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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 64 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
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TF Offline



Beiträge: 281

28.04.2015 20:01
#26 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von Florian im Beitrag #25

Was ja eindeutig unterschiedliche Kriterien sind. (Die gleichen Widersprüche gibt es übrigens auch in der englischsprachigen Wikipedia. )
Konkret ist ein Szenaro denkbar, nach dem die Tories die größte Partei sind, aber dennoch Labour eher in der Lage ist, eine mehrheitsfähige Regierung zu bilden.

An diesem Punkt müsste also die Queen die eingefahrenen Spuren verlassen und selbst echte politische Entscheidungen treffen.
Wobei sie sicher darauf achten wird, zumindest keinen PM zu ernennen, der eine klare Parlamentsmehrheit gegen sich hat.
Aber im Falle eines komplett zersplitterten Parlaments, in dem ÜBERHAUPT KEINE Mehrheits-Koalition gebildet wird, hat sie natürlich dann doch einigen Spielraum.


Es war auch bisher nicht durchgehend der Fall, dass der Premier aus der stärksten Fraktion kam, siehe David Lloyd George und Ramsay MacDonald. Das ist zwar schon lange her, aber in GB waren Einparteien-Mehrheitsregierungen schon vor 2010 keineswegs so selbstverständlich, wie man gemeinhin glaubt. Einer Königin, die es geschafft hat, 63 Jahre lang nie durch umstrittene Handlungen aufzufallen, wird das sicher auch jetzt gelingen.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

29.04.2015 10:15
#27 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von Florian im Beitrag #25
Was ja eindeutig unterschiedliche Kriterien sind. (Die gleichen Widersprüche gibt es übrigens auch in der englischsprachigen Wikipedia. )

Diese leichte Unklarheit selbst in wichtigen Dingen ist ja auch eine lange britische Tradition. Das hängt mit der pragmatischen Denkweise zusammen, die die Welt als komplexes und nicht vollständig begrifflich erfaßbares System akzeptiert; die gleiche Denkweise wird dann auch auf Dinge angewendet, die eigentlich eindeutig geregelt werden könnten. Für die deutsche Mentalität ist das natürlich ein Unding.
Zitat von Florian im Beitrag #25
Konkret ist ein Szenaro denkbar, nach dem die Tories die größte Partei sind, aber dennoch Labour eher in der Lage ist, eine mehrheitsfähige Regierung zu bilden.

Da kommt freilich noch die Sache mit den schottischen Mandaten ins Spiel. Sollte es einer konservativen Minderheitsregierung gelingen, das Prinzip "English votes for English laws" durchzusetzen (ein Verfassungspunkt, der eigentlich einem Referendum vorgelegt werden müßte), dann könnten die Konservativen jedenfalls für Fragen, die England (oder das Komplement von Schottland) betreffen, wenn man nur die englischen Wahlkreise (oder nur die nicht-schottischen - was eigentlich mit Wales passieren soll, ist bei dieser Verfassungsgedankenspielerei noch nicht richtig erwähnt worden) betrachtet, eine mehr oder weniger bequeme Mehrheit haben.

Problem gelöst? Aber mit dieser Lösung eines kleinen Problems schafft man ein viel größeres, denn ein solches Vorgehen würde die Spaltung des Vereinigten Königreichs nachhaltig zementieren.



A free society is a society where it is safe to be unpopular. - Adlai Stevenson

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

29.04.2015 10:18
#28 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von Florian im Beitrag #25
Nun könnte sie aber - zum ersten Mal in ihrer rekordlangen Amtszeit - zu einer echten politischen Richtungsentscheidung genötigt sein, mit der sie zwangsläufig einen Premierminister ernennen würde, den die Mehrheit ihrer Untertanen nicht gewollt hat.

Ein interessantes Szenario.
Meine persönliche Spekulation: In diesem Fall würde sie nicht einen der beiden Spitzenkandidaten ernennen. Den bei denen ist offensichtlich, daß sie von einer Mehrheit nicht gewollt sind.
Sondern sie würde "aus der zweiten Reihe" jemanden ernennen, der auch für die Gegenseite akzeptabel wäre (und der seinen eigenen Wahlkreis souverän geholthat). Der ist dann natürlich erkennbar ein Übergangspremier, der das Land nur einige Jahre ordentlich verwalten soll. Wenn er nur das macht (und das wäre machbar), wären alle halbwegs zufrieden und bei der nächsten Wahl werden die Karten neu gemischt. Und es gibt eine gewisse Chance, daß er überraschend gut ist (weil es in der zweiten Reihe oft interessante Leute gibt, denen nur die Hausmacht fehlt).

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

29.04.2015 10:22
#29 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #27
Sollte es einer konservativen Minderheitsregierung gelingen, das Prinzip "English votes for English laws" durchzusetzen (ein Verfassungspunkt, der eigentlich einem Referendum vorgelegt werden müßte)

Die Notwendigkeit eines Referendums sehe ich nicht. Aber um das zu beschließen, bräuchte man erst einmal eine Mehrheit im gesamten Unterhaus. Was durchaus möglich scheint, weil Schotten, Waliser und Nordiren da vielleicht mitmachen.

Zitat
wenn man nur die englischen Wahlkreise (oder nur die nicht-schottischen - was eigentlich mit Wales passieren soll, ist bei dieser Verfassungsgedankenspielerei noch nicht richtig erwähnt worden)


M. W. geht es nur um England. Die anderen drei Landesteile haben ja jeweils ein eigenes Parlament - nur England ist hier benachteiligt.

Zitat
Aber mit dieser Lösung eines kleinen Problems schafft man ein viel größeres, denn ein solches Vorgehen würde die Spaltung des Vereinigten Königreichs nachhaltig zementieren.


Eigentlich nicht. Es wäre eine Föderalisierung, die Gesamt-Union könnte sogar dadurch stabilisiert werden.

Problematisch finde ich nur, daß die Teilparlamente m. W. unterschiedliche Kompetenzen haben. D.h. es gibt Themen, die können z. B. die Schotten für sich erledigen, die Waliser nicht. Dann wäre umgekehrt nicht leicht abzugrenzen, was das Gesamtparlament für das UK insgesamt regelt und wo ein englisches Teilparlament zuständig wäre.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

29.04.2015 10:51
#30 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #29
Zitat von Fluminist im Beitrag #27
Sollte es einer konservativen Minderheitsregierung gelingen, das Prinzip "English votes for English laws" durchzusetzen (ein Verfassungspunkt, der eigentlich einem Referendum vorgelegt werden müßte)

Die Notwendigkeit eines Referendums sehe ich nicht.

Das "eigentlich" bezog sich ja auf meine persönliche Meinung, nicht auf einen Verfassungszwang. Nach der letzten Unterhauswahl gab es ein Referendum über eine Wahlrechtsreform (angeleiert von den LibDems, die meinten, "first past the post" benachteilige sie und gäbe ein zu wenig buntes Parlament; daraus wurde natürlich nichts), und im Vergleich scheint mir "English votes for English laws" ein deutlich drastischerer Eingriff in das Westminstersystem zu sein.
Zitat von R.A. im Beitrag #29
M. W. geht es nur um England. Die anderen drei Landesteile haben ja jeweils ein eigenes Parlament - nur England ist hier benachteiligt.
[...]
Eigentlich nicht. Es wäre eine Föderalisierung, die Gesamt-Union könnte sogar dadurch stabilisiert werden.

Problematisch finde ich nur, daß die Teilparlamente m. W. unterschiedliche Kompetenzen haben. D.h. es gibt Themen, die können z. B. die Schotten für sich erledigen, die Waliser nicht. Dann wäre umgekehrt nicht leicht abzugrenzen, was das Gesamtparlament für das UK insgesamt regelt und wo ein englisches Teilparlament zuständig wäre.

Föderalisierung schön und gut, aber dann sollte man auch wirklich Nägel mit Köpfen machen. Eben wegen der Asymmetrie in Bezug auf England ist die Devolution eine Mißgeburt, und wie Sie schreiben, haben sich auch die Kompetenzen der Regionalparlamente in Schottland und Wales (Nordirland ist sowieso noch einmal ein Sonderfall) auseinanderentwickelt. Schottland und Wales haben in ihrem Verhältnis zu England recht unterschiedliche historische Hintergründe (alles wegen William Wallace und Robert the Bruce - wäre Edward III in Schottland so erfolgreich gewesen wie Edward I in Wales, dann hätten wir heute das Problem mit Nicola Sturgeon nicht ), und vor allem haben der Separatismus und das Eigenständigkeitsgefühl in Schottland eine sehr viel breitere Basis in der Bevölkerung als in Wales. Kurz gesagt, "die Schotten", d.h. die SNP, schreien immer nach mehr Rechten, und aus Symmetriegründen bekommen die Waliser dann auch einen Bruchteil davon, um den sie gar nicht gebeten haben.

Um die Sache auf die Füße zu stellen, müßte man England ein Parlament geben und die Rechte aller 4 Regionalparlamente einheitlich gegen die Zentrale in Westminster abgrenzen. Aber das geht nicht, denn eine auf dem Reißbrett konstruierte, in schriftliche Regeln gefaßte Verfassung widerspräche der britischen Mentalität und aller Tradition.
Also entwickelt sich die Sache organisch. Sollte wirklich eine Regel eingeführt werden, daß in Westminster zweierlei Klassen von Abgeordneten sitzen, dann bekommt die krummgewachsene Devolution nur noch einen weiteren Buckel. Für den Erhalt der Union scheint es mir auch nicht gerade förderlich, die schottischen (und walisischen, nordirischen) Abgeordneten von bestimmten Abstimmungen auszuschließen, selbst wenn diese "nur England betreffen"; einerseits wegen des psychologischen Effekts, andererseits, weil gerade im Fall vom Wales, das bisher rechtlich und von der Gesetzeslage praktisch vollkommen an England gekoppelt ist (anders als Schottland, das seinerzeit bei der Bildung der Union fatalerweise sein eigenes Rechtswesen etc. behalten durfte), ziemlich klar ist, daß englische Gesetze auch auf Wales wirken, schon wegen der wirtschaftlichen Abhängigkeit.



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Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

29.04.2015 12:29
#31 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #28
Zitat von Florian im Beitrag #25
Nun könnte sie aber - zum ersten Mal in ihrer rekordlangen Amtszeit - zu einer echten politischen Richtungsentscheidung genötigt sein, mit der sie zwangsläufig einen Premierminister ernennen würde, den die Mehrheit ihrer Untertanen nicht gewollt hat.

Ein interessantes Szenario.
Meine persönliche Spekulation: In diesem Fall würde sie nicht einen der beiden Spitzenkandidaten ernennen. Den bei denen ist offensichtlich, daß sie von einer Mehrheit nicht gewollt sind.
Sondern sie würde "aus der zweiten Reihe" jemanden ernennen, der auch für die Gegenseite akzeptabel wäre (und der seinen eigenen Wahlkreis souverän geholthat). Der ist dann natürlich erkennbar ein Übergangspremier, der das Land nur einige Jahre ordentlich verwalten soll. Wenn er nur das macht (und das wäre machbar), wären alle halbwegs zufrieden und bei der nächsten Wahl werden die Karten neu gemischt. Und es gibt eine gewisse Chance, daß er überraschend gut ist (weil es in der zweiten Reihe oft interessante Leute gibt, denen nur die Hausmacht fehlt).

Das ist ein interessanter Gedanke, der durchaus Realität werden könnte. Allerdings sieht der political editor der BBC, Nick Robinson, die Sache doch mehr unter dem Blickwinkel einer Mehrheitskoalition, wie in anderen Demokratien üblich:

Zitat von BBC
Any party leader can try to do the deals needed to get a majority of MPs to back them in the House of Commons.
Who has the votes needed to get their proposals for new laws passed? That - and that alone - is what determines who becomes prime minister.

Jeder Parteiführer kann versuchen eine ihn unterstützende Mehrheit von Abgeordneten im Unterhaus auszuhandeln.
Wer hat genug Stimmen, um seine Gesetzesvorlagen durchzubringen? Dies - und dies allein - bestimmt, wer Premierminister wird.


Und außerdem -

Zitat von Florian im Beitrag #25
Nun könnte sie aber - zum ersten Mal in ihrer rekordlangen Amtszeit - zu einer echten politischen Richtungsentscheidung genötigt sein, mit der sie zwangsläufig einen Premierminister ernennen würde, den die Mehrheit ihrer Untertanen nicht gewollt hat.

Genau genommen hat sie das schon 2010 getan. Die "Mehrheit der Untertanen" spielt beim Mehrheitswahlrecht ohnehin eine untergeordnete Rolle, aber die Mehrheit der Parlamentssitze hatte Cameron ja nicht, und es wurde auch im Wahlkampf nicht auf eine Koalition hingearbeitet.



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Florian Offline



Beiträge: 3.135

29.04.2015 13:35
#32 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Nachtrag:

Logischerweise wird die rechtliche Diskussion, welchen Spielraum der Monarch bei unklaren Mehrheitsverhältnissen hat, in England auch schon vorab akademisch geführt.
Hier ein Paper, dass ich auf der Homepage des Parlaments gefunden habe:
http://www.parliament.uk/briefing-papers...ung-parliaments

Es zitiert verschiedene Fachmeinungen, die sich im Detail aber nicht ganz einig sind.
Allgemeiner Konsens scheint zu sein, dass der Monarch so wenig wie möglich in politische Entscheidungsprozesse involviert sein sollte. Kein Konsens besteht, wie das erreicht werden soll und wie vorgegangen werden soll, wenn die Parteien selbst sich auf keinen PM einigen können.

Hier einige Zitate aus dem Paper:

Robert Blackburn:

Zitat
…it is unreal politically and inappropriate constitutionally to acknowledge – and indeed to advocate – a personal discretionary power for an hereditary monarch to operate as the means for determining the outcome of a general election. There needs to be, and is already in existence, an established procedure and basis for the resolution of who will be Prime Minister after a general election that produces a House of Commons with no overall majority for a single party:
Procedures for prime ministerial appointment under “hung” Parliaments

The incumbent Prime Minister has the first opportunity to continue in office and form an administration.

If he is unable to do so (and resigns, or is defeated on the Address at the meeting of Parliament), then the leader of the largest opposition party is appointed Prime Minister.



Rodney Brazier:

Zitat
in a situation where a majority coalition might turn out to be on the cards, with or without a change in the Leadership of one party, but the largest minority party might insist that it had a right to take office on its own. In such a case of irreconcilable disagreement the guiding light would be extinguished and the Queen would have to become involved.
(...)
Far from encouraging royal intervention, I actually urge the opposite: that the Queen’s undoubted legal power to choose a Prime Minister should be used to enhance the democratic process, rather than to pre-empt it. Only if politicians failed to produce a way forward in a hung Parliament – which might be highly unlikely – would any royal action be necessary. It would then – and only the – that my idea … of the Queen receiving party leaders in turn might possibly come into play.



Robert Hazell:

Zitat
... has suggested that the House of Commons should hold an investiture vote to help encourage certainty and public understanding of who governs in a hung parliament situation:




Eine ähnliche Diskussion gab es übrigens anlässlich der letzten Unterhauswahl auf www.wahlrecht.de
(http://www.wahlrecht.de/forum/messages/40/4289.html)
Dort wurde auf ein anderes Papier verlinkt. Der Link funktioniert leider nicht mehr.
Aber die Diskussion über das verlinkte Papier ist vielleicht interessant nachzulesen.

Ich zitiere mich aus der damaligen Diskussion selbst betreffend die Verfassungswirklichkeit in England:

Zitat

Einen besonders überraschenden Einblick in die sehr spezielle britische Verfassungswirklichkeit gibt es in dem Dokument übrigens auf S. 18.
Dort wird die These aufgestellt, dass ein von einem Verfassungsrechtler vor 60 Jahren anonym (!) in einer Tageszeitung (!) veröffentlichter Leserbrief (!) ein "constituional document that now guides us" sei.
Ganz offensichtlich hat dieser Brief keinen "verfassungsgebenden" Prozess durchlaufen, wie wir das in Deutschland anerkennen würden. Sein Verfassungsrang wird viel mehr daraus gezogen, dass seine Argumentation schlüssig ist und dass ihr von gewichtiger Seite nie deutlich widersprochen wurde.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

29.04.2015 14:46
#33 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #31
Allerdings sieht der political editor der BBC, Nick Robinson, die Sache doch mehr unter dem Blickwinkel einer Mehrheitskoalition ...

Nicht ganz. Er sieht es - völlig zu Recht - unter dem Blickwinkel von möglichen/nötigen Parlamentsmehrheiten. Was aber nicht unbedingt Koalition bedeuten muß.
Es ist durchaus eine Minderheitsregierung denkbar, die sich dann jeweils fallweise eine Mehrheit sucht. Was durchaus zur britischen Tradition mit ihrer starken Betonung der einzelnen Abgeordneten passen würde.
Und genau hier wäre jemand "aus der zweiten Reihe" wahrscheinlich erfolgreicher als ein Spitzenkandidat, der vorher im Wahlkampf notwendigerweise polarisieren und mögliche Partner vor den Kopf stoßen mußte.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

29.04.2015 15:16
#34 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #33
Zitat von Fluminist im Beitrag #31
Allerdings sieht der political editor der BBC, Nick Robinson, die Sache doch mehr unter dem Blickwinkel einer Mehrheitskoalition ...

Nicht ganz. Er sieht es - völlig zu Recht - unter dem Blickwinkel von möglichen/nötigen Parlamentsmehrheiten. Was aber nicht unbedingt Koalition bedeuten muß.
Es ist durchaus eine Minderheitsregierung denkbar, die sich dann jeweils fallweise eine Mehrheit sucht. Was durchaus zur britischen Tradition mit ihrer starken Betonung der einzelnen Abgeordneten passen würde.
Und genau hier wäre jemand "aus der zweiten Reihe" wahrscheinlich erfolgreicher als ein Spitzenkandidat, der vorher im Wahlkampf notwendigerweise polarisieren und mögliche Partner vor den Kopf stoßen mußte.

Stimmt, eine Minderheitsregierung ist durchaus denkbar. Aber eine "fallweise" Suche nach Mehrheit würde das von Robinson genannte Kriterium für den Premierminister zeitabhängig machen. Der Knackpunkt ist wohl die Abstimmung über die Regierungserklärung, die die neue Regierung überstehen muß. Schafft sie da keine Mehrheit, dann sieht es schlecht aus.

Interessant (wenn auch offenbar nicht unumstritten) ist das von Florian zitierte Verfahren

Zitat
The incumbent Prime Minister has the first opportunity to continue in office and form an administration.
If he is unable to do so (and resigns, or is defeated on the Address at the meeting of Parliament), then the leader of the largest opposition party is appointed Prime Minister.
Der amtierende Premierminister hat zunächst die Gelegenheit im Amt zu bleiben und eine Regierung zu bilden.
Wenn er dazu nicht imstande ist (und zurücktritt oder bei der Regierungserklärung scheitert), dann wird der Führer der stärksten Oppositionspartei zum Premierminister ernannt.


Das klingt zunächst einmal ganz klar und eindeutig. Es ist dabei aber unklar, warum der Führer der stärksten Oppositionspartei mehr Glück bei der Regierungsbildung haben sollte. Es kann sich also nur um die ersten beiden Schritte des Verfahrens handeln, und danach geht das Rätselraten oder die Kreativität los.



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FTT_2.0 Offline



Beiträge: 537

30.04.2015 16:29
#35 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #30

Um die Sache auf die Füße zu stellen, müßte man England ein Parlament geben und die Rechte aller 4 Regionalparlamente einheitlich gegen die Zentrale in Westminster abgrenzen. Aber das geht nicht, denn eine auf dem Reißbrett konstruierte, in schriftliche Regeln gefaßte Verfassung widerspräche der britischen Mentalität und aller Tradition.


Was weitere Regionalparlamente angeht, war das ja in gewisser Weise Teil des New-Labour-Programms um die Jahrtausendwende, nur dass das Referendum für eine nordostenglische Regionalversammlung mit sehr deutlicher Mehrheit gescheitert ist.

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 13.527

01.05.2015 03:06
#36 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Pat Condell, 22 April 2015: "We have a democracy problem"



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

01.05.2015 12:46
#37 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von FTT_2.0 im Beitrag #35
Zitat von Fluminist im Beitrag #30

Um die Sache auf die Füße zu stellen, müßte man England ein Parlament geben und die Rechte aller 4 Regionalparlamente einheitlich gegen die Zentrale in Westminster abgrenzen. Aber das geht nicht, denn eine auf dem Reißbrett konstruierte, in schriftliche Regeln gefaßte Verfassung widerspräche der britischen Mentalität und aller Tradition.


Was weitere Regionalparlamente angeht, war das ja in gewisser Weise Teil des New-Labour-Programms um die Jahrtausendwende, nur dass das Referendum für eine nordostenglische Regionalversammlung mit sehr deutlicher Mehrheit gescheitert ist.

Föderalisierung ist eben leichter gesagt als getan. Erfolgreiche Bundesstaaten haben ihre historische Wurzeln schon im Prozeß der Staatenbildung; z.B. sind die USA als Zusammenschluß der zu Staaten entwickelten früheren Kolonien bzw. Territorien entstanden, und auch die Bundesrepublik Deutschland greift darauf zurück, daß Deutschland schon in der Zeit des Heiligen Römischen Reichs, also seit dem späten Frühmittelalter, immer die Struktur eines föderalen Zusammenschlusses kleinerer politischer Einheiten hatte.
In Großbritannien war die historische Entwicklung anders, und in ihren Grundzügen spiegelt die Verfassung noch heute die Situation und Mentalität ihrer Entstehungszeit im 14. Jahrhundert wider: das parlamentarische Königreich England mit annektierten, von schrulligen Typen bewohnten Kolonien in Wales und Irland und mit einer Nordgrenze zum benachbarten und im wesentlichen feindlichen Schottland. Der letzte Aspekt war in den vergangenen 300 Jahren durch die Union heruntergespielt, aber den Charakter eines Bundesstaates mit in einer übergeordneten Struktur zusammengefaßten, in gewissen Punkten gleichberechtigten Teilstaaten hatte die Union nie. Die übergeordnete Struktur war nie deutlich von England getrennt.

Freilich wäre es, nüchtern von außen betrachtet, vielleicht kein allzu großer verfassungsgebender Schritt, eine solche Trennung herzustellen. Aber es gibt keine Tradition, keinen Ansatzpunkt in der Mentalität für diese Konstruktion. Der Gedanke einer (im Hinblick auf die Größenunterschiede zwar nicht zwingende, aber naheliegende) Aufteilung und Föderalisierung Englands wäre sogar ein Rückschritt vor die Integrationsleistung des englischen Mittelalters und wird daher mit äußerster Skepsis beäugt - und, wie bei dem zitierten Referendum, abgelehnt. Unter dem Blickwinkel der historisch vorliegenden Situationen wäre die logische und naheliegende Reaktion auf eine Wiederbelebung der Feindseligkeit Schottlands gegen England (wie sie durch die SNP sichtlich erfolgreich betrieben und verkörpert wird) tatsächlich keine Föderalisierung, sondern die Aufhebung der Union.

In diesem Zusammenhang auch bemerkenswert: bei einer Fernseh-Fragestunde hat Ed Miliband gestern abend eine mit SNP koalierende oder durch die SNP gestützte/geduldete Labour-Regierung ausgeschlossen. Das war selbstverständlich taktisches Wahlkampfgerede nach dem Motto "was kümmert mich morgen mein Geschwätz von heute"; ich vermute, daß er auf diese Weise abtrünnig gewordene schottische Labourwähler zurückgewinnen will, die vielleicht meinen könnten, mit einer Stimmabgabe zugunsten der SNP zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen (schottischer Nationalismus zu Hause und zugleich Unterstützung einer Labour-SNP-Koalition). Aber wir wissen ja, daß solche Dinge dann am Wahlabend wieder ganz anders aussehen.
Jedenfalls begänne eine Labour-Regierung (außer in dem unwahrscheinlichen Fall, daß Labour ohne SNP eine Mehrheit fände) schon gleich mit einem gebrochenen Versprechen.



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R.A. Offline



Beiträge: 8.171

04.05.2015 10:48
#38 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #37
Aber es gibt keine Tradition, keinen Ansatzpunkt in der Mentalität für diese Konstruktion.

Das ist richtig.
Aber die Briten sind oft erstaunlich hemdsärmlig im Umgang mit der Tradition. Wie da z. B. Grafschaften oder Kommunen neu geschaffen oder gestrichen werden - das wäre in vielen Ländern kaum denkbar.
Und dann wird das mit traditionellen Pomp garniert, so daß es alt aussieht. Da kommt dann z. B. bei der Amtseinführung eines Bürgermeisters oder Sheriffs die Mannschaft in Livrée und Wappen als wäre das direkt von Alfred dem Grossen so gestaltet worden. Und ist dann doch erst alles drei Jahre alt ;-)

Mein Eindruck ist auch, daß die Regionalparlamente in Wales und Schottland relativ gut arbeiten und angenommen werden. Wobei es ja gerade in Wales überhaupt keine parlamentarische Tradition vor Ort gibt.

Westminster in ein englisches und ein britisches Parlament aufzuteilen wäre natürlich ein großer Schritt. Aber ich könnte mir vorstellen, daß die Gremien danach relativ schnell und pragmatisch die Arbeit aufnehmen und das ordentlich funktionieren wird. Und dann wäre auch die große Zeit der SNP wohl bald vorbei. Weil sie dann im wesentlichen an ihrer Bilanz in Schottland gemessen wird und nicht an der Lautstärke gegenüber England.

Zitat
In diesem Zusammenhang auch bemerkenswert: bei einer Fernseh-Fragestunde hat Ed Miliband gestern abend eine mit SNP koalierende oder durch die SNP gestützte/geduldete Labour-Regierung ausgeschlossen.


Und zwar mit einer Klarheit, die m. E. kaum noch eine Hintertür offen läßt. Wenn er das am Wahlabend wieder kippt, riskiert er einen Ypsilanti-Effekt.

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

04.05.2015 11:14
#39 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #38
Zitat von Fluminist im Beitrag #37
Aber es gibt keine Tradition, keinen Ansatzpunkt in der Mentalität für diese Konstruktion.

Das ist richtig.
Aber die Briten sind oft erstaunlich hemdsärmlig im Umgang mit der Tradition. Wie da z. B. Grafschaften oder Kommunen neu geschaffen oder gestrichen werden - das wäre in vielen Ländern kaum denkbar.
Und dann wird das mit traditionellen Pomp garniert, so daß es alt aussieht. Da kommt dann z. B. bei der Amtseinführung eines Bürgermeisters oder Sheriffs die Mannschaft in Livrée und Wappen als wäre das direkt von Alfred dem Grossen so gestaltet worden. Und ist dann doch erst alles drei Jahre alt ;-)

Weil das englische Traditionsverständnis ein anderes ist als das deutsche. Entsprechend auch dem viel weniger kodifizierten Recht wird der Geist tradiert und nicht der Buchstabe.

Deutsche Tradition - das sieht man am schönsten bei der Brauchtumspflege - funktioniert in der Regel so, dass ein mehr oder weniger gelernter Volkskundler (halt, Autobahn, ich meine natürlich "Europäischer Ethnologe") an Hand von mehr oder weniger seriösen Quellen nachweist, dass in unserem Dorf die Eier des Osterbrunnens* seit 1827 rot gefärbt sind. Darauf sind wir stolz, und sie im nächsten Jahr blau zu färben, wäre ein Verrat an der Tradition.

Der Brite dagegen hat überhaupt kein Problem damit, selbst jahrhunderte alte Regeln zu ändern, wenn ihm eine neue Regel ihm geboten erscheint. Wir [edit: damit meine ich die Briten] ändern es, damit es so bleibt, wie es ist.

Gruß Petz

* Das Beispiel des Osterbrunnens habe ich bewusst gewählt, weil es sehr typisch für den Umgang mit Tradition in Deutschland steht: http://de.wikipedia.org/wiki/Osterbrunne...er_Osterbrunnen

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

Kallias Offline




Beiträge: 2.297

04.05.2015 12:02
#40 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von Meister Petz im Beitrag #39
Weil das englische Traditionsverständnis ein anderes ist als das deutsche. Entsprechend auch dem viel weniger kodifizierten Recht wird der Geist tradiert und nicht der Buchstabe.

Deutsche Tradition - das sieht man am schönsten bei der Brauchtumspflege - funktioniert in der Regel so, dass ein mehr oder weniger gelernter Volkskundler (halt, Autobahn, ich meine natürlich "Europäischer Ethnologe") an Hand von mehr oder weniger seriösen Quellen nachweist, dass in unserem Dorf die Eier des Osterbrunnens* seit 1827 rot gefärbt sind. Darauf sind wir stolz, und sie im nächsten Jahr blau zu färben, wäre ein Verrat an der Tradition.
Weiß nicht.

Wenn man Wikip. glauben will, dann war die Osterbrunnen-Tradition von Anfang an (1909) bis heute eine Form der Tourismuswerbung (80 Busse täglich nach Heiligenstatt in Oberfranken!). Die Ansichten der Volkskundler spielen überhaupt keine Rolle. Bei uns im Donautal haben Heimatforscher protestiert, als der erste Osterbrunnen geschmückt wurde: solch fränkischer Brauch habe hier nichts zu suchen. Seitdem gibt's jedes Jahr einen.

Mir kommt das alles recht britisch vor.

Herzliche Grüße,
Kallias

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 13.527

04.05.2015 12:06
#41 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von Meister Petz im Beitrag #39
Wir [edit: damit meine ich die Briten] ändern es, damit es so bleibt, wie es ist.


Im prägnanten Original heißt das: "Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi."(G. Tomasi di Lampedusa, Il Gattopardo)
)



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

04.05.2015 12:46
#42 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von Kallias im Beitrag #40
Wenn man Wikip. glauben will, dann war die Osterbrunnen-Tradition von Anfang an (1909) bis heute eine Form der Tourismuswerbung (80 Busse täglich nach Heiligenstatt in Oberfranken!). Die Ansichten der Volkskundler spielen überhaupt keine Rolle. Bei uns im Donautal haben Heimatforscher protestiert, als der erste Osterbrunnen geschmückt wurde: solch fränkischer Brauch habe hier nichts zu suchen. Seitdem gibt's jedes Jahr einen.

Mir kommt das alles recht britisch vor.

Bin ja gespannt, ob die nächsten Audi-Modelle als Right-hand-drive rauskommen .

Aber ich meine damit eher die typische Herangehensweise, die Tradition aus der Gleichförmigkeit über die Zeitdauer zu konstruieren als aus einer Lebensart heraus (deine protestierenden Heimatpfleger tun ja auch nix anderes).

Gruß Petz

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

08.05.2015 09:30
#43 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #38
Zitat von Fluminist im Beitrag #37
In diesem Zusammenhang auch bemerkenswert: bei einer Fernseh-Fragestunde hat Ed Miliband gestern abend eine mit SNP koalierende oder durch die SNP gestützte/geduldete Labour-Regierung ausgeschlossen.

Und zwar mit einer Klarheit, die m. E. kaum noch eine Hintertür offen läßt. Wenn er das am Wahlabend wieder kippt, riskiert er einen Ypsilanti-Effekt.

Offenbar haben auch viele frühere Labour-Wähler erkannt, was für eine unrealistische, unlogische Position Miliband hier vertrat. Labour hat deutlich verloren, und es sieht nun sogar nach einer knappen Mehrheit für die Conservatives aus.

Schottland wird im Unterhaus fast vollständig durch (überwiegend Polit-Frischlinge der) SNP vertreten sein, in der Opposition. Was das für die Entwicklung des Verhältnisses zwischen England und Schottland bedeutet, wird sich zeigen.



A free society is a society where it is safe to be unpopular. - Adlai Stevenson

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

08.05.2015 10:46
#44 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #43
Offenbar haben auch viele frühere Labour-Wähler erkannt, was für eine unrealistische, unlogische Position Miliband hier vertrat. Labour hat deutlich verloren, und es sieht nun sogar nach einer knappen Mehrheit für die Conservatives aus.

Labour hat Sitze verloren, aber bei den Stimmen sogar leicht zugelegt. Das Wahlergebnis ist m. E. nicht auf das Verhalten der Labour-Wähler zurückzuführen. Unterm Strich ist es ja sogar egal, daß in Schottland Sitze von Labour zur SNP gegangen sind.

Entschieden hat sich die Wahl rechts. Und offenbar überraschend deutlich so, wie ich das in #4 geschrieben hatte:

Zitat
Mein vorsichtiger Tip wäre, daß die Tories im Endspurt noch Boden gut machen werden. Die Unzufriedenheit ihrer Wähler scheint mir nicht so fundamental wie die auf der Gegenseite. Und gerade die Spekulation einer SNP-gestützten Labour-Minderheitsregierung dürfte sehr viele englische Wähler dazu bringen, am Ende doch wieder bei den Tories zu landen.


Es ist halt so, daß die UKIP nicht den erwarteten Durchmarsch geschafft hat. Sie hat Stimmen gewonnen, die die Tories aber bei den LibDems kompensieren konnten. Aber der UKIP-Zuwachs war nicht deutlich genug, um ihr Mandate zu bringen. Und deswegen kann Cameron nun weiterregieren.
Daß die neue Regierung nur noch ein Drittel der Wähler hinter sich hat (die alte hatte deutlich die Mehrheit), das stört die Briten ja nicht.

Zitat
Schottland wird im Unterhaus fast vollständig durch (überwiegend Polit-Frischlinge der) SNP vertreten sein, in der Opposition. Was das für die Entwicklung des Verhältnisses zwischen England und Schottland bedeutet, wird sich zeigen.


Meine Vermutung: Cameron nutzt jetzt seine Mehrheit, um die englischen Belange nur von den englischen MPs entscheiden zu lassen. Dann ist die SNP bei vielen Fragen schlicht außen vor. Und Labour wird sich entsetzlich schwer tun, mit diesem Kurs umzugehen.
Das Gesamtparlament wäre dann nur noch für die gesamtbritischen Belange zuständig. Und da glaube ich nicht, daß die SNP ein überzeugendes Bild abgeben wird. Ihr Radikal-Pazifismus ist eigentlich auch in Schottland nicht wirklich mehrheitsfähig, ansonsten hat sie nicht viel zu bieten.

Der nächste Test wird also die schottische Parlamentswahl sein. Da wird dann eine SNP-Regierung bewertet, die sich innerhalb Schottlands m. E. nur mäßig mit Ruhm bekleckert hat. Dies aber nicht mehr durch nationalistische, d.h. anti-englische Aufwallungen kompensieren kann.
Soll heißen: Es gibt eine gute Wahrscheinlichkeit, daß die SNP bei der nächsten schottischen Wahl verliert. Und ihre Vertreter in Westminster sitzen weitgehend bedeutungslos am Spielfeldrand. Ich sehe da viel Frust auf die SNP zukommen.

Frank2000 Offline




Beiträge: 3.256

08.05.2015 10:58
#45 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #44

Daß die neue Regierung nur noch ein Drittel der Wähler hinter sich hat (die alte hatte deutlich die Mehrheit), das stört die Briten ja nicht.



Wer sind "die Briten"? Wollten sie damit ausdrücken, dass die Zweidrittel nicht repräsentierten Briten einverstanden sind, die gesammte politische Gestaltungsmacht an eine Minderheit abzugeben?

___________________
Kommunismus mordet.
Ich bin bereit, über die Existenz von Einhörnern zu diskutieren. Aber dann verlange ich außergewöhnlich stichhaltige Beweise.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

08.05.2015 11:07
#46 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von Frank2000 im Beitrag #45
Wer sind "die Briten"?

Die Wähler in England, Schottland, Wales und Nordirland.

Zitat
Wollten sie damit ausdrücken, dass die Zweidrittel nicht repräsentierten Briten einverstanden sind, die gesammte politische Gestaltungsmacht an eine Minderheit abzugeben?


Bisher war das der Fall, und ich sehe bisher keine Anzeichen, daß sich das ändern würde.
Cameron hat eine Mehrheit im Parlament, und das wird als legitime Regierungsbasis akzeptiert.

Fluminist Offline




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08.05.2015 11:09
#47 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #44
Ich sehe da viel Frust auf die SNP zukommen.

Sehe ich auch so. Im Grunde ist der große Erfolg diesmal ein Pyrrhussieg. Der Plan war wohl, als Koalitionspartner einen (dem UK-weit gerechnet unter 5% liegenden Stimmenanteil der SNP nicht entsprechenden) Einfluß in der Regierung zu gewinnen und, nachdem die Abspaltung Schottlands zunächst gescheitert ist, ganz Großbritannien in Schottland zu verwandeln. Das hat nicht geklappt. Jetzt sitzen sie in der Opposition, und für Schottland bedeutet das Ergebnis, daß es überhaupt keine schottischen Regierungsmitglieder mehr geben wird. Unabhängig von der Frage, ob das Prinzip "English votes for English laws" nun durchgezogen wird (mit all den verfassungsmäßigen Implikationen, die wir schon diskutiert haben), haben die Schotten also auf UK-Ebene in den nächsten 5 Jahren nichts zu melden. Kurz gesagt, die SNP hat auf ganzer Linie gewonnen, Schottland verloren.

Das könnte entweder Reue bei den SNP-Wählern bewirken oder - wenn ich die schottische Mentalität richtig einschätze, wahrscheinlicher - eine Trotzreaktion gegen die rein englische Regierung, mit einer Wiederauflage der Separationsfrage.*

(Die Hauptsache ist aber: Jacob Rees-Mogg wurde fast mit absoluter Mehrheit wieder ins Parlament gewählt, also darf man sich weiterhin auf gelegentliche rhetorische Perlen in der Adjournment Debate freuen.)

* Nachtrag: Die SNP spielt hier auch eine etwas unscharf definierte Rolle. Wären sie echte Separatisten, die es ernst meinen, dann dürften sie wie Sinn Fein ihre Westminster-Mandate nicht wahrnehmen. Ich glaube aber nicht, daß sie so weit gehen wollen, und so tanzen sie am Ende auf zwei Kirchböden, was auf die Dauer negative Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit haben kann.



A free society is a society where it is safe to be unpopular. - Adlai Stevenson

Fluminist Offline




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08.05.2015 11:30
#48 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von Frank2000 im Beitrag #45
Zitat von R.A. im Beitrag #44

Daß die neue Regierung nur noch ein Drittel der Wähler hinter sich hat (die alte hatte deutlich die Mehrheit), das stört die Briten ja nicht.



Wer sind "die Briten"? Wollten sie damit ausdrücken, dass die Zweidrittel nicht repräsentierten Briten einverstanden sind, die gesammte politische Gestaltungsmacht an eine Minderheit abzugeben?

Verhältniswahlrecht in der einen oder anderen Form wurde in der Endphase des Wahlkampfs auch wieder ins Spiel gebracht, vor allem von den Parteien, die UK-weit agieren und ihren Stimmenanteil nur schwer in Mandate verwandeln können (LibDem und UKIP). Aber ein reines Verhältniswahlrecht würde zu einer ganz anderen politischen Landschaft führen; die nationalen Parteien Plaid Cymru, SNP und alles, was in Nordirland antritt, würden etwa die gleiche Rolle spielen wie die Bayernpartei bei der Bundestagswahl und hätte, wenn man eine 5%-Klausel ansetzt, nie Abgeordnete im Parlament. Das wäre äußerst gewöhnungsbedürftig und würde auch wieder als unfair angesehen.
Etwas bessere Chancen als beim einfachen Mehrheitswahlrecht hätten Parteien wie UKIP bei dem "transferable alternative vote"-System, das aber erst vor ein paar Jahren im Referendum gescheitert ist. Das ist den Leuten einfach zu kompliziert, und was der Bauer nicht kennt, das frißt er nicht.

Ein Parteilistenwahlsystem wie in Deutschland würde aber ganz wesentliche Vorteile des Mehrheitswahlrechts, die in GB auch ziemlich allgemein und klar als Vorteile gesehen werden, über Bord werfen. Beispielsweise die Möglichkeit, eine prominente Führungsfigur von Labour, den ehem. shadow chancellor Ed Balls, abzuwählen, wie soeben passiert.

Es ist eben ein Grundsatzfrage, was ein politisches Mandat definiert. Die klare Bindung des Abgeordneten an seinen Wahlkreis ist in GB ein traditioneller und ziemlich unerschütterlicher demokratischer Wert.



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R.A. Offline



Beiträge: 8.171

08.05.2015 11:44
#49 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #47
... und für Schottland bedeutet das Ergebnis, daß es überhaupt keine schottischen Regierungsmitglieder mehr geben wird.

Ein sehr interessanter Aspekt.
Aber ist es wirklich so, daß ein Regierungsmitglied auch MP sein muß? Und einen schottischen MP hat Cameron ja auch noch ...

Zitat
Das könnte entweder Reue bei den SNP-Wählern bewirken oder - wenn ich die schottische Mentalität richtig einschätze, wahrscheinlicher - eine Trotzreaktion gegen die rein englische Regierung, mit einer Wiederauflage der Separationsfrage.


Das kommt jetzt sehr darauf an, wie Cameron konkret agiert. Grundsätzlich können sich die Schotten nicht wirklich trotzig fühlen, wenn sie konsequent Opposition wählen und dann auch in der Opposition sind. Die Frage ist halt, ob das mit der "rein englischen Regierung" in der Praxis spürbar ist.
Wenn sich Westminster weitgehend aus den schottischen Themen raushält, und die SNP das in Edinburgh gegen die dortige Opposition selber ausfechten muß, dann könnte insgesamt schon die Erkenntnis in Schottland reifen, daß man sich mit dem Wahlverhalten ins eigene Knie geschossen hat. Ich würde das dann nicht "Reue" nennen, aber wenn die nationalen Aufwallungen mal in den Hintergrund treten, sind Schotten sind ja durchaus sehr nüchterne und realitätsnahe Menschen.

Zitat
Die SNP spielt hier auch eine etwas unscharf definierte Rolle. Wären sie echte Separatisten, die es ernst meinen, dann dürften sie wie Sinn Fein ihre Westminster-Mandate nicht wahrnehmen. Ich glaube aber nicht, daß sie so weit gehen wollen, und so tanzen sie am Ende auf zwei Kirchböden, was auf die Dauer negative Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit haben kann.


Noch ein sehr interessanter Aspekt, der mir bisher nicht aufgefallen war.

Zumindestens müßten die SNPler ganz deutlich mitmachen, falls Cameron die englischen Themen rausdefiniert. Bei den gesamtbritischen könnten (und müßten) sie natürlich immer noch mitstimmen, solange Schottland halt eben dazugehört.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

08.05.2015 12:18
#50 RE: Wahl im UK: Die Last der Vergangenheit Antworten

... und noch ein interessantes Ergebnis: Nigel Farage hat den Sitz in Thanet South nicht gewonnen, liegt sogar ziemlich deutlich hinter dem Konservativen (ca. 2800 Stimmen Differenz). Nach eigener Ankündigung müßte er also den UKIP-Vorsitz niederlegen, was für die Partei, die weitgehend als One-Man-Show wahrgenommen wird, schwierig werden kann. Neben ihrem Charakter als Protestpartei hat ihr sicher das relativ sympathische Auftreten von Farage, der sich, immer mit Kippe und Bierglas abgelichtet, als Volkes Stimme der Vernunft präsentiert hat, sehr geholfen.

Wie es aussieht, ist nun Carswell, der seinen Sitz wiedergewinnen konnte, der UKIP-Champion, aber dessen Charisma hält sich vergleichsweise eher in Grenzen.



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