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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 61 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Seiten 1 | 2 | 3
Martin Offline



Beiträge: 4.129

04.01.2009 10:24
#26 RE: Realität (3): Realität und Fiktion Antworten
Lieber Zettel,

zunächst möchte ich Ihnen noch ein gutes neue Jahr wünschen, und als nächstes hoffen, dass Sie sich weiter die Zeit für diesen Blog nehmen. Sie schaffen es hervorragend, Ihren breiten Hintergrund zu kondensieren und auch für Leute mit anderem Hintergrund so zu transformieren, dass so eine gemeinsame Diskussionsbasis geschaffen wird. Auch wenn mir zugegebenermaßen meist entweder die Zeit, die Ruhe oder Energie zur Diskussion fehlen, schaue ich hier regelmäßig vorbei. In Anbetracht der Medienlandschaft ist Ihr Blog eine wahre Wohltat.

Gestern hatte ich zuerst das Spiegel Essay eines ‚Sozialpsychologen’ Harald Welzer http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,598716,00.html gelesen, dann Ihren letzten Beitrag hier, und ich habe dabei festgestellt, dass dieser eine gute Grundlage dafür ist, zu verstehen, wie wenig frei sicher ansonsten ganz rationale Menschen vom Druck des gesellschaftlichen Konsens sind. Der gute Herr Welzer beschreibt – sicher konsensfähig – die Schwierigkeit einer Gesellschaft, Trends und langsame Veränderungen, die einen fundamentalen Einfluss auf ihre Lebensgrundlage haben, zu identifizieren, und darauf zu reagieren. Er unterschlägt aber, dass neben seinen historischen Beispielen unzählige Beispiele existieren, in denen sich Sorgen oder Ängste vor systemischen Veränderungen als unberechtigt herausgestellt haben. Nur so lässt sich für ihn recht einfach die Brücke zu den Veränderungen bauen, über deren Gefährlichkeit wohl seiner Meinung nach Konsens zumindest in ‚aufgeklärten gesellschaftlichen Kreisen’ besteht: Z.B. die klimatischen Veränderungen. Den Sprung von der durchaus nachvollziehbaren Analyse gesellschaftlichen Verhaltens im Allgemeinen auf konkrete Fälle in der rational nicht prognostizierbaren Zukunft fand ich frappierend: Entweder ist der Artikel in der Absicht geschrieben, vor einer spezifischen Entwicklung zu warnen, und die Einleitung ist nur Beiwerk, um dem Essay einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben (durchaus nicht unüblich in unserer Zeit), oder ein Fall, der demonstriert, wie prägend der gesellschaftliche Konsens auf das Realitätsempfinden eines auch wissenschaftlich tätigen Individuums ist. Zumindest kam mir das in den Sinn, als ich Ihren Beitrag las.

Gruß, Martin
dirk Offline



Beiträge: 1.538

04.01.2009 17:14
#27 RE: 4. Realität als Konsens. Distales Fokussieren Antworten

Zitat von Zettel
So ist es, und doch auch wieder nicht; denke ich jedenfalls. Darum wird es in den nächsten Folgen gehen.


Das macht mich jetzt aber gespannt und ungeduldig.

Das mangelnde Belastbarkeit ökonomischer Erkenntnisse ist das, was mich gerade davon abhält ein Promotionsstudium in Wirtschaftswissenschaften aufzunehmen. Es fehlt mir das Kriterium zu entscheiden, wann die Modelle (=Fiktionen) realistisch sind. Und an Mathematik stört mich, dass die meisten Resultate für die Wirklichkeit, zu Mindest für meine, zu bedeutungslos sind, sprich zuwenig extrinsische Motivation haben. (Ein bisschen ist ja immer da) Äh ja, Schluss mit Winterdepressionen, es beginnt ja ein neues Jahr!

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

04.01.2009 18:33
#28 RE: 4. Realität als Konsens. Distales Fokussieren Antworten

Zitat von dirk
Das mangelnde Belastbarkeit ökonomischer Erkenntnisse ist das, was mich gerade davon abhält ein Promotionsstudium in Wirtschaftswissenschaften aufzunehmen. Es fehlt mir das Kriterium zu entscheiden, wann die Modelle (=Fiktionen) realistisch sind.

Vor ein paar Tagen hörte ich im TV jemanden sagen, die Vorhersagen für den DAX 2009 reichten von 3000 bis, glaube ich, 8000. Irgendwer werde also wohl Recht haben, meinte der Redakteur dazu.

Sind aber mathematische Modelle überhaupt primär dazu da, Prognosen zu generieren? Ich vermute, daß simple Heuristiken oft zu genauso richtigen Vorhersagen führen.

Trotzdem müssen die Modelle nicht nutzlos sein. Sie zwingen dazu, Parameter zu definieren, Annahmen explizit zu machen, kurz eine Theorie genauer auszuarbeiten, als man es sonst tun würde. Zweitens enthüllen sie oft Implikationen von Annahmen, auch deren Einschränkungen.

Und vor allem - darin sehe ich eigentlich den hauptsächlichen Sinn von Modellen - erlauben sie Quasi-Experimente. Man kann Annahmen ändern, kann Parametern andere Werte zuweisen usw. und kann sich ansehen, was das Modell dann jeweils macht. Man lernt viel über mögliche Wirklichkeiten und damit auch darüber, was in der Wirklichkeit möglich ist.

Ich hatte mir mal ein schönes, einfaches Modell ausgedacht, daß bestimmte Daten sehr gut abdeckte. Das hat sich ein Freund und Kollege vorgeknöpft, Mathematiker und Spezialist für solche Modelle, und mir nachgewiesen, daß mein Modell nur unter ganz bestimmten Annahmen zutraf. Die mußte ich nun also machen, was in diesem Fall nicht weiter schlimm war. Aber daß ich sie machen mußte, habe ich eben erst durch seine Kunst des Modellierens gelernt.
Zitat von dirk
Und an Mathematik stört mich, dass die meisten Resultate für die Wirklichkeit, zu Mindest für meine, zu bedeutungslos sind, sprich zuwenig extrinsische Motivation haben. (Ein bisschen ist ja immer da)

Mathematik bedeutungslos? Niiiiiiiiie!

Was die Mathematik angeht, lieber Dirk, bin ich Platoniker. Die Strukturen, die sie untersucht, sind doch nicht nur in unseren Gehirnen.

Von den ersten ontologischen Versuchen, die ich in Teil 1 erwähnt habe, scheint mir derjenige der Pythagoräer bei weitem am plausibelsten zu sein: Es gibt gewiß keinen materiellen Urstoff, wie Thales, Anaximander (und Anaximenes, den ich glaube ich gar nicht erwähnt habe, bei dem war es die Luft) sich dachten. Aber wenn man immer tiefer in die Materie eindringt, dann bleiben am Ende nur Strukturen übrig; Strukturen, die wir mathematisch ausdrücken können.

Wir illustrieren die Mathematik sozusagen, indem wir uns "Teilchen" oder "Kräfte" oder "Superstrings" vorstellen; aber das ist ja nix Wirkliches. Wirklich ist - würde heute ein Pythagoräer sagen, und er könnte Recht haben - allein das, was die Gleichungen der Teilchenphysiker, der Kosmologen beinhalten: Relationen, Strukturen und deren Dynamik.

Herzlich, Zettel

dirk Offline



Beiträge: 1.538

04.01.2009 19:49
#29 RE: 4. Realität als Konsens. Distales Fokussieren Antworten

Zitat von Zettel
Trotzdem müssen die Modelle nicht nutzlos sein. Sie zwingen dazu, Parameter zu definieren, Annahmen explizit zu machen, kurz eine Theorie genauer auszuarbeiten, als man es sonst tun würde. Zweitens enthüllen sie oft Implikationen von Annahmen, auch deren Einschränkungen.


Ich glaube hier muss man zwischen dem Modellen in der Ökonomie und denen der Finanzmathematik unterscheiden. Die meisten ökonomischen Modelle verfolgen einen qualitiven Zweck. Ihre alleinige Aufgabe ist es eine Geschichte zu erzählen. Freilich tun sie das in der Sprache der Mathematik, so dass Annahmen explizit sind und der Gedanken glasklar dargelegt ist. Das unterscheidet Ökonomie von anderen Sozialwissenschaften. Und hier erweist sich die Methode des Formalisierens auch als sehr nützlich. Dennoch, letztendlich bleibt es dabei: In der Ökonomie werden Geschichten erzählt und das Wahrheitskriterium ist die Plausibilität.

Die Finanzmathematik dagegen will konkrete, möglichst realistische Zahlen haben. Das ist im Grunde gemommen die Herangehensweise eines Ingenieurs (Financial Engineering). Man bastele sich ein Model so, dass die von ihm produzierten Daten realistische Eigenschaften haben. Oft läuft das durch einführen neuer Parameter wie in der Epizykeltheorie. Naja
In Antwort auf:

Mathematik bedeutungslos? Niiiiiiiiie!


Das habe ich nicht gesagt. Im Gegenteil, Mathematik ist toll und macht einem die Welt anschaulich, weswegen ich es auch studierte. Ich könnte begeistert eine Reihe an Resultaten aufzählen. Aber auch das hat einen abnehmenden Ertrag. Mit zunehmender Spezialisierung aber ist der Fortschritt minimal. Da kommt man dann nach längeren Beweisen zu Schlussfolgerungen wie "Es existiert eine Unterstruktur mit den und den Eigenschaften". Wenn diese jetzt eine physikalische oder andere Bedeutung hätte, wäre ich begeistert. Aber so denke ich "Na toll"

Omni Offline



Beiträge: 255

05.01.2009 05:12
#30 RE: Ist Realität das, was wir dafür halten? Antworten

Zitat von Zettel
Zitat von Omni
Die meisten Aussagen sind weder wahr noch falsch.

Jede Aussage, lieber Omni, ist entweder wahr oder falsch. Tertium non datur. (Es hat Versuche einer mehrwertigen Logik gegeben; aber das klammere ich jetzt mal aus).


Wie ich an den Beispielen versucht habe zu illustrieren hängt das davon ab, ob ich meine Aussage auf exakt definierte Begriffe zurückführen kann. Bei Aussagen über natürliche Zahlen mag das ohne weiteres möglich sein. Es wird allerdings problematisch wenn ich über Weltverschwörungen, Neoliberalismus oder eben die blonden Haare eines Menschen spreche. Definieren Sie "blond" als "Anzahl blonder Haare >= Anzahl schwarzer Haare", ist die Person vielleicht nicht blond. Sie kann trotzdem blond aussehen, wenn ihre Schwarzen Haare aus irgendeinem Grund nicht so ins Auge stechen. Nach welchem Kriterium wähle ich die Definition aus?
Da es nicht möglich ist, im wirklichen Leben alles, worüber wir sprechen, auf genaue Definitionen zurückzuführen, gibt es, scheint mir, im realen Leben eben doch Aussagen, die weder falsch noch wahr sind.

In Antwort auf:

Erinnern Sie sich, lieber Omni, an den letzten Satz des Tractatus Logico-Philosophicus?


Wie soll man von der Welt schweigen, obwohl man eigentlich so wenig über sie wissen kann?

In Antwort auf:

Ganz einfach: Wer eine Behauptung aufstellt, der muß den Beweis antreten. Es ist nicht die Aufgabe dessen, der irgendeinen Schwachsinn nicht glaubt, ihn zu widerlegen.
Das scheint mir ein weitverbreiteter Irrtum zu sein, der viel mit Unkenntnis der Bayes\'schen Statistik zu tun hat. Wer etwas behauptet, das eine geringe a-priori-Wahrscheinlichkeit hat, der muß entsprechend mehr Belege beibringen als derjenige, der etwas behauptet, das bereits gut belegt ist.

Ich höre immer wieder - gerade auch von Studenten - das Argument: "Ja, aber könnte es denn nicht sein ... (daß es Ufos gibt, daß Homöopathie hilft, daß es einen Sozialismus gibt, in dem alle frei und wohlhabend sind usw.)". Die Antwort ist einfach: Ja, es könnte sein. Nur kann man ja nicht etwas schon deshalb glauben, weil es möglich ist. Man darf es erst dann glauben, wenn es hinreichend belegt ist.


Und wer gibt a-priori-Wahrscheinlichkeiten vor? Und wie packt man, um mal bei der neoliberalen Weltverschwörung zu bleiben, sowas jetzt in Wahrscheinlichkeiten? In p von 100 Welten, in denen jemand behauptet dass es eine Verschwörung gibt, hat dieser jemand recht?

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

06.01.2009 16:01
#31 RE: Ist Realität das, was wir dafür halten? Antworten

Zitat von Omni
Zitat von Zettel
Zitat von Omni
Die meisten Aussagen sind weder wahr noch falsch.

Jede Aussage, lieber Omni, ist entweder wahr oder falsch. Tertium non datur. (Es hat Versuche einer mehrwertigen Logik gegeben; aber das klammere ich jetzt mal aus).


Wie ich an den Beispielen versucht habe zu illustrieren hängt das davon ab, ob ich meine Aussage auf exakt definierte Begriffe zurückführen kann. Bei Aussagen über natürliche Zahlen mag das ohne weiteres möglich sein. Es wird allerdings problematisch wenn ich über Weltverschwörungen, Neoliberalismus oder eben die blonden Haare eines Menschen spreche. Definieren Sie "blond" als "Anzahl blonder Haare >= Anzahl schwarzer Haare", ist die Person vielleicht nicht blond. Sie kann trotzdem blond aussehen, wenn ihre Schwarzen Haare aus irgendeinem Grund nicht so ins Auge stechen. Nach welchem Kriterium wähle ich die Definition aus?

Ich stimme Ihnen zu, lieber Omni, daß die Wahl einer Definition oft arbiträr ist. Streng genommen ist jede Definition beliebig, denn sie bezieht sich ja nicht auf die Realität, sondern auf Begriffe, Variablen usw. Und vor allem Operationalisierungen.

Die Aussage: "Mit der Bahn reist man schneller von Köln nach Paris als mit dem Flugzeug" stimmt zum Beispiel, wenn man die Zeit meint, die man braucht, um vom Kölner Dom bis Nôtre Dame de Paris zu kommen. Sie ist falsch, wenn man die Fahrzeit des Thalys mit der Flugzeit von Köln-Wahn bis zum Flughafen Charles de Gaulle vergleicht.

Aber deswegen würde ich nicht sagen, daß die Aussage weder wahr noch falsch ist. Sie ist wahr, wenn man sie im einen Sinn meint und falsch, wenn man sie im anderen meint. Weder wahr noch falsch ist sie nie.
Zitat von Omni
Da es nicht möglich ist, im wirklichen Leben alles, worüber wir sprechen, auf genaue Definitionen zurückzuführen, gibt es, scheint mir, im realen Leben eben doch Aussagen, die weder falsch noch wahr sind.

Es gibt Aussagen, die mißverständlich sind. Sehr viele sind es in der Alltags-Interaktion. Aber im Allgemeinen meint der Sprecher doch etwas, das entweder wahr oder falsch ist.

Es gibt auch Aussagen, deren Wahrheit nicht zu ermitteln ist, weil sie wertend sind, weil sie nicht operationalisierbar sind usw. Es gibt Aussagen, die in Wahrheit Aufforderungen sind. ("Sie stehen auf meinem Fuß!"). Insofern gebe ich Ihnen Recht.
Zitat von Omni
Zitat von Zettel
Erinnern Sie sich, lieber Omni, an den letzten Satz des Tractatus Logico-Philosophicus?


Wie soll man von der Welt schweigen, obwohl man eigentlich so wenig über sie wissen kann?

Aus meiner (kantianischen) Sicht kann man nichts und alles über sie wissen; je nachdem, wie man "Wissen" definiert. Von der Welt "als solcher" etwas zu wissen ist unmöglich, denn um etwas zu erfahren, brauchen wir unseren Erkenntnisapparat, der die möglichen Formen des Wissens vorgibt. Aber gegeben diese Einschränkung, können wir alles wissen, dh. der Erforschung der Welt sind keine Grenzen gesetzt.
Zitat von Omni
Zitat von Zettel
Das scheint mir ein weitverbreiteter Irrtum zu sein, der viel mit Unkenntnis der Bayes'schen Statistik zu tun hat. Wer etwas behauptet, das eine geringe a-priori-Wahrscheinlichkeit hat, der muß entsprechend mehr Belege beibringen als derjenige, der etwas behauptet, das bereits gut belegt ist.

Und wer gibt a-priori-Wahrscheinlichkeiten vor? Und wie packt man, um mal bei der neoliberalen Weltverschwörung zu bleiben, sowas jetzt in Wahrscheinlichkeiten? In p von 100 Welten, in denen jemand behauptet dass es eine Verschwörung gibt, hat dieser jemand recht?

Sie haben Recht, die Ermittlung der a-piori-Wahrscheinlichkeit ist der Pferdefuß des Bayes'schen Denkens.

Wahrscheinlichkeiten kann man ja streng genommen überhaupt nicht empirisch ermitteln, nur relative Häufigkeiten, aus denen man auf Wahrscheinlichkeiten zurückschließt. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Ufo auf der Erde landet, ist also zunächst einmal deshalb gering, weil bisher alle derartige Behauptungen sich als nicht belegbar erwiesen haben.

Bei Verschwörungstheorien ergibt sich die geringe a-priori-Wahrscheinlichkeit daraus, daß es bisher für jede von ihnen so gut wie keine Belege gibt. Die bisherige evidence ist gering und begründet damit eine geringe a-priori-Wahrscheinlichkeit. Entsprechend starke neue Belege wären nötig, umd die Theorie hinreichend zu stützen.

Hätte zum Beispiel jemand das Protokoll einer Sitzung publiziert, in der Neoliberale aller Länder sich trafen, die Beherrschung der Welt verabredeten und das feierlich unterzeichneten; würden des weiteren mindestens, sagen wir, zehn Teilnehmer dieser Sitzung die Richtigkeit des Protokolls beeiden - dann hätten wir doch immerhin einen Anfang.

So, wie die a-priori-Wahrscheinlichkeit für Ufos sich schlagartig erhöhen würde, wenn auch nur ein einziges vor dem UNO-Gebäude in New York landen und eine Delegation von Aliens aussteigen würde.

Herzlich, Zettel

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

25.01.2009 05:08
#32 Realität (5): Postmoderne Toleranz Antworten

Die letzte Folge dieser Serie liegt einige Wochen zurück. Das liegt vor allem an den aktuellen Ereignissen, die Vorrang hatten. Ein bißchen liegt es auch daran, daß jetzt, da ich die Serie ohnehin nicht in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr abschließen konnte, kein Grund zur Eile mehr besteht. Die restlichen Folgen werden also auch wieder in Abständen kommen; längeren oder kürzeren, man wird sehen.

Die jetzige Folge 5 beginnt mit einer kleinen Rekapitulation; denn ich kann vom Leser nicht erwarten, die vorausgegangene Folge noch gut in Erinnerung zu haben: Die Realität, in der wir leben, beziehen wir überwiegend nicht aus eigener Erfahrung, sondern aus zweiter, dritter Hand. Wir verdanken sie also unserer Kultur. Ist sie somit nicht auch gewissermaßen ein Werk unserer Kultur?

Das behauptet eine postmoderne Strömung, die den Wissenschaften mit den Mitteln der Soziologie, ja der Ethnologie zu Leibe rückt. Ich illustriere das ein wenig und komme dann zu seinen Folgen: Der weit verbreiteten Vorstellung, das wissenschaftliche Weltbild sei halt eines unter vielen, die alle, wie man will, Recht oder Unrecht haben.

Das ist das, was ich die postmoderne Toleranz nenne. Am Ende der Folge merke ich an, daß sie sehr leicht in Intoleranz umschlagen kann.

Libero Offline



Beiträge: 393

25.01.2009 07:50
#33 RE: Realität (1): Eine Frage der "Zeit" Antworten
Zitat von zettel
Er publiziert seine Daten und seine Interpretation dieser Daten in der Absicht, zu einer gemeinsamen Erkenntnis der Welt beizutragen. Nicht, um seine persönliche Weltsicht zu propagieren.


Lieber Herr Zettel

das gilt nur dann, wenn die Wissenschaft ihre alltägliche unaufgeregte niemanden überraschende Entwicklung nimmt. Kommt sie an einen Scheideweg oder steht sie vor einem Paradigmenwechsel, zieht also ein wissenschaftlicher Hurrican auf, werden Sie immer feststellen, daß keiner auch wirklich keiner der Beteiligten frei von der persönlichen Weltsicht argumentiert.

Das habe ich selbst bei eigentlich ideologiefreien Sachentscheidungen (gott würfelt nicht) in der Technik miterlebt. Mit politischen Denken hat das nicht unbedingt etwas zu tun, mit der persönlichen Weltsicht, auch mit Vorlieben und vor allem mit Erinnerungen schon.

Das bedeutet natürlich nicht, daß ich das postmoderne Denken teile. Das bedeutet nur, daß ich die Sicht auf den wissenschaftlichen arbeitenden Menschen Ihrer Artikelserie doch sehr idealistiert finde. Sie beschreiben Engel und vergessen, daß es nur irrtumsbehaftete Menschen sind. (Wobei auch der Irrtum manchmal zu Fortschritt führen kann)

Dieser Beschreibung, eigentlich ist es mehr ein Anspruch "So solltest es sein", genügen die wenigsten Wissenschaftler, die ich kenne. Mehr Innehalten und gewissenhaftestes Überprüfen "bin ich so, wie ich glaube und als Wissenschaftler eigentlich sein müßte" ist angebracht. Dann könnte man sich auch dieses krasse Schwarz Weiss Denken Aufklärung 100 % postmodernes Denken 0 % ersparen. Postmodernes Denken ist nicht die Wahrheit, aber Aufklärung und Aufklärer sind auch nicht die Künder der alleinselig machenden Wahrheit. Bastiat Aussage gilt leider für fast jeden Menschen. Was man sieht und was man nicht sieht. Was man denkt und was man nicht denkt.

Wir alle sind Kinder unserer Jugendzeit. Das beflügelt uns und hemmt uns zugleich. Selten erlebe ich einen Menschen, der nicht nur plakativ und Moden folgend mit der Zeit geht

Libero
Zettel Offline




Beiträge: 20.200

25.01.2009 12:41
#34 RE: Realität (1): Eine Frage der "Zeit" Antworten

Lieber Libero,

ich will und kann Ihnen gar nicht widersprechen. Ich sehe das, was Sie schreiben, eher als Ergänzung dessen an, was ich zu beschreiben versuche, denn als Kritik daran. Als Ergänzung in dem Sinn, daß Sie auf Probleme bei der Realisierung dessen aufmerksam machen, was die Wissenschaft anstrebt; was also Wissenschaftler sich zum Ziel setzen.

Eine Analogie: Wenn man zwei Gleichungen mit zwei Unbekannten lösen soll, dann gibt es Regeln, nach denen man vorgehen muß, um zur richtigen Lösung zu kommen. Aber die Schüler der Untersekunda, die das lernen und anwenden sollen, machen regelmäßig Fehler. Nicht meist, aber doch oft.

Das ist die Realität. An den Methoden, mit denen man solche Gleichungen löst, an deren Richtigkeit ändert das nichts.

Zitat von Libero
Zitat von zettel
Er publiziert seine Daten und seine Interpretation dieser Daten in der Absicht, zu einer gemeinsamen Erkenntnis der Welt beizutragen. Nicht, um seine persönliche Weltsicht zu propagieren.

das gilt nur dann, wenn die Wissenschaft ihre alltägliche unaufgeregte niemanden überraschende Entwicklung nimmt. Kommt sie an einen Scheideweg oder steht sie vor einem Paradigmenwechsel, zieht also ein wissenschaftlicher Hurrican auf, werden Sie immer feststellen, daß keiner auch wirklich keiner der Beteiligten frei von der persönlichen Weltsicht argumentiert.

Ja und nein. Sie haben vollkommen recht - die persönliche Weltsicht geht ein in die Position, die jemand wissenschaftlich vertritt. In den Biowissenschaften ist ein klassisches Beispiel, das ich immer einmal wieder verwende, die Nature-vs-Nurture- Diskussion. Sie finden unter denen, die den Anteil der Vererbung betonen, mehr Konservative und bei den Environmentalisten mehr Linke.

Aber wenn es um eine konkrete wissenschaftliche Frage geht - sagen wir, ob bei bei Singvögeln der Gesangt angeboren oder erlernt ist -, dann wird keiner der Beteiligten mit seiner Weltanschauung argumentieren. Keine halbwegs ordentliche Zeitschrift würde einen Aufsatz publizieren, in dem jemand schreibt: "Aufgrund meiner Weltanschauung neige ich mehr dieser und jener Meingung zu".

Sondern die Auseinanderesetzung, der "Diskurs", findet anhand von Daten statt; und Theorien werden danach bewertet, wie gut und sparsam sie die Daten abdecken und wie schlüssig sie sind.

Oft ergibt sich, daß keine der beiden weltanschaulich begründeten Positionen zutrifft. Je mehr die Forschung fortschreitet, umso mehr verlieren sie an Bedeutung. Beim Vogelgesang ist es je nach Spezies mal so, mal so, und oft beides. Bei der menschlichen Intelligenz gibt es erbliche und Umwelt- Komponenten.
Zitat von Libero
Das habe ich selbst bei eigentlich ideologiefreien Sachentscheidungen (gott würfelt nicht) in der Technik miterlebt. Mit politischen Denken hat das nicht unbedingt etwas zu tun, mit der persönlichen Weltsicht, auch mit Vorlieben und vor allem mit Erinnerungen schon.

Sie schreiben zu Recht, daß es an gewissen Stellen des Wissenschaftsprozesses (Paradigmenwechsel) Phasen gibt, in denen die persönliche Weltsicht besonders zum Tragen kommt. Das liegt eben daran, daß dann die empirische Basis schwach ist. Je mehr man Daten sammelt, umso mehr determinieren wieder diese und nicht die weltanschaulichen Positionen das, was an Theorien vertreten wird.

Anders gesagt: Der gute Wissenschaftler hat persönliche Vorlieben und ist sich ihrer auch bewußt; aber er wird sie immer zugunsten von Daten in den Hintergrund stellen.
Zitat von Libero
Das bedeutet natürlich nicht, daß ich das postmoderne Denken teile. Das bedeutet nur, daß ich die Sicht auf den wissenschaftlichen arbeitenden Menschen Ihrer Artikelserie doch sehr idealistiert finde. Sie beschreiben Engel und vergessen, daß es nur irrtumsbehaftete Menschen sind. (Wobei auch der Irrtum manchmal zu Fortschritt führen kann)

Sie haben vollkommen Recht. Ich beschreibe, um im Beispiel zu bleiben, wie man Gleichungen mit zwei Unbekannten löst, nicht die oft fehlerhaften Bemühunen von Schülern, das zu tun.
Zitat von Libero
Dieser Beschreibung, eigentlich ist es mehr ein Anspruch "So solltest es sein", genügen die wenigsten Wissenschaftler, die ich kenne. Mehr Innehalten und gewissenhaftestes Überprüfen "bin ich so, wie ich glaube und als Wissenschaftler eigentlich sein müßte" ist angebracht.

Das ist von Fall zu Fall, wohl auch von Fach zu Fach, verschieden. Übrigens gibt es auch verschiedene Wissenschaftskulturen. Das freie, datenorientierte, sachliche Diskutieren habe ich eigentlich erst gelernt, als ich in die internationale Wissenschaft sozusagen eingetaucht bin. Damals - in den späten sechziger, den siebziger Jahren - wurde auch in den Naturwissenschaften in Deutschland oft noch verkrampft, an der jeweiligen "Schule" orientiert, manchmal fast dogmatisch diskutiert.
Zitat von Libero
Dann könnte man sich auch dieses krasse Schwarz Weiss Denken Aufklärung 100 % postmodernes Denken 0 % ersparen. Postmodernes Denken ist nicht die Wahrheit, aber Aufklärung und Aufklärer sind auch nicht die Künder der alleinselig machenden Wahrheit.[/quore]
Das ist jetzt eine Äußerung postmodernen Denkens, liebe Libero.

Es stimmt ja, daß man oft nicht weiß, wer recht hat. Meist, siehe oben, keiner, sondern jeder hat a bisserl recht. Aber man muß aufpassen, daß dies zu konstatieren nicht bedeutet, daß man auf die Auseinandersetzung verzichtet.

Toleranz bedeutet aus meiner Sicht nicht eine Wischiwaschi-Position, die besagt: Du hast deine Wahrheit, und ich habe auch recht. Sondern sie bedeutet die gemeinsame Suche nach der Wahrheit, zu der ja vielleicht beide mit ihren Ausgangspositionen beitragen.


Zitat von Libero
Wir alle sind Kinder unserer Jugendzeit. Das beflügelt uns und hemmt uns zugleich. Selten erlebe ich einen Menschen, der nicht nur plakativ und Moden folgend mit der Zeit geht.

Dem stimme ich zu, und ich kann es an mir selbst sehen. Was die wissenschaftliche Position angeht, waren meine prägenden Erlebnisse als Jugendlicher die Lektüre von Kant, der Neukantianer und der Philosophen des Wiener Kreises, vor allem von Rudolf Carnap und Moritz Schlick. Dazu Bertrand Russel und Wittgenstein.

Die Grundauffassungen, die sich bei mir damals gebildet haben, vertrete ich noch heute, auch wenn vieles bei diesen Autoren heute natürlich differenzierter sehen kann.

Herzlich, Zettel

Dagny Offline



Beiträge: 1.096

25.01.2009 14:29
#35 Realitaet: Nummer 5: Postmoderne Antworten

Ein überaus lesenswerter Beitrag, mit dem Sie, Zettel, meinen Sonntagnachmittag bereichern.

Als Physiker, Naturwissenschaftler, stehe ich wohl in der Tradition des Rationalismus, der Aufklärung, glaube an feste unumstössliche Wahrheiten, wie sie etwa die Mathematik definiert und die Physik in Form von Naturgesetzen, - heutzutage meist etwas schwächer "Theorie" oder "Modell" genannt - formuliert.

Gleichwohl begegnet mir die von Ihnen Postmoderne Denkweise genannte Sicht: Warum soll die Quantenmechanik stimmen*? Warum soll eine Division durch null keinen Sinn machen? An der Relativitätstheorie zu zweifeln ist, wenn man ein bischen googelt, fast schon Guter Ton unter Skeptikern, die den Naturwissenschaftlern ihre Theorien nicht mehr abnehmen.
Gleichzeitig wird mit der Naturwissenschaft Schindluder getrieben, man denke an den Ökologismus, der keineswegs auf unumstösslichen Wahrheiten beruht, wie es die Politik glauben lassen will.

Im Studium hatte ich oft genug mit Soziologen (im weitesten Sinne) zu tun - deren 'alles aus anderen Perspektiven betrachten', vielleicht ein Erbe der 68er, die Dialektik als Methode machen das Postmoderne Denken aus.
Erstaunlicherweise versuchen die Soziologen dann aber doch, etwa im Wettstreit um Drittmittel, Methoden der exakten Naturwissenschaften wie etwa Statistik und das Wundermittel SPSS (welches mir nie untergekommen ist) auf ihre dialektische Vorschung anzuwenden.



*Die Quantenmechanik ist in gewissen Rahmen eine stimmige Theorie, muss für gewisse Gebiete aber als Feldtheorie erweitert werden und bietet im klassischen Grenzfall einen Übergang zur (relativistischen) Mechanik. Eine Theorie der Quantengravitation steht aus, aber früher oder später wird sich eine solche finden. An der Gültigkeit der Quantenmechanischen Aussagen ändert das aber nichts.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

25.01.2009 14:48
#36 RE: Realitaet: Nummer 5: Postmoderne Antworten

Dear Dagny,

ich antworte unten, wo es hingehört. Durch Liberos Beitrag war a bisserl Unordnung entstanden, die Sie durch die Überschrift ja schon zu beheben versucht haben. Ich mach's jetzt radikaler.

Herzlich, Zettel

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

25.01.2009 15:04
#37 RE: Realität (5): Postmoderne Toleranz Antworten

Antwort auf diesen Beitrag von Dagny:



Zitat von Dagny
Ein überaus lesenswerter Beitrag, mit dem Sie, Zettel, meinen Sonntagnachmittag bereichern.

Freut mich, dear Dagny. Mir hat er die Nacht geraubt.
Zitat von Dagny
Als Physiker, Naturwissenschaftler, stehe ich wohl in der Tradition des Rationalismus, der Aufklärung, glaube an feste unumstössliche Wahrheiten, wie sie etwa die Mathematik definiert und die Physik in Form von Naturgesetzen, - heutzutage meist etwas schwächer "Theorie" oder "Modell" genannt - formuliert.

Gleichwohl begegnet mir die von Ihnen Postmoderne Denkweise genannte Sicht: Warum soll die Quantenmechanik stimmen*? Warum soll eine Division durch null keinen Sinn machen? An der Relativitätstheorie zu zweifeln ist, wenn man ein bischen googelt, fast schon Guter Ton unter Skeptikern, die den Naturwissenschaftlern ihre Theorien nicht mehr abnehmen.

Und von denen sie meist nix verstehen.

Es gibt ja in allen Wissenschaften eine große Bereitschaft, auch abweichende, originelle, ja bizarre Theorien ernst zu nehmen; man denke nur an die Superstring-Theorie oder die Theorie der Parallel-Universen.

Man darf auch jede noch so etablierte Auffassung kritisieren. Nur muß man gute, rationale Gründe haben, und die Daten dürfen der Theorie zumindest nicht widersprechen. Das Ärgernis bei allen diesen "Widerlegungen" und "alternativen Wissenschaften" ist, daß ihre Autoren schlicht keine Ahnung von ihrem Gegenstand haben.
Zitat von Dagny
Gleichzeitig wird mit der Naturwissenschaft Schindluder getrieben, man denke an den Ökologismus, der keineswegs auf unumstösslichen Wahrheiten beruht, wie es die Politik glauben lassen will.

Der Ökologismus illustriert das postmoderne Verständnis von Realität: Real ist, woran alle glauben.
Zitat von Dagny
Im Studium hatte ich oft genug mit Soziologen (im weitesten Sinne) zu tun - deren 'alles aus anderen Perspektiven betrachten', vielleicht ein Erbe der 68er, die Dialektik als Methode machen das Postmoderne Denken aus.

Ich habe aus der interdisziplinären Forschung Erfahrung mit den sogenannten "Wissenssoziologen". Die reinen Nervensägen. Wir Wissenschaftler wollen herausfinden, wie etwas funktioniert, welchen Gesetzen es gehorcht usw. Und dieses Soziologen wollen uns einreden, wir hingen wie Marionetten in Wahrheit an den Fäden der sozialen Einflüsse, denen wir unterliegen.

Im Grunde ist es ähnlich wie bei der Psychoanalyse: Man zieht die Rationalität des anderen in Zweifel und erhebt sich damit über ihn. Sehr unangenehm, diese Haltung vieler "Wissenssoziologen". (Eine ganz andere Sache ist Wissenschaftsgeschichte).
Zitat von Dagny
Erstaunlicherweise versuchen die Soziologen dann aber doch, etwa im Wettstreit um Drittmittel, Methoden der exakten Naturwissenschaften wie etwa Statistik und das Wundermittel SPSS (welches mir nie untergekommen ist) auf ihre dialektische Vorschung anzuwenden.

Warum sie SPSS so lieben, kann ich Ihnen sagen: Weil man damit wunderbar schlechte Forschung machen kann.

Schlechte Forschung sieht so aus, daß man möglichst viele Faktoren zugleich untersucht und das Ergebnis dann durch die statistische Maschine jagt, meist eine Varianzanalyse. Irgendwas kommt immer raus; je mehr Faktoren, umso mehr "werden signifikant", umso mehr Interaktionen, am besten zweiter oder dritter Ordnung, gibt es.

Umso mehr Material hat man also, um herumzutheoretisieren.

Herzlich, Zettel

dirk Offline



Beiträge: 1.538

25.01.2009 19:06
#38 RE: Realität (5): Postmoderne Toleranz Antworten

Lieber Zettel,

vielen Dank für diesen weiteren Artikel großartigen Serie. Sie zu lesen bereitet mir viel Freude und nebenbei lerne ich sogar noch jede Menge hinzu. Danke.


Was mich beim Kulturrelativismus wundert ist die Kultur oder das Kollektiv als Bezugsgröße. Wenn es doch keine objektive Wahrheit gibt, warum müssen wir dann tolerant und friedlich gegenüber den Taliban sein, die nichts als tun als mit ihren Wahrheiten herumzuballern. Wenn es keine Wahrheit gibt, ist es wahr, dass die Taliban falsch liegen.

Das Gleiche gilt für die Behauptung der Westen wolle den anderen Kulturen seine Werte, gemeint ist die Freiheit, aufzwingen. Dabei ist die Freiheit eigentlich gar kein Wert in diesem Sinne. Freiheit ist eher die Abwesenheit gewisser kollektiver Werte (vor allem staatlicher) und der Freiraum des Individuum seine Werte selbst zu bestimmen.

Wieso also argumentieren so viele kulturrelativistisch und nicht relativistisch auf der Ebene des Individuums?

Thomas Pauli Offline




Beiträge: 1.486

26.01.2009 11:33
#39 RE: Realität (5): Postmoderne Toleranz Antworten

Lieber Zettel,

ist es nicht so, daß man den ganzen Dekonstruktivismus ziemlich einfach dekonstruieren kann? Das ist dann aber doch nicht genial, sondern einfach nur schwachsinnig!

Ich fange an, immer mehr Kaiser ohne Kleider zu sehen. Geht das nur mir so?

Herzlich, Thomas

Michel Offline



Beiträge: 265

26.01.2009 12:01
#40 RE: Realität (5): Postmoderne Toleranz Antworten

In Antwort auf:
Wieso also argumentieren so viele kulturrelativistisch und nicht relativistisch auf der Ebene des Individuums?


M.E. deswegen, weil der Dekonstruktivismus nicht das Ziel Erkenntnisgewinn, sondern politische Meinungsmache verfolgt. Auf meinem Blog habe ich einmal die Rolle, die die Erkenntnistheorie in den verschiedenen Weltanschauungen spielt, beschrieben. Linke wollen die Wirklichkeit nicht beschreiben, sondern verändern, da kommt ihnen der Dekonstruktivismus gerade recht. Auf individueller Ebene lässt sich natürlich keine Politik machen. Da ist es Nahe liegen rein kulturrelativistisch zu argumentieren. Zudem glauben Linke, dass das Verhalten des Individuums durch den Klassen-, Geschlechts-, sonstwasstandpunkt determiniert ist. Die ganze Denkweise lässt sich bis auf Marx zurückverfolgen, man denke an: "Das Sein bestimmt das Bewusstsein" und "Philosophen haben die Welt nur unterschiedlich interpretiert, es kommt aber darauf an sie zu verändern."

Zettel Offline




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26.01.2009 13:25
#41 RE: Realität (5): Postmoderne Toleranz Antworten

Zitat von Michel
In Antwort auf:
Wieso also argumentieren so viele kulturrelativistisch und nicht relativistisch auf der Ebene des Individuums?

M.E. deswegen, weil der Dekonstruktivismus nicht das Ziel Erkenntnisgewinn, sondern politische Meinungsmache verfolgt.

Ich würde es so sagen, lieber Michel: Als erkenntnistheoretische Position ist der Dekonstruktivismus, wie jeder Relativismus, unproduktiv. Nicht nur wegen des trivialen Umstands, daß er selbst ja Wahrheit für sich in Anspruch nimmt; sich also selbst aufhebt. Sondern vor allem, weil dann, wenn es eh keine verbindliche Wahrheit gibt, sondern nur gesellschaftliche Konstruktionen, es sich weder lohnt, zu forschen, noch zu streiten. Was bleibt, ist dann eine müde Toleranz, die schnell in Intoleranz umschlagen kann.

Und die Folge davon ist dann in der Tat das, was Sie schreiben: Eine Verlagerung von der Erkenntnis zum Interesse. Theorien als Unterfütterung des politischen Handelns. Bei Marx ist das vielleicht noch nicht so deutlich, bei Lenin aber glasklar: Er hat keine theoretische Zeile geschrieben, die nicht bestimmten politischen Zielen diente.
Zitat von Michel
Auf meinem Blog habe ich einmal die Rolle, die die Erkenntnistheorie in den verschiedenen Weltanschauungen spielt, beschrieben. Linke wollen die Wirklichkeit nicht beschreiben, sondern verändern, da kommt ihnen der Dekonstruktivismus gerade recht.

Ich muß zugeben, daß mir Ihr Blog bisher entgangen war. Jetzt habe ich ihn mir angesehen und stracks in ZR verlinkt.

Auch an Sie die Frage, ob Sie ihn hier nicht dauerhaft verlinken wollen, indem Sie eine entsprechende Signatur anlegen?

Herzlich, Zettel

Zettel Offline




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26.01.2009 13:45
#42 RE: Realität (5): Postmoderne Toleranz Antworten

Zitat von dirk
vielen Dank für diesen weiteren Artikel großartigen Serie. Sie zu lesen bereitet mir viel Freude und nebenbei lerne ich sogar noch jede Menge hinzu. Danke.

Danke meinerseits für die Rückmeldung! Mir ist ja klar, daß solche Artikel nicht so viele Leser finden wie eine Meckerecke oder eine Wahlanalyse. Umso mehr freue ich mich, wenn es doch manche gibt, denen das gefällt.

"Zettels Raum" sollte ja nie ein reiner Politik-Blog sein; deshalb der Untertitel, dem ich von dem Aufklärer Christoph Wolff geklaut habe. Die Leute von Alexa haben das zu folgender Beschreibung von ZR verarbeitet: "Präsentiert einen Blog mit Gedanken über Gott, den Menschen und überhaupt."
Zitat von dirk
Was mich beim Kulturrelativismus wundert ist die Kultur oder das Kollektiv als Bezugsgröße. Wenn es doch keine objektive Wahrheit gibt, warum müssen wir dann tolerant und friedlich gegenüber den Taliban sein, die nichts als tun als mit ihren Wahrheiten herumzuballern. Wenn es keine Wahrheit gibt, ist es wahr, dass die Taliban falsch liegen.

Und jeder Satz ist zugleich wahr und falsch, ja. Platon hat ja in seiner Auseinandersetzung mit den "Sophisten" schon alle Argumente gegen den Relativismus zusammengetragen. ("Sophisten" in Anführungszeichen, weil sie wohl ganz so schlimm nicht waren, wie Platon sie darstellt).
Zitat von dirk
Das Gleiche gilt für die Behauptung der Westen wolle den anderen Kulturen seine Werte, gemeint ist die Freiheit, aufzwingen. Dabei ist die Freiheit eigentlich gar kein Wert in diesem Sinne. Freiheit ist eher die Abwesenheit gewisser kollektiver Werte (vor allem staatlicher) und der Freiraum des Individuum seine Werte selbst zu bestimmen.

Das ist ein interessanter Gedanke. So hatte ich das noch gar nicht gesehen. Etwas zum Nachdenken für mich.
Zitat von dirk
Wieso also argumentieren so viele kulturrelativistisch und nicht relativistisch auf der Ebene des Individuums?

Weil sie Sozialwissenschaftler sind und keine Psychologen. Ich habe es in dem Artikel anzudeuten versucht: Dieser Soziologismus (ich verwende den Begriff; eingeführt ist er wohl noch nicht so sehr) ist im Grunde so etwas wie ein Versuch, die Sozialwissenschaft als eine Über-Wissenschaft zu etablieren. Ungefähr das, was früher einmal die Philosophie gewesen ist; und was eben in der (historisch kurzen) Phase des Psychologismus auch die Psychologie versucht hat.

Das, lieber Dirk, ist es, was diese "Wissenssoziologen" so nervend macht. Sie wollen uns Wissenschaftlern den Boden unter den Füßen wegziehen, indem sie uns weismachen, unsere Thorien seien gar nicht von der Wirklichkeit bestimmt, sondern von unserer sozialen Umwelt.

Sie selbst unterwerfen sich dieser Relativierung natürlich nicht.

Als Waffe gegen diesen Anspruch kann man allerdings das Psychologiesiern einsetzen: "Sie, Herr Kollege, versuchen, alle Wissenschaften zu soziologisieren, weil Sie selbst Soziologe sind. Ein klassischer Fall einer überwertigen Idee".

Herzlich, Zettel

Kaa Offline




Beiträge: 658

31.01.2009 21:48
#43 RE: Ist Realität das, was wir dafür halten? Antworten

Zitat von Zettel
Zitat von Omni
Die meisten Aussagen sind weder wahr noch falsch.

Jede Aussage, lieber Omni, ist entweder wahr oder falsch. Tertium non datur.

Ja, jede Aussage. Ist entweder wahr oder falsch - oder unsinnig, wobei man sich darüber streiten kann, ob es dann eine Aussage ist.

Wenn wir die Welt in Aussagen formulieren könnten, könnten unsere Rechner sie auch bis zur Zeitenwende berechnen.

Zitat von Zettel
Zitat von Omni
Die restliche Welt ist weder ästhetisch noch messgenau.

Ästhetisch schon - würde ich behaupten wollen. Aber das ist nun allerdings sehr subjektiv. Es hat nix mit Realität zu tun, sondern mit meiner subjektiven Beurteilung.

Aha. (Tatsächlich, ohne Ironie, ohne Beitrag)

Zitat von Zettel
Zitat von Omni
Denn womit wir bei der Beurteilung der dreckigen Realität antreten, ist ein Werkzeugkasten von Deutungsmustern, die für kleine Menschengruppen geschaffen sind.

Wohl wahr. Daraus arbeiten "wir" uns heraus - seit der griechischen Aufklärung, dann der Renaissance und der europäischen Aufklärung.

Es ist so, wie Du schreibst. UND es ist umgekehrt. Mit dem Herausarbeit "daraus" arbeiten wir uns auch darein. Der Werkzeugkasten wird immer umfassender und genauer und die anerkennende Menschengruppe wird größer. Aber seit dieser Artikelserie von Dir bin ich zu der hoffnungsvollen Meinung gelangt, daß wir diesbezüglich nicht unvereinbare Ansichten haben, evtl nicht mal verschieden gewichtete, sondern nur die jeweiligen Aspekte unterschiedlich laut äußern. Ich kann ganz gut mit Widersprüchen leben. Gelernt ist gelernt.

Zitat von Zettel
Es ist nicht die Aufgabe dessen, der irgendeinen Schwachsinn nicht glaubt, ihn zu widerlegen.

Nein. Nicht wenn es um Machbarkeit geht. Es geht aber hier, völlig unpragmatisch, um die dahinterliegende Realität.

Und jetzt wirds spannend:

Zitat von Zettel
Das scheint mir ein weitverbreiteter Irrtum zu sein, der viel mit Unkenntnis der Bayes'schen Statistik zu tun hat. Wer etwas behauptet, das eine geringe a-priori-Wahrscheinlichkeit hat, der muß entsprechend mehr Belege beibringen als derjenige, der etwas behauptet, das bereits gut belegt ist.

Ich höre immer wieder - gerade auch von Studenten - das Argument: "Ja, aber könnte es denn nicht sein ... (daß es Ufos gibt, daß Homöopathie hilft, daß es einen Sozialismus gibt, in dem alle frei und wohlhabend sind usw.)". Die Antwort ist einfach: Ja, es könnte sein. Nur kann man ja nicht etwas schon deshalb glauben, weil es möglich ist. Man darf es erst dann glauben, wenn es hinreichend belegt ist.


Da steckt irgendwo der Unterschied. Es taucht das Wort "glauben" auf. Es taucht der Konjunktiv (über Eigenschaften der Realität) auf. Ich hab eine unformulierte Meinung. Aber ich weiß nicht, wohin mich die Worte im Folgenden führen werden - ob zu ihr hin oder von ihr weg. Allerdings, ich bekenne es, werden sich mich nicht, auf jeden Fall nicht sofort, von dieser Meinung abbringen:

es könnte sein ... daß es einen Sozialismus gibt, in dem alle frei und wohlhabend sind - schade, das ist ein schlechtes Beispiel, weil wir reden ja über Realität. Und ein Sozialismus, in dem alle frei und wohlhabend sind ... ist ein Phänomen, das in der Realität erst mal auftreten muß.

Kommen wir also zu den Ufos und der Homöopathie. Beide Theorien (es gibt Ufos, Homöopathie hilft) machen Aussagen über die Realität. Ufos könnten natürlich sein. Nixen auch. (Ich habe gerade gestern erst wieder mit Staunen bemerkt, wie groß der Pazifik ist). Oder Feen und Trolle. In bewaldeten (Mittel-)Gebirgsregionen sind die Einheimischen im Vorteil. Man merkt, ich glaube nicht an Ufos - wissen tu ich aber nicht. Also bleiben wir bei den Ufos, weil wir uns bei denen einig sind.

Ich glaube, wir sind uns in noch einem Punkt einig - obwohl wir uns darin gemeinsam irren könnten: Es gibt eine zugrundeliegende Realität. Sie ist irgendwie geartet. Meiner Meinung nach (da werden wir uns uneinig sein) ist sie zum Teil nicht meßbar - Meßbarkeit ist nur eine Eigenschaft von Teilen der Realität. Vielleicht so wie die Temperaturbezeichnungen für Entfernungen keinen Sinn haben. Die Entfernung von Berlin nach Bonn hat keine Temperatur. (Erkennbarkeit durch Menschen muß auch keine Eigenschaft aller Teile der Realität sein.)

Ich fürchte, die Ufos fliegen mich nicht zum Ziel. Denn von so einem Ufo können wir doch annehmen daß es zum meßbaren Bereich gehört, eine Farbe und eine gewisse Größe und eine Masse hat. Daß es also, wenn es in meinem Garten landet, von mir und allen anwesenden Nachbarn gesehen werden wird. Daß es, selbst wenn es nicht landet, sondern mich nur per Beamen entführt, bei der Flugüberwachung auftaucht. Davon gehe ich aus. Aber würde ich das erfahren? Es läßt sich nicht alles verheimlichen. Einer redet immer mal. Wie wieviele Ufos müßten Leute entführen, damit mit der Wahrscheinlichkeit von 90% es fünf und mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,99% wenigstens zwei von den Schirmen der Flugüberwachung in die Zeitungen schaffen? Das ist doch eine wissenschaftliche Frage?

Was würde passieren, wenn wirklich ein Ufo bei dir im Garten landete? Was würde passieren, wenn dich wirklich ein Ufo entführte und nach zwei Tagen wieder zurückbrächte? Tja. Wie sollen also Ufos bewiesen werden können. Es ist höchtens möglich zu beweisen, daß man in der heutigen Gesellschaft Ufos nicht beweisen kann - selbst wenn es sie gäbe.

Das mit der Homöopathie lassen wir :-) - angewandte Medizin ist auch keine exakte Wissenschaft.

Die zugrundeliegende Realität also. Darum geht es in dieser Serie. Warum eigentlich?

Liebe Grüße
Kaa








Der neue Faschismus wird nicht sagen: Ich bin der Faschismus. Er wird sagen: Ich bin der Antifaschismus Autor im Netz bekannt

dirk Offline



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01.02.2009 14:41
#44 RE: Realität (5): Postmoderne Toleranz Antworten

Lieber Zettel,

eine etwas verspätete Antwort, ich war die letzten Tage etwas ausgelastet (Übrigens, saß mir in einem Cafe in FFm Andrea Ypsilanti gegenüber. Ich habe im Rahmen meiner Tätigkeit als Hobbypädagoge überlegt, einen dummen Spruch abzulassen. Aber selbst Sie tat mir dafür viel zu leid. )



In Antwort auf:
Zitat von dirkWieso also argumentieren so viele kulturrelativistisch und nicht relativistisch auf der Ebene des Individuums?


Weil sie Sozialwissenschaftler sind und keine Psychologen.


Hmm. Also vermutlich gibt es hier zwei Stufen, die ich besser auseinandergehalten hätte. Erstens, die deskriptive. Etwa die Frage, was bestimmt das Verhalten eines Individuums. Und da ist völlig in Ordnung als Arbeitshypothese anzunehmen, dass dies kulturelle Einflüsse sind.

Zweitens, die normative. Der (Kultur-)Relativismus fordert ja die Gleichberechtigung aller Kulturen und weist Kritik an den Taliban als "westliche Arroganz" oder ähnlichem zurück.

Und da verstehe ich nicht warum. Es ist ja eines zu glauben, dass die Kultur das Verhalten der Menschen bestimmt und etwas anderes zu glauben, dass das auch jede Kultur so soll machen können, wie es ihr beliebt. So nach dem Motto jeder Kultur ihre Wahrheit. Aber warum dann nicht jedem Individuum seine Wahrheit? Und das wäre dann Liberalismus.

Zettel Offline




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05.04.2009 08:47
#45 Realität (6): Erkenntnis und Interesse Antworten
Eigentlich hatte ich diese Serie ja in den Weihnachtsferien zu Ende schreiben wollen. Das hat nicht ganz geklappt. Jetzt ist aus einem der liegengebliebenen Päckchen Vorösterliches zum Palmsonntag geworden.

Wenn, wie dies das postmoderne Denken behauptet, die Realität ein kulturelles Konstrukt, also in diesem Sinn relativ ist, dann wird Erkenntnis instrumentalisierbar. Verwertbar für Interessen. Davon handelt diese Folge, in der es um Politik und Werbung geht, im zweiten Teil dann um Religion und Philosophie. Mit einem Ausblick auf Wissenschaft.

Zu diesen Themen paßt die Diskussion, die ich im Oktober mit Gomez geführt habe.
Zettel Offline




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06.04.2009 08:27
#46 Schopenhauers Philippika gegen Fichte und Hegel Antworten

Schopenhauers schönen Dialog über Religion konnte ich verlinken, aber den Text der "Skizze der Lehre vom Idealen und Realen" habe ich, als ich den Artikel geschrieben habe, nicht im Web finden können.

Ich habe jetzt noch einmal nachgesehen. Deutsch scheint es ihn in der Tat nicht zu geben - aber in englischer Übersetzung! (Soviel mal wieder zur Kulturlosigkeit der Amerikaner).

Ich habe ihn in eine Word-Datei kopiert, ein wenig lesbarer gemacht und hänge ihn als Datei hier an. Die (leider zahlreichen) Einscann-Fehler habe ich allerdings nicht korrigiert.

Die donnernde Philippika gegen Hegel, Schelling und Fichte beginnt mit dem Anhang auf Seite 22. Ich hänge aber den kompletten Text an, weil die Einführung in die Philosophie von Descartes, Locke, Spinoza, Kant u.a. vorzüglich ist.

Vielleicht interessiert es ja jemanden, der gut Englisch liest und dessen Frustrationstoleranz groß genug ist, daß er sich nicht an den Einscannfehlern stört.

Dateianlage:
Schopenhauer, Skizze.doc
PeterCoyote ( Gast )
Beiträge:

07.04.2009 23:58
#47 RE: Realität (6): Erkenntnis und Interesse Antworten

In Antwort auf:
Ist Realität also das, was eine Gesellschaft, eine Religion oder eine Weltanschauung zur Realität erklärt?


das der Gedanke nicht gänzlich abwegig ist, erfahren sie ja zur Zeit an der verhaltenen Resonanz zum Thema "Warum gibt es in Köln fünfmal so viele Wohnungseinbrüche wie in München?". Der von ihnen vorgeschlagene Weg schickt sich nicht, denn er spricht da etwas an, über das wir nicht sprechen sollen und sie wissen ja, eine Sprache bestimmt ein Weltbild. Dafür aber gehört der einheimische Fremdenhasser zur besonders von der neumodischen Sozialdemokratie und der ihr nahe stehenden Intellektuellen konstruierten Realität. Damit man nicht in den Maschen hängen bleibt verzichtet man auf den Hinweis auf die ethnischen Zusammenhänge der Täter. Besser schon passt die These von der "Einkommensschere" zur behaupteten Realität der sozialen Ungerechtigkeit. Ganze Parteien werden demnächst damit im Wahlkampf trumpfen wollen. Dabei wird man dann wieder die nächste konstruierte Realität namens Präkariat aus der Schublade ziehen.

In unserer Jugend, lieber Zettel, da gab es eine andere Realität. Eingebrochen wurde damals noch nicht ausschliesslich dort, wo viel Reichtum und Armut an einem Ort zusammenkommen, und man zog beim Präkariat durchaus auch noch Eigenverantwortung und Herkunft heran. Das ein Totalitarismus ein Totalitarismus ist, unabhängig ob ein paar mehr oder weniger gemordet werden, gehörte auch noch zum damaligen Begriff der Realität.

Realität verändert sich im Laufe der Zeit. Sie kann auch nicht sein, was eine "Gesellschaft" zur "Realität" erklärt, denn die "Gesellschaft" befindet sich selbst im Wandel, was immer eine "Gesellschaft" bzw. eine "Kultur" überhaupt sein sollen, denn herum laufen und sich messen lassen tun weder "Kultur" noch "Gesellschaft".

"Kultur" und "Gesellschaft" sind selbst konstruierte "Realitäten". Konstruiert von Leuten, die typischerweise weit ab von "Kultur" und "Gesellschaft" in einem vom Steuerzahler zwangsfinanzierten Elfenbeinturm leben, gelegentlich etwas Opium konsumieren, noch gelegentlicher hoffen "hope i’ll die of an overdose of pleasure of any kind" und in ganz seltenen Fällen an einer derartigen "overdose" versterben, nicht ohne zuvor Unschuldige infiziert zu haben, die dann frohlocken "I die happy, because I was infected by <Name ist Schall und Rauch>”.

Zur von der "Gesellschaft" konstruierten "Realität" gehören auch die vom Steuerzahler zwangsfinanzierten Leerstühle, auf denen sitzend diese Leute den "Antikapitalismus" und -aufgrund unverarbeiteter eigener Devianz- den Kultur- und sonstigen "Relativismus" predigen, gelegentlich Abstecher in Saunen und Darkrooms nicht zu vergessen. Damit es nicht so auffällt veröffentlichen sie alle Schaltjahre einmal ein neues Werk, in dem sie sich gegenseitig inzestiös zitieren, wenn sie nicht gleich ihrem Assistenten das Schreiben gänzlich überlassen, was ja gewisse boshafte Kreise vom Zettel schluckenden kritischen Theoretiker mit HJ Hintergrund munkeln.

Die Realität des Elfenbeinturms ist eine seltsam beständige Realität im sich seltsam unkapitalistisch verhaltenden Kapitalismus. Kaum einer wagt es zu sagen: Dreht denen einfach den Hahn ab. Ich gehöre zu den Wenigen, die den Mut haben es zu tun. Und damit kommen wir zu dem nächsten seltsamen Phänomen, denn nicht allein das sich die von der "Gesellschaft" konstruierte "Realität" im Laufe der Zeit verändert, schlimmer noch existieren zum gleichen Zeitpunkt am gleichen Ort innerhalb der gleichen "Gesellschaft" völlig unterschiedliche Auffassungen davon, was Realität denn sein soll. "Gesellschaft" ist für Gregor Gysi, sie und meine Wenigkeit nicht dasselbe. Und schon gar nicht decken sich ihre und meine Auffassungen von "Gesellschaft" mit denen der abgehobenen Möchtegern-Elite im Bundestag, also dem nächsten vom Steuerzahler zwangsfinanzierten Biotop mit eigenen Normen und Regeln, die bei immer breiter werdenden Wählermassen auf immer mehr Unverständnis stossen.

Puh, jetzt haben wie die "Gesellschaft" mitsamt der "Kultur" als Realitäten bezweifelt und zudem noch ein derart komplexes, Raum und Zeit, Temperament und Launen Einzelner und Gruppen abhängiges Modell der Konstruktion diverser Realitäten skizziert, daß es einem schwindelig werden muss. Da haben es die grossen Vereinfacher doch viel leichter. Insbesondere die Postmodernen Philosophen mit ihrem Hang zur begriffliche Unschärfe, welche nur Ausdruck besonderer Unschärfe des Geistes der Profiteure eines fehlgeleiteten Bildungssystems sein kann.

Insbesondere solche Leute sind gemeint, welche der Auffassung sind, das die ominöse "Macht" "die Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt" usw. usf.. Mit welchem Zaubertrank kann diese Elite denn überhaupt aus dem Gefängnis ihrer Kultur ausbrechen und derart Bewusstseinserweitert zur Erkenntnis gelangen, daß die Realität etwas Konstruiertes sei, schliesslich lehrt die "Gesellschaft" sie doch, daß das Gegenteil der Fall sei?

Es war schon immer interessant zu beobachten, mit welchen Tricks und Schlichen das Intellektuellentum das Bewusstsein eigener Überflüssigkeit im Schwall des üblichen Überlegenheitgetues ertränkt und deshalb überlassen wir die Konstruktion der Realität doch lieber denjenigen unter uns, die an einer Insolvenz, einem Konkurs und einer Arbeitslosigkeit durchaus erfahren können, wie real die Realität wirklich ist. Realität erfahren die Bürger gelegentlich durchaus schmerzhaft und somit ist Realität für sie etwas ganz anderes als das Nachdenken einer dem Existenzkampf entzogenen dekadenten sozial- und geisteswissenschaftlichen Elite im Elfenbeinturm über "Kultur" und "Gesellschaft". Der letzte Sinn der Philosophie ist die absolute Negation derselben.

Herzlichst ihr Peter Coyote







Thomas Pauli Offline




Beiträge: 1.486

08.04.2009 06:49
#48 RE: Realität (6): Erkenntnis und Interesse Antworten

Zitat von PeterCoyote
Dreht denen einfach den Hahn ab.


Lieber PeterCoyote,

das wäre einfach zu schön, die normative Kraft des Faktischen auf den Relativismus loszulassen!

Zitat von Eugen Roth
Wandlung

Ein Mensch führt, jung sich auf wie toll:
er sieht die Welt, wie sein soll.
Doch lernt auch er nach kurzer Frist,
die Welt zu sehen, wie sie ist.
Als Greis er noch den Traum sich gönnt,
die Welt zu sehen, wie sie sein könnt.


In Elfenbeintürmen ist Lernen allerdings nicht weiter wichtig.

Herzlich, Thomas

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

08.04.2009 15:48
#49 Lernen im Elfenbeinturm Antworten

Zitat von Thomas Pauli
In Elfenbeintürmen ist Lernen allerdings nicht weiter wichtig.

In einer bestimmten Hinsicht, lieber Thomas, stimmt das. Es fehlt die Rückmeldung durch die Realität; jedenfalls in dem Sinn, in dem sie außerhalb des Elfenbeinturms funktioniert: Daß man für Fehlentscheidungen bestraft wird und also danach trachtet, sie künftig zu vermeiden.

Es gibt aber schon Lernen in den Elfenbeintürmen. Erstens natürlich in dem trivialen Sinn, daß die Studenten büffeln und die Dozenten sich auf dem Laufenden halten.

Zweitens aber auch im Sinn von Rückmeldung. Nur ist sie bei den Geisteswissenschaften vollständig und bei den Naturwissenschaften teilweise eine besondere Art der Rückmeldung: Die durch die Scientific Community.

Ob, sagen wir, die Interpretation eines bestimmten Werks durch einen Literaturwissenschaftler etwas taugt oder nicht, sagt ihm nicht die Realität, sondern das Urteil der Fachkollegen. Dasselbe gilt für Philosophen, größtenteils für Historiker usw.

Bei Naturwissenschaftlern spielt das auch eine Rolle; aber immerhin bekommen sie, indem sie experimentieren, ständig auch eine Rückmeldung durch die Realität. Man lebt in der Spannung, ob ein Experiment das ergibt, was man vorhergesagt hat. Man muß seine Auffassungen fortlaufend korrigieren, denn selten kommt genau das heraus, was man erwartet hat. (Und wenn es herauskommt, sind das die uninteressantesten Experimente).

Am nächsten an der Realität sind natürlich diejenigen Bewohner des Elfenbeinturms, die auch eine praktische Tätigkeit ausüben - die Mediziner, die Architekten, die Ingenieure usw.

Herzlich, Zettel

PS: Wo übrigens wären die Mathematiker einzuordnen?

Gorgasal Offline




Beiträge: 4.083

08.04.2009 15:57
#50 RE: Lernen im Elfenbeinturm Antworten

Zitat von Zettel
PS: Wo übrigens wären die Mathematiker einzuordnen?

Meines Erachtens wie die Literaturwissenschaftler. Ob eine neue mathematische Theorie oder ein neuer Satz wichtig ist, sieht man daran, ob die Kollegen die Arbeit aufgreifen und darauf aufbauen. Es gibt in der Mathematik viele Beispiele für Sackgassen - korrekte Theorien, die sich dann allerdings als wenig fruchtbar (genauer: weniger fruchtbar als ursprünglich gedacht) erwiesen, z.B. die Hamiltonschen Quaternionen oder allgemeiner die Suche nach interessanten Divisionsalgebren über den reellen Zahlen.

--
Ultramontan – dies Wort beschreibt vorzüglich die katholische Mentalität: mit einem kleinen Teil des Bewusstseins nicht Deutscher, nicht Zeitgenosse, nicht Erdenbürger zu sein. - Martin Mosebach, Spiegel 7/2009

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