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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 131 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
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Zettel Offline




Beiträge: 20.200

17.01.2010 23:09
#26 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Zitat von Herr
So weit musste es kommen: Ausgerechnet Alan Posener erklärt der Bischöfin die Bibel!


Der Mann ist klasse; einer der liberalkonservativen Journalisten, wie es sie in den USA so zahlreich und in Deutschland so selten gibt. Witzig und intelligent.

Was Käßmanns wacklige theologischen Kenntnisse angeht - diese sind mir das erste Mal im Oktobar 2008 in dieser "Nachtstudio"-Sendung aufgefallen. Zwei Theologen die sich mit Luther auskannten; ein Politologe (Münkler), der sich im historischen Umfeld Luthers ebenfalls erstaunlich gut auskannte - und die Bischöfin, die von einer Platitüde in die andere stolperte.

Ich hatte damals den Eindruck, daß diese Lutheranerin Luther überhaupt nicht kannte. Offenbar so wenig wie das Alte Testament. Daß es laut AT der Pharao war und nicht Josef, der den Traum von den sieben mageren und den sieben fetten Kühe hatte, und nicht Josef, der den Traum vielmehr für den Pharao deutete - das hätte sogar ich Agnostiger gewußt, weil ich es im Religionsunterricht so gelernt hatte.

Käßmann verdankt ihre Karriere, wie mir scheint, nicht intellektuellen Fähigkeiten, sondern vielleicht einer gewissen naiven Hartnäckigkeit, mit der sie Behauptungen aufstellt und eisern daran festhält. Das und der Frauenbonus - das kann schon manches Defizit ausgleichen.

Herzlich, Zettel

Gorgasal Offline




Beiträge: 4.021

17.01.2010 23:18
#27 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Zitat von Zettel

Zitat von Herr
So weit musste es kommen: Ausgerechnet Alan Posener erklärt der Bischöfin die Bibel!


Der Mann ist klasse; einer der liberalkonservativen Journalisten, wie es sie in den USA so zahlreich und in Deutschland so selten gibt. Witzig und intelligent.



Aber wenn er über Theologen schreibt, dann argumentiert er unsachlich, reißt Zitate aus dem Kontext und benimmt sich überhaupt recht unprofessionell. Siehe sein "Benedikts Kreuzzug" sowie diverse Einträge darüber bei kath-info.de (wo sich viele sehr gute Texte finden, die dann wegen hundsmiserablem Webdesign schnell im Orkus verschwinden).

--
La sabiduría se reduce a no olvidar jamás, ni la nada que es el hombre, ni la belleza que nace a veces en sus manos. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

17.01.2010 23:36
#28 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Zitat von Gorgasal
Aber wenn er über Theologen schreibt, dann argumentiert er unsachlich, reißt Zitate aus dem Kontext und benimmt sich überhaupt recht unprofessionell. Siehe sein "Benedikts Kreuzzug" sowie diverse Einträge darüber bei kath-info.de (wo sich viele sehr gute Texte finden, die dann wegen hundsmiserablem Webdesign schnell im Orkus verschwinden).


Haben Sie vielleicht Links zu solchen kritischen Beiträgen zu Posener, lieber Gorgasal? Was ich bisher von ihm gelesen bzw. - inzwischen, dank endlich vorhandenem schnellem Internetzugang - als Video gesehen habe, das hat mir eigentlich immer ausnehmend gut gefallen.

Herzlich, Zettel

Herr Offline




Beiträge: 406

17.01.2010 23:40
#29 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Zitat von Gorgasal

Zitat von Zettel

Zitat von Herr
Zitat von Herr
So weit musste es kommen: Ausgerechnet Alan Posener erklärt der Bischöfin die Bibel!



Der Mann ist klasse; einer der liberalkonservativen Journalisten, wie es sie in den USA so zahlreich und in Deutschland so selten gibt. Witzig und intelligent.





Aber wenn er über Theologen schreibt, dann argumentiert er unsachlich, reißt Zitate aus dem Kontext und benimmt sich überhaupt recht unprofessionell. Siehe sein "Benedikts Kreuzzug" sowie diverse Einträge darüber bei kath-info.de (wo sich viele sehr gute Texte finden, die dann wegen hundsmiserablem Webdesign schnell im Orkus verschwinden).




Genau das meinte ich mit "Ausgerechnet".

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

17.01.2010 23:44
#30 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Hier ist eine Rezension des Deutschlandfunks, der das Buch natrlich bejubelt...
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/andruck/1074871/

edit: und noch eine
http://www.derwesten.de/waz/politik/Der-...-id2322649.html

Gruß Petz

Herr Offline




Beiträge: 406

17.01.2010 23:46
#31 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Habe ich gehört. Ich hatte aber vorher irgendwo schon einen Ausschnitt gelesen, den ich sehr abschreckend fand.

Kallias Offline




Beiträge: 2.300

18.01.2010 00:12
#32 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Zitat von Florian
Ich gebe zu, dass Käßmann da mehr Experte ist als ich.

Das sei mal dahingestellt. Ich bin auch kein Experte, und die Geschichte der Friedensdiskussion in der EKD ist wohl ein wenig verwickelt. Ihre heutige Position stellt die EKD in einer Friedensdenkschrift von 2007 dar, die von der "Kammer für Öffentliche Verantwortung" verfasst wurde. Dort wird erklärt, daß man sich von der christlichen Lehre des "gerechten Krieges" verabschiede, obwohl man die Kriterien, die dort aufgestellt wurden, an und für sich nicht ablehne:

Zitat von Friedensdenkschrift 2007
Nicht gegen Kriterien dieser Art als solche, wohl aber gegen die überkommenen Rahmentheorien des gerechten Kriegs, in die sie eingefügt waren, bestehen prinzipielle Einwände. Denn die Theorien des bellum iustum entstammen politischen Kontextbedingungen, in denen es eine rechtlich institutionalisierte Instanz zur transnationalen Rechtsdurchsetzung ebenso wenig gab wie eine generelle Ächtung des Krieges. (S. 66)

Heute hingegen gelte:

Zitat von Friedensdenkschrift 2007
Von dem grundsätzlichen Verbot militärischer Gewaltanwendung gibt es im Rahmen des von der UN-Charta vorgesehenen Systems kollektiver Sicherheit nur zwei Ausnahmen: zum einen die Befugnis des Sicherheitsrats, selbst unter Kapitel VII der
UN-Charta neben nicht-militärischen Sanktionen auch militärische Zwangsmaßnahmen zu beschließen; zum andern den Fall des Selbstverteidigungsrechts, das einem einzelnen Staat oder einer Staatengruppe im Fall eines bewaffneten Angriffs zusteht – aber nur als ein provisorisches, subsidiäres Notrecht, solange der Sicherheitsrat nicht selbst Maßnahmen zur Wiederherstellung des Friedens unternommen hat (Artikel 51 UN-Charta). (S. 68)

In diesem Zusammenhang wird übrigens durchgehend völkerrechtlich und nicht theologisch argumentiert.

Weiter heißt es über die National Security Strategy der USA von 2002, die im Rahmen der Terrorismusbekämpfung u.a. Präventivkriege vorsieht:

Zitat von Friedensdenkschrift 2007
Terrorismusbekämpfung ist kein legitimes Ziel einer über den Selbstverteidigungsfall hinaus anhaltenden Kriegführung, sondern gehört in die Kategorie der internationalen Verbrechensbekämpfung. Die Staaten sind verpflichtet, auf ihrem Territorium gegen terroristische Gruppen und Personen polizei- und strafrechtlich einzuschreiten und nicht zuletzt die Finanzierung terroristischer Aktivitäten zu unterbinden. Über Appelle hinaus ist es auch in diesem Zusammenhang erforderlich, eine wirksame Strafverfolgung auszubauen und eine internationale Strafgerichtsbarkeit zu gewährleisten.

Eine andere Argumentation beruft sich auf die Notwendigkeit der antizipierten Gefahrenabwehr: Es wird behauptet, gegenüber dem internationalen Terrorismus und den mit ihm kooperierenden Staaten sei die herkömmliche, an das Selbstverteidigungsrecht anknüpfende Abschreckungsstrategie ungeeignet, da sie einen letztlich risikoscheuen und dem rationalen Kalkül verpflichteten Gegner voraussetze. (...) Nach herkömmlicher ethischer Auffassung und völkerrechtlicher Definition ist der Erstgebrauch von Waffengewalt nur dann nicht als rechtswidrige Aggression zu werten, wenn er einem gegenwärtig unmittelbar bevorstehenden Angriff der Gegenseite zuvorkommt. Dieser Grenzfall, in dem ein Erstgebrauch militärischer Gewalt noch unter das Selbstverteidigungsrecht fallen kann, rechtfertigt also weder antizipatorische Schläge gegen eine Bedrohung, die sich nur undeutlich abzeichnet, noch Präventivkriege gegen räumlich wie zeitlich weit entfernte Bedrohungen. (S. 71f.)

Besonders interessant:

Zitat von Friedensdenkschrift 2007
In der Zeit des Kalten Krieges wurde unterstellt, die Gefahr des Ausbruchs eines Nuklearkriegs sei durch gegenseitige rationale Risikoabwägung begrenzt. Demgegenüber kann in der heutigen Lage Abschreckung nicht von vornherein mit einem zu rationalem Kalkül geneigten Gegner rechnen. Vor diesem Hintergrund haben die Gründe für die Kritik an der Abschreckungsstrategie deutlich an Gewicht gewonnen. (S. 74)

Stark: die USA können ihre Atomwaffen ruhig komplett verschrotten, da sich die Gegner von heute, die an solchen Waffen basteln, sowieso nicht mehr abschrecken lassen.

Verständlich, daß sich die "Kammer für Öffentliche Verantwortung" über die "friedenspolitischen Folgerungen" (S. 9), die aus dieser These zu ziehen sind, nicht einigen konnte.


Käßmann verweist in dem Interview auf diese Schrift, die vom Rat der EKD damals einstimmig angenommen wurde, und geht kaum über das hinaus, was dort steht. So gesehen vertritt sie nur die Linie ihrer Kirche, was man ihr schlecht vorwerfen kann. Auf ihre eigene Kappe geht wohl nur die Behauptung: "Aber nach diesen Kriterien [einer "Ethik rechtserhaltender Gewalt", die in der Denkschrift S. 68f. aufgeführt sind], ist das, was in Afghanistan geschieht, in keiner Weise zu rechtfertigen." Wieso sie das meint, hätte man sie fragen sollen. Wahrscheinlich hätte sie dann aber ebenso unbeholfen herumgestottert wie bei der Frage nach dem Zweiten Weltkrieg.

Was Kritiker wie Fleischhauer am meisten an solchen Einlassungen provoziert, glaube ich, ist weniger der Inhalt, sondern mehr die naive Ausdrucksweise, von Fleischhauer treffend als "Teestubeneinfalt" karikiert, wie hier der kindliche "Immer"-Jargon:

Zitat von Margot Käßmann
Am Ende sagen immer alle, jetzt müssen wir mit Waffengewalt eingreifen, dann wird es Frieden geben.

Krieg sehe ich nicht legitimiert, weil durch ihn am Ende immer die Zivilbevölkerung leidet.

Schließlich heißt es immer: Jetzt müssen wir Waffen einsetzen.

Tja, die Trotzige, sie lehnt es einfach ab, von starken Argumenten über den Tisch gezogen zu werden.


Herzliche Grüße,
Kallias

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

18.01.2010 00:14
#33 Posener, Kant, Ratzinger Antworten

Zitat von Meister Petz
Hier ist eine Rezension des Deutschlandfunks, der das Buch natrlich bejubelt...


Ich kenne das Buch Poseners nicht, lieber Petz; ich wußte bis eben gar nicht, daß er ein solches Buch geschrieben hat. Aber Nikolaus German scheint mir jedenfalls in diesem Punkt Recht zu haben:

Zitat von Rezension
Der Papst hatte sich da nicht nur zu Mohammed geäußert, sondern auch zu dem Aufklärungsphilosophen Kant und ihn dabei - bewusst oder unbewusst - in ein falsches Licht gesetzt, wie Posener nachweist. So behauptete Benedikt, dass Kant von sich gesagt habe:

"Er (Kant) habe das Denken beiseite schaffen müssen, um dem Glauben Platz zu machen."

Damit hat der Papst Kant sinnentstellend zitiert, denn Kant hatte in Wirklichkeit gesagt:

"Ich musste das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen"

Das ist freilich etwas ganz anderes, und Posener kommentiert zurecht:

"Kant war ja durchaus der Meinung, dass die Vernunft Begriffe wie Gott, Freiheit, Unsterblichkeit denken könne, ja gar nicht umhinkomme, das 'Unbedingte' zu denken. Er wollte also keineswegs das Denken aufheben, wenn es um den Glauben ging, wie Benedikt unterstellt."


Das ist schlicht richtig. Kant hätte nie daran gedacht, "das Denken beiseite zu schaffen". Mit "das Wissen aufheben" meinte er das, was wir heute vielleicht suspendieren nennen würden, oder ausklammern: Freiheit, Unsterblichkeit der Seele und Gott sind Ideen der Vernunft, die sich dem Wissen, also der Bestätigung durch die Erfahrung*) (aber keineswegs dem Denken!), entziehen. Wir brauchen sie aber als Ideen der Vernunft, weil wir nur auf ihrer Grundlage - so meinte Kant - ethisch handeln können.

Anläßlich der seinerzeitigen Kontroverse über die Regensburger Rede - ich habe sie damals in diesem, diesem und diesem Artikel mit viel Sympathie für den Papst kommentiert - erfuhr man, daß jeder Satz dieser Rede von den Spezialisten des Vatikan sorgfältig gegengelesen worden war. Wie konnte da so etwas Falsches über Kant stehenbleiben?



Etwas anderes, was aber dazugehört: Ich habe Ratzingers Buch "Jesus von Nazareth" mit großen Erwartungen gelesen und war sehr enttäuscht. Warum, das habe ich vor zwei Jahren hier skizziert, als wir diese sehr spannende und ergiebige Diskussion über die Bergpredigt geführt haben.

Ratzinger wollte offenbar kein rein theologisches Buch schreiben, in dem er seinen Glauben darlegt. Er wollte aber auch kein rein historisches Buch schreiben, in dem er den Stand der Leben-Jesu-Forschung analysiert. Sondern er wollte irgendwie beides.

Herausgekommen ist dadurch ein - bei einem so bedeutenden Gelehrten erst recht - seltsam unwissenschaftliches Werk. Die Ergebnisse der historischen Forschung werden stets so bewertet (oder ggf. abgewertet), daß am Ende eine Übereinstimmung mit der theologischen Position Ratzingers herauskommt.

Das ist schlechte empirische Wissenschaft; denn gute Wissenschaft darf nicht wertend und muß ergebnisoffen sein. Ob es gute Theologie ist, kann ich nicht beurteilen.

Herzlich, Zettel

*) Nachtrag: Der Vollständigkeit halber sollte ich erwähnen, daß für Kant die Erfahrung nicht die einzige Quelle des Wissens war; eine weitere waren für ihn die berühmten "synthetischen Urteile a priori" wie zum Beispiel die Erkenntnisse der Mathematik, die nicht der Erfahrung entnommen sind und trotzdem zu unserem Wissen gehören.

Edit: Ich hatte statt "Ideen der Vernunft" einmal versehentlich "Verstandesbegriffe" geschrieben und habe das jetzt korrigiert.

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

18.01.2010 01:44
#34 RE: Posener, Kant, Ratzinger Antworten

Zitat von Zettel

Zitat von Rezension
So behauptete Benedikt, dass Kant von sich gesagt habe: "Er (Kant) habe das Denken beiseite schaffen müssen, um dem Glauben Platz zu machen." Damit hat der Papst Kant sinnentstellend zitiert, denn Kant hatte in Wirklichkeit gesagt:
"Ich musste das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen"
Das ist freilich etwas ganz anderes, und Posener kommentiert zurecht:
"Kant war ja durchaus der Meinung, dass die Vernunft Begriffe wie Gott, Freiheit, Unsterblichkeit denken könne, ja gar nicht umhinkomme, das 'Unbedingte' zu denken. Er wollte also keineswegs das Denken aufheben, wenn es um den Glauben ging, wie Benedikt unterstellt."


Das ist schlicht richtig. Kant hätte nie daran gedacht, "das Denken beiseite zu schaffen". Mit "das Wissen aufheben" meinte er das, was wir heute vielleicht suspendieren nennen würden, oder ausklammern: Freiheit, Unsterblichkeit der Seele und Gott sind Verstandesbegriffe, die sich dem Wissen, also der Bestätigung durch die Erfahrung*) (aber keineswegs dem Denken!), entziehen. Wir brauchen sie aber als Ideen der Vernunft, weil wir nur auf ihrer Grundlage - so meinte Kant - ethisch handeln können.




Ich glaube zwar auch, dass Ratzinger Kant missversteht, aber aus meiner Sicht zitiert der Rezensent (das Original bei Posener kenne ich ebenfalls nicht) hier etwas verzerrend. Wenn man das Zitat liest, so klingt es nach einem Beleg für Poseners These vom Kreuzzug gegen die Aufklärung. Im Zusammenhang der Rede ist die Stoßrichtung eine andere. Er wirft Kant nämlich vor, als Protestant in der Nachfolge der Reformatoren die Trennung der griechisch beeinflussten Verankerung des Glaubens und der Vernunft (Christus als Logos) fortführt.

Zitat von Regensburger Rede
Die Enthellenisierung erscheint zuerst mit den Anliegen der Reformation des 16. Jahrhunderts verknüpft. Die Reformatoren sahen sich angesichts der theologischen Schultradition einer ganz von der Philosophie her bestimmten Systematisierung des Glaubens gegenüber, sozusagen einer Fremdbestimmung des Glaubens durch ein nicht aus ihm kommendes Denken. Der Glaube erschien dabei nicht mehr als lebendiges geschichtliches Wort, sondern eingehaust in ein philosophisches System. Das Sola Scriptura sucht demgegenüber die reine Urgestalt des Glaubens, wie er im biblischen Wort ursprünglich da ist. Metaphysik erscheint als eine Vorgabe von anderswoher, von der man den Glauben befreien muß, damit er ganz wieder er selber sein könne. In einer für die Reformatoren nicht vorhersehbaren Radikalität hat Kant mit seiner Aussage, er habe das Denken beiseite schaffen müssen, um dem Glauben Platz zu machen, aus diesem Programm heraus gehandelt. Er hat dabei den Glauben ausschließlich in der praktischen Vernunft verankert und ihm den Zugang zum Ganzen der Wirklichkeit abgesprochen.


http://www.vatican.va/holy_father/benedi...ensburg_ge.html

Ob Kant dafür ein so großartiges Beispiel ist, sei dahin gestellt, ich folge da Ihrer Argumentation. Worum es aber geht, ist ganz was anderes: Ratzinger wird von Posener unterstellt, einen Kreuzzug gegen Vernunft und Aufklärung zu führen, und es wird so beschrieben, dass Ratzinger Kant als Gewährsmann für sein Programm heranzieht. Ratzinger aber, wenn man das Ganze im Zusammenhang liest, ist Kants Glaube noch zu wenig vernünftig, da Kant ihn seiner Meinung nach in die praktische Philosophie verbannt. Nun ist das ein diskutabler Gedanke, ich finde die Interpretation auch nicht geglückt. Keinesfalls aber kann sie als Beleg für Poseners These dienen. Der Rezensent scheint das auch elegant zu übergehen, denn er verweist nicht auf den Gesamtzusammenhang der Rede.

Zitat von Zettel
Etwas anderes, was aber dazugehört: Ich habe Ratzingers Buch "Jesus von Nazareth" mit großen Erwartungen gelesen und war sehr enttäuscht. Warum, das habe ich vor zwei Jahren hier skizziert, als wir diese sehr spannende und ergiebige Diskussion über die Bergpredigt geführt haben.
Ratzinger wollte offenbar kein rein theologisches Buch schreiben, in dem er seinen Glauben darlegt. Er wollte aber auch kein rein historisches Buch schreiben, in dem er den Stand der Leben-Jesu-Forschung analysiert. Sondern er wollte irgendwie beides.
Herausgekommen ist dadurch ein - bei einem so bedeutenden Gelehrten erst recht - seltsam unwissenschaftliches Werk. Die Ergebnisse der historischen Forschung werden stets so bewertet (oder ggf. abgewertet), daß am Ende eine Übereinstimmung mit der theologischen Position Ratzingers herauskommt.
Das ist schlechte empirische Wissenschaft; denn gute Wissenschaft darf nicht wertend und muß ergebnisoffen sein. Ob es gute Theologie ist, kann ich nicht beurteilen.



Ich war auch enttäuscht und habe vermutet, dass ein paar Positionen klarer geworden wären, wenn das Konklave anders entschieden hätte.

Gruß Petz

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

18.01.2010 01:50
#35 RE: Posener, Kant, Ratzinger Antworten

Zitat von Meister Petz

Zitat von Zettel
Das ist schlicht richtig. Kant hätte nie daran gedacht, "das Denken beiseite zu schaffen". Mit "das Wissen aufheben" meinte er das, was wir heute vielleicht suspendieren nennen würden, oder ausklammern: Freiheit, Unsterblichkeit der Seele und Gott sind Verstandesbegriffe, die sich dem Wissen, also der Bestätigung durch die Erfahrung*) (aber keineswegs dem Denken!), entziehen. Wir brauchen sie aber als Ideen der Vernunft, weil wir nur auf ihrer Grundlage - so meinte Kant - ethisch handeln können.



Da ist mir ein dummer Lapsus unterlaufen, lieber Petz. Natürlich sind Freiheit, Unsterblichkeit der Seele und Gott gerade keine Verstandesbegriffe, sondern eben Ideen der Vernunft.

Ich habe es in meinem Beitrag richtiggestellt, möchte es aber auch hier noch einmal sagen. Da war ich einen Augenblick beim Schreiben geistesabwesend.

Herzlich, Zettel

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

18.01.2010 02:24
#36 RE: Posener, Kant, Ratzinger Antworten

Zitat von Zettel
Da ist mir ein dummer Lapsus unterlaufen, lieber Petz. Natürlich sind Freiheit, Unsterblichkeit der Seele und Gott gerade keine Verstandesbegriffe, sondern eben Ideen der Vernunft.
Ich habe es in meinem Beitrag richtiggestellt, möchte es aber auch hier noch einmal sagen. Da war ich einen Augenblick beim Schreiben geistesabwesend.



Und da wird es richtig tricky, denn aus meiner Sicht ist der Status dieser Ideen der Vernunft (wörtlich "Ideen der reinen Vernunft in praktischer Absicht" ) sehr sehr unklar, und die Interpretationen füllen viele Regalmeter. Wenn nämlich die Interpretation als Postulat der Vernunft richtig ist, dann ist Ratzingers Kritik auch klar, denn die Ideen fungieren ja nur als Bedingung der Möglichkeit, interagieren aber nicht mit dem Verstand.

Das ist natürlich für einen Theologen, der von religiöser Erfahrung ausgeht, nicht haltbar.

Gruß Petz

Gorgasal Offline




Beiträge: 4.021

18.01.2010 07:54
#37 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Zitat von Zettel

Zitat von Gorgasal
Aber wenn er über Theologen schreibt, dann argumentiert er unsachlich, reißt Zitate aus dem Kontext und benimmt sich überhaupt recht unprofessionell. Siehe sein "Benedikts Kreuzzug" sowie diverse Einträge darüber bei kath-info.de (wo sich viele sehr gute Texte finden, die dann wegen hundsmiserablem Webdesign schnell im Orkus verschwinden).


Haben Sie vielleicht Links zu solchen kritischen Beiträgen zu Posener, lieber Gorgasal?



Schauen Sie sich mal den Beitrag "Vermisste Unterschiede und schmackhafte Formulierungen" vom 13.1. hier an - aber bald, wie gesagt, aufgrund des furchtbaren Webdesigns ist das irgendwann ziemlich weg. Ein Auszug:

Zitat
Diese Taktik wendet Posener fast durchgängig an: Er zerrt Äußerungen des Papstes in einen anderen Kontext und manipuliert sie so lange, bis sie eine Bedeutung erhalten, die Posener angreifen und als enttarnte, eigentliche Aussageabsicht des Papstes präsentieren kann. Diese Vorgangsweise ist nicht nur unfair, sondern unappetitlich.

Nehmen wir ein weiteres Beispiel: Er zitiert Ratzingers Aufforderung, darüber nachzudenken, “ob nicht die Vernunft unter Aufsicht gestellt werden” müsse: eine Ratzinger-Formulierung, die man sich, so Posener, “sozusagen auf der Zunge zergehen lassen sollte”. Er verschweigt, dass Ratzinger auch die umgekehrte Frage stellte, nämlich ob “nicht Religion unter das Kuratel der Vernunft gestellt” werden müsse. Ratzinger macht einerseits auf die Pathologien der Religion aufmerksam, wie sie sich etwa im religiös motivierten Terrorismus äußern, andererseits auf die Pathologien der Vernunft, wie sie sich in der Emanzipation der instrumentellen Vernunft von Recht und Moral zeigt, beispielsweise im schon beschriebenen Machbarkeitswahn bezüglich des Menschen. Er plädiert für eine gegenseitige Begrenzung: Religon muss durch Vernunft geregelt sein, was z.B. Gewalttätigkeit ausschließt, Vernunft muss durch Ethik geregelt sein, indem sie unantastbare Werte und Rechte anerkennt. Dass Religion zu dieser Regelung beitragen kann, indem sie für Werte sensibilisiert und Quellen der Moral offenlegt, war gerade der gemeinsame Nenner, auf dem sich das Gespräch zwischen Habermas und Ratzinger bewegte. Von all dem erfährt der Leser Poseners nichts. Dieser greift geschickt nur Formulierungen der einen Hälfte der Ratzingerschen Ausführungen heraus, um aus dessen Suche nach einer Balance zwischen Wissenschaft und Ethik einen Generalangriff auf die Vernunft zu machen.

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La sabiduría se reduce a no olvidar jamás, ni la nada que es el hombre, ni la belleza que nace a veces en sus manos. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito

Martin Offline



Beiträge: 4.129

18.01.2010 08:07
#38 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Zitat von JeffDavis

Zitat von Gansguoter

Sie waren den Deutschen so sehr überlegen, dass Polen und Frankreich jeweils nach wenigen Wochen kapitulierten bzw. zu einem Waffenstillstand bereit waren. Zitat aus http://de.wikipedia.org/wiki/Westfeldzug#Panzertruppen:


Sorry, typischer Laienfehler. Da wird aus dem Ergebnis rückwirkend auf die Ausgangslage geschlossen. Wikipedia ist als Quelle für diese Dinge völlig unbrauchbar. Ich verlasse mich lieber auf Fachleute, die dann auch nicht immer Verknüpfungen bilden, die so nicht richtig sind, oder Äpfel mit Birnen vergleichen.




Sorry, ich halte den allzu unbedachten Bezug auf die Literatur für einen Fehler:

1. Was im Nachinein die Geschichtsforschung an Analysen über die militärische Stärke der Parteien zusammenträgt ist unerheblich, wenn es um die politischen Entscheidungen der damaligen Zeit geht. Entscheidend ist nämlich die Einschätzung der Lage durch die damals entscheidenden Politiker.
2. Logistische und organisatorische Fähigkeiten sind ein ganz entscheidender Faktor für die Einschätzung des gesamtmilitärischen Potentials. Das zu beurteilen ist aber deutlich schwieriger als das Zusammenzählen von Panzern, usw. und deren Spezifikationen. Das traue ich auch den sogenannten Fachleuten nur bedingt zu.

Deshalb: Entscheidend bleibt für diese Diskussion die Sicht der verantwortlichen Politiker. Nichts anderes.

Gruß, Martin

JeffDavis Offline



Beiträge: 448

18.01.2010 09:24
#39 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Zitat von Martin

Sorry, ich halte den allzu unbedachten Bezug auf die Literatur für einen Fehler:



Das ist kein Argument und darüberhinaus ein fehlerhafter Einwurf. Niemand hat von "allzu unbedachtem" Bezug auf die Literatur gesprochen (by the way: Gelten für Wikipedia andere Regeln für die Sorgfalt in Faktenrecherche?). Wikipedia ist aus guten Gründen keine zitierfähige Quelle, sondern bestenfalls ein Startpunkt für Recherchen oder für einen groben Überblick.

Es liegt auch kein unbedachter Bezug vor, wenn auf ausgewiesene Fachliteratur verwiesen wird, die aufgrund sorgfältiger, überprüfbarer und logischer Auswertung der Primärquellen beruht. Wie Friesers Werk.


Zitat von Martin

1. Was im Nachinein die Geschichtsforschung an Analysen über die militärische Stärke der Parteien zusammenträgt ist unerheblich, wenn es um die politischen Entscheidungen der damaligen Zeit geht. Entscheidend ist nämlich die Einschätzung der Lage durch die damals entscheidenden Politiker.
Zitat:

Das ist so nicht richtig. Denn Friesers Zahlen sind nicht in nachhinein ermittelt, sondern beruhen auf Primärquellen. Also auf Stärkemeldungen, Denkschriften, Berichte, Tagesmeldungen, Manöverauswertung, Geheimdienstberichten, kurz auf Unterlagen, die der politischen Führung damals vorgelegen haben, weil es sich um üblicherweise anfallende Arbeit militärischer Dienststellen handelte und es zu deren Aufgaben gehörte, diese der Führung zugänglich zu machen (übliche Fehler, Irrtümer etcpp natürlich eingeschlossenI.

Ich habe noch nirgendwo gelesen, daß zB die alliierten Regierungen nach der Rheinlandbesetzung wegen einer Überschätzung der militärischen Stärke Deutschlands von militärischen Maßnahmen abgesehen hätten. Das gilt auch für September 1939.

[quote="Martin")
2. Logistische und organisatorische Fähigkeiten sind ein ganz entscheidender Faktor für die Einschätzung des gesamtmilitärischen Potentials. Das zu beurteilen ist aber deutlich schwieriger als das Zusammenzählen von Panzern, usw. und deren Spezifikationen. Das traue ich auch den sogenannten Fachleuten nur bedingt zu.



Das ist in dieser Allgemeinheit unzutreffend. Die schönste Logistik nützt nichts, wenn am Ende der Nachschubkette nur ein Blechpanzer steht, der mit 2 MGs bewaffnet und für den Kampf gegen gegnerische Panzer ungeeeignet ist.

Das Zusammenwirken "aller" Faktoren ist entscheidend. Es reicht nicht, nur einzelne Elemente des militärischen Erfolges herauszugreifen und diese als entscheidend zu bezeichnen. 1936 hätten die Franzosen selbst mit einer miserablen Logistik das deutsche Militär hinwegfegen können.

Die Geringschätzung der Fachleute teile ich ganz und gar nicht. Üblicherweise wird sie als Taktik dann gebraucht, wenn man in der Sache der anderen Meinung nichts entgegenstellen kann und daher versucht, die Diskussion auf eine andere Ebene zu verlagern. Oder wenn einem der Sachverstand der Fachleute bei der Durchsetzung eines politischen Ziels im Weg steht. Oder wenn man von der Materie nichts versteht, aber trotzdem mitreden will. Diese Tricks überlasse ich gern den Poltikeknr und Journalisten, die leben davon.

Zitat von Martin

Deshalb: Entscheidend bleibt für diese Diskussion die Sicht der verantwortlichen Politiker. Nichts anderes.



Und wo ist der Erkenntnisgewinn dieser abstrakten Behauptung?

Marriex Offline



Beiträge: 185

18.01.2010 09:31
#40 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Zitat
Sorry, typischer Laienfehler. Da wird aus dem Ergebnis rückwirkend auf die Ausgangslage geschlossen.



Anhand des Ausgangs eines historischen Prozesses lässt sich durchaus sinnvoll überprüfen, ob die eigenen Annahmen über dessen Voraussetzungen richtig oder zumindest wichtig gewichtet sind.

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

18.01.2010 10:26
#41 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Zitat von Kallias
[quote="Friedensdenkschrift 2007"]Nicht gegen Kriterien dieser Art als solche, wohl aber gegen die überkommenen Rahmentheorien des gerechten Kriegs, in die sie eingefügt waren, bestehen prinzipielle Einwände. Denn die Theorien des bellum iustum entstammen politischen Kontextbedingungen, in denen es eine rechtlich institutionalisierte Instanz zur transnationalen Rechtsdurchsetzung ebenso wenig gab wie eine generelle Ächtung des Krieges. (S. 66)

Heute hingegen gelte:

Zitat von Friedensdenkschrift 2007
Von dem grundsätzlichen Verbot militärischer Gewaltanwendung gibt es im Rahmen des von der UN-Charta vorgesehenen Systems kollektiver Sicherheit nur zwei Ausnahmen: zum einen die Befugnis des Sicherheitsrats, selbst unter Kapitel VII der
UN-Charta neben nicht-militärischen Sanktionen auch militärische Zwangsmaßnahmen zu beschließen; zum andern den Fall des Selbstverteidigungsrechts, das einem einzelnen Staat oder einer Staatengruppe im Fall eines bewaffneten Angriffs zusteht – aber nur als ein provisorisches, subsidiäres Notrecht, solange der Sicherheitsrat nicht selbst Maßnahmen zur Wiederherstellung des Friedens unternommen hat (Artikel 51 UN-Charta). (S. 68)



Das ist gar nicht so zutreffend, lieber Kallias. Wenn man Carl Schmitt als illustresten Vertreter dieser Thesen ansieht - vor allem die Schrift "Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff (1938), auch schon die "Politische Theologie" - so sind diese genau im Kontext solcher Bestrebungen entstanden. Die Geschichte der Ächtung des Angriffskrieges beginnt ja nicht mit der UN-Charta, sondern mit dem Briand-Kellogg-Pakt 1928, und die erste institutionalisierte Instanz zur transnationalen Rechtsdurchsetzung war der Genfer Völkerbund. Der Erfolg dieses Gremiums spricht bekanntlich Bände.

Gruß Petz

Martin Offline



Beiträge: 4.129

18.01.2010 10:31
#42 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Zitat von JeffDavis

Zitat von Martin

Sorry, ich halte den allzu unbedachten Bezug auf die Literatur für einen Fehler:


Das ist kein Argument und darüberhinaus ein fehlerhafter Einwurf. Niemand hat von "allzu unbedachtem" Bezug auf die Literatur gesprochen (by the way: Gelten für Wikipedia andere Regeln für die Sorgfalt in Faktenrecherche?). Wikipedia ist aus guten Gründen keine zitierfähige Quelle, sondern bestenfalls ein Startpunkt für Recherchen oder für einen groben Überblick.
Es liegt auch kein unbedachter Bezug vor, wenn auf ausgewiesene Fachliteratur verwiesen wird, die aufgrund sorgfältiger, überprüfbarer und logischer Auswertung der Primärquellen beruht. Wie Friesers Werk.




Vielleicht haben Sie mich mißverstanden. Es ist ein prinzipieller Punkt. Wenn Zettel von Chamberlains 'Strategie' des Zuwartens schreibt und dies mit der zeitweiligen Unterlegenheit z.B. der Engländer begründet, dann ist unerheblich, was Frieser in jahrelanger Recherche zusammengetragen hat, sondern nur das, was Chamberlain zu der Zeit effektiv an Information oder Urteil zur Verfügung stand. Friesers Werk war das auf jeden Fall nicht. Ich will sein Werk nicht kritisieren, aber die Berufserfahrung hat mich gelehrt, dass viel Information existiert, sie aber deshalb noch lange nicht im notwendigen Moment bei den richtigen Personen vorliegt, dort in einem bestimmten Sinne interpretiert wird. Für eine Komplettanalyse müsste man dazu in die Köpfe der Leute schauen können, bzw. deren Urteil Punkt für Punkt nachvolziehbar dokumentiert sein.(Allerdings sollte natürlich auch Zettel erklären können wie er zu seinen gechichtlichen Schlussfolgerungen gekommen ist).

Zitat von JeffDavis

Zitat von Martin

2. Logistische und organisatorische Fähigkeiten sind ein ganz entscheidender Faktor für die Einschätzung des gesamtmilitärischen Potentials. Das zu beurteilen ist aber deutlich schwieriger als das Zusammenzählen von Panzern, usw. und deren Spezifikationen. Das traue ich auch den sogenannten Fachleuten nur bedingt zu.


Das ist in dieser Allgemeinheit unzutreffend. Die schönste Logistik nützt nichts, wenn am Ende der Nachschubkette nur ein Blechpanzer steht, der mit 2 MGs bewaffnet und für den Kampf gegen gegnerische Panzer ungeeeignet ist.



Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Genau das ist ein logistisches Problem.

Zitat von JeffDavis
Und wo ist der Erkenntnisgewinn dieser abstrakten Behauptung?


Vielleicht wäre es zielgerichteter, nicht über die tatsächliche oder geglaubte militärische Stärke zu diskutieren, sondern über Zettels Kernpunkt, nämlich dem Grund für die englischen Zurückhaltung, wenn Zettels Version nicht stimmen sollte. Oder wollen Sie letztlich ausdrücken, dass das was Chambelain hatte, nicht den Namen 'Strategie' verdient.

Gruß, Martin

JeffDavis Offline



Beiträge: 448

18.01.2010 11:46
#43 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Zitat von Martin

Vielleicht haben Sie mich mißverstanden. Es ist ein prinzipieller Punkt. Wenn Zettel von Chamberlains 'Strategie' des Zuwartens schreibt und dies mit der zeitweiligen Unterlegenheit z.B. der Engländer begründet, dann ist unerheblich, was Frieser in jahrelanger Recherche zusammengetragen hat, sondern nur das, was Chamberlain zu der Zeit effektiv an Information oder Urteil zur Verfügung stand. Friesers Werk war das auf jeden Fall nicht. Ich will sein Werk nicht kritisieren, aber die Berufserfahrung hat mich gelehrt, dass viel Information existiert, sie aber deshalb noch lange nicht im notwendigen Moment bei den richtigen Personen vorliegt, dort in einem bestimmten Sinne interpretiert wird. Für eine Komplettanalyse müsste man dazu in die Köpfe der Leute schauen können, bzw. deren Urteil Punkt für Punkt nachvolziehbar dokumentiert sein.(Allerdings sollte natürlich auch Zettel erklären können wie er zu seinen gechichtlichen Schlussfolgerungen gekommen ist).



Auf den letzeren Punkt warte ich auch noch gespannt.

Evtl. reden wir auch aneinander vorbei. Die Zahlen und Fakten lagen den Politikern ja vor. Sie sind nicht erst von Frieser ermittelt worden, sondern in den von mir erwähnten Berichten etccpp. der damaligen Zeit enthalten. Zumindest für Hitler hat Frieser auch ausgeführt, in welcher Form ihm die Berichte vorgelegen haben und welche Folgerungen er daraus gezogen hat. Man kann davon ausgehen, daß die englischen/franz. Militärs und der Geheimdienst in gleicher Weise gearbeitet haben. Das schließt zwar nicht aus, daß die Politiker, die letztlich die Entscheidung für einen Angriff auf D hätten fällen müssen, die Zahlen ignoriert oder mißinterpretiert haben, oder nichtmilitärische Gesichtspunkte ausschlaggebend waren. Anhaltspunkte dafür, daß den maßgeblichen alliierten Entscheidungsträgern die Stärke der deutschen Streitkräfte 1936, 1938 oder im September 1939 nicht bekannt war, habe ich nicht.

Der Entschluß, nicht militärisch gegen D vorzugehen, hat seine Ursache mE nicht in dem Glauben an eine rüstungsmäßige deutsche Überlegenheit.

Zitat von Martin
Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Genau das ist ein logistisches Problem.


Nein, das ist ein Problem der Rüstungsplanung und nicht der Versorgung/des Nachschubs, und in diesem Sinne verstehe ich den Begriff Logistik.

Warten wir besser ab, wie Zettel seinen Kernpunkt begründet.

Florian Offline



Beiträge: 3.136

18.01.2010 12:17
#44 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Zitat
Der Entschluß, nicht militärisch gegen D vorzugehen, hat seine Ursache mE nicht in dem Glauben an eine rüstungsmäßige deutsche Überlegenheit.



Mag sein.
Richtig ist auf jeden Fall, dass in allen Bevölkerungen vor dem 2. Weltkrieg keine Kriegsbegeisterung existierte. Ganz anders als im 1. Weltkrieg (als es eine solche Begeisterung auf allen Seiten gab) ist der 2. Weltkrieg GEGEN eine Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung angegangen worden. (Auch in Deutschland gab es eine Begeisterung nur für kurze Zeit nach dem erfolgreichen Frankreich-Vorzug. Sicher nicht zu Beginn des Krieges).

Auf diese innenpolitische Situation mussten die Politiker in den Demokratien natürlich Rücksicht nehmen. (Zumal ja absehbar war, dass ein erneuter Weltkrieg womöglich noch mehr Opfer fordern würde als der 1. Weltkrieg).
Dass z.B. in England keine Begeisterung da war, hunderttausende der eigenen Jungs zur Verteidigung der Unabhängigkeit Polens zu opfern (was ja seinerseits auch keine Musterdemokratie war und auch emotional den Engländern sicher ferner stand als Belgien im August 1914) ist da sicher verständlich.

Im übrigen erscheint mir auch im Ergebnis die Ansicht, England sei Deutschland 1939 militärisch überlegen gewesen sehr zweifelhaft. Es fehlte da m.E. schlicht an Masse. Im britischen Expeiditions-Korps war ein Großteil der frei verfügbaren (d.h. nicht in den Kolonien gebundenen) Landstreitkräfte eingesetzt. Egal wie gut dieses Korps ausgestattet war: es waren halt nur 11 Divisionen (gegenüber über 130 deutschen Divisionen).
Natürlich hätte ein britischer Angriff im Sept. 1939 Deutschland vor Probleme gestellt. Aber ganz so eindeutig war die westliche Überlegenheit zu diesem Zeitpunkt sicher nicht.
Und die Erfahrung des 1. Weltkriegs hatte die Westmächte ja auch gelehrt, dass sie ihre industrielle Überlegenheit gegenüber Deutschland nur langfristig ausspielen konnten.

Um es kurz zu machen:
Ganz unabhängig davon, ob eine ausreichende materielle Kriegsbereitschaft existierte, gab es in den westlichen Demokratien schlicht keine psychologische Kriegsbereitschaft.
Es ist das große Verdienst (oder aus Käßmanns Sicht: das Verschulden) Churchills, dies geändert zu haben.

Hajo Offline



Beiträge: 440

18.01.2010 12:52
#45 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Zitat von Florian
Ganz unabhängig davon, ob eine ausreichende materielle Kriegsbereitschaft existierte, gab es in den westlichen Demokratien schlicht keine psychologische Kriegsbereitschaft.



Ach... Ich bitte Sie. Schauen Sie halt, wie man heute die Kriegsbereitschaft herstellt. Babies werden lebendig aus dem Bauch der Mutter geschnitten oder aus Brutkästen geholt, um anschließend mit ihnen Fußball zu spielen. Es werden Greuel allenthalben verübt und NUR WIR können diese Menschen retten. Das funktionierte im Irak, es funktionierte sogar bei dem Grünen-Parteitag, der daraufhin einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg sein Votum gab... Nebenbei möchte ich Ihnen Marschall Göring ans Herz legen, der es auf den Punkt gebracht hat:

"Natürlich, das einfache Volk will keinen Krieg. Warum sollte auch irgendein armer Landarbeiter im Krieg sein Leben aufs Spiel setzen wollen, wenn das Beste ist, was er dabei herausholen kann, daß er mit heilen Knochen zurückkommt? Natürlich, das einfache Volk will keinen Krieg; weder in Rußland, noch in England, noch in Amerika, und ebenso wenig in Deutschland. Das ist klar. Aber schließlich sind es die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen, und es ist immer leicht, das Volk zum Mitmachen zu bringen, ob es sich nun um eine Demokratie, eine faschistische Diktatur, um ein Parlament oder eine kommunistische Diktatur handelt. […] Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land."

Auf unsere heutige Zeit bezogen, würde man vielleicht sagen: "Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es gälte absurde Greueltaten irgendwo auf der Welt zu verhindern, und den Pazifisten ihren Mangel an Mitgefühl vorzuwerfen und zu behaupten, sie hätten Blut an ihren Händen. Diese Methode funktioniert in jedem Land."

Zitat von Florian
Es ist das große Verdienst (...) Churchills, dies geändert zu haben.



Es ist eine ganz und gar ärgerliche Geschichtsinterpretation, der Sie da anhängen. Diese Diktion von der Befreiung Deutschlands, die Sie implizieren.

Es ging bei jedem einzelnen Krieg, der jemals, und zwar seit Anbeginn aller Zeit, auf europäischem Boden stattgefunden hat, nie um etwas anderes, als verschiedene Variationen der Macht.

Glauben Sie wirklich, daß das deutsche Volk jemals auch nur den Hauch einer Rolle gespielt hat, in den Überlegungen unserer Kriegsgegner? Glauben Sie ernstlich, daß die Befreiung des deutschen Volkes eine Relevanz besaß, als britische Bomber ganze Wohnviertel in Schutt und Asche gebombt haben?

Florian Offline



Beiträge: 3.136

18.01.2010 13:24
#46 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Zitat
Ach... Ich bitte Sie. Schauen Sie halt, wie man heute die Kriegsbereitschaft herstellt.


Es ging hier ja nicht um irgendwelche "chirurgischen" Eingriffe à la Kosovokonflikt, von denen die normale westliche Bevölkerung gar nicht mitbekommt. Sondern um einen Krieg, bei dem hunderttausende englische Opfer und gewaltige materieller Aufwand zu erwarten war.

Zitat
Glauben Sie wirklich, daß das deutsche Volk jemals auch nur den Hauch einer Rolle gespielt hat, in den Überlegungen unserer Kriegsgegner? Glauben Sie ernstlich, daß die Befreiung des deutschen Volkes eine Relevanz besaß, als britische Bomber ganze Wohnviertel in Schutt und Asche gebombt haben?



Wissen Sie was?
Aus MEINER Sicht WAR es eine Befreiung. Ob Churchill da nun irgendwelche freundlichen Motive gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung geleitet hat oder nicht - das ist mir eigentlich ziemlich egal. Wichtig ist für mich nur, dass das Ergebnis (auch) für die deutsche Bevölkerung positiv war.

JeffDavis Offline



Beiträge: 448

18.01.2010 13:36
#47 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Zitat von Florian

Im übrigen erscheint mir auch im Ergebnis die Ansicht, England sei Deutschland 1939 militärisch überlegen gewesen sehr zweifelhaft. Es fehlte da m.E. schlicht an Masse. Im britischen Expeiditions-Korps war ein Großteil der frei verfügbaren (d.h. nicht in den Kolonien gebundenen) Landstreitkräfte eingesetzt. Egal wie gut dieses Korps ausgestattet war: es waren halt nur 11 Divisionen (gegenüber über 130 deutschen Divisionen).
Natürlich hätte ein britischer Angriff im Sept. 1939 Deutschland vor Probleme gestellt. Aber ganz so eindeutig war die westliche Überlegenheit zu diesem Zeitpunkt sicher nicht.



Ich habe immer von der Westalliierten gesprochen, nicht von einer englischen Überlegenheit (bitte genau lesen). Zahlen habe ich gebracht, auch einen Vergleich der Heeresstärke und der Zusammensetzung der deutschen Divisionen. Von einem alleinigen Angriff Englands auf D war nie die Rede. Es liegt klar auf der Hand, daß das UK mangels Landgrenze zu D keinen Angriff zu Lande führen konnte. Im übrigen bestand das brit. Militär nicht nur aus dem BEF.

Warum im September 1939 die brit. Regierung glaubte "ihre Jungs" in den Krieg gegen D ziehen lassen zu müssen, aber 1936 oder 1938 nicht, legen Sie nicht dar. WC kann da noch nichts bewirkt haben. Keiner brit. Regierung wäre es im Traum eingefallen, allein für Polens Unabhängigkeit Krieg zu führen, das UK hat stets nur eigene Interessen verfolgt.

Im übrigen darf ich mich Hajos Ansicht anschließen.

JeffDavis Offline



Beiträge: 448

18.01.2010 13:41
#48 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Zitat von Florian
Wichtig ist für mich nur, dass das Ergebnis (auch) für die deutsche Bevölkerung positiv war.



Vor allem für die Opfer der britischen Flächenbombardements, die Opfer der Vertreibung und die Pechvögel auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs. Von diesem positiven Ergebnis durften ja auch andere Völker reichhaltig und für lange Zeit profitieren.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

18.01.2010 17:23
#49 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Zitat von Florian
Im übrigen erscheint mir auch im Ergebnis die Ansicht, England sei Deutschland 1939 militärisch überlegen gewesen sehr zweifelhaft.


England alleine natürlich nicht.
Aber Frankreich galt damals als stärkste Landmacht der Welt - und zusammen mit England und gegen ein Deutschland, daß im Osten den Hauptteil seiner Armee im Einsatz hatte, hätten die Westalliierten direkt nach ihrer Kriegserklärung mit ziemlicher Sicherheit gewonnen.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

18.01.2010 17:26
#50 RE: Zettels Meckerecke: Historikerin Käßmann Antworten

Zitat von Hajo
Schauen Sie halt, wie man heute die Kriegsbereitschaft herstellt. Babies werden lebendig aus dem Bauch der Mutter geschnitten oder aus Brutkästen geholt, um anschließend mit ihnen Fußball zu spielen.


Es ist erstaunlich, daß immer wieder diese Brutkasten-Episode zitiert wird.
Natürlich war das eine Lüge - aber eben nur eine.
Aber von dieser einen Untat, die Saddam NICHT verübt hat, ist viel öfters die Rede als von allen den Untaten, die zweifellos auf sein Konto gehen.

Mit anderen Worten: Kriegsbereitschaft war deswegen da, WEIL es gute Gründe dafür gab, und eben nicht nur die recht nebensächliche Brutkastenlüge.

Zitat
es funktionierte sogar bei dem Grünen-Parteitag, der daraufhin einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg sein Votum gab


Man kann natürlich den Grünen zu Recht Inkonsequenz vorwerfen.
Aber das Märchen vom "völkerrechtswidrigen Angriffskrieg" gehört in die Mottenkiste.

Zitat
Es ging bei jedem einzelnen Krieg, der jemals, und zwar seit Anbeginn aller Zeit, auf europäischem Boden stattgefunden hat, nie um etwas anderes, als verschiedene Variationen der Macht.


Das ist falsch - der Kosovo-Krieg ist ein klares Gegenbeispiel.

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