche wie für Franzosen der große "Nationalheilige".
Pikante Nebennote: Für die braunen Tonsetzer (jedenfalls die aus der Fa. Himmler, & zum Jubiläumsjahr 1934) war er aber der "Sachsenschlächter". Heribert Illig wiederum sieht das gaaanz anders:
http://de.wikipedia.org/wiki/Erfundenes_MittelalterSo soll auf das Jahr 614 das Jahr 911 gefolgt sein. ... Insbesondere hätten laut dieser These Personen wie Karl der Große und die anderen Karolinger vor Karl III. dem Einfältigen entweder überhaupt nicht existiert, oder sie seien vor 614 beziehungsweise nach 911 einzuordnen.
Fragt man sich, warum die im "perfiden Albion" nicht auf den Trick verfallen sind, als sie sich ihren König Artus erfunden haben. (Das russische Pendant zu Illigs Thesen ist nb. Anatoli Fomenkos Neue Chronologie)
Zitat von R.A. im Beitrag #11[quote="Emulgator"|p117678]"Darüber ist erst zu reden, wenn Putin uns Königsberg wiedergibt".
Ich hab mir im letzten Halbjahr das Beispiel zugelegt: Da kommt also der Nachfolger eines politischen Reichs, das nur durch Gewalt & Lager im Gedächtnis der Welt geblieben ist, 25 Jahre nach dem Kollaps daher & möchte den alten Zustand wieder, weil es so schön war. Hätten die Putin-Nichtdämonisierer 1970 auch so viel Verständnis gehabt, wenn Willy Brandt 1970 nicht in Warschau auf die Knie gefallen wäre, sondern mit einer Bundeswehrdivision Danzig besetzt hätte?
Zitat von Fluminist im Beitrag #12Ukrainischer Nationalheiliger und Gestalt der russischen Geschichte - das schließt sich doch nicht gegenseitig aus.
Richtig. Wir kennen ja aus unserem historischen Kontext ein ähnliches Beispiel: Karl der Große ist für Deutsche wie für Franzosen der große "Nationalheilige".
Um Himmels Willen, Charlemagne ist mit Fug und Recht ein französischer Nationalheld, der eben kaum etwas mit dem späteren Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zu tun hatte. Dieses wurde letztlich mehr von den Sachsen-Herzogen geprägt, als von den Karolingern. Heinrich I., aber besonders Otto I., haben dem HRR seine Gestalt gegeben, nachdem das Frankenreich unter Karls Söhnen zerteilt und zerrieben war und quasi nicht mehr existierte. Letztlich wäre Otto der Große viel eher als Nationalheld des frühen deutschen Reiches geeignet. Für das heutige Deutschland eventuell auch noch - aber wir definieren uns ja eher über Nationalschurken (die wir auch noch aus Österreich importiert hatten). Und was Aachen betrifft: meinetwegen kann Frankreich das ganze gerne haben. Otto I. und seine Ehefrau Edgith liegen in Madgeburg begraben, Heinrich I. in Quedlinburg und Otto II. und seine Gattin Theophanu liegen in Köln, Widukind in Enger, und den einsamen Otto III. könnte man repatriieren...
Zitat von Fluminist im Beitrag #12Ukrainischer Nationalheiliger und Gestalt der russischen Geschichte - das schließt sich doch nicht gegenseitig aus.
Richtig. Wir kennen ja aus unserem historischen Kontext ein ähnliches Beispiel: Karl der Große ist für Deutsche wie für Franzosen der große "Nationalheilige". Und zu seiner Zeit gab es eben noch ein Frankenreich wie es zu Wladimirs Zeit das gemeinsame Reich der Kiewer Rus gab. Und in beiden Fällen haben sich die ehemals unter einer Herrschaft vereinten Landesteile später zu verschiedenen Völker auseinanderentwickelt. Was aber keines dieser Nachfolgevölker berechtigt, unter Berufung auf den Gründervater andere anzugreifen.
Putins Begründung der Krimbesetzung wg. des angeblichen Tauforts ist ähnlich absurd als würden die Franzosen morgen Aachen besetzen, um sich das Erbe Karls des Großen wiederzuholen.
Irgendwie scheinen historische Fehldeutungen derzeit Konjunktur zu haben. Was Erdogan in Sachen Türkei so fabriziert ist ähnlicher Mumpitz wie die Rede Putins.
Ein noch witzigeres Beispiel als Charlemagne/Karl der Große ist Chlodwig I, ein paar hundert Jahre zuvor.
Für die einen Hard-core-Nationalisten der "erste französische König" , für die anderen ein "teutscher Herrscher" - wenngleich auf welschem Boden. Nicht weniger albern ist übrigens die "Europäisierung" Karls, die seit 1945 angesagt ist; s. z.B. Aachener Karlspreis oder diverse Ausstellungen, die mit der Belehrung "der erste Europäer" und dgl. rüberkommen. Das ist genauso daneben, hört sich aber netter an und ist auf die aktuell angesagten Erfordernisse der Nachkriegszeit zurechtgebogen.
Historisch-empirisch sind all diese Geschichten in Form der Inanspruchnahme natürlich das reinste Absurditätenkabinett.
Aber warum dann so wirksam und beliebt? Es läuft doch wohl auf IDENTITÄTSSTIFTUNG hinaus. Deren Motive liegen allemal jenseits des Empirischen, auf die Geschichten kommt es eigentlich gar nicht an. Eigentlich hat man ja durch sein pures Dasein "Identität", aber das reicht anscheinend vielfach nicht. Aber das ist ja wieder ein anderes Thema und ein gaaaanz weites Feld.
Zitat von Emulgator im Beitrag #2Jeder, der eine historische Begründung für seine Gebietsforderungen nimmt, wählt ausgerechnet die Zeit der größten Ausdehnung des Reiches ("Blütezeit"), mit dem er seinen heutigen Staat identifiziert.
Meine persönlichen Favoriten auf diesem Gebiet sind die Bulgaren. Wenn diese sich nun auf ihre (vortürkische) Geschichte besinnen, sieht das in etwa so aus.
It is only by the collision of adverse opinions that the remainder of the truth has any chance of being supplied. - J. S. Mill
Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #16Ein noch witzigeres Beispiel als Charlemagne/Karl der Große ist Chlodwig I, ein paar hundert Jahre zuvor.
Richtig. Die Merowinger sind im deutschen Geschichtsbewußtsein eigentlich fast völlig ausgeblendet, während Karl der Große in jedem Schulbuch steht.
Zitat Für die einen Hard-core-Nationalisten der "erste französische König" , für die anderen ein "teutscher Herrscher"
Wobei unsere französischen Freunde da schon fast Geschichtsklitterung betreiben - die Merowinger waren noch "echte Germanen", die noch ihre germanische Sprache benutzten (wie die ebenfalls im heutigen Frankreich ansässigen Westgoten und Burgunder) und die gallo-romanische Bevölkerung eigentlich nur als Untertanen und Steuerzahler betrachteten.
Zitat Nicht weniger albern ist übrigens die "Europäisierung" Karls
Die ist aber so absurd nicht - schließlich bezog sich Karl sehr deutlich auf die römische Tradition. Die ursprüngliche EU war ja bis auf Randgebiete in Norddeutschland und Süditalien fast deckungsgleich mit Karls Herrschaftsgebiet. Und das ist auch der Traditionskern, an den sich im späteren historischen Verlauf die Iberer, Skandinavier und Mittel-Ost-Europäer angegliedert haben. Unpassend ist die Berufung auf Karl im wesentlichen für die Briten. Die sich emotional ja auch nicht wirklich heimisch fühlen in Europa ...
Zitat Es läuft doch wohl auf IDENTITÄTSSTIFTUNG hinaus. Deren Motive liegen allemal jenseits des Empirischen, auf die Geschichten kommt es eigentlich gar nicht an.
Es sind halt die Geschichten, auf die man sich in einer Gesellschaft geeinigt hat, um Gemeinsamkeit zu formulieren.
Zitat von Fluminist im Beitrag #17Meine persönlichen Favoriten auf diesem Gebiet sind die Bulgaren. Wenn diese sich nun auf ihre (vortürkische) Geschichte besinnen, sieht das in etwa so aus.
Wobei das ja nicht falsch ist. Nur war diese Karte eben nur relativ kurze Zeit gültig - ansonsten war die Rolle der Bulgaren eben überschaubar. Aber da gibt es ja einige vergleichbare Fälle, z. B. Ungarn, Litauen oder Dänemark.
Und über unsere alte Hansestadt Nowgorod müssen wir mit Putin auch noch mal reden ...
Zitat von Emulgator im Beitrag #2Jeder, der eine historische Begründung für seine Gebietsforderungen nimmt, wählt ausgerechnet die Zeit der größten Ausdehnung des Reiches ("Blütezeit"), mit dem er seinen heutigen Staat identifiziert.
Meine persönlichen Favoriten auf diesem Gebiet sind die Bulgaren. Wenn diese sich nun auf ihre (vortürkische) Geschichte besinnen, sieht das in etwa so aus.
Ich fordere Bayern in den Grenzen von 976. Verona muss bayerisch bleiben!
Gruß Petz
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Zitat von Meister Petz im Beitrag #20Ich fordere Bayern in den Grenzen von 976.
Du willst auf Franken, Schwaben und die Pfalz verzichten? Landesverrat!
Zitat Verona muss bayerisch bleiben!
Das wird Ärger geben. Damit meine ich jetzt weniger die Regierung in Rom, sondern die Ansprüche der Badener. Die wollen doch nicht auf ihren Markgrafentitel verzichten.
Zitat von Meister Petz im Beitrag #20Ich fordere Bayern in den Grenzen von 976.
Du willst auf Franken, Schwaben und die Pfalz verzichten? Landesverrat!
Kann man natürlich so sehen, aber andererseits ist es bemerkenswert, wie genau die Grenzen von 975 (ausgenommen die Markgrafschaft Verona und nunmehr die allersüdlichsten Teile des nachmaligen Herzogtums Kärnten, die noch vor 100 Jahren einen größeren deutschen Sprachanteil hatten) mit der noch heute bestehenden bairischen Sprachgrenze übereinstimmen. Politisch geht viel hin und her, aber die tatsächlichen ethnischen Grenzen sind (außer bei drastischen Eingriffen wie Genozid oder Massenvertreibung) erstaunlich stabil.
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Zitat von Fluminist im Beitrag #22Politisch geht viel hin und her, ...
Eigentlich nicht! Die dynastischen Beziehungen sind natürlich dauernd neu sortiert worden. Und mit ihnen sind Herrschaftsbereiche geteilt oder zusammengelegt worden. Aber diese ganzen Änderungen waren meist nur äußerlich, d.h. einzelne Herrschaftsbereiche haben zwar mannigfaltig den Besitzer gewechselt, blieben aber ansonsten in ihrer Struktur und ihren Beziehungen zu anderen Bereichen recht konstant. Damit sind gemeint z. B. die Zugehörigkeit zu Diozösen, zu Landständen, zu Rechtsbereichen ...
Die üblichen Darstellungen in den historischen Atlanten täuschen da leicht.
Da wird z. B. das "Herzogtum Baiern" nach der Abtrennung Kärntens gerne als Flächenstaat abgebildet. Das ist aber nur eine sehr vereinfachte Darstellung - weil man die internen Verhältnisse nicht gut kennt. De facto war der Herzog zwar formales Oberhaupt in diesem Bereich, aber direkt unter Kontrolle hat er nur einen (zersplitterten) Teil des Gebiets - ansonsten sind ihm zwar ansässige Bischöfe, Äbte, Städte oder Grafen theoretisch untertan, die agieren aber recht selbständig.
Einige Jahrhunderte später zeigen die Karten dann meist die realen Besitzverhältnisse (weil man sie kennt!). "Baiern" besteht aber nach wie vor aus mehr als nur den abgebildeten direkten Besitztümern der vier Wittelsbacher Linien. Wie man sehr gut bei der Bildung des bairischen Reichskreises sehen kann. Das ist immer noch fast das alte Baiern von 976. Und das ist das Gebiet, in dem bairisch gesprochen wird.
Die erste echte Neugliederung kommt nach dem Ende des alten Reichs und mit dem Wiener Kongreß. Da finden sich dann plötzlich über viele Jahrhunderte gewachsene schwäbische und fränkische Gebiete in Baiern wieder. Ab da passen auch im restlichen Deutschland Länder und sprachliche / kulturelle Einheiten nicht mehr zusammen.
Zitat von R.A. im Beitrag #23Wie man sehr gut bei der Bildung des bairischen Reichskreises sehen kann. Das ist immer noch fast das alte Baiern von 976. Und das ist das Gebiet, in dem bairisch gesprochen wird.
Nicht ganz, denn es fehlen Tirol und die Gebiete des mittelalterlichen Herzogtums Kärnten, einschließlich der marcha orientalis (die deutsche Form des Namens ist leider nicht mehr brauchbar).
Abgesehen vom Näseln des Kaiserdeutsch, das sich in mehr oder weniger abgeschwächter Form in Österreich verbreitet hat, ist die Grenze zwischen Bayern und Österreich keine Sprach-, weitgehend nicht einmal eine Dialektgrenze. Sie war nie ethnisch, sondern immer nur Resultat der Häckmäckchen lokaler Herren. Bis zur napoleonischen Katastrophe war das kein Problem, denn Bayern und Österreich waren eben nur politische Teile des Reiches. Als eigenständige Nation wurde Österreich eigentlich erst durch den Prager Frieden zum deutschen Krieg 1866 etabliert, mit dem eine großdeutsche Lösung zunächst einmal vom Tisch war. Das lag 1938 so nahe zurück, daß einige (im Gegensatz zu den österreichischen Nationalisten, die es auch gab) die Trennung noch für illusorisch und willkürlich hielten, freilich im Rausch einer ohnehin ganz anderen und vermeintlich besseren Weltordnung.
It is only by the collision of adverse opinions that the remainder of the truth has any chance of being supplied. - J. S. Mill
Zitat von Meister Petz im Beitrag #20Ich fordere Bayern in den Grenzen von 976.
Du willst auf Franken, Schwaben und die Pfalz verzichten? Landesverrat!
Franken? Historisch gesehen ein Flickenteppich aus ein paar Fürstbistümern, ein paar Reichsstädten, ein paar preußischen Satellitenstaaten und wasweißich wie vielen kleinen Herrschaften irgendwelcher Reichsritter mit einer Burg und ein paar Käffern drum rum. Die haben sich dem Königreich Bayern wie auch dem Freistaat nie richtig zugehörig gefühlt und waren dann stramm deutschnational.
Was die Pfalz angeht: Die Kurpfalz bzw. Rheinpfalz hat mit Baiern als Stammesgebiet nix zu tun. Die weitaus bedeutendere, weil altbayerische Oberpfalz ist dabei, der Hausvertrag von Pavia ist noch in weiter Ferne.
Um Bayerisch-Schwaben täte es mir zugegebenermaßen leid, meine Familie mütterlicherseits stammt aus dem Augsburgischen. Übrigens ist das das einzige Gebiet, wo die Sprachgrenze und die politische Grenze nicht zusammenpassen: Der Lech bildet die politische Grenze, die Sprachgrenze verläuft weiter östlich, nämlich mitten durch den Ammersee. Die Landsberger sind kulturell und sprachlich Schwaben, aber so ziemlich sie stolzesten Oberbayern, die man finden kann.
Das wird Ärger geben. Damit meine ich jetzt weniger die Regierung in Rom, sondern die Ansprüche der Badener. Die wollen doch nicht auf ihren Markgrafentitel verzichten.
Aber die hatten da unten eh wenig zu melden, oder?
Gruß Petz
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