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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 79 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
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Florian Offline



Beiträge: 3.163

29.10.2010 16:08
#51 RE: KKK: Was BILD meint Antworten

Zitat
Bei Hofer ging es ja ganz allgemein gegen die Fremdherrschaft, die gegnerischen Truppen bestanden größtenteils aus Franzosen (und Sachsen), anti-bayrische Gefühle sind da nicht zurückgeblieben.



Na hoffentlich.
Aber interessant ist es schon:
der wichtigste Tiroler (und vielleicht auch der wichtigste österreichische) Nationalheld hat gegen die bairische Fremdherrschaft gekämpft.
(http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Schmied_von_Kochel)
Sein Leben hat er dabei verloren, aber letzten Endes hat seine "Sache" dann doch gewonnen.

Der wichtigste bairsche Nationalheld - nämlich der Schmied von Kochel - hat gegen die österreichische Fremdherrschaft gekämpft.
Auch er hat dabei sein Leben verloren. Auch seine Sache hat letztlich gewonnen.

Eine schöne Parallele. Auch ein schönes Sinnbild für das sehr spezeielle bairisch-österreichische Verhältnis. Einerseits eine ähnliche Kultur und Sprache - andererseits eben diese historische Rivalität.

Und noch eine historische Parallele:
Der wichtigste bairische Heroen-Mythos handelt von der (verlorenen) Schlacht um die Kirche von Sendling (http://de.wikipedia.org/wiki/Sendlinger_Mordweihnacht).
Und in Texas (der in den USA eine ähnliche Spezial-Rolle hat wie Bayern in Deutschland) ist ebenfalls eine verlorene Schlacht um eine Kirche der wichtigste nationale Mythos (http://en.wikipedia.org/wiki/Battle_of_the_Alamo - seltsamerweise gibt es dazu keinen deutschen Wikipedia-Eintrag. Wohl aber in vielen anderen Sprachen, selbst in Katalanisch und Estnisch).

Gansguoter Offline



Beiträge: 988

29.10.2010 17:16
#52 RE: Deutschlandlied und Nationalstaat Antworten

Zitat
Das würde mich interessieren, weil es mir neu ist. Können Sie das bitte erläutern? Was sollte erobert werden, und wer strebte das an?



Möglicherweise ist die Posen-Debatte der Frankfurter Nationalversammlung gemeint. Die preußische Provinz Großherzogtum Posen (seit 1815) lag außerhalb des Dt. Bundes, aber in Preußen. Die Bevölkerung war 1910 zu ca. zwei Dritteln polnischsprachig. - 1848 wurde in der Nationalversammlung darüber diskutiert, ob die Provinz Posen gar nicht in den Dt. Bund und den zu gründenden Nationalstaat aufzunehmen sei, mit den überwiegend deutschsprachigen Kreisen oder gar vollständig. Gleichzeitig wurde die Provinz bzw. zumindest die überwiegend polnischsprachigen Kreise für einen Nationalstaat Polen beansprucht.

Durchgesetzt haben sich diejenigen, die für die Aufnahme der gesamten Provinz waren. Siehe dazu z.B. die Rede des Abgeordneten Wilhelm Jordan:

Zitat
Soll eine halbe Million Deutscher unter deutscher Regierung, unter deutschen Beamten leben und zum großen deutschen Vaterlande gehören, oder sollen sie sich in der secundären Rolle naturalisirter Ausländer in die Unterthänigkeit einer anderen Nationalität, die nicht soviel humanen Inhalt hat, als das Deutschthum, begeben und hinausgestoßen werden in die Fremde? - Wer die letztere Frage mit ja beantwortet; wer da sagt, wir sollen diese deutschen Bewohner Posens den Polen hingeben und unter polnische Regierung stellen, den halte ich mindestens für einen unbewußten Volksverräther. [...] Polen bloß deßwegen herstellen zu wollen, weil sein Untergang uns mit gerechter Trauer erfüllt, das nenne ich eine schwachsinnige Sentimentalität. [...] Ich sage, die POlitik, die uns zuruft: gebt Polen frei, es koste, was es wolle, ist eine kurzsichtige, eine selbstvergessene Politik der Schwäche, eine Politik der Furcht, eine Politik der Feigheit. Es ist hohe Zeit für uns, endlich einmal zu erwachen aus jener träumerischen Selbstvergessenheit, in der wir schwärmten für alle möglichen Nationalitäten, während wir selbst in schmachvoller Unfreiheit darniederlagen und vor aller Welt mit Füßen getreten wurden, zu erwachen zu einem gesunden Volksegoismus, um das Wort einmal geradheraus zu sagen, welcher die Wohlfahrt und Ehre des Vaterlandes in allen Fragen oben anstellt. [...]
Nein, ich gebe es ohne Winkelzüge zu: Unser Recht ist kein anderes als das Recht des Stärkeren, das Recht der Eroberung. Ja, wir haben erobert, aber diese Eroberungen sind auf einem Wege, auf eine Weise geschehen, dass sie nicht mehr zurückgegeben werden können. Es sind, wie man es schon so oft gesagt hat, nicht sowohl Eroberungen des Schwertes als Eroberungen der Pflugschar.
Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Versammlung zu Frankfurt am Main, Bd. 2, S. 1184ff., 1200

lois jane Offline



Beiträge: 662

30.10.2010 18:59
#53 RE: KKK: Was BILD meint Antworten

Zitat von R.A.
Aber es war klar, daß der Ausschluß der östlichen Provinzen Preußens keine inhaltlichen Gründe hatte, sondern nur dem Proporz geschuldet war, weil eben Österreichs italienische und ungarische Besitzungen auch nicht im Bund waren.



Das glaube ich nicht. Aber man hat den Deutschen Bund als Ersatz für das Heilige Römische Reich gegründet und man hat sich bei den Grenzen so gut es ging (und im Osten ging das sehr gut) an die des Alten Reiches gehalten: daher waren Posen, Ost- und Westpreußen nicht Teil des Bundes, Ungarn nicht und auch Schleswig nicht. Pommern, Böhmen oder auch Krain, sowie Holstein dagegen schon.

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lois jane Offline



Beiträge: 662

30.10.2010 19:24
#54 RE: KKK: Was BILD meint Antworten

Zitat von R.A.

Die "natürlichen" Grenzen wären aber eher die Denke eines Nationalisten wie Arndt, bei dem fängt Deutschland an, wo irgendwo einer Deutsch spricht.
Für die Nationalliberalen sehe ich eben eine andere Priorität, da wird der Nationalgedanke mit politischem Pragmatismus gedämpft. Also (wie eben auch 1848) in den Strukturen des Dt. Bundes gearbeitet.



Die Unterscheidung ist doch völlig künstlich. Ein Nationalliberaler ist auch ein Nationalist und die Nationenidee war allgemein in Deutschland eine sprachlich-kulturell geprägte. Die Nationalliberalen waren nicht irgendwie zurückhaltender, allerdings hatten sie bestimmte Grundsätze - etwa konstitutionelle Monarchie statt unitarisch-demokratische Republik und präferierten dann entsprechend die kleindeutsche Lösung.

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lois jane Offline



Beiträge: 662

30.10.2010 19:25
#55 RE: Deutschlandlied und Nationalstaat Antworten

Zitat von Pirx

Zitat von lois jane
Hofmann hat es sicherlich so gemeint, daß ihm Deutschland über alle Teilstaaten und über andere Ideen ging. Das ist erstmal nichts außergewöhnliches, wenn es auch nicht so selbstverständlich oder unproblematisch wäre. Ich für meinen Teil wüßte schon eine Reihe von Dingen "in der Welt", die mir über Deutschland gehen. Es ist eben doch Ausdruck von Nationalismus, was ja erstmal kein Chauvinismus oder Eroberungsstreben sein muß - allerdings ist dies nicht ausgeschlossen.


Aber eine Nationalhymne soll ja genau das ausdrücken, es soll ja pathetisch sein und Stolz ausdrücken.
Will man denn eine Hymne, wo man ausdrückt, dass die Nachbarländer eigentlich auch ganz nett sind, und dass *eigentlich* das eigene Land nichts besonderes ist?




War ja nicht als Kritik an Hofmann genannt, nur als Erläuterung.

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lois jane Offline



Beiträge: 662

30.10.2010 19:31
#56 RE: Deutschlandlied und Nationalstaat Antworten

Zitat von Zettel
Das würde mich interessieren, weil es mir neu ist. Können Sie das bitte erläutern? Was sollte erobert werden, und wer strebte das an?



Vorzugsweise die Linken in der Nationalversammlung, Schlesweig z.B., Posen und Böhmen, teilweise auch eben die Altreichsgebiete Elsaß und Lothringen. Aber haben Sie bitte Verständnis, daß ich das jetzt nicht im Einzeln erklären kann.

Zitat von lois jane
Aber das die "außenpolitische Wendung" so eindeutig ein Mißverständnis ist, stimmt m.E. auch nicht. "Alles" ist nunmal ein unbestimmtes Wort (siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Alles) und kann deshalb nicht gegen "allen" (was ja kurz für "alle ..." steht) ausgespielt werden. "Alles" bedeutet "alle Dinge" und andere Nationen sind da begrifflich mit einbezogen.



Zitat
Nein, dem kann ich nicht zustimmen. Die deutsche Sprache läßt das nicht zu.



Doch, sie läßt es zu. Waren denn die "Über alles"-Sänger im Ersten und auch im Zweiten Weltkrieg allesamt Sprachunfähig?

Zitat
Um es nochmal zu sagen: "Deutschland über alles" ist eine Verkürzung.



Das sagen Sie und es mag sein, daß Hofmann es so meinte. Aber er hat eben nur diesen Satz geschrieben, der auch als "Deutschland über allles in der Welt", auch andere Nationenen, verstanden werde kann.

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lois jane Offline



Beiträge: 662

30.10.2010 19:38
#57 RE: KKK: Was BILD meint Antworten

Zitat von Florian

Zitat
Bei Hofer ging es ja ganz allgemein gegen die Fremdherrschaft, die gegnerischen Truppen bestanden größtenteils aus Franzosen (und Sachsen), anti-bayrische Gefühle sind da nicht zurückgeblieben.


Na hoffentlich.
Aber interessant ist es schon:
der wichtigste Tiroler (und vielleicht auch der wichtigste österreichische) Nationalheld hat gegen die bairische Fremdherrschaft gekämpft.
(http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Schmied_von_Kochel)
Sein Leben hat er dabei verloren, aber letzten Endes hat seine "Sache" dann doch gewonnen.
Der wichtigste bairsche Nationalheld - nämlich der Schmied von Kochel - hat gegen die österreichische Fremdherrschaft gekämpft.
Auch er hat dabei sein Leben verloren. Auch seine Sache hat letztlich gewonnen.
Eine schöne Parallele. Auch ein schönes Sinnbild für das sehr spezeielle bairisch-österreichische Verhältnis. Einerseits eine ähnliche Kultur und Sprache - andererseits eben diese historische Rivalität.




Wobei Hofer aber eben nicht gegen "bayerische Kultur" revoltierte, sondern gegen einen bayerischen Staat, der damals selbst von einem "reingeschmeckten" König und seinen extremistischen, kulturrevolutionären Minister unterjocht war.

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Zettel Offline




Beiträge: 20.200

30.10.2010 23:46
#58 RE: Deutschlandlied und Nationalstaat Antworten

Zitat von lois jane

Zitat von Zettel
Das würde mich interessieren, weil es mir neu ist. Können Sie das bitte erläutern? Was sollte erobert werden, und wer strebte das an?


Vorzugsweise die Linken in der Nationalversammlung, Schlesweig z.B., Posen und Böhmen, teilweise auch eben die Altreichsgebiete Elsaß und Lothringen. Aber haben Sie bitte Verständnis, daß ich das jetzt nicht im Einzeln erklären kann.



Hm, meine Frage bezog sich auf Ihre Aussage: "Es ist eben doch Ausdruck von Nationalismus, was ja erstmal kein Chauvinismus oder Eroberungsstreben sein muß - allerdings ist dies nicht ausgeschlossen. Es gab durchaus auch in der 1848er-Revolution dergleichen".

Eroberungsstreben kann ich bei den von Ihnen genannten Beispielen nicht erkennen. Was Sie aufzählen, waren ja damals ganz überwiegend deutsch besiedelte Gebiete. Diese ins Reich einzubeziehen war Teil des Einheitsstrebens, kein Eroberungsstreben. Gansguoter hat allerdings ein Beispiel genannt - überwiegend polnisch besiedelte Gebiete, deren Einbeziehung ein Abgeordneter der Paulskirche verlangte -, das eine Ausnahme gewesen sein mag.

Mir geht es, liebe Lois Jane, um einen Punkt, von dem ich aus Erfahrung weiß, daß dazu eine falsche Sicht vermittelt wird (in der Schule, in den Medien): "Nationalismus" war in der esten Hälfte des 19. Jahrhunderts so wenig mit Eroberungsstreben verbunden, wie es der indische Nationalismus von Gandhi gewesen ist.

Nach der Reichsgründung hat sich das geändert, vor allem nach der Entlassung von Bismarck. Aber man darf das nicht zurückprojizieren.

Es ging in der ersten Hälfte des 19. Jh. nicht um "Deutschland über alle". Sondern den Demokraten, die wie Hoffmann von Fallersleben dachten, ging die Einheit Deutschlands über alles.

Zitat von lois jane

Zitat von lois jane
Aber das die "außenpolitische Wendung" so eindeutig ein Mißverständnis ist, stimmt m.E. auch nicht. "Alles" ist nunmal ein unbestimmtes Wort (siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Alles) und kann deshalb nicht gegen "allen" (was ja kurz für "alle ..." steht) ausgespielt werden. "Alles" bedeutet "alle Dinge" und andere Nationen sind da begrifflich mit einbezogen.


Zitat
Nein, dem kann ich nicht zustimmen. Die deutsche Sprache läßt das nicht zu.


Doch, sie läßt es zu. Waren denn die "Über alles"-Sänger im Ersten und auch im Zweiten Weltkrieg allesamt Sprachunfähig?



Ich weiß nicht, wen sie meinen. Natürlich gibt es Leute, die ihre Muttersprache schlecht beherrschen. Aber für falsche Interpretationen ist kein Autor verantwortlich.

Mir hat mal im Gymnasium ein Sportlehrer gesagt: Zettel, Sie müssen nicht immer nur denken, sondern auch Sport treiben. Schon Kant hat gesagt "Kritik der reinen Vernunft".

Ist Kant für ein solches Mißverständnis verantwortlich?

Philologie muß das Gemeinte herausfinden und darf nicht falsche Interpretationen absegnen. Historiker müssen den historischen Kontext analysieren und dürfen nicht nach Belieben mit Texten umspringen.

Ich bin deshalb da so engagiert, weil diese falsche Deutung des Deutschlandlieds ja eine erhebliche propagandistische Sprengkraft hatte und hat. Da darf man um der Wahrheit willen nicht zurückweichen.

Herzlich, Zettel

lois jane Offline



Beiträge: 662

31.10.2010 09:39
#59 RE: Deutschlandlied und Nationalstaat Antworten

Zitat von Zettel
Hm, meine Frage bezog sich auf Ihre Aussage: "Es ist eben doch Ausdruck von Nationalismus, was ja erstmal kein Chauvinismus oder Eroberungsstreben sein muß - allerdings ist dies nicht ausgeschlossen. Es gab durchaus auch in der 1848er-Revolution dergleichen".
Eroberungsstreben kann ich bei den von Ihnen genannten Beispielen nicht erkennen. Was Sie aufzählen, waren ja damals ganz überwiegend deutsch besiedelte Gebiete. Diese ins Reich einzubeziehen war Teil des Einheitsstrebens, kein Eroberungsstreben. Gansguoter hat allerdings ein Beispiel genannt - überwiegend polnisch besiedelte Gebiete, deren Einbeziehung ein Abgeordneter der Paulskirche verlangte -, das eine Ausnahme gewesen sein mag.



Nun staatlicher Expansionswillen ist es nichtsdestotrotz. Schleswig etwa gehörte bis dahin nie zu Deutchland und war auch kein rein deutsch besiedeltes Land. Posen war nie deutsches Land und noch nichteinmal zur Hälfte deutschbesiedelt. Elsaß und Lothringen sind ja nun später auch bekannte Fälle geworden. Die Frage nach Böhmen wurde auch gestellt.

Klar, der Nationalist sagt: "wo auch nur ein deutsches Dorf ist, daß muß zum Reich gehören" - aber deswegen ist er ja eben Nationalist, der sich halt um gegenteilige Positionen nicht schert.

Man kann nicht einfachso zwischen "gutem" bloßen Einheitsstreben und "böser" Expansion unterscheiden.

Und dieses Expansionsstreben (noch nicht Weltmachtstreben) hätte dem Deutschen Reich von 1849, wenn es denn gegründet worden wäre, Probleme mit den Nachbarn bereitet, die denen nach 1870 nicht nachgestanden hätten.

Es ist doch absurd, hier eine Verbindung mit der inneren Verfassung anzunehmen. War das republikanische Frankreich weniger expansiv als etwa monarchische Regierungsformen?

Nationalismus ist im 19. Jahrhundert eine liberale, noch mehr eine linke Position. Aber das macht sie nicht weniger nationalistisch, nicht irgendwie "vernünftig" oder "gut", auch wenn bestimmte Kreise gerne die 1848er-Revolution glorifizieren wollen.

Mit Schule und Medien hat das wenig zu tun, denn diese (von linksextremen abgesehen) ignorieren dergleichen entweder oder glorifizieren eben.

Zitat
Sondern den Demokraten, die wie Hoffmann von Fallersleben dachten, ging die Einheit Deutschlands über alles.



Also meines Wissens war Hoffmann kein Demokrat sondern ein Nationalliberaler.

Was ihre Meinung zu Interpretationsmöglichkeiten des Deuschlandliedes angeht, sehe ich, daß Sie auf ihrer Meinung beharren, auch wenn sie (sprachlich) nicht gerechtfertigt ist.

Wenn man historisch natürlich nur nach den Intentionen Hoffmanns fragt, dann haben Sie recht, aber es geht eben nicht um diesen nicht ganz so bedeutenden Mann, sondern darum was sein Text ausdrücken kann und wie er auch verstanden wurde. Den Sinn eines Textes auf das (bewußt) Gemeinte zu beschränken ist Hermeneutik von vorgestern.

Jemand, dem "Deutschland über alles" geht (an sich schon ein, wenn auch zeitbedingter, Irrsinn), der wird auch vor anderen Nationen nicht haltmachen. Die sprachliche Unterscheidung ist ohnehin akademisch, denn wenn man dann im Namen der eigenen Nation Gebiete mit deutscher Minderheit erobert, dann mag man sich "über alles" wähnen, praktiziert aber eben doch "über alle".

Ich werde Sie nicht überzeugen können und belasse es deshalb dabei, auch wenn ich bezüglich der wahren Wahrheit (die sich um "Sprengkraft" eben nicht schert) auch nicht zurückweiche.

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Zettel Offline




Beiträge: 20.200

31.10.2010 14:10
#60 RE: Deutschlandlied und Nationalstaat Antworten

Liebe Lois Jane,

Zitat von lois jane

Zitat von Zettel
Hm, meine Frage bezog sich auf Ihre Aussage: "Es ist eben doch Ausdruck von Nationalismus, was ja erstmal kein Chauvinismus oder Eroberungsstreben sein muß - allerdings ist dies nicht ausgeschlossen. Es gab durchaus auch in der 1848er-Revolution dergleichen".
Eroberungsstreben kann ich bei den von Ihnen genannten Beispielen nicht erkennen. Was Sie aufzählen, waren ja damals ganz überwiegend deutsch besiedelte Gebiete. Diese ins Reich einzubeziehen war Teil des Einheitsstrebens, kein Eroberungsstreben. Gansguoter hat allerdings ein Beispiel genannt - überwiegend polnisch besiedelte Gebiete, deren Einbeziehung ein Abgeordneter der Paulskirche verlangte -, das eine Ausnahme gewesen sein mag.


Nun staatlicher Expansionswillen ist es nichtsdestotrotz.



Ein Staat, den es gar nicht gibt, kann nicht expandieren. Die Frage war damals, wo die Grenzen des Deutschland, das man ja erst schaffen wollte, verlaufen würden.

Zitat von lois jane
Schleswig etwa gehörte bis dahin nie zu Deutchland und war auch kein rein deutsch besiedeltes Land. Posen war nie deutsches Land und noch nichteinmal zur Hälfte deutschbesiedelt. Elsaß und Lothringen sind ja nun später auch bekannte Fälle geworden. Die Frage nach Böhmen wurde auch gestellt.


Wenn Gebiete von verschiedenen Volksgruppen besiedelt sind, dann wird man sich immer darüber streiten, wohin sie gehören. Das kann man auch nicht durch Volkszählungen lösen. Mit Expansion hat das nichts zu tun.

Zitat von lois jane
Klar, der Nationalist sagt: "wo auch nur ein deutsches Dorf ist, daß muß zum Reich gehören" - aber deswegen ist er ja eben Nationalist, der sich halt um gegenteilige Positionen nicht schert.


Meines Wissens hat das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts niemand so formuliert.

Um es noch einmal zu sagen: "Nationalismus" war damals in Deutschland etwas anderes als nach 1871; vor allem dann nach 1890. Und nochmal gesagt: Auch Gandhi war ein Nationalist. Auch Washington, Jefferson und Madison waren Nationalisten. Oder nehmen Sie im 19. Jahrhundert Garibaldi. Das Streben nach staatlicher Einheit, nach Abschütteln von Fremdherrschaft ist nationalistisch. Es muß keineswegs auch expansionistisch sein.

Zitat von lois jane
Man kann nicht einfachso zwischen "gutem" bloßen Einheitsstreben und "böser" Expansion unterscheiden.


Mit gut und böse hat das nichts zu tun; das sind Kategorien, die überhaupt nicht in die Geschichte gehören. Aber nochmal gesagt: Nicht jeder Nationalismus ist expansionistisch; das ist nun einmal so. Es gibt heute einen Schweizer, einen holländischen, einen polnischen Nationalismus. Wo sehen Sie da den Expansionsdrang?

Zitat von lois jane
Und dieses Expansionsstreben (noch nicht Weltmachtstreben) hätte dem Deutschen Reich von 1849, wenn es denn gegründet worden wäre, Probleme mit den Nachbarn bereitet, die denen nach 1870 nicht nachgestanden hätten.

Natürlich gärte es in großen Teilen Europas. Die Grenzen waren ja nicht gottgegeben. Die Italiens so wenig wie die Deutschlands oder auch Frankreichs. Es waren die Geburtswehen der Nationalstaaten. Mit Expansion hat das nichts zu tun.

Zitat von lois jane
Es ist doch absurd, hier eine Verbindung mit der inneren Verfassung anzunehmen. War das republikanische Frankreich weniger expansiv als etwa monarchische Regierungsformen?

Warum sollte es das gewesen sein?

Es geht, liebe Lois Jane, um die Situation in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Und die war nun einmal so, daß das Streben nach Demokratie und nach einem Nationalstaat Hand in Hand gingen. Anderswo zu anderen Zeiten mag es ganz andere Verbindungen zwischen politischen Ideen gegeben haben. Sie nennen ein Beispiel.

Zitat von lois jane
Nationalismus ist im 19. Jahrhundert eine liberale, noch mehr eine linke Position. Aber das macht sie nicht weniger nationalistisch,


In der Tat ist Nationalismus nationalistisch.

Zitat von lois jane
nicht irgendwie "vernünftig" oder "gut", auch wenn bestimmte Kreise gerne die 1848er-Revolution glorifizieren wollen.


In diesen Kreisen verkehre jedenfalls ich nicht.

Mit gut und vernünftig hat das alles wenig zu tun. Es geht um die Tatsachen, nicht deren Bewertung. Ich halte jede wertende Sicht auf die Geschichte für problematisch, ob sie nun verdammt oder glorizifiert. Es geht darum, wie es gewesen ist.

Zitat von lois jane
Mit Schule und Medien hat das wenig zu tun, denn diese (von linksextremen abgesehen) ignorieren dergleichen entweder oder glorifizieren eben.


Nein. Es wird sehr oft der Nationalismus des Vormärz unter der Perspektive des späteren deutschen Nationalismus gesehen. Nehmen Sie als Beispiel die Art, wie der Turnvater Jahn oder die Burschenschaften dargestellt werden.

Zitat von lois jane

Zitat
Sondern den Demokraten, die wie Hoffmann von Fallersleben dachten, ging die Einheit Deutschlands über alles.

Also meines Wissens war Hoffmann kein Demokrat sondern ein Nationalliberaler.



Er war ein nationalliberaler Demokrat.

Zitat von lois jane
Was ihre Meinung zu Interpretationsmöglichkeiten des Deuschlandliedes angeht, sehe ich, daß Sie auf ihrer Meinung beharren, auch wenn sie (sprachlich) nicht gerechtfertigt ist.


Ich beharre darauf, weil sie die einzige sprachlich stimmige und mit dem historisch Kontext konsistente Interpretation ist. Warum, habe ich ja ausführlich erläutert.

Zitat von lois jane
Wenn man historisch natürlich nur nach den Intentionen Hoffmanns fragt, dann haben Sie recht, aber es geht eben nicht um diesen nicht ganz so bedeutenden Mann, sondern darum was sein Text ausdrücken kann und wie er auch verstanden wurde. Den Sinn eines Textes auf das (bewußt) Gemeinte zu beschränken ist Hermeneutik von vorgestern.


Den Sinn eines Textes beliebig umzudeuten ist gar keine Hermeneutik, sondern Agitprop.

Zitat von lois jane
Jemand, dem "Deutschland über alles" geht (an sich schon ein, wenn auch zeitbedingter, Irrsinn), der wird auch vor anderen Nationen nicht haltmachen.


Das, liebe Lois Jane, ist eine klassische petitio principii. Sie setzen den Zusammenhang zwischen Nationalismus und Expansionsdrang, den Sie doch beweisen müßten, damit einfach voraus.

Und war Gandhi in Ihren Augen denn ein Irrsinniger?

Herzlich, Zettel

Herr Offline




Beiträge: 406

31.10.2010 17:39
#61 Hermeneutik Antworten

Zitat
Den Sinn eines Textes auf das (bewußt) Gemeinte zu beschränken ist Hermeneutik von vorgestern.


Gott sei Dank kehrt die Hermeneutik, jedenfalls zum Teil, wieder dahin zurück.

Es passt ja auch zum heutigen Tag, daran zu erinnern, dass Luther einen ganz entscheidenden Schritt hin zu einer Hermeneutik getan hat, die genau danach fragt, was denn mit einem Text eigentlich gemeint sei. Dabei hat er abenteuerliche Interpretationsmethoden nach dem vierfachen Schriftsinn und der umfassenden Einbeziehung der Auslegungsgeschichte bei den Kirchenvätern souverän über Bord geworfen.

Eine Hermeneutik, die einen Autor besser verstehen will, als er selbst sich verstanden hat, schießt übers Ziel hinaus. Eine Hermeneutik, die einen Autor für seine Wirkungsgeschichte verantwortlich macht, ist nicht ernstzunehmen.

Leider wurde und wird da auch in meinem Fach viel Unfug getrieben: feministische Hermeneutik der Bibel usw.
Eine Rechtshermeneutik gar, die sich nicht an den klaren Textsinn und die bewussten Absichten der Autoren hält, ist für den Rechtsstaat nachgerade gefährlich.

Herzliche Grüße!
Herr

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

31.10.2010 19:10
#62 RE: Hermeneutik Antworten

Zitat von Herr
Eine Hermeneutik, die einen Autor besser verstehen will, als er selbst sich verstanden hat, schießt übers Ziel hinaus. Eine Hermeneutik, die einen Autor für seine Wirkungsgeschichte verantwortlich macht, ist nicht ernstzunehmen.

Leider wurde und wird da auch in meinem Fach viel Unfug getrieben: feministische Hermeneutik der Bibel usw.
Eine Rechtshermeneutik gar, die sich nicht an den klaren Textsinn und die bewussten Absichten der Autoren hält, ist für den Rechtsstaat nachgerade gefährlich.


Da sprechen Sie mir aus dem Herzen, lieber Herr. Wo kommt dieser Umgang mit Texten her? Man findet ihn ja nicht nur in der Theologie und der Jurisprudenz; ebenso verfahren beispielsweise die Regisseure des "Regietheaters" mit den Autoren. Zu den Ursachen scheinen mir diese zu gehören:

* Der Einfluß der Psychoanalyse. Freud hatte gelehrt, daß einem Text (einem niedergeschriebenen manifesten Trauminhalt zum Beispiel) eine Bedeutung innewohnt, die nicht offensichtlich ist, sondern die "erraten" (so ein von Freud oft verwendeter Ausdruck) werden muß. Daraus wurden dann in der postmodernen Rezeption "Subtexte". Lauter kleine Freuds üben sich im "Entlarven" dessen, was einer eigentlich gemeint hat, auch wenn er es nicht so gesagt oder geschrieben hat.

* Der Einfluß des Marxismus. Wie derjenige der Psychoanalyse reicht er weit über den engeren Kreis der Anhänger der betreffenden Lehre hinaus. Wie Freud wollte Marx entlarven; nur suchte er das Eigentliche, das sich hinter einem Text verbirgt, nicht in unbewußten Impulsen und Vorstellungen, sondern in der Interessenlage des Autors. Der Effekt ist ähnlich wie beim Einfluß der Psychoanalyse: Das Interpretieren dient nicht dem besseren Verstehen des vom Autor Gemeinten, sondern dessen Entlarvung, wenn nicht Denunziation.

Besonders schlimm ist das im historischen Bereich, wo alles sub specie der eigenen politischen Absichten zurechtgeschustert wird. Also gibt es zB eine üble Deutsche Geschichte, die vom Feudalismus über Friedrich II und Bismarck zu Hitler und schließlich Adenauer führte, und eine spiegelbildliche gute Geschichte, die von Thomas Müntzer über Marx, Engels und Karl Liebknecht zur DDR führte. (Ich glaube, das habe ich schon einmal geschrieben). Damit ist das Ergebnis jeder Forschung schon festgelegt, bevor sie überhaupt beginnt.

* Der fehlende Respekt für Tradition. Man "eignet sich" etwas "neu an"; und sei es eine Heilige Schrift. Sie wird gewissermaßen als Steinbruch benutzt, aus dem man sich das Passende herausklaubt. Oder noch schlimmer: Man bricht nicht nur etwas heraus, sondern nimmt - um im Bild zu bleiben - auch noch Hammer und Meißel, um es sich solange zurechtzuklopfen, bis es paßt.

Im "Regietheater" wird das zum Teil bis ins Absurde getrieben. Wir haben einmal eine Inszenierung von "Carmen" gesehen, in der die Carmen keine Verführerin war, sondern eine arme von den Männern ausgebeutete Frau! Der Text wurde manipuliert, bis es irgendwie paßte.

* Die generelle Geringschätzung von Objektivität. Objektiv zu sein verlangt Anstrengung. Sich seiner Subjektivität hinzugeben ist bequem. Statt seine Behauptungen zu belegen, sagt man einfach; "Also ich sehe das so und so. Das ist halt meine Wahrheit". Das fordert den Intellekt nicht und immunisiert gegen jede Widerlegung.

* Und schließlich auch die Prämie, die im Kulturbetrieb auf Origninalität ausgesetzt ist. Eine werkgetreue Interpretation gilt als unoriginell, also wertlos. Dabei ist kaum etwas eine größere Herausforderung, als werkgetreu zu interpretieren, ohne daß es verstaubt und langweilig wird. Ich habe einmal im Pariser Odéon-Theater eine Inszenierung des Tartuffe von Benno Besson gesehen, die absolut werkgetreu war und zugleich die spannendste dieses Stücks, die ich erlebt habe.

Herzlich, Zettel

Gansguoter Offline



Beiträge: 988

31.10.2010 22:17
#63 RE: Hermeneutik Antworten

Lieber Zettel,

bemerkenswert erscheint mir dies, womit Sie (beabsichtigt? unbewusst?) Herr widersprechen:

Zitat
* Der fehlende Respekt für Tradition. Man "eignet sich" etwas "neu an"; und sei es eine Heilige Schrift. Sie wird gewissermaßen als Steinbruch benutzt, aus dem man sich das Passende herausklaubt. Oder noch schlimmer: Man bricht nicht nur etwas heraus, sondern nimmt - um im Bild zu bleiben - auch noch Hammer und Meißel, um es sich solange zurechtzuklopfen, bis es paßt.



Damit sprechen Sie ja einen wesentlichen Kritikpunkt an Luthers sola scriptura an, der Rückgriff auf die Schrift selbst unter Verzicht auf die Tradition, wie Luther vermessen behauptete.

Die Schrift selbst, das Alte und Neue Testament, aber ist ja bereits selbst Ergebnis der Tradition, wie man insbesondere an der Kanonbildung des Neuen Testaments sieht. Die Trennung von Schrift und Tradition ist also grundsätzlich nicht möglich, denn indem man sich auf die Schrift bezieht, akzeptiert man bereits den Einfluss der Tradition hinsichtlich der Kanonbildung und damit der Festlegung, was überhaupt die Schrift ist. Weiterhin erschließt sich die Schrift uns nicht allein aus sich selbst aufgrund ihrer Entstehung in einem uns nicht direkt zugänglichen religiösen, kulturellen, sprachlichen etc. Kontext, so dass es schon aus diesem Grund notwendig ist, zur Interpretation zusätzliche Informationen heranziehen, sei es aus der Entstehungszeit der Schrift selbst, sei es das, was man Tradition nennt, die Versuche der Kirchenväter und Theologen, sich den Sinn der Schrift, der Offenbarung zu erschließen. Die Berücksichtigung der Tradition im weitesten Sinne ist also unumgänglich. Es gibt viele Beispiele dafür, dass gerade die Zeugnisse der Kirchenväter wichtig sind, um ein exegetisches und philologisches Problem zu lösen.

Abgesehen davon, erfolgt die Auslegung der Schrift wie überhaupt eines Textes, ob man es will oder nicht, immer AUCH auf der Hintergrund der Geistes- und hier auch der Theologie- und Exegesegeschichte. Es ist vermessen zu behaupten, man könne sich davon freimachen, und in der modernen Literaturwissenschaft sieht man zur Genüge, was für ein Unsinn herauskommt, wenn man so denkt.

Im übrigen hat die Tradition auch einen großen theologie- und geistesgeschichtlichen Wert. Natürlich weiß ich, daß die Geschichte vom brennenden Dornbusch zunächst textimmanent bzw. im Kontext des Alten Testaments (im weitesten Sinne) zu verstehen ist, aber die typologische (hier mariologische) Deutungstradition seit den Kirchenvätern bietet doch eine interessante zusätzliche Perspektive auf den Text in der antiken und mittelalterlichen Auslegungstradition, die auch zu dem filigranen Kunstwerk der mittelalterlichen Leseordnung wie überhaupt der Liturgie mit ihrem hochkomplexen System aus Introitus, Sequenzen und Antiphonen etc. geführt hat, das dann leider infolge des Vatikanischen Konzils banausenhaft zerstört worden ist.

Wenn nun Luther die kirchliche Tradition ignorieren und unterdrücken will, so vertritt er erstens eine logisch unmögliche Position und redet zweitens einem nicht akzeptablen Traditionsbruch das Wort. Letztlich führt Luthers Prinzip zu einem Individualismus, dass jeder die Schrift so versteht und auslegt, wie er es möchte, und damit zu einer Zersplitterung des Glaubens, und Luther bereitet so die Ansichten der Täufer über die Offenbarung vor, die von einer Inspiration jedes Einzelnen durch den Heiligen Geist ausgehen (bei den Waldensern gab es das, wenn ich mich nicht irre, auch schon). Hingegen garantiert das katholische Prinzip, indem die Auslegung der Offenbarung im Rahmen der Tradition und unter Überwachung durch das Lehramt erfolgt, das Fortbestehen der kirchlichen und der Glaubenseinheit.

Aber das führt jetzt vielleicht doch zu weit ab ...

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

31.10.2010 23:16
#64 RE: Hermeneutik Antworten

Zitat von Gansguoter
Lieber Zettel,
bemerkenswert erscheint mir dies, womit Sie (beabsichtigt? unbewusst?) Herr widersprechen:

Zitat
* Der fehlende Respekt für Tradition. Man "eignet sich" etwas "neu an"; und sei es eine Heilige Schrift. Sie wird gewissermaßen als Steinbruch benutzt, aus dem man sich das Passende herausklaubt. Oder noch schlimmer: Man bricht nicht nur etwas heraus, sondern nimmt - um im Bild zu bleiben - auch noch Hammer und Meißel, um es sich solange zurechtzuklopfen, bis es paßt.


Damit sprechen Sie ja einen wesentlichen Kritikpunkt an Luthers sola scriptura an, der Rückgriff auf die Schrift selbst unter Verzicht auf die Tradition, wie Luther vermessen behauptete.



Was Sie zu den theologischen Aspekten schreiben, lieber Gansguoter - da möchte ich Herr den Vortritt beim Antworten lassen. Er wird, vermute ich, das besser und ungleich kompetenter aus protestantischer Sicht darlegen, als ich alter Agnostiker es könnte.

Aber was das Zitat angeht, habe ich mich vielleicht nicht richtig ausgedrückt.

Was ich meinte, das war nicht Tradition zusätzlich zu einem Text, sondern der Text in seinem Entstehungszusammenhang als Tradition. Vielleicht war der Begriff "Tradition" nicht optimal gewählt.

Bizets "Carmen", um mein Beispiel zu kommentieren, war eine der femmes fatales des fin de siècle, wie Zolas Nana, die Violetta in "La Traviata", die Musetta in "La Bohème" usw. Sie als arme von den Männern ausgebeutete Frau zu interpretieren ist schlicht historisch falsch. (So, wie es historisch falsch ist, Hoffmanns "Deutschkand über alles" als Expansionismus zu deuten, um die Brücke zu einer anderen Diskussion zu schlagen).

Das meinte ich mit Tradition. Und bezogen auf Heilige Schriften: Auch die Bibel sollte man im Kontext der Zeit interpretieren, in der sie entstand. Also nicht feministisch, beispielsweise.

Noch zwei allgemeine Bemerkungen:

- Sie haben natürlich völlig Recht damit, daß man bei der Interpretation nie ganz von Traditionen (jetzt in dem von Ihnen gemeinten Sinn, als Traditionen der Interpretation) absehen kann. Aber man kann und sollte versuchen, das so weit wie möglich zu tun. Ad fontes!

- Individualismus sehe ich bei dem Versuch einer werk- und zeitgerechten Interpretation gerade nicht. Denn es ist bei diesem Ziel ja eben keine Beliebigkeit erlaubt, sondern man ist durch den Text des Werks und seinen historischen Kontext gebunden.

Herzlich, Zettel

Gansguoter Offline



Beiträge: 988

01.11.2010 07:59
#65 RE: Hermeneutik Antworten

Lieber Zettel,

Zitat
Was ich meinte, das war nicht Tradition zusätzlich zu einem Text, sondern der Text in seinem Entstehungszusammenhang als Tradition. Vielleicht war der Begriff "Tradition" nicht optimal gewählt.



genau das habe ich auch gemeint, nur nicht so schön kurz formuliert wie Sie: "der Text in seinem Entstehungszusammenhang als Tradition".

Zitat
Individualismus sehe ich bei dem Versuch einer werk- und zeitgerechten Interpretation gerade nicht. Denn es ist bei diesem Ziel ja eben keine Beliebigkeit erlaubt, sondern man ist durch den Text des Werks und seinen historischen Kontext gebunden.



Ganz meine Meinung. Gerade hier aber brauchen wir ja die "Tradition", etwa die "Tradition" im Sinne des historischen Kontextes, um zu entscheiden, was damals mit der Aussage, dem Wort X gemeint sein kann und was nicht.

Da kommt man mit "sola scriptura" nicht hin, sondern braucht - bezogen auf die Bibel - das Umfeld der Entstehungszeit im weitesten Sinne, um die Schrift angemessen verstehen zu können. Wie müssen wissen, wie Sitten, Gebräuche, Gesellschaft ... waren, um zu verstehen, was mit einer Aussage gemeint ist. Und hier brauchen wir durchaus auch das, was möglicherweise ein Hieronymus oder Augustinus zu einer Stelle sagt, da ein Hieronymus oder Augustinus zeitlich näher dran war und entsprechend manches besser verstanden haben mag als wir es verstehen würden, wenn wir Hieronymus oder Augustinus beim Streben nach sola scriptura über Bord werfen.

Gleiches gilt für das Deutschland - auch hier brauchen wir die Kenntnis der "Tradition" im weitesten Sinne des 19. Jh., um nicht in Individualismus und Beliebigkeit abzugleiten.

Ich denke, wir sind uns in der Sache einig, aber verwenden einen unterschiedlichen Begriff von Tradition!

lois jane Offline



Beiträge: 662

01.11.2010 09:30
#66 RE: Deutschlandlied und Nationalstaat Antworten

Lieber Zettel,

ich wollte ja eigentlich nichts mehr dazu sagen, aber:

Zitat von Zettel
Ein Staat, den es gar nicht gibt, kann nicht expandieren. Die Frage war damals, wo die Grenzen des Deutschland, das man ja erst schaffen wollte, verlaufen würden.



Ja, wenn es den Staat gar nicht gab, dann wäre doch schon der erste Mini-Schritt, sagen wir die Einbeziehung Frankfurts in einen Nationalstaat, Aggression, denn eben noch unabhängig sollte es nun von einem, wie Sie sagen, neuen Staat annektiert werden.

Tatsächlich gab es aber sehr wohl ein deutsches Gemeinwesen, wenn auch nur einen Staatenbund. Und dieser sollte sowohl in einem Bundestaat transformiert werden, als auch - hier und da - expandiert werden.

Ohnehin geht es ja auch nicht um konkrete Pläne damals, sondern darum, daß man eben nicht spitzfindig zwischen guten und bösem Nationalismus unterscheiden kann, nicht zwischen einem der zuerst da war und einer der die "hehre Idee" dann korrumpierte.

Zitat
Und nochmal gesagt: Auch Gandhi war ein Nationalist. Auch Washington, Jefferson und Madison waren Nationalisten. Oder nehmen Sie im 19. Jahrhundert Garibaldi. Das Streben nach staatlicher Einheit, nach Abschütteln von Fremdherrschaft ist nationalistisch. Es muß keineswegs auch expansionistisch sein.



Ja und, keiner der Genannten ist in meinen Augen ein Heiliger, den man nur bewundern kann. Natürlich war Garribaldi ein militanter Nationalist. Ghandi wollte nicht nur die Fremdherrschaft abschütteln sondern auch einen gemeinsamen indischen Staat gründen (wozu eigentlich?) und war dagegen, daß sich dem jemand verweigert (was er aber nicht verhindern konnte). Und die US-Gründerväter rebellierten gegen das Mutterland (mit Unterstützung einer Minderheit der Kolonisten) u.a. auch deshalb, weil König Georg ihnen die Expansion westlicher der Appalachen verboten hatte.

Zitat von lois jane
Nicht jeder Nationalismus ist expansionistisch; das ist nun einmal so. Es gibt heute einen Schweizer, einen holländischen, einen polnischen Nationalismus. Wo sehen Sie da den Expansionsdrang?



Nicht unbedingt jeder. Und heute vielleicht nicht, aber die Zeiten waren auch mal anders. Gerade was den polnischen Fall angeht. Die Schweiz hat übrigens den Vorteil, daß sie ja nicht ethnisch argumentieren kann. Im deutschen Nationalismus taten das dagegen alle.



Zitat von lois jane
Es ist doch absurd, hier eine Verbindung mit der inneren Verfassung anzunehmen. War das republikanische Frankreich weniger expansiv als etwa monarchische Regierungsformen?

Warum sollte es das gewesen sein?
Es geht, liebe Lois Jane, um die Situation in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Und die war nun einmal so, daß das Streben nach Demokratie und nach einem Nationalstaat Hand in Hand gingen. Anderswo zu anderen Zeiten mag es ganz andere Verbindungen zwischen politischen Ideen gegeben haben. Sie nennen ein Beispiel.[/quote]

Wissen Sie: es ist mir völlig egal, wer da nach Demokratie strebte. Sie haben offensichtlich nicht verstanden, daß es genau darum nicht geht! Man kann sehr wohl 1848 auf der äußersten demokratischen Linken stehen und für die deutsche Nation Maximalforderungen erheben, die dann andere überfahren müssen. Und wenn diese dann nicht mitspielen (und stark genug sind) gibt es eben Krieg. Und in Schleswig-Holstein gab es diesen.

Es geht ja gar nicht darum, ob die Forderungen hier und da berechtigt waren, sondern um das Konfliktmodell.


Zitat
Ich halte jede wertende Sicht auf die Geschichte für problematisch, ob sie nun verdammt oder glorizifiert.



Das werde ich mir merken, falls Sie demnächst einmal werten solten.

Zitat
Nein. Es wird sehr oft der Nationalismus des Vormärz unter der Perspektive des späteren deutschen Nationalismus gesehen. Nehmen Sie als Beispiel die Art, wie der Turnvater Jahn oder die Burschenschaften dargestellt werden.



Nun, was ist daran falsch? Sicherlich waren die frühen Nationalisten keine Nazis. Aber eben tun Sie genau das, was Sie oben abgstritten haben. Sie ziehen künstliche Grenzen auf - nein, ein Natonalist von 1829 war naürlich etwas gaaaaanz anderes als der von 1904. Die haben nichts miteianander zu tun. Äh, warum nennt man eigentlich beide Nationalist?

Und das es eben bei Jahn und den Burschenschaften schon unschöne Dinge gab, Chauvinismus, politische Morde (Kotzebue) und auch Bücherverbrennungen, werden Sie doch nicht leugnen wollen?

Nein, wie Sie das ganze drehen, entspricht es genau der altdeutschen nationalliberalen Historiographie, die ihre eigenen Ideale und was aus denen werden kann, nicht hinterfragt, sondern stattdessen halt dicke Abgrenzungsstriche zieht.

Zitat
Er war ein nationalliberaler Demokrat.



Das ist Geschichtsklitterung. Ungefährso wie ein sozialdemokratischer Kommunist.

Zitat
Ich beharre darauf, weil sie die einzige sprachlich stimmige und mit dem historisch Kontext konsistente Interpretation ist. Warum, habe ich ja ausführlich erläutert.



Ja, nur hunderte deutsche Muttersprachler sahen das zu vielen Zeiten halt anders.

Zitat
Den Sinn eines Textes beliebig umzudeuten ist gar keine Hermeneutik, sondern Agitprop.



Nein, das ist es nicht. Agitprop ist es erst, wenn man uminterpretiert und es dann dem Urheber um die Ohren haut. Aber wenn ein Nationalist(-liberaler) mit den Zeilen auf dem Lippen in den Krieg zieht, dann begeht er keinen Agitprop - ganz unabhängig ob die Interpretation nun gerechtfertigt ist oder nicht.

Zitat
Das, liebe Lois Jane, ist eine klassische petitio principii. Sie setzen den Zusammenhang zwischen Nationalismus und Expansionsdrang, den Sie doch beweisen müßten, damit einfach voraus.



Und sie begehen den Fehler nach dem Motto "Weil ich es so sage, ist es auch so!" Ihr sprachliches "Argument" besteht aus nichts weiterem. Und das wiederholen Sie nun wieder und wieder.

Und wollen Sie bestreiten, daß es im Weltkrieg gegen andere Nationen ging? Wollen Sie bestreiten das es auch später so verstanden wurde? Das können Sie doch nicht alles auf pöse kommunistische Agitprop'ler schieben, die nur den tugendhaften teutschen Nationalismus verunglimpfen wollen? Selbst die sind so gerissen nicht, sondern greifen meist nur Vorhandenes auf.

Zitat
Und war Gandhi in Ihren Augen denn ein Irrsinniger?



Sagte Ghandi denn "Indien über alles"? Nein, ich halte Ghandi für einen gewieften national-indischen Politiker, der aus einer Schwächesituation heraus andere Mittel des politischen Kampfes entwickelt hat. Ich halte ihn nicht für den Heiligen oder Weisen, als der er meistens hingestellt wurde.

Aber ja, den Nationalismus der die Nation als Höchst- und Letztwert begreift, den halte ich in der Tat für "irrsinnig". Die Nation, ein Konstrukt, daß mich mit fremden Leuten verbindet, mit denen ich wenig bis gar nichts gemein habe, geht für mich nicht über meine Familie, meinen Mann, meine Kinder, meine Heimatstadt etc.
Herzlich, Zettel
[/quote]

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lois jane Offline



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01.11.2010 09:55
#67 RE: Hermeneutik Antworten

Zitat von Herr
Es passt ja auch zum heutigen Tag, daran zu erinnern, dass Luther einen ganz entscheidenden Schritt hin zu einer Hermeneutik getan hat, die genau danach fragt, was denn mit einem Text eigentlich gemeint sei. Dabei hat er abenteuerliche Interpretationsmethoden nach dem vierfachen Schriftsinn und der umfassenden Einbeziehung der Auslegungsgeschichte bei den Kirchenvätern souverän über Bord geworfen.



Das sehe ich anders:

1. die Beschränkung auf den Literalsinn war eine unglaubliche geistige Verarmung, die sicher bis heute nachwirkt in interpretatorischen Grabenkämpfen und solchen Phänomenen wie dem Kreationismus.

2. die Ausblendung der Tradition sowohl ein Selbstbetrug (denn sich außerhalb von Tradition stellen ist weder möglich noch gelangt man so zum "wahren Sinn") wie auch die Voraussetzung dafür, daß

3. Luther doch der Weltmeister der abenteuerlichen Interpretation war, der ich biege mir den Text so zurecht, wie ich ihn gerne hätte. Sein "statuierender Glaube" hat keine Schriftgrundlage, das "sola fide" hat er erst selbst in den Text hineinübersetzt und sein "sola scriptura" war doch schon von Beginn nicht durchdachter, sondern ein aus argumentativer Not geborener (Leipziger Disputation) Schnellschuß. Hinter den er dann, wie so oft, nicht mehr zurückgehen wollte. Über Versuche, den Kanon zu manipulieren muß ich nichts sagen.

Zitat
Eine Hermeneutik, die einen Autor besser verstehen will, als er selbst sich verstanden hat, schießt übers Ziel hinaus.



1. war dies genau das, was Luther tat und was Sie, Herr, eben noch bejubelt haben.

2. liegt hier ein weiterer Rückschritt verborgen: nicht der Autor wird interpretiert sondern sein Werk. Außerdem hat ein Autor ja selten eine Interpretationsanleitung oder ein biographischen Abriss seiner selbst (die aber beide wiederum nur interpretationsbedürftige Texte) beigelegt, so daß man wüßte, wie er es gemeint hat. Nein, man ist wieder auf den Text verwiesen.

3. Fließt ins Schreiben doch noch mehr ein, als das was der Autor bewußt und intentional hineinsetzt. Sicher, auch ich meine daß man hier die Fragen: "Was WILL der Autor sagen?" und "Was sagt der Text sonst noch aus?" klar scheiden muß und daß die eine Frage, die andere nicht unterdrücken darf.

3. Und gerade auf die Bibel bezogen: wer ist denn hier der Autor? Wenn wir im Glauben göttliche Inspiration annehmen, dann geht das notwendigerweise über den jeweiligen menschlichen Schreiber hinaus.

Zitat
Eine Hermeneutik, die einen Autor für seine Wirkungsgeschichte verantwortlich macht, ist nicht ernstzunehmen.



Ja, nur wer tut das? Was hat das mit "Hermeneutik" zu tun? Hermeneutik ist Interpretation, Auslegung, Textverstehen - nicht Wirkungsgeschichte. Dergleichen ist sicherlich interessant, aber nicht Hermeneutik.

Zitat
Leider wurde und wird da auch in meinem Fach viel Unfug getrieben: feministische Hermeneutik der Bibel usw.



In meinen Augen ist das nur - wenn auch in schreienderen Farben - die gleiche Rosinnenpickerei, die schon D. Martin Luther betrieb. Die tragen nun ihre Vorstellungen an die Bibel heran, picken sich (scheinbar) passende Stellen heraus, gegenteilige Stellen werden ignoriert oder abqualifiziert (hie schriebt halt der "olle Frauenfeind Paulus", dort gab es "strohene Episteln"). Die "gewonnene" Erkenntnis wird dann verabsolutiert, Gegenstimmen verteufelt und beschmipft und zur Not kommt Gewalt zum Einsatz. Naja, bei letzterem sind die Feministen noch nicht angekommen, aber das mag auch an den staatsrechtlichen Grundlagen liegen.

So, das war nun mein verspäteteter Beitrag zum "Reformationstag", den ich eigentlich ob seiner Lobhudelei für eine verstorbene Idee ignorieren wollte.

PS.

Zitat
Eine Rechtshermeneutik gar, die sich nicht an den klaren Textsinn und die bewussten Absichten der Autoren hält, ist für den Rechtsstaat nachgerade gefährlich.



Dem stimme ich durchaus zu. Leider feiert sie in Amerika und teilweise auch in Deutschland fröhlich Urständ.

Nur ist ein normativer Rechtstext etwas anderes als ein nationalgesinntes Lied.

Wie auch immer man "Deutschland über alles" versteht, wird daraus ja keine rechtsverbindliche Forderung.

Wenn man plötzlich einen "staatsfernen Grundversorgungsaufrag" erfindet und dieser Fiktion Verfassungsrang zuschreibt, dann hat das sehr wohl Rechtsfolgen. Spinnerte Ex-Verfassungsrichter verordnen einem dann Zwangsgebühren für eine Leistung, die man gar nicht haben will und die künftig keiner kontrolliert.

Oder wenn man, wie in Amerika, plötzlich ein "Recht auf Privatsphäre" erfindet, hat das schon bald im Wortsinn fatale für Millionen von Kindern.

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Gansguoter Offline



Beiträge: 988

01.11.2010 10:07
#68 RE: Deutschlandlied und Nationalstaat Antworten

Zitat
Ja, wenn es den Staat gar nicht gab, dann wäre doch schon der erste Mini-Schritt, sagen wir die Einbeziehung Frankfurts in einen Nationalstaat, Aggression, denn eben noch unabhängig sollte es nun von einem, wie Sie sagen, neuen Staat annektiert werden.



Das Beispiel Frankfurts ist vielleicht hier nicht das beste Beispiel. Aber ich habe oben ja schon den Abgeordneten Jordan mit seiner Rede aus dem Herbst 1848 zitiert. Solange Deutschland selbst keine Aussicht auf einen Nationalstaat hatte, war es - so sagt er - billig, die nationalen Rechte aller möglichen Völker anzuerkennen. Aber nun, angesichts der im Herbst 1848 erwarteten Gründung eines Nationalstaats Deutschlands, da verlangt er "zu erwachen zu einem gesunden Volksegoismus, um das Wort einmal geradheraus zu sagen, welcher die Wohlfahrt und Ehre des Vaterlandes in allen Fragen oben anstellt."

Anschließend proklamiert er gegen Polen "das Recht des Stärkeren, das Recht der Eroberung", und deswegen solle natürlich die Provinz Posen, ungeachtet von zwei Dritteln polnischen Einwohnern, zu Deutschland geschlagen werden. Es sei nämlich Deutschen nicht zuzumuten, unter polnischer HErrschaft in einem polnischen Staat zu leben, aber - das sagt er nicht - offenbar schon Polen zuzumuten, unter deutscher Herrschaft zu leben.

lois jane Offline



Beiträge: 662

01.11.2010 10:16
#69 RE: Hermeneutik Antworten

Zitat von Gansguoter
Lieber Zettel,
bemerkenswert erscheint mir dies, womit Sie (beabsichtigt? unbewusst?) Herr widersprechen:

Zitat
* Der fehlende Respekt für Tradition. Man "eignet sich" etwas "neu an"; und sei es eine Heilige Schrift. Sie wird gewissermaßen als Steinbruch benutzt, aus dem man sich das Passende herausklaubt. Oder noch schlimmer: Man bricht nicht nur etwas heraus, sondern nimmt - um im Bild zu bleiben - auch noch Hammer und Meißel, um es sich solange zurechtzuklopfen, bis es paßt.


Damit sprechen Sie ja einen wesentlichen Kritikpunkt an Luthers sola scriptura an, der Rückgriff auf die Schrift selbst unter Verzicht auf die Tradition, wie Luther vermessen behauptete.




Sehr wahr, alles was Sie schreiben!

Zitat von Zettel
Was ich meinte, das war nicht Tradition zusätzlich zu einem Text, sondern der Text in seinem Entstehungszusammenhang als Tradition. Vielleicht war der Begriff "Tradition" nicht optimal gewählt.



Aber ein Text steht doch immer in einem Traditionszusammenhang, sowohl in seiner Herkunft wie auch in seiner Auslegung.

Es ist natürlich ein Unterschied, was für ein Text es ist, sei es ein normativer Text (Heilige Schrift oder Rechtstext) oder ein erstmal nur darstellend-poetischer Text.

Der Traditionszusammenhang eines Rechtstextes ist gewissermaßen eine Schutzmauer gegen interpretatorischen Schindluder, siehe etwa den amerikanischen Originalismus und seine Gegenströmungen.

Ein normativer Heiliger Text, von Traditionen (beide Richtungen) abgeschnitten, kann niemals Grundlage einer Gemeinschaft sein, es sei denn es gibt ein Auslegungsmonopol. Reformatoren wie Luther haben sich meist selbst mit dergleichem ausgestattet (mit der öffentlichen Gewalt im Hintergrund) - heute ist das ganze halt zersplittert, sowohl in viele Kleinstgruppen wie auch in Beliebigkeit bei den Landeskirchen.

In beiden Fällen muß es aber doch auch eine Verbindung zur jetzigen Situation geben, ansonsten bleibt der Text nur historisches Artefakt, mithin tot. Wie man das macht und wie man es vermeidet, den Text dabei zu vergewaltigen ist natürlich die Krux. In meinen Augen ist Luther nicht weniger ein Textvergewaltiger als die Feministen.

Zitat
Bizets "Carmen", um mein Beispiel zu kommentieren, war eine der femmes fatales des fin de siècle, wie Zolas Nana, die Violetta in "La Traviata", die Musetta in "La Bohème" usw. Sie als arme von den Männern ausgebeutete Frau zu interpretieren ist schlicht historisch falsch.



Nun, hier muß man unterscheiden (ich beziehe Ihre Kommentare zum Regietheater mit ein):

ein Theaterstück kommt erst dann zu Leben, wenn es aufgeführt ist. Ja, es liegt ein Text vor, aber dies wird bei einer Aufführung durch Regisseur und Schauspieler auf bestimmte Weise interpretiert. Krass ausgedrückt, Goethes Faust gelesen ist kein Theaterstück sondern herumliegender Rohstoff.

Aber: diese Aufführung kann nah am Text sein oder ferner oder ganz krass jenseits davon. Letzteres kritisieren Sie (und viele andere) zurecht am Regietheater.

Das ist aber jetzt kein Fall von "das ist historisch falsch", denn weder Carmen noch Faust (und schon gar kein Stück von Schiller) ist "historisch richtig" sondern ein Fall von "Ist das denn noch Bizets Carmen oder ist es Peymanns Carmen (umd mal einen der unsäglichen Regisseure beim Namen zu nennen). Meiner Meinung nach geht es um Ettikettenschwindel (wohl in der Einsicht, daß Peymanns Carmen nur sehr wenige interessieren dürfte, Bizets dagegen viel mehr).

Nochmal zum "historisch falsch". Carmen ist erstmal ein Stück Literatur, ein Stück Drama. Was Sie, werter Zettel, oben tun ist, Carmen als Geschichtsquelle für das "Fin de Siecle" und sein Denken zu nutzen. Nun, das ist das Stück auch und hier wäre Ihr Einwand berechtigt. Nur bleibt Carmen als FdS-Text von heutigen Aufführungen völlig unberührt. Andererseits kann keine noch so werkgetreue Carmen-Aufführung heutzutage Quelle für das FdS sein - sie ist immer heutig.

Und ebenso auch beim Deutschlandlied:

Fragen Sie nach der Situation, der Intention des Autors Hofmann, dann muß sich auf diese Beschränkung.

Fragt aber danach, was dieser Text auch ausdrückt bzw. ausdrücken kann und dann wirkungsgeschichtlich ausgedrückt hat, dann muß man weiter gehen.

Und ehrlich gesagt: "Deutschland über alles" chauvinistisch zu verstehen ist weit näher am Text als alles, was Luther jemals in Sachen Bibel geschrieben hat (zumindest nach 1518).[/quote]

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lois jane Offline



Beiträge: 662

01.11.2010 10:31
#70 RE: Deutschlandlied und Nationalstaat Antworten

Zitat von Gansguoter

Zitat
Ja, wenn es den Staat gar nicht gab, dann wäre doch schon der erste Mini-Schritt, sagen wir die Einbeziehung Frankfurts in einen Nationalstaat, Aggression, denn eben noch unabhängig sollte es nun von einem, wie Sie sagen, neuen Staat annektiert werden.


Das Beispiel Frankfurts ist vielleicht hier nicht das beste Beispiel. Aber ich habe oben ja schon den Abgeordneten Jordan ...




Gewiss. Das fiel mir nur ein, weil ja die Stadt gradezu vor der Türschwelle der Paulskirche gelegen ist, mithin der erste Schritt wäre, ein sehr kleiner, weil das Territorium eben so klein.

Alles unter der Prämisse, es habe den "expandierenden Staat" ja nicht gegeben. Die Prämisse ist absurd und folgenlos.

Natürlich gibt es unterschiedliche Grade von Expansion, vom bloßen Einheitsstreben (Hofmann) zum Chauvinismus (Jordan) zum Weltmachtsstreben (Wilhelm II.) und zu Weltherrschaftsphantasien (da gelangt erst Hitler an).

Es geht mir nicht darum - wie Zettel mich konsequent mißversteht - dies alles in einen Topf zu werfen, sondern darum, daß es schon gewisse Verbindungslinien gibt, v.a. zwischen den ersten beiden Punkten, und daß eben 1848 nicht alle engelsgleich waren, mithin die "außenpolitische Wende" durchaus im Spektrum des 1848 gedachten liegt und man daher eben nicht von einer krassen Fehlinterpretation sprechen kann.

Daher sollte man sich das von Ihnen genannte Beispiel gut merken:

Zitat
Solange Deutschland selbst keine Aussicht auf einen Nationalstaat hatte, war es - so sagt er - billig, die nationalen Rechte aller möglichen Völker anzuerkennen. Aber nun, angesichts der im Herbst 1848 erwarteten Gründung eines Nationalstaats Deutschlands, da verlangt er "zu erwachen zu einem gesunden Volksegoismus, um das Wort einmal geradheraus zu sagen, welcher die Wohlfahrt und Ehre des Vaterlandes in allen Fragen oben anstellt."
Anschließend proklamiert er gegen Polen "das Recht des Stärkeren, das Recht der Eroberung", und deswegen solle natürlich die Provinz Posen, ungeachtet von zwei Dritteln polnischen Einwohnern, zu Deutschland geschlagen werden. Es sei nämlich Deutschen nicht zuzumuten, unter polnischer HErrschaft in einem polnischen Staat zu leben, aber - das sagt er nicht - offenbar schon Polen zuzumuten, unter deutscher Herrschaft zu leben.

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Herr Offline




Beiträge: 406

01.11.2010 11:54
#71 RE: Hermeneutik Antworten

Lieber Gansguoter,
es freut mich, dass Sie und Lois Janne sich so ausführlich mit meiner hingeworfenen Bemerkung auseinandersetzen. Und es ist in meinen Augen sehr bemerkenswert, wie ein offensichtlich katholischer Hintergrund die Sicht auf Luther verstellen kann

Dazu gleich noch eines vorweg: Luther ist selbstverständlich nicht der Inbegriff sachgemäßer Hermeneutik. Aber er hat an entscheidender Stelle den Weg dahin gewiesen, und ist zumindest so was wie ein Ahnherr der historisch-kritischen Bibelauslegung geworden.

Zitat von Gansguoter
Lieber Zettel,
bemerkenswert erscheint mir dies, womit Sie (beabsichtigt? unbewusst?) Herr widersprechen:

Zitat
* Der fehlende Respekt für Tradition. Man "eignet sich" etwas "neu an"; und sei es eine Heilige Schrift. Sie wird gewissermaßen als Steinbruch benutzt, aus dem man sich das Passende herausklaubt. Oder noch schlimmer: Man bricht nicht nur etwas heraus, sondern nimmt - um im Bild zu bleiben - auch noch Hammer und Meißel, um es sich solange zurechtzuklopfen, bis es paßt.


Damit sprechen Sie ja einen wesentlichen Kritikpunkt an Luthers sola scriptura an, der Rückgriff auf die Schrift selbst unter Verzicht auf die Tradition, wie Luther vermessen behauptete.




Martin Luthers sola scriptura hat doch eigentlich gerade diese Zielrichtung: gegen eine steinbruchartige Interpretation der Heiligen Schrift. Wir sollten uns dessen bewusst sein, dass theologische Lehre vor Luther häufig nichts anderes war als die Kommentierung von Sentenzenkommentaren. D.h. es wurde gerade nicht der biblische Text in seinem synchronen Zusammenhang gesehen und diskutiert, sondern diachron durch eine jahrhundertewährende Auslegungsgeschichte hindurch, die aber zumeist nur in Bruchstücken (Sentenzen) zur Verfügung stand. Luther hat diese das Original verdeckende Tradition beiseitegeschoben und biblische Aussagen und Bücher nicht mehr aufgrund ihrer Auslegungstradition, sondern im wesentlichen textimmanent zu verstehen gesucht. Zum Prinzip sola scriptura gehört das Prinzip scriptura sui ipsius interpres. D.h. z.B. für Luther: Der Sinn einer dunklen Bibelstelle lässt sich durch eine klare Bibelstelle erhellen.

Ich halte das für eine schon recht moderne Interpretationsmethode. Wenn ich z.B. verstehen will, wie eine unklare Aussage von Zettel gemeint ist, würde ich in Zettels Raum oder im Kleinen Zimmer nach ähnlichen Aussagen zum Thema suchen und mir so den Sinn erschließen (mal abgesehen davon, dass wir hier die Möglichkeit haben, beim Autor nachzufragen), anstatt mich mit Interpretationen über Zettel zufriedenzugeben.

Zitat
Die Schrift selbst, das Alte und Neue Testament, aber ist ja bereits selbst Ergebnis der Tradition, wie man insbesondere an der Kanonbildung des Neuen Testaments sieht. Die Trennung von Schrift und Tradition ist also grundsätzlich nicht möglich, denn indem man sich auf die Schrift bezieht, akzeptiert man bereits den Einfluss der Tradition hinsichtlich der Kanonbildung und damit der Festlegung, was überhaupt die Schrift ist. Weiterhin erschließt sich die Schrift uns nicht allein aus sich selbst aufgrund ihrer Entstehung in einem uns nicht direkt zugänglichen religiösen, kulturellen, sprachlichen etc. Kontext, so dass es schon aus diesem Grund notwendig ist, zur Interpretation zusätzliche Informationen heranziehen, sei es aus der Entstehungszeit der Schrift selbst, sei es das, was man Tradition nennt, die Versuche der Kirchenväter und Theologen, sich den Sinn der Schrift, der Offenbarung zu erschließen. Die Berücksichtigung der Tradition im weitesten Sinne ist also unumgänglich. Es gibt viele Beispiele dafür, dass gerade die Zeugnisse der Kirchenväter wichtig sind, um ein exegetisches und philologisches Problem zu lösen.



Ich habe den Eindruck, Sie gebrauchen den Ausdruck "Tradition" äquivok. Das eine ist die Tradition, die der Schriftentstehung und -kanonisierung vorausgeht, das andere ist die Tradition, die ihr folgt, die Auslegungstradition. Es macht aber für das Verständnis eines Textes einen himmelweiten Unterschied, ob ich eine dem Text vorausliegende Tradition kenne und ihren Einfluss auf den Text abschätzen kann oder ob ich nur weiß, wie Spätere meinen Text verstanden haben. (Z.B. spielt im johanneischen Schrifttum die Metaphorik Licht-Finsternis eine große Rolle. Meinen Sie nicht, dass es ungleich relevanter ist, dass dieses Motiv auch in der Gemeinschaft von Qumran, also vor der Entstehung der jh. Schriften, eine große Rolle gespielt hat, als die Auslegung des JhEv von Hieronymus oder Augustinus ein paar Jahrhunderte später?)

Dass die Auslegungstradition wertvolle Hinweise zum Verständnis geben kann, dass nicht jeder Interpret eines Textes wieder bei Null anfangen muss, das ist ja wohl selbstverständlich. Nur darf nicht eine bestimmte Auslegung des Textes ihrerseits kanonisiert werden, und schon gar nicht – und das ist die eigentliche Crux mit dem Katholizismus bis auf den heutigen Tag – theologische Lehrinhalte, die keinen realen Anhalt an der Heiligen Schrift haben.

Zitat
Im übrigen hat die Tradition auch einen großen theologie- und geistesgeschichtlichen Wert. Natürlich weiß ich, daß die Geschichte vom brennenden Dornbusch zunächst textimmanent bzw. im Kontext des Alten Testaments (im weitesten Sinne) zu verstehen ist, aber die typologische (hier mariologische) Deutungstradition seit den Kirchenvätern bietet doch eine interessante zusätzliche Perspektive auf den Text in der antiken und mittelalterlichen Auslegungstradition, die auch zu dem filigranen Kunstwerk der mittelalterlichen Leseordnung wie überhaupt der Liturgie mit ihrem hochkomplexen System aus Introitus, Sequenzen und Antiphonen etc. geführt hat, das dann leider infolge des Vatikanischen Konzils banausenhaft zerstört worden ist.


Das ist ein schönes Beispiel dafür, wie eine vorauslaufende Auslegungstradition für die Hermeneutik späterer Texte, nämlich der römischen Messform und sicher auch für das Verständnis von religiösen Bildwerken u.ä., interessant sein kann. Für die sachgemäße Interpretation des Dornbusch-Textes ist sie irrelevant. Für die persönliche Aneignung im Glauben ebenso. Ja, sie ist dafür geradzu hinderlich, weil sie die Offenbarung Gottes und des Gottesnamens als zentrale Aussage des Textes überdeckt. Insofern ist das ein Musterbeispiel dafür, weshalb Luther die Heilige Schrift von solchen Fantasie-Auslegungen befreit hat.

Zitat
Letztlich führt Luthers Prinzip zu einem Individualismus, dass jeder die Schrift so versteht und auslegt, wie er es möchte, und damit zu einer Zersplitterung des Glaubens, und Luther bereitet so die Ansichten der Täufer über die Offenbarung vor, die von einer Inspiration jedes Einzelnen durch den Heiligen Geist ausgehen (bei den Waldensern gab es das, wenn ich mich nicht irre, auch schon). Hingegen garantiert das katholische Prinzip, indem die Auslegung der Offenbarung im Rahmen der Tradition und unter Überwachung durch das Lehramt erfolgt, das Fortbestehen der kirchlichen und der Glaubenseinheit.


Es ist abwegig, Luther für einen Rezeptionsindividualismus, wie Sie ihn beschreiben, in Anspruch zu nehmen. Gerade deshalb, weil Luther sich vehement gegen Privatauslegungen und Privatoffenbarungen wehrt und verwahrt. Es gibt für ihn eben gerade nur eine richtige Schriftauslegung. Die ist nicht ins Belieben des Einzelnen gesetzt, die braucht auch kein Lehramt – das kann nämlich sehr wohl irren, wie Luther zu seiner Zeit lernen musste –, die ist durch den klaren und verständlichen Schriftsinn selber gegeben.

Die kirchliche und Glaubenseinheit ist nach unserem Verständnis konstituiert durch das richtige Schriftverständnis. Die Kirche ist creatura verbi und nicht umgekehrt.

Herzliche Grüße!
Herr

Gansguoter Offline



Beiträge: 988

01.11.2010 14:18
#72 RE: Hermeneutik Antworten

Lieber Herr,

zunächst gute Besserung; eben habe ich Ihren Blog gelesen.

Zitat
Wir sollten uns dessen bewusst sein, dass theologische Lehre vor Luther häufig nichts anderes war als die Kommentierung von Sentenzenkommentaren. D.h. es wurde gerade nicht der biblische Text in seinem synchronen Zusammenhang gesehen und diskutiert, sondern diachron durch eine jahrhundertewährende Auslegungsgeschichte hindurch, die aber zumeist nur in Bruchstücken (Sentenzen) zur Verfügung stand.



Diese Sicht auf das Mittelalter scheint mir arg verkürzt. Natürlich gab es Autoren, die nur die Glossa ordinaria zur Grundlage wiederum ihrer Kommentierung gemacht haben; aber ebenso natürlich gibt es auch vor Luther kluge Theologen, die eine ganze Bibliothek zur Hand hatten und - vielleicht nicht im Ergebnis, aber doch der Herangehensweise - den biblischen Text untersuchen, diesen zu verstehen suchen, die (widersprüchliche) Auslegungstradition dazunehmen, um am Ende zu einer Lösung zu kommen. In Einzelfällen gibt es ja sogar schon Ansätze zu textkritischem Arbeiten; zumindest für Mt 27,49b gibt es da interessante Beispiele, dass Theologen auf abweichende LEsarten gestoßen sind und diese zu erklären suchen. Als anderes Beispiel möchte ich den viel zu unbekannten Johannes von Zazenhausen nennen, der nach eigener Aussage für seinen Passionstraktat die HIlfe eines Rabbis (wohl in Mainz) in Anspruch genommen hat, um bestimmte Stellen des NT zu verstehen.

Zitat
Zum Prinzip sola scriptura gehört das Prinzip scriptura sui ipsius interpres.



Natürlich ist das modern, aber im Zweifelsfall auch wieder nicht ausreichend. Wenn die scriptura oder Zettels Aussagen allein eben keine Klarheit schaffen, was gemeint ist - etwa zu einem Sachverhalt -, dann braucht man Beispiele aus dem Umfeld. Sie selbst bringen ja das Beispiel, dass die Qumran-Texte hilfreich sein können zum Verständnis mancher Schriften / Stellen des NT.

Auch Luther macht sich im übrigen von der Tradition nicht frei. Wenn ich es recht sehe, spricht ja auch der Lutheraner im Apostolischen Glaubensbekenntnis das "hinabgestiegen in das Reich der Toten". Die biblische Grundlage dafür ist ja nur 1 Petr 3,19: "So ist er auch zu den Geistern gegangen, die im Gefängnis waren, und hat ihnen gepredigt." Daraus allein, nur mit sola scriptura, den Glaubenssatz Höllenfahrt Christi (als Mediävist bleibe ich bei diesem Begriff) abzuleiten, erscheint mir schlichtweg unmöglich. Dies ist ganz unmittelbar und untrennbar verwogen mit der Tradition der ersten Jahrhunderte, die einerseits zum Wortlaut des Apostolischen Glaubensbekenntnisses geführt hat, andererseits zum Evangelium Nicodemi mit seiner herrlich-plastischen Schilderung des descensus ad inferos.

Zitat
Z.B. spielt im johanneischen Schrifttum die Metaphorik Licht-Finsternis eine große Rolle. Meinen Sie nicht, dass es ungleich relevanter ist, dass dieses Motiv auch in der Gemeinschaft von Qumran, also vor der Entstehung der jh. Schriften, eine große Rolle gespielt hat, als die Auslegung des JhEv von Hieronymus oder Augustinus ein paar Jahrhunderte später?



Wobei wir auch zu klären hätten, a) in welchem Verhältnis der Evangelist zur Qumran-Gruppe stand, b) wie das Johannes-Evgl. und überhaupt die Evgl. zeitlich einzuordnen sind (vgl. Klaus Berger: Im Anfang war Johannes; vgl. aber auch andere Positionen zur Frühdatierung, oft in Bezug auf das Markus-Fragment aus Qumran).

Zitat
Nur darf nicht eine bestimmte Auslegung des Textes ihrerseits kanonisiert werden, und schon gar nicht – und das ist die eigentliche Crux mit dem Katholizismus bis auf den heutigen Tag – theologische Lehrinhalte, die keinen realen Anhalt an der Heiligen Schrift haben.



Jetzt geht's aber ans Eingemachte, lieber Herr ;-) Hier kann ich Ihnen leider nicht folgen! Und wie schon gesagt: Können Sie die Höllenfahrt an der Schrift festmachen oder streichen Sie sie als nicht-schriftgemäß?

Zur Deutung nach dem Vierfachen Schriftsinn:

Zitat
Für die sachgemäße Interpretation des Dornbusch-Textes ist sie irrelevant.



Selbstverständlich. Da habe ich ja auch nichts anderes behauptet.

Zitat
Für die persönliche Aneignung im Glauben ebenso. Ja, sie ist dafür geradzu hinderlich, weil sie die Offenbarung Gottes und des Gottesnamens als zentrale Aussage des Textes überdeckt.



Das wiederum möchte ich so nicht stehen lassen. Die historisch-kritische Auslegung der Dornbusch-Geschichte ist das eine; aber wenn an Trinitatis die Lesung aus Ex 3 ansteht, dann wird bei mir natürlich auch die mariologische Auslegungstradition aufgerufen, die für den Glauben dann natürlich eine Rolle spielt. Die Auslegungstradition überdeckt auch nichts, sondern vertieft hier, denn zu der Offenbarung Gottes und des Gottesnamens kommt der Querverweis auf die Inkarnation hinzu.

Zitat
Insofern ist das ein Musterbeispiel dafür, weshalb Luther die Heilige Schrift von solchen Fantasie-Auslegungen befreit hat.



Es ist keine Phantasie-Auslegung, es ist eine kategorial andere Art der Auslegung!

Zitat
Gerade deshalb, weil Luther sich vehement gegen Privatauslegungen und Privatoffenbarungen wehrt und verwahrt.



Luther ja; ich schrieb aber auch: Er bereitet vor. Indem Luther die Tradition und das Lehramt als für die Auslegung irrelevant erklärte, bereitete er aber doch (unwillentlich) vor, was dann die Täufer und andere, ebenfalls mit der Berufung auf die Schrift und ein "sola scriptura" gelehrt haben.

Zitat
Die kirchliche und Glaubenseinheit ist nach unserem Verständnis konstituiert durch das richtige Schriftverständnis.



Ich weiß. Aber nach unserem Verständnis gehört zur kirchlichen Einheit auch die Einheit über die Zeiten hinweg, und "uns" erscheint es doch arg wackelig, die Glaubenseinheit auf das "richtige Schriftverständnis" des fehlbaren Individuums aufzubauen.

Ebenso herzliche Grüße!

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

01.11.2010 14:57
#73 RE: Deutschlandlied und Nationalstaat Antworten

Zitat von lois jane
Aber ja, den Nationalismus der die Nation als Höchst- und Letztwert begreift, den halte ich in der Tat für "irrsinnig". Die Nation, ein Konstrukt, daß mich mit fremden Leuten verbindet, mit denen ich wenig bis gar nichts gemein habe, geht für mich nicht über meine Familie, meinen Mann, meine Kinder, meine Heimatstadt etc.


Ja, das ist doch Ihr gutes Recht. Nur haben wir versucht, über den Vormärz zu diskutieren. Da sah man halt manches anders.

Wir werden uns nicht einig werden. Aus meiner Sicht deshalb, weil Sie den in der Tat expansionistischen, teilweise imperialistischen Nationalismus, wie er sich in Deutschland nach der Entlassung Bismarcks entwickelt hat, auf die Zeit des Vormärz zurückprojizieren.

Also, das sollten wir so stehenlassen. Aber eine Frage habe ich noch. Sie antworten auf meine Feststellung, daß Hoffmann ein nationalliberaler Demokrat war:

Zitat von lois jane
Das ist Geschichtsklitterung. Ungefährso wie ein sozialdemokratischer Kommunist.


Das verstehe ich schlicht nicht. Wollen Sie behaupten, daß die damaligen Nationalliberalen keine Demokraten waren? Oder wollen Sie gar sagen, daß generell Nationalliberale keine Demokraten sein können, so wie Sozialdemokraten keine Kommunisten?

Herzlich, Zettel

Herr Offline




Beiträge: 406

01.11.2010 15:05
#74 RE: Hermeneutik Antworten

Liebe los jane,

bitte schimpfen Sie doch nicht so! Sie offenbaren viel römisch-katholisches Vorurteil und wenig Verständnis für den gescholtenen Luther.

Zitat von lois jane

Das sehe ich anders:
1. die Beschränkung auf den Literalsinn war eine unglaubliche geistige Verarmung, die sicher bis heute nachwirkt in interpretatorischen Grabenkämpfen und solchen Phänomenen wie dem Kreationismus.
2. die Ausblendung der Tradition sowohl ein Selbstbetrug (denn sich außerhalb von Tradition stellen ist weder möglich noch gelangt man so zum "wahren Sinn")



Dazu habe ich das Wesentliche bereits an Gansguoter geschrieben. Was den Kreationismus und andere Erscheinungen eines fundamentalistischen Biblizismus anbelangt, so ist dafür weniger Luther als die altprotestantische Verbalinspirationslehre verantwortlich zu machen, die aber erst in der Generation nach Luther formuliert wurde und gegenüber Luthers Schriftverständnis einen Rückschritt darstellte.

Zitat
wie auch die Voraussetzung dafür, daß
3. Luther doch der Weltmeister der abenteuerlichen Interpretation war, der ich biege mir den Text so zurecht, wie ich ihn gerne hätte. Sein "statuierender Glaube" hat keine Schriftgrundlage, das "sola fide" hat er erst selbst in den Text hineinübersetzt und sein "sola scriptura" war doch schon von Beginn nicht durchdachter, sondern ein aus argumentativer Not geborener (Leipziger Disputation) Schnellschuß. Hinter den er dann, wie so oft, nicht mehr zurückgehen wollte. Über Versuche, den Kanon zu manipulieren muß ich nichts sagen.


Luther, wie ich ihn kennengelernt habe, war bereit sich "durch Argumente aus der Schrift überwinden zu lassen" (so vor dem Reichstag zu Worms). Seine Gegner hielten es nicht für nötig, mit der Heiligen Schrift zu argumentieren. Sein Glaubensverständnis ist aus einer gründlichen Exegese des Römerbriefs entstanden. Und über die Übersetzung "allein durch den Glauben" hat er selber in seinem "Sendbrief über das Dolmetschen" (den ich gerade nicht zur Hand habe) Rechenschaft gegeben. Nämlich in dem Sinne, dass er nicht mal theologisch, sondern sprachlich argumentiert: So sagt man das im Deutschen, was Paulus gemeint hat: nicht durch Werke, sondern – im Gegenteil, kontradiktorisch – durch den Glauben, also: allein durch den Glauben.


Zitat

Zitat
Eine Hermeneutik, die einen Autor besser verstehen will, als er selbst sich verstanden hat, schießt übers Ziel hinaus.


1. war dies genau das, was Luther tat und was Sie, Herr, eben noch bejubelt haben.



Wo und inwiefern habe ich das?

Zitat
2. liegt hier ein weiterer Rückschritt verborgen: nicht der Autor wird interpretiert sondern sein Werk. Außerdem hat ein Autor ja selten eine Interpretationsanleitung oder ein biographischen Abriss seiner selbst (die aber beide wiederum nur interpretationsbedürftige Texte) beigelegt, so daß man wüßte, wie er es gemeint hat. Nein, man ist wieder auf den Text verwiesen.


Mir geht es auch um die Interpretation des Werkes. Aber ich muss es natürlich als Aussage eines Autors verstehen und werde es so besser verstehen. Dass ich vom Autor schrieb, hängt damit zusammen, dass ich auf ein Zitat anspielte, das m.W. auf Kant zurückgeht.

Zitat
3. Fließt ins Schreiben doch noch mehr ein, als das was der Autor bewußt und intentional hineinsetzt. Sicher, auch ich meine daß man hier die Fragen: "Was WILL der Autor sagen?" und "Was sagt der Text sonst noch aus?" klar scheiden muß und daß die eine Frage, die andere nicht unterdrücken darf.


Dem stimme ich einerseits zu. Auf der anderen Seite ist gefährlich, dem Autor unbewusste Absichten usw. zu unterstellen – im Sinne einer psychologischen oder ideologischen Entlarvung ...

Zitat
3. Und gerade auf die Bibel bezogen: wer ist denn hier der Autor? Wenn wir im Glauben göttliche Inspiration annehmen, dann geht das notwendigerweise über den jeweiligen menschlichen Schreiber hinaus.


Jedenfalls sollten wir den menschlichen Schreiber nicht vernachlässigen, um zu einem angemessenen Verständnis zu kommen.

Zitat

Zitat
Eine Hermeneutik, die einen Autor für seine Wirkungsgeschichte verantwortlich macht, ist nicht ernstzunehmen.


Ja, nur wer tut das? Was hat das mit "Hermeneutik" zu tun? Hermeneutik ist Interpretation, Auslegung, Textverstehen - nicht Wirkungsgeschichte. Dergleichen ist sicherlich interessant, aber nicht Hermeneutik.



Genau das war doch der Ausgangspunkt der Diskussion: dass der Text des Deutschlandliedes von seiner Wirkungsgeschichte her interpretiert wurde. Ob Hoffmann von Fallersleben für ein bestimmtes Textverständnis mitverantwortlich ist, darum wurde diskutiert.

Zitat

Zitat
Leider wurde und wird da auch in meinem Fach viel Unfug getrieben: feministische Hermeneutik der Bibel usw.


In meinen Augen ist das nur - wenn auch in schreienderen Farben - die gleiche Rosinnenpickerei, die schon D. Martin Luther betrieb. [...]



Diese Gleichseitzung ist so schräg, dass ich nach allem bisher Gesagten, nicht darüber diskutieren muss.


Zitat
So, das war nun mein verspäteteter Beitrag zum "Reformationstag", den ich eigentlich ob seiner Lobhudelei für eine verstorbene Idee ignorieren wollte.


Es ist ein etwas kühner Schluss, eine Idee, die Ihnen als irrelevant erscheinen mag, gleich für "verstorben" zu erklären. Ich fand's hingegen bemerkenswert, dass unser erklärter Agnostiker der "Freiheit eines Christenmenschen" so viel abgewinnen kann.

Vielleicht wäre es ja überhaupt lohnend, über den Beitrag Luthers und der Reformation zum neuzeitlichen Freiheitsverständnis nachzudenken.

Herzliche Grüße!
Herr

Herr Offline




Beiträge: 406

02.11.2010 11:24
#75 RE: Hermeneutik Antworten

Zitat von Gansguoter
Lieber Herr,
zunächst gute Besserung; eben habe ich Ihren Blog gelesen.


Danke! Bin seit gestern wieder zu Hause.

Zitat

Zitat
... häufig nichts anderes war als die Kommentierung von Sentenzenkommentaren ...


... Natürlich gab es Autoren, die nur die Glossa ordinaria zur Grundlage wiederum ihrer Kommentierung gemacht haben ...



Hier brauchen wir nicht weiterzudiskutieren: Ich habe nicht behauptet, dass es nicht auch das andere gab; Sie haben nicht behauptet, dass es das von mir Genannte nicht gab

Zitat

Zitat
Zum Prinzip sola scriptura gehört das Prinzip scriptura sui ipsius interpres.


Natürlich ist das modern, aber im Zweifelsfall auch wieder nicht ausreichend.



Dem widerspreche ich auch nicht.

Zitat
Auch Luther macht sich im übrigen von der Tradition nicht frei. Wenn ich es recht sehe, spricht ja auch der Lutheraner im Apostolischen Glaubensbekenntnis das "hinabgestiegen in das Reich der Toten". Die biblische Grundlage dafür ist ja nur 1 Petr 3,19: "So ist er auch zu den Geistern gegangen, die im Gefängnis waren, und hat ihnen gepredigt." Daraus allein, nur mit sola scriptura, den Glaubenssatz Höllenfahrt Christi (als Mediävist bleibe ich bei diesem Begriff) abzuleiten, erscheint mir schlichtweg unmöglich. Dies ist ganz unmittelbar und untrennbar verwogen mit der Tradition der ersten Jahrhunderte, die einerseits zum Wortlaut des Apostolischen Glaubensbekenntnisses geführt hat, andererseits zum Evangelium Nicodemi mit seiner herrlich-plastischen Schilderung des descensus ad inferos.


Nein, Luther macht sich ausdrücklich nur dort von der Tradition frei, wo sie ihm im Gegensatz zum klaren Evangelium von Jesus Christus zu stehen scheint. Darum ja auch Luthers Protest gegen den Ikonoklasmus und sein behutsames Vorgehen bei der Gottesdienstreform. (Ein lutherischer Gottesdienst in der nord- und mitteldeutschen Tradition folgt auch heute noch erkennbar der römischen Messform.)

Im Falle der "Höllenfahrt Christi" gab es ja die Bezugsstelle 1Pt 3. Und es stand eine Deutung zur Verfügung, die nicht dem Evangelium widersprach. Freilich hat Luther dieser Stelle und dieser Aussage wohl kein allzu großes Gewicht beigemessen. Es ist ein Beispiel dafür, wie eine nicht zentrale Glaubensaussage zwar aus traditionellen Gründen mitgeführt wird, aber in ihrer Relevanz verblasst ist.

Zitat
Wobei wir auch zu klären hätten, a) in welchem Verhältnis der Evangelist zur Qumran-Gruppe stand, b) wie das Johannes-Evgl. und überhaupt die Evgl. zeitlich einzuordnen sind (vgl. Klaus Berger: Im Anfang war Johannes; vgl. aber auch andere Positionen zur Frühdatierung, oft in Bezug auf das Markus-Fragment aus Qumran).


Richtig. (Wobei mich die Position Bergers in keiner Weise überzeugt.)

Zitat
Jetzt geht's aber ans Eingemachte, lieber Herr ;-)


Man bekommt ja nur noch selten Gelegenheit, kontroverstheologisch tätig zu werden

Zitat
Das wiederum möchte ich so nicht stehen lassen. Die historisch-kritische Auslegung der Dornbusch-Geschichte ist das eine; aber wenn an Trinitatis die Lesung aus Ex 3 ansteht, dann wird bei mir natürlich auch die mariologische Auslegungstradition aufgerufen, die für den Glauben dann natürlich eine Rolle spielt. Die Auslegungstradition überdeckt auch nichts, sondern vertieft hier, denn zu der Offenbarung Gottes und des Gottesnamens kommt der Querverweis auf die Inkarnation hinzu.


Ich möchte Ihnen Ihre mariologischen Assioziationen ja gerne unbenommen lassen. Nur mit seriöser Hermeneutik hat das nichts zu tun. Wir haben so was früher Eisegese genannt. Seriöser Umgang mit der Schrift müsste IMO heißen, dass wir uns von solchen assoziativ gewonnenen Typologien und Allegorien frei machen sollten.
Bestenfalls würde ich zugestehen, derartige Auslegungstraditionen zur Aneignung von Glaubensaussagen illustrativ heranzuziehen.

Zitat
Es ist keine Phantasie-Auslegung, es ist eine kategorial andere Art der Auslegung!


Es ist Fantasie, weil es assoziativ und nicht methodisch kontrolliert ist. Bestenfalls hat man schon ein Konzept, wie "Inkarnation" in Ihrem Beispiel, bereitliegen und versucht es auf alles Mögliche anzuwenden. Das ändert aber nichts daran, dass der Text gar nicht von Inkarnation spricht


Zitat

Zitat
Gerade deshalb, weil Luther sich vehement gegen Privatauslegungen und Privatoffenbarungen wehrt und verwahrt.


Luther ja; ich schrieb aber auch: Er bereitet vor.



Und ich schrieb, man dürfe einen Autor nicht für seine Wirkungsgeschichte verantwortlich machen, zumal er diese ausdrücklich nicht beabsichtigt hat.

Zitat
Ich weiß. Aber nach unserem Verständnis gehört zur kirchlichen Einheit auch die Einheit über die Zeiten hinweg, und "uns" erscheint es doch arg wackelig, die Glaubenseinheit auf das "richtige Schriftverständnis" des fehlbaren Individuums aufzubauen.


Die Einheit über die Zeiten hinweg möchte ich keinesfalls leugnen. Auch wir glauben an die una catholica et apostolica ecclesia. Woher nehmen Sie denn nur die abwegige Behauptung, wir würden die Glaubenseineheit auf ein fehlbares, individuelles Schriftverständnis aufbauen? Wo es doch die Römer sind, die das richtige Verständnis nicht der ganzen Kirche zutrauen, sondern einem Lehramt, das durch Individuen ausgeübt wird!

Herzliche Grüße!

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