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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 81 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
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R.A. Offline



Beiträge: 8.171

01.06.2012 14:21
#26 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von uniquolol
Das Geschäftsmodell vieler Zustelldienste besteht doch gerade darin, den gekündigten älteren Arbeitnehmer (idealerweise auch noch in einer persönlichen Notlage) als Mitarbeiter bzw. Subunternehmer zu gewinnen.


Gibt es denn irgendwo Belege dafür?
Es wird zwar immer wieder erzählt (aus Quellen mit Wallraff-"Qualität"), aber ich halte das für unglaubwürdig.

Natürlich wird es Einzelfälle dieser Art geben. Und man kann dann darüber reden, wie man die verhindert.

Aber wir reden hier über eine Branche, die über 20 Jahre lang aktiv ist und mehr als 300.000 Mitarbeiter beschäftigt. Da kann kein Geschäftsmodell funktionieren, daß nur auf dem Ausplündern fleißiger älterer Arbeitsloser mit Ersparnissen beruht.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

01.06.2012 14:37
#27 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von Zettel
Warum soll jemand, der keine Skrupel hat, über Wochen, manchmal Monate die Menschen zu belügen, mit denen er Umgang hat, auf einmal solche Skrupel haben, wenn es um die Öffentlichkeit geht?


Da bin ich eher bei louis_jane - das sind zwei sehr verschiedene Arten von Lügen. Ein verdeckter Ermittler oder ein recherchierender Journalist können durchaus mit falschen Angaben an Informationen kommen, beim Inhalt ihrer Arbeit aber völlig bei der Wahrheit bleiben.

Zitat
Wallraff hat eine antikapitalistische Botschaft. Diese illustriert er mit seinen Artikeln und Filmen. Was spricht dafür, daß er sich dabei um die Wahrheit bemüht und nicht um Agitation?


Da stimme ich dann wieder zu. Es gibt nicht den mindesten Beleg, daß Wallraff ein vertrauenswürdiger Berichterstatter wäre.

Zitat
Wie Wallraff es schildert, sind die Pakete grundsätzlich "schwer". Das meiste, was wir bei Amazon usw. bestellen, kommt in leichten Paketen.


Das dürfte bei Privatkunden auch die Regel sein.
Eine Runde bei Geschäftskunden wird anders aussehen - aber werden meist mehrere Sendungen gebündelt (also zeitsparend) abgegeben, vernünftigerweise mit der Sackkarre.

Zitat
Bei Wallraff "rennen" die Boten mit ihrem Paket vom Auto und zurück. Ich habe noch keinen rennen sehen.


Dürfte selbst in heftigsten Phase vor Weihnachten nur selten vorkommen.

Zitat
Es sind überwiegend freundliche, gar nicht gestreßt wirkende Leute, die ihr Paket abliefern, ihr Trinkgeld entgegennehmen und ganz normal zu ihrem Auto zurückgehen.


Das ist sehr löblich von Ihnen, auch den Paketboten Trinkgeld zu geben. Und so oft wie Sie Bücher etc. bei Amazon kaufen, sind Sie wahrscheinlich schon dafür bekannt - deswegen sind die dann besonders freundlich ;-)
M. E. dürfte Trinkgeld bei Paketboten sehr selten sein. Ansonsten aber teile ich Ihre Einschätzung (und wir haben wirklich viele verschiedene Paketdienste mit wechselnden Fahrern erlebt). Die Lieferung wird zügig abgewickelt, aber ohne Hektik. Ein völlig normaler Beruf mit normal freundlichen Arbeitern.

Zitat
Er erzählt von "Sekundentod", von tödlichen Unfällen übermüdeter Fahrer. Hat er eine Statistik?


Die hat er natürlich nicht, die gibt es auch nicht.
Alleine seine Ausführungen zu diesem Thema disqualifizieren den ganzen Artikel.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

01.06.2012 14:54
#28 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von Calimero

Zitat von Zettel
Es sind überwiegend freundliche, gar nicht gestreßt wirkende Leute, die ihr Paket abliefern, ihr Trinkgeld entgegennehmen und ganz normal zu ihrem Auto zurückgehen.

Trinkgeld? Für den Paketboten? Doch nur, wenn der 'ne Pizza bringt ... oder habe ich die Post- und Paketboten unwissentlich jahrelang mies behandelt?


Bei uns bekommen sie Trinkgeld. Es sind Dienstleister, und sie bekommen das Trinkgeld für ihre Freundlichkeit. Wenn jemand natürlich mürrisch sein Paket hinknallt, dann bekommt er nichts.

Der Postbote bekommt auch traditionell Trinkgeld zu Neujahr, ebenso die Zeitungsfreu; die findet es dort, wo sie sonst die Zeitung hineinsteckt, mit ein paar netten Grüßen.

Das mag altmodisch sein, lieber Calimero; aber ich vermute, daß es den Betroffenen lieber ist als das Mitgefühl "mitfühlender Konservativer" (um diesen kleinen Seitenhieb Richtung lois jane noch loszuwerden ).

Herzlich, Zettel

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

01.06.2012 15:10
#29 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von R.A.

Zitat von Zettel
Warum soll jemand, der keine Skrupel hat, über Wochen, manchmal Monate die Menschen zu belügen, mit denen er Umgang hat, auf einmal solche Skrupel haben, wenn es um die Öffentlichkeit geht?


Da bin ich eher bei louis_jane - das sind zwei sehr verschiedene Arten von Lügen. Ein verdeckter Ermittler oder ein recherchierender Journalist können durchaus mit falschen Angaben an Informationen kommen, beim Inhalt ihrer Arbeit aber völlig bei der Wahrheit bleiben.


Können, lieber R.A.; man kann das nicht ausschließen. Ich meine ja auch nur, daß allein deshalb, weil Wallraff es sagt, ich etwas noch nicht glaube.

Man muß sich einmal vorstellen, welchen Aufwand an ständiger Verlogenheit Wallraff bei seinen "Recherchen" treiben muß. Als "Ali" hat er seinen Arbeitskollegen einen Bären nach dem anderen aufgebunden, bis zu seiner angeblichen Jugend in Griechenland. Als "Neger" ist er monatelang umhergereist und hat jeden belogen, der ihm über den Weg lief. Jetzt bei dieser Geschichte hat er nicht nur seine Arbeitskollegen belogen, sondern beispielsweise auch einen Personalchef von GLS, dem er vorgespielt hat, er sei ein Bewerber für eine Führungsposition.



Dazu bedarf es, lieber R.A., doch einer bestimmten Mentalität; einer charakterlichen Anlage zur Verlogenheit. Jeder Spion braucht sie, und deshalb traut ja auch niemand einem Spion.

Man liebt den Verrat, aber nicht den Verräter. Geheimdienste lassn ihre eigenen Leute überwachen, weil sie wissen, daß einer, der ihre Gegner hinters Licht führen soll, Eigenschaften braucht, mit denen er auch sie selbst leicht hinters Licht führen kann. Wer die Eigenschaften hat, die Wallraff für seine Lügenunternehmen braucht, dem traue ich auch sonst nicht.



Hinzu kommt das linksextreme politische Engangement Wallraffs. Ob er nun mit dem MfS kooperiert hat oder nicht - jedenfalls war er beispielsweise lange Autor bei der linksextremen Zeitschrift "Konkret", die bekanntlich im Auftrag der Westabteilung der SED gegründet und von ihr finanziert wurde. Ihre Linie behielt sie auch bei, als die DDR die Finanzierung eingestellt hatte.

Auf seine Zusammenarbeit mit dem MfS-Mann Bernt Engelmann wurde bereits von jemandem in diesem Thread hingewiesen ("Ihr da oben, wir da unten" - ein klassisches Stück DDR-Propaganda).

Warum sollte also, lieber R.A., jemand, der die Lüge zu seinem Beruf gemacht hat, der sich in den Dienst einer Lügenpropaganda gestellt hat, jetzt auf einmal eine Reportage mit dem objektiven Blick des Journalisten schreiben? Ich kann mir nicht vorstellen, daß dieser Mann überhaupt einen Begriff davon hat, was faire und sachliche Berichterstattung bedeutet.

Herzlich, Zettel

Techniknörgler Offline



Beiträge: 2.738

01.06.2012 16:42
#30 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von uniquolol
@vivendi:


Unbarmherzige Logik.



Das Traurige am Eingehen auf das Todschlagargument "unbarmherzige Logik" ist, dass mit Hilfe des Adjektives "unbarmherzig" jegliche Logik als Grundlage für die weitere Diskussion für nicht valide erklärt wird.

______________________________________________________________________________

“Being right too soon is socially unacceptable.”
― Robert A. Heinlein


"Considering the exclusive right to invention as given not of natural right, but for
the benefit of society, I know well the difficulty of drawing a line between the
things which are worth to the public the embarrassment of an exclusive patent, and
those which are not."

-Thomas Jefferson

Quelle: The Public Domain, p. 21, http://www.thepublicdomain.org/download/

hubersn Offline



Beiträge: 1.342

01.06.2012 18:42
#31 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von uniquolol
Ein persönliches Gespräch mit einem Mitarbeiter von Hermes könnte hier sicherlich Aufklärung bringen.



Unser Hermes-Paketbote ist eine besonders freundliche Ausprägung der Gattung "Paketzusteller". Ich quatsche öfter mal mit ihm, er bringt uns schon seit Jahren die Hermes-Pakete. Es ist über die Jahre auch eine deutliche und stetige Qualitätssteigerung bei seinem Zustellfahrzeug zu bemerken.

Nun kann ich natürlich nicht sagen, ob er die Regel oder die Ausnahme ist. Deshalb erlaube ich mir auch kein pauschales Urteil über die Beschäftigungsverhältnisse im Paketzustellergewerbe. Mir scheint, ich gehöre damit einer Randgruppe an.

Gruß,
hubersn

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

01.06.2012 18:46
#32 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Ich persönlich nehme Paketzustelldienste nur sehr selten in Anspruch, da ich in meinem Einkaufsverhalten geradezu rückständig bin, will heißen: Ich gehe zumeist in (Fach-)Geschäfte und bestelle nicht vorrätige Ware ebenfalls dort. Ganz ohne ideologischen Hintergrund, sondern aus Gewohnheit. Der Versandhandel bringt für mich keinerlei Vorteile: Denn zu den Zeiten, zu denen der Paketzusteller kommt, bin ich nicht anwesend. Ich muss mir das Paket dann also am folgenden Tag bei der Post abholen. Ebenso gut kann ich ein Fachgeschäft aufsuchen.

Natürlich ist dies nicht repräsentativ, aber zwei entferntere Bekannte von mir haben einige Jahre lang für einen Zustelldienst gearbeitet. Beide waren damals kurz vor ihrem 50er und arbeitslos geworden. Was sie so von ihrem Alltag erzählt haben, klang eher nicht beneidenswert. Wie die Verträge zwischen Zustelldienst und Zusteller konkret ausgestaltet sind, weiß ich nicht. Ich nehme aber an, dass sie sich hinsichtlich der Interessengewichtung nicht sehr stark von den in der Systemgastronomie üblichen Franchising-Verträgen unterscheiden. Dass solche Verträge nicht in langen Verhandlungen geboren werden, ist auf den ersten Blick erkennbar.

Natürlich ist niemand rechtlich gezwungen, einen solchen Vertrag abzuschließen. Aber ein gewisser faktischer Zwang ist bei einem fünfzigjährigen Arbeitslosen, der nicht von Hartz IV leben will, nicht ganz zu verneinen. Vermutlich würden einige ganz übliche Klauseln solcher Verträge von den Gerichten als sittenwidrig beurteilt. Allerdings gelangen entsprechende Streitfälle nur selten vor Gericht und noch seltener bis zu einem Urteil. Der marktmächtige Partner findet sich lieber diskret und dann wohl auch einigermaßen großzügig mit dem einzelnen Kläger ab, als ein Urteil zu riskieren, das das gesamte System in Frage stellen würde.

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

01.06.2012 21:30
#33 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von Noricus

Natürlich ist niemand rechtlich gezwungen, einen solchen Vertrag abzuschließen. Aber ein gewisser faktischer Zwang ist bei einem fünfzigjährigen Arbeitslosen, der nicht von Hartz IV leben will, nicht ganz zu verneinen.


Warum denn nicht? Welche Fakten sind es denn, die Ihn "zwingen"? Dass er keine Arbeit hat, soll ihn nicht zwingen, eine aufzunehmen? Aber seine Mitbürger werden gezwungen, seinen Lebensunterhalt - durch Arbeit - an seiner statt aufzubringen? Und wenn er dies nicht möchte und diesen selbst bestreiten will - durch Arbeit - wird er wieder gezwungen? Aber von wem?
Einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, scheint mir nach dieser Logik generell ein Zwang zu sein.
Bei genauerer Betrachtung sollen aber die Kuriere gezwungen werden, dort nicht zu arbeiten. Schon gar nicht als Selbständige, weil das den Gewerkschaften den Zugang versperrt. Also werden sie zu Scheinselbständigen. Ist dies geschafft werden sie wieder im Schoß der staatlichen Rundumbeglückung aufgenommen, als Arbeitslose, in einer Maßnahme oder als ein-Euro-Jobber.

Zitat von Noricus
Vermutlich würden einige ganz übliche Klauseln solcher Verträge von den Gerichten als sittenwidrig beurteilt.


Gibt es keine Vertragsfreiheit mehr? Werden Verträge auf bloßen Verdacht hin, sittenwidrig? Sind wir den Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit gegangen, um ihn zurückzugehen?
Dürfen andere besser wissen was für uns das Beste ist?

Zitat von Noricus
Allerdings gelangen entsprechende Streitfälle nur selten vor Gericht und noch seltener bis zu einem Urteil. Der marktmächtige Partner findet sich lieber diskret und dann wohl auch einigermaßen großzügig mit dem einzelnen Kläger ab, als ein Urteil zu riskieren, das das gesamte System in Frage stellen würde.


Und darum pfeifen wir auf das Rechtssystem und verurteilen einen Wettbewerber der einem Staatskonzern die Kunden wegschnappt und den Gewerkschaften nicht die Schuhe küsst.
Weil ein Klassenkämpfer mit Kontakten zum mörderischen Unterdrückungsapparat einer Diktatur es so mutmaßt?

Viele Grüße, Erling Plaethe

F.Alfonzo Offline



Beiträge: 2.257

02.06.2012 01:16
#34 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von Zettel
Warum sollte also, lieber R.A., jemand, der die Lüge zu seinem Beruf gemacht hat, der sich in den Dienst einer Lügenpropaganda gestellt hat, jetzt auf einmal eine Reportage mit dem objektiven Blick des Journalisten schreiben? Ich kann mir nicht vorstellen, daß dieser Mann überhaupt einen Begriff davon hat, was faire und sachliche Berichterstattung bedeutet.



Was man darueber hinaus nicht vergessen sollte, ist der Wert des Produkts "Achtung Wallraff" , das kam hier noch gar nicht zur Sprache. Nehmen wir an, er wuerde sich vertretbarer Methoden bedienen und haette keine linke Agenda... koennte man ihm dann glauben?
Ich sage nein, denn der Mann Macht den Zirkus ja nicht zum Spass, sondern um sein Produkt zu verkaufen.... und "alte Menschen werden systematisch fertiggemacht" verkauft sich besser als "alles ist ok, von Einzelfaellen abgesehen". Typische "Dokumentation" halt.

Wallraff ist der deutsche Michael Moore.

Fonzo

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

02.06.2012 07:32
#35 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von Erling Plaethe

Einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, scheint mir nach dieser Logik generell ein Zwang zu sein.



Vielleicht täusche ich mich ja und die meisten Leute gehen deshalb arbeiten, weil sie es überdrüssig sind, den ganzen Tag in der Schatzkammer ihres Renaissance-Schlosses zu sitzen und Goldbarren zu polieren.

Zitat von Erling Plaethe

Bei genauerer Betrachtung sollen aber die Kuriere gezwungen werden, dort nicht zu arbeiten. Schon gar nicht als Selbständige, weil das den Gewerkschaften den Zugang versperrt. Also werden sie zu Scheinselbständigen.



Wie schon gesagt, kenne ich die konkreten Klauseln der Verträge zwischen den Zustelldiensten und den Kurieren nicht. In den von mir genannten, mir bekannten Franchising-Verträgen verpflichtet sich der Franchise-Nehmer, seine gesamte Arbeitskraft in das betreffende Unternehmen zu stecken und keine Nebentätigkeit auszuüben. Überdies verpflichtet er sich, nur Produkte aus dem Programm des Franchise-Gebers zu verkaufen. Bei einer solchen Vertragsgestaltung fällt es schwer, noch von einem typischen Selbständigen zu sprechen und nicht Assoziationen zum Typus des Arbeitnehmers zu hegen. Die sog. Scheinselbständigen heißen offiziell "arbeitnehmerähnliche Selbständige". Es sind also Selbständige, aber mit einigen Merkmalen, durch die sie sich Arbeitnehmern annähern.

Ob es richtig ist, dass der Gesetzgeber hier einen intermediären Typus positiviert hat, ist eine ganz andere Frage. Aber dass es zwischen typischen und arbeitnehmerähnlichen Selbständigen de facto gravierende Unterschiede gibt, liegt auf der Hand. Und diese faktischen Unterschiede sind keine Erfindung der Gewerkschaften.

Zitat von Erling Plaethe

Gibt es keine Vertragsfreiheit mehr? Werden Verträge auf bloßen Verdacht hin, sittenwidrig?



Es sind immer nur konkrete Verträge bzw. einzelne Vertragsklauseln sittenwidrig. Und meine Einschätzung der Sittenwidrigkeit einzelner üblicher Vertragsklauseln orientiert sich an der Rechtsprechung.
Warum es in der von mir genannten Branche kaum zu entsprechenden Urteilen kommt, habe ich dargetan. Diese außergerichtlichen Abfindungsvereinbarungen liegen dabei durchaus im Interesse beider Parteien. Der Franchise-Nehmer bekommt mehr, als ihm das Gericht zusprechen würde. Der Franchise-Geber riskiert nicht, dass er sein ihm sehr zuträgliches Geschäftsmodell aufgeben muss.

Was mich wirklich interessieren würde: Einerseits wird es missbilligt, wenn unser 50-jähriger Arbeitsloser von Hartz IV lebt. Es gibt also - formulieren wir es mal so - eine gesellschaftliche Erwartung, dass er einer Erwerbstätigkeit nachgeht. Bei realistischer Betrachtung hat er in seinem Alter nicht mehr allzu viele Möglichkeiten, irgendwo unterzukommen. Was soll er also tun, wenn er einen Vertrag vorgelegt bekommt, der einseitig auf die Interessen seines potenziellen Vertragspartners zugeschnitten ist? Ihn unterschreiben, um seinen Mitbürgern nicht mehr auf der Tasche zu liegen? Oder, wenn er bezüglich der Klauseln des Vertrages Bauchschmerzen hat, von seiner Vertragsfreiheit Gebrauch machen und nicht abschließen? Und damit weiterhin Hartz IV beziehen?

Zitat von Erling Plaethe

Und darum pfeifen wir auf das Rechtssystem und verurteilen einen Wettbewerber der einem Staatskonzern die Kunden wegschnappt und den Gewerkschaften nicht die Schuhe küsst.
Weil ein Klassenkämpfer mit Kontakten zum mörderischen Unterdrückungsapparat einer Diktatur es so mutmaßt?



Nein, wir pfeifen nur dann auf das Rechtssystem und beklagen das Ende der Vertragsfreiheit, wenn das Rechtssystem so unartige Dinge wie die Nichtigkeit sittenwidriger Vertragsklauseln aufweist. Für rechtshistorisch Interessierte: Die Sittenwidrigkeit ist keine Erfindung mitfühlender moderner Juristen, sie wurde vielmehr von den ganz und gar nicht mitfühlenden, durch den Kontakt mit lateinunkundigen Barbaren zu Zivilrechtspragmatikern gewordenen Römern entwickelt (boni mores). Der praetor peregrinus ist also schuld.

Lieber Erling Plaethe, ich habe keinerlei Sympathien für Herrn Wallraff und ich teile Zettels Ansicht, dass er sich mit Bedacht eine Branche ausgesucht hat, die im Bewusstsein vieler Menschen als Sinnbild für den bösen Kapitalismus steht. Ebenso habe ich keinerlei Sympathien für einen Staatskonzern, insbesondere nicht für diesen Staatskonzern, und will diesen nicht vor seinen Mitbewerbern schützen.
Meine Vermutung ist, dass einige Klauseln in den betreffenden Kurier-Verträgen die Sittenwidrigkeitskontrolle nicht bestehen würden. Dafür wäre aber jedenfalls Voraussetzung, dass eine Klage eingebracht wird, die bis zum Urteil aufrechterhalten wird. Was mit anderen Worten bedeutet, dass es wohl nicht eines Eingreifens des Gesetzgebers bedarf, um die Kuriere vor den behaupteten Missständen - so es diese gibt - zu schützen. Mich würde aus rein fachlichen Gründen natürlich ein entsprechendes höchstgerichtliches Urteil interessieren, ganz egal, ob es auf Sittenwidrigkeit erkennt oder nicht.

Andererseits kann ich auch nicht nachvollziehen, dass man in jedem Hinweis auf die einseitige Interessenverlagerung bestimmter Vertragsmodelle einen Angriff auf die zivilrechtliche Privatautonomie sieht und dass man die besondere Zwangslage ausblendet, in der sich ein älterer Arbeitsloser bei der Arbeitssuche befindet. Das wirkt auf mich so, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.

lois jane Offline



Beiträge: 662

02.06.2012 08:57
#36 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von Zettel

Zitat von lois jane
Und es sind zwei paar Schuhe, ob sich Wallraff mithilfe von Lügen irgendwo einschleicht (was aber meistens nicht Hochstapelei ist) und ob seine Reportagen einseitig bzw. gelogen sind. Beides kann man kritisieren, aber das eine führt nicht zum anderen.

Warum soll jemand, der keine Skrupel hat, über Wochen, manchmal Monate die Menschen zu belügen, mit denen er Umgang hat, auf einmal solche Skrupel haben, wenn es um die Öffentlichkeit geht?

...

Wenn. Aber ich kann nicht nachvollziehen, wieso Sie anscheinend glauben, daß die Zustände so sind, wie Wallraff es uns glauben machen will, nur weil Wallraff es uns glauben machen will.




Sie verwechseln da zwei Dinge: ob ich Walraff glaube, tut nichts zur Sache. (Zur Info: ich glaube ihm ohne weitere Belege nicht.)

Nur die simple Gleichung "Er schleicht sich durch Lügen ein, also sind auch die Reportagen Lügen" kann so nicht gelten. (Konsequenterweise sollten sie dann auch keinen roten Heller auf Analysevon Stratfor geben, dessen Mitarbeiter ja auch nicht allenthalben die Wahrheit sagen (und schlimmeres tun), was Sie damals allerdings als völlig legitim und unproblematisch hingestellt haben.

Zitat
Wie ich schon geschrieben habe, liebe lois jane - wenn es Mißstände gibt, dann müssen sie behoben werden; indem die Einhaltung von Gesetzen durchgesetzt wird, vielleicht müssen auch Vorschriften geändert werden.



Da sind sie immerhin schon weiter als andere hier, für die "aber die machen das doch alle freiwillig" schon das Ende jedweder Skrupel ist.

"Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande!"
Und nimm den Staat weg, dann bleiben unorganisierte Räuber zurück!

lois jane Offline



Beiträge: 662

02.06.2012 09:11
#37 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Und insbesondere Vogelfrei sei gesagt, daß es doch gar nicht um einen juristischen Zwang geht, arbeiten zu müssen. Das ist die typisch liberale Scheindebatte, die nur Freiheit oder Nicht-Freiheit kennt.

"Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande!"
Und nimm den Staat weg, dann bleiben unorganisierte Räuber zurück!

lois jane Offline



Beiträge: 662

02.06.2012 09:15
#38 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von Zettel
Das mag altmodisch sein, lieber Calimero; aber ich vermute, daß es den Betroffenen lieber ist als das Mitgefühl "mitfühlender Konservativer" (um diesen kleinen Seitenhieb Richtung lois jane noch loszuwerden ).



Ich mag ja das Trinkgeldgeben hier etwas schrullig finden, aber auf eine irgendwo sympathische Art. (Solange es nicht eingefordert wird wie etwa in Frankreich.) Zum Ausgleich muß wohl der Seitenhieb sein.

Wissen Sie, von einer theoretisch erhobenen Forderung "wo Mißstände sind, da muss man was tun" hat niemand etwas, genauso wenig von Freiheitsreden.

"Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande!"
Und nimm den Staat weg, dann bleiben unorganisierte Räuber zurück!

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

02.06.2012 12:09
#39 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von Noricus

Vielleicht täusche ich mich ja und die meisten Leute gehen deshalb arbeiten, weil sie es überdrüssig sind, den ganzen Tag in der Schatzkammer ihres Renaissance-Schlosses zu sitzen und Goldbarren zu polieren.


Nein, das ist auch mein Eindruck. Wer einer Arbeit nachgeht, die er verkaufen kann, tut es, um sich seine Eigenständigkeit zu bewahren. Nicht um "Geld zu machen". Millionen von Hartz IV Empfängern haben sich aber entschieden, dieses bürgerliche Leben abzulehnen. Da haben sie schon mal eine Gemeinsamkeit mit dem Goldbarren putzenden Schloßbesitzer.

Zitat von Noricus
Wie schon gesagt, kenne ich die konkreten Klauseln der Verträge zwischen den Zustelldiensten und den Kurieren nicht. In den von mir genannten, mir bekannten Franchising-Verträgen verpflichtet sich der Franchise-Nehmer, seine gesamte Arbeitskraft in das betreffende Unternehmen zu stecken und keine Nebentätigkeit auszuüben. Überdies verpflichtet er sich, nur Produkte aus dem Programm des Franchise-Gebers zu verkaufen. Bei einer solchen Vertragsgestaltung fällt es schwer, noch von einem typischen Selbständigen zu sprechen und nicht Assoziationen zum Typus des Arbeitnehmers zu hegen. Die sog. Scheinselbständigen heißen offiziell "arbeitnehmerähnliche Selbständige". Es sind also Selbständige, aber mit einigen Merkmalen, durch die sie sich Arbeitnehmern annähern.


Ein Francise-Nehmer erwirbt ja die Produkte, von wem, ist doch seine Sache.
Wenn ich als Unternehmer mit Bio-Produkten von Terra beliefert werden möchte, muss ich mich auch vertraglich verpflichten nur bei Terra einzukaufen.
Vielleicht schliesst der Francise-Nehmer ja ganz bewusst einen solchen Vertrag, weil er die günstigsten Konditionen für ihn bietet.
Das Problem welches sich hier auftut ist, das dritte darüber befinden, ob man selbständig ist. Hier wird die Vertragsfreiheit verletzt wie auch die Berufsfreiheit.
Hat er Kündigungsschutz? Hat er Urlaubsanspruch? Trägt er die Kosten seiner Arbeitskraft selbst? Arbeitet er auf eigenes Risiko, d.h. trägt er die Verluste, welche entstehen, wenn er nicht erfolgreich ist?

Zitat von Noricus
Ob es richtig ist, dass der Gesetzgeber hier einen intermediären Typus positiviert hat, ist eine ganz andere Frage.


Diese Frage liegt der Thematik zugrunde. Und der Gesetzgeber musste ja auch schon zurückrudern, Paragraphen streichen und die Beweislast umkehren. Bei dieser Frage endet die Marktwirtschaft.
Es geht ausschliesslich um die Einnahmen aus der Sozialversicherung. Es ist ein Gesetz, dass den Eintritt in die Selbständigkeit erschweren, bzw. unmöglich machen soll. Wer keine Aufträge bekommt, kann auch nicht selbständig sein. Und so muss dieser, wenn denn ein freier Mitarbeiter oder Franciser als Arbeitnehmer entlarvt wurde, obwohl er nie die Wohltaten in Form von Arbeitnehmerrechten genoss, drei Monate rückwirkend die Beiträge nachzahlen.
Der Auftraggeber aber, nun zum Arbeitgeber mutiert, 30 Jahre rückwirkend. Das soll abschrecken und das tut es auch. Aber es reicht nicht. Also wird eine weitere Keule herausgeholt, und diejenigen, welche immer noch glauben wir leben in einer Art Kapitalismus, kriminalisiert, als Schwarzarbeiter, Beitragshinterzieher und Sozialbetrüger.
Was hier deutlich wird, ist die antikapitalistische Grundausrichtung des Sozialstaatsprinzips.

Zitat von Noricus
Aber dass es zwischen typischen und arbeitnehmerähnlichen Selbständigen de facto gravierende Unterschiede gibt, liegt auf der Hand. Und diese faktischen Unterschiede sind keine Erfindung der Gewerkschaften.


Keine Frage, diese Unterschiede gibt es. Wie es auch Unterschiede gibt, zwischen Unternehmen welche ausschließlich Aufträge vom Staat erhalten und anderen welche sich täglich dem Wettbewerb stellen müssen.

Zitat von Noricus
Es sind immer nur konkrete Verträge bzw. einzelne Vertragsklauseln sittenwidrig. Und meine Einschätzung der Sittenwidrigkeit einzelner üblicher Vertragsklauseln orientiert sich an der Rechtsprechung.
Warum es in der von mir genannten Branche kaum zu entsprechenden Urteilen kommt, habe ich dargetan. Diese außergerichtlichen Abfindungsvereinbarungen liegen dabei durchaus im Interesse beider Parteien. Der Franchise-Nehmer bekommt mehr, als ihm das Gericht zusprechen würde. Der Franchise-Geber riskiert nicht, dass er sein ihm sehr zuträgliches Geschäftsmodell aufgeben muss.


Natürlich, ich habe mich an diesem Punkt etwas unpräzise ausgedrückt.

Zitat von Noricus
Was mich wirklich interessieren würde: Einerseits wird es missbilligt, wenn unser 50-jähriger Arbeitsloser von Hartz IV lebt. Es gibt also - formulieren wir es mal so - eine gesellschaftliche Erwartung, dass er einer Erwerbstätigkeit nachgeht. Bei realistischer Betrachtung hat er in seinem Alter nicht mehr allzu viele Möglichkeiten, irgendwo unterzukommen. Was soll er also tun, wenn er einen Vertrag vorgelegt bekommt, der einseitig auf die Interessen seines potenziellen Vertragspartners zugeschnitten ist? Ihn unterschreiben, um seinen Mitbürgern nicht mehr auf der Tasche zu liegen? Oder, wenn er bezüglich der Klauseln des Vertrages Bauchschmerzen hat, von seiner Vertragsfreiheit Gebrauch machen und nicht abschließen? Und damit weiterhin Hartz IV beziehen?


Er sollte sich fachlichen Beistand holen. Wenn beide Seiten ein Interesse am Zustandekommen des Vertrages haben, ich sage ausdrücklich wenn, sollte auch der Auftraggeber oder Francise-Geber ein Interesse an einem wasserdichten Vertrag haben. Schliesslich trägt er das größere Risiko, wie von mir oben beschrieben.
Dieses unsägliche Gesetz musste über die Jahre entschärft werden, beide Vertragsparteien sind also keinesfalls staatlicher Willkür ausgeliefert, um das auch mal klar zu sagen.
Wenn allerdings eine solche vertragliche Einigung in beiderseitigem Einvernehmen nicht zustande kommt, sollte sich der freie Mitarbeiter einen anderen Partner suchen. Dafür, dies zu tun, ist er ja frei.

Zitat von Noricus
Für rechtshistorisch Interessierte: Die Sittenwidrigkeit ist keine Erfindung mitfühlender moderner Juristen, sie wurde vielmehr von den ganz und gar nicht mitfühlenden, durch den Kontakt mit lateinunkundigen Barbaren zu Zivilrechtspragmatikern gewordenen Römern entwickelt (boni mores). Der praetor peregrinus ist also schuld.


Vielen Dank, lieber Noricus, für die historische Herkunft des Grundsatzes der Sittenwidrigkeit. Eine Frage, die ich mir schon seit geraumer Zeit stelle, der ich aber nie auf den Grund gegangen bin.

Zitat von Noricus
Andererseits kann ich auch nicht nachvollziehen, dass man in jedem Hinweis auf die einseitige Interessenverlagerung bestimmter Vertragsmodelle einen Angriff auf die zivilrechtliche Privatautonomie sieht und dass man die besondere Zwangslage ausblendet, in der sich ein älterer Arbeitsloser bei der Arbeitssuche befindet. Das wirkt auf mich so, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.


Möglicherweise kommt dies daher, weil die staatliche Einflussnahme m.E. in Deutschland überhand nimmt und seit geraumer Zeit, konkret, seit Implementierung des Sozialstaats, zu stark ausgeprägt ist. Ich kann einfach keine Zwangslage erkennen, außer der, welche durch die Eingriffe in Vertragsfreiheit und Berufsfreiheit entstehen.
Der Schutz der Arbeiter stand ja auch angeblich für Bismarck während der Einführung der Sozialgesetze im Vordergrund, dabei wollte er sie lediglich bestechen um Einnahmen für ein sich ausbreitendes Staatswesen zu generieren. Daran hat sich leider nicht viel geändert. Auch nicht, dass meist die Interessen des Staates, der Gewerkschaften und staatlicher Wirtschaftsbetriebe in Gesetzen ihre Entsprechung finden, die den angeblich zu Schützenden mehr schaden als nutzen. Der Mindestlohn, welcher in diesem besprochenen Fall eine Nebenrolle spielt, ist ein weiteres Beispiel.
Der Gesetzgeber zwingt Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu ihrem Glück. Die Einen in Sozialversicherungen und die Anderen in Kammern.
Die freien Mitarbeiter, die Freelancer, haben ein besonders schweres Los, zugegeben freiwillig, erhalten. Sie sitzen buchstäblich zwischen allen Stühlen und werden von allen Seiten attackiert. Viele von ihnen schätzen vor allem ihre Unabhängigkeit und das ruft auch Neid hervor, von Arbeitgebern wie von Arbeitnehmern. Sie haben keine Lobby. Sie vertreten nur sich selbst. Sie sind, wenn man so will, rudimentäre Reste einer längst vergangenen Zeit. Der des klassischen Liberalismus, zu Beginn der industriellen Revolution. Als eher wirtschaftsliberal denkender, gehört ihnen deshalb meine volle Sympathie.

Viele Grüße, Erling Plaethe

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

02.06.2012 12:58
#40 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Lieber Erling Plaethe,

für mich liegt der eigentliche Skandal darin, dass der Gesetzgeber eine allgemeine, also auch für Selbständige verbindliche Kranken- und Pflegeversicherungspflicht geschaffen hat, ohne sich darum zu kümmern, ob sich die damit beglückten Selbständigen diese Tarife überhaupt leisten können. Ca. 300 Euro pro Monat in der gesetzlichen KV, kaum weniger in der privaten, die sich ja eigentlich dank Wettbewerb durch günstige Tarife auszeichnen sollte. Dann noch für bestimmte Berufe Rentenversicherungspflicht in Höhe von 19,6 %. Das ist Selbständigkeitsverhinderungspolitik.

LG Noricus

Rayson Offline




Beiträge: 2.367

02.06.2012 13:13
#41 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von Noricus
Die sog. Scheinselbständigen heißen offiziell "arbeitnehmerähnliche Selbständige".

Nein. Das sind zwei unterschiedliche Kategorien. Der "arbeitnehmerähnliche Selbständige" ist als Selbständiger anerkannt, d.h. es gibt keinen Arbeitgeber, der dann vielleicht Arbeitgeberbeiträge nachzuzahlen hätte (was beim "Scheinselbständigen" der Fall wäre). Die einzig relevante Rechtsfolge der Einstufung als "arbeitnehmerähnlicher Selbständiger" ist die Rentenversicherungspflicht für den Selbständigen (voller Betrag).

Um als "arbeitnehmerähnlicher Selbständiger" angesehen zu werden, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: 1. Keine Beschäftigung sozialversicherungspflichtiger Mitarbeiter. 2. Tätigkeit im Wesentlichen und auf Dauer für nur einen Auftraggeber.

Die entsprechende Vorschrift (§ 2 Satz 1 Nr. 9 SGB VI) gehört so mit zu den dämlichsten Auswüchsen unseres "Sozialstaates". Gerade als "Ein-Mann-Selbständiger" ist man froh, wenn man z.B. mit Aufträgen aus einem Großkonzern gut ausgelastet ist. Warum das eine Rentenversicherungspflicht für den Selbständigen zur Folge haben soll, erschließt sich dem unbefangenen Betrachter nicht so recht. Als Folge müsste ein solcher Selbständiger höhere Preise verlangen als einer, der von zwei Großauftraggebern ausgelastet wird. Der tiefere Sinn dahinter muss irgendwo in der Rentenversicherungsbürokratie verloren gegangen sein.

Sowas nervt mich deswegen, weil ich selbst aufpassen muss, nicht in solche Fallen zu tappen. Ich bin als Berater immer wieder in Projekte bei größeren Unternehmen eingebunden. Normalerweise erfolgt der Erstauftrag immer über drei bis sechs Monate, was mir sehr recht ist. Doch leider war es bisher immer so, dass mich der Auftraggeber bekniet hat, doch noch drei Monate dranzuhängen. Und dann noch drei Monate usw. Soll ich dem dann sagen: Nee, sorry, Kunde droht mit Auftrag, ich darf nicht, weil ich sonst 20% von meinem Brutto in den Rachen eines maroden Systems werfen muss? Oder: Astrein, ich erhöhe dann mal von diesem Moment bis in unabsehbare Zukunft meinen Preis um 20%? Super Marktpositionierung!

Es ist eben nicht so, dass der "arbeitnehmerähnliche Selbständige" sich vom "normalen" so eklatant unterscheiden muss. Ob ich für drei, zwei oder nur ein Unternehmen in einem bestimmten Zeitraum tätig bin, änderte bisher überhaupt nichts an meinem Status nach außen, insbesondere auch gegenüber den Unternehmen nicht. Dass der Gesetzgeber bei sowas in meine Vertragsgestaltung eingreift, ist durch nichts gerechtfertigt.

Und zum "Mitfühlen": Mitfühlen ist gut, aber wenn es darum geht, Handlungsalternativen aufzuzeigen, sollte besser wieder der Kopf die Kontrolle übernehmen. Und dann denken wir doch mal in Alternativen: Ist die zum "sittenwidrigen" Lohn und zu langen Arbeitszeiten denn der Tarifarbeitsplatz? Oder nicht doch die Arbeitslosigkeit? Ist es ein moralisches Defizit des Arbeitgebers, so solchen Bedingungen Jobs anzubieten, die offensichtlich vielen Leuten attraktiver sind als eben die Arbeitslosigkeit? Oder sollte dieser Arbeitgeber lieber darauf verzichten? Und ist es die Aufgabe des Staates, immer wieder in freiwillig abgeschlossene Verträge einzugreifen und das Anbieten von Arbeitsplätzen damit unattraktiver zu machen, statt dafür zu sorgen, dass sich viele Unternehmen im Wettbewerb um die Arbeitskräfte bemühen können?

Oder geht es darum, sich eine Idealwelt zurechtzuwünschen und die Wirklichkeit daran zu messen?

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L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat)

Rayson Offline




Beiträge: 2.367

02.06.2012 13:18
#42 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von Noricus
Ca. 300 Euro pro Monat in der gesetzlichen KV,

Wie das? 15,5% KV + 1,95 (+0,25%) PV, das sind in der Spitze weit mehr als 300 Euro...

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L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat)

Noricus Offline



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02.06.2012 13:33
#43 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von Rayson

Zitat von Noricus
Ca. 300 Euro pro Monat in der gesetzlichen KV,

Wie das? 15,5% KV + 1,95 (+0,25%) PV, das sind in der Spitze weit mehr als 300 Euro...




Die Pflegeversicherung ist in den rund EUR 300 nicht inkludiert. Aber für die gesetzliche KV allein sind ca. EUR 300 das Minimum, nämlich 14,9 % (ohne Krankengeld) von EUR 1968,75. Wie gesagt: das Minimum. Wer mehr als EUR 1968,75 verdient, zahlt natürlich mehr, wobei der Beitrag dann immerhin proportional zum Einkommen ist. Wer weniger als EUR 1968,75 verdient, zahlt jedenfalls überproportional. Übrigens mit dem Segen des Bundesverfassungsgerichts, dessen entsprechende Entscheidung von Sachunkenntnis nur so strotzt.

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

02.06.2012 13:57
#44 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von Rayson

Zitat von Noricus
Die sog. Scheinselbständigen heißen offiziell "arbeitnehmerähnliche Selbständige".

Nein. Das sind zwei unterschiedliche Kategorien. Der "arbeitnehmerähnliche Selbständige" ist als Selbständiger anerkannt, d.h. es gibt keinen Arbeitgeber, der dann vielleicht Arbeitgeberbeiträge nachzuzahlen hätte (was beim "Scheinselbständigen" der Fall wäre). Die einzig relevante Rechtsfolge der Einstufung als "arbeitnehmerähnlicher Selbständiger" ist die Rentenversicherungspflicht für den Selbständigen (voller Betrag).




Ja, da haben Sie Recht. Im Sozialversicherungsrecht dilettiere ich. Aber geht es bei den Kurieren um Scheinselbständigkeit oder nicht eher um Arbeitnehmerähnlichkeit?

Danke auch für die Schilderung Ihrer eigenen Situation, die durchaus zum Nachdenken anregende Perspektiven eröffnet. Glauben Sie mir, ich bin wirklich kein Freund des geltenden Sozialversicherungssystems und es geht mir nicht darum, jemand in dieses System hineinzupressen. Was Sie von den von mir geschilderten Fällen unterscheidet, ist z.B. das Fehlen eines Nebentätigkeitsverbots (nehme ich mal an). Natürlich kann man sich auf den Standpunkt stellen, wer eine solche Klausel unterschreibe, müsse auch die Folgen tragen. Aber ist das auf Dauer, z.B. bei einem auf 12 Jahre abgeschlossenen Vertrag, nicht eine zu große Beschränkung der unternehmerischen Freiheit des durch die Klausel Verpflichteten, den diese Klausel evtl. nach einigen Jahren an einer Vermehrung seines Erfolgs hindert? Was soll man dann tun: dem Verpflichteten für solche Fälle ein außerordentliches Kündigungsrecht gewähren, d.h. die Behinderung durch die genannte Klausel als wichtigen Grund für eine derartige Vertragsbeendigung ansehen?

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

02.06.2012 14:06
#45 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von lois jane
Sie verwechseln da zwei Dinge: ob ich Walraff glaube, tut nichts zur Sache. (Zur Info: ich glaube ihm ohne weitere Belege nicht.)

Nur die simple Gleichung "Er schleicht sich durch Lügen ein, also sind auch die Reportagen Lügen" kann so nicht gelten.

Es wäre keine Gleichung, sondern eine Implikation.

Aber diese Implikation postuliere ich doch gar nicht, liebe lois jane. Ich habe das schon in meiner Antwort an R.A. dargelegt: Meine Implikation lautet: Wenn jemand berufsmäßig lügt, dann begründet das eine hinreichende Vermutung, daß er auch in seinen Reportagen lügt. Hinreichend, um etwas allein nicht deshalb zu glauben, weil er es schreibt.

Hinreichende Vermutung. Das Beispiel war - vielleicht mögen sie es nachlesen - der Spion, dem in der Regel sein eigener Geheimndienst auch nicht traut, sondern den er überwachen und überprüfen läßt.

Oder, kürzer gesagt: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, wenn er auch die Wahrheit spricht.

Herzlich, Zettel

Vogelfrei ( gelöscht )
Beiträge:

02.06.2012 14:10
#46 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von lois jane
Und insbesondere Vogelfrei sei gesagt, daß es doch gar nicht um einen juristischen Zwang geht, arbeiten zu müssen. Das ist die typisch liberale Scheindebatte, die nur Freiheit oder Nicht-Freiheit kennt.


Dann sind Sie vielleicht so nett und klären mich auf? Welcher "faktische Zwang" zum Arbeiten herrscht denn hier in Deutschland? Wir haben eine soziale Daunendecke die jeden, aber auch wirklich jeden auffängt - und wer es sich in ihr gemütlich macht, lebt immer noch besser als schätzungsweise 75 % der Weltbevölkerung... Was also zwingt einem zum Arbeiten, außer dem eigenen Willen sich nicht von anderen aushalten zu lassen. Und warum wollen Sie - voller Mitgefühl - diejenigen dann abhalten, zu den selbst gewählten Bedingungen, zu arbeiten?

Grüße

vivendi Offline



Beiträge: 663

02.06.2012 14:17
#47 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von Erling Plaethe
[quote="Noricus"]
Wenn ich als Unternehmer mit Bio-Produkten von Terra beliefert werden möchte, muss ich mich auch vertraglich verpflichten nur bei Terra einzukaufen.
Vielleicht schliesst der Francise-Nehmer ja ganz bewusst einen solchen Vertrag, weil er die günstigsten Konditionen für ihn bietet.



Ein Franchise-Nehmer von McDonald hat praktisch keine Freiheiten, ausser dass er seinen eigenen Gewinn einstreichen darf und seinen eigenen Verlust decken muss.

Wo er seinen Laden hinstellen will (typischerweise in Städten dort,wo die Immobilienpreise hoch sind), wie das Gebäude oder die Fassade aussieht, wie die Inneneinrichtung aussieht, welches Personal er einstellt (positive Diskriminierung), von wem er das Fleisch und die Brötchen bezieht, all da ist im Vertrag festgelegt. Dafür profitiert er vom Marketing, dem Image und dem erprobten und gewinnsicheren Konzept des Franchise-Gebers.
Es steht natürlich jedermann frei, das Konzept nachzuahmen und auf eine Franchise zu verzichten. Offenbar läuft das nicht so gut, es gibt kaum erfolgreiche Nachahmer. In unserer Grossstadt, in der bei Touristen berühmten Fussgängerzone gleich vor dem Bahnhof stehen sich Wendy's und McDonald Aug' in Aug' direkt gegenüber. Während zur Mittagszeit bei McDo die Menschen bis auf die Strasse Schlange stehen, findet man bei Wendy's fast immer einen Sitzplatz. Nun kann mir niemand weis machen, dass die Cheeseburger auf der einen Strassenseite besser schmecken als auf der anderen.
Fazit: Die unternehmerische Freiheit ist gewahrt, niemand wird gezwungen.

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

02.06.2012 14:49
#48 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von vivendi

Zitat von Erling Plaethe
[quote="Noricus"]
Wenn ich als Unternehmer mit Bio-Produkten von Terra beliefert werden möchte, muss ich mich auch vertraglich verpflichten nur bei Terra einzukaufen.
Vielleicht schliesst der Francise-Nehmer ja ganz bewusst einen solchen Vertrag, weil er die günstigsten Konditionen für ihn bietet.



Ein Franchise-Nehmer von McDonald hat praktisch keine Freiheiten, ausser dass er seinen eigenen Gewinn einstreichen darf und seinen eigenen Verlust decken muss.

Wo er seinen Laden hinstellen will (typischerweise in Städten dort,wo die Immobilienpreise hoch sind), wie das Gebäude oder die Fassade aussieht, wie die Inneneinrichtung aussieht, welches Personal er einstellt (positive Diskriminierung), von wem er das Fleisch und die Brötchen bezieht, all da ist im Vertrag festgelegt. Dafür profitiert er vom Marketing, dem Image und dem erprobten und gewinnsicheren Konzept des Franchise-Gebers.
Es steht natürlich jedermann frei, das Konzept nachzuahmen und auf eine Franchise zu verzichten. Offenbar läuft das nicht so gut, es gibt kaum erfolgreiche Nachahmer. In unserer Grossstadt, in der bei Touristen berühmten Fussgängerzone gleich vor dem Bahnhof stehen sich Wendy's und McDonald Aug' in Aug' direkt gegenüber. Während zur Mittagszeit bei McDo die Menschen bis auf die Strasse Schlange stehen, findet man bei Wendy's fast immer einen Sitzplatz. Nun kann mir niemand weis machen, dass die Cheeseburger auf der einen Strassenseite besser schmecken als auf der anderen.
Fazit: Die unternehmerische Freiheit ist gewahrt, niemand wird gezwungen.



Genau. An Mc Donald's dachte ich auch und an PADI-Diveshops. Der Franciser ist nämlich auch Lizensnehmer. Ihm wird die Kundenakquise erleichtert. Das ist die Gegenleistung.
Aber ich will jetzt nicht eine geschlossene Büchse erneut öffnen.
Francising hat sich bei Ketten einfach bewährt. Selbst der Wienerwald hat das realisiert.

Viele Grüße, Erling Plaethe

jordroek Offline



Beiträge: 10

02.06.2012 14:59
#49 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Wieso schließen Sie von der Tatsache, dass Wallraff eine Identität erfindet, darauf, dass er lügt? Ich kann da absolut keinen Zusammenhang erkennen. Mir scheint es viel mehr so, dass Sie, weil Ihnen das Ergbnis nicht gefällt, formale Gründe anführen. Das passt nicht in Ihre Welt, in der der Markt und "ökonomische Vernunft" immer Recht haben und alle Individuen autonom und in eine keine Machtverhältnisse eingebunden sind. (Wenn die Betroffenen dann von ihrem Recht Gebrauch machen und von Hartz IV leben, ist es natürlich auch wieder falsch. Dann sind sie faule Säcke, die sich von einem "maroden" Sozialsystem alimentieren lassen)
Würden Sie die gleiche Skepsis teilen wenn jemand undercover die (bestimmt vorhandenen) Postschiebereien und Machenschaften in Gewerkschaften o.Ä. analysiert?

Behaupten Sie ernsthaft, Wallraff hätte alles, was er in dem Artikel schreibt, erlogen? Er war ja immerhin an mehreren Paketdepots und hat mit verschidenen Leuten geredet. Sie gehen ja überhaupt nicht auf das Sachproblem ein. Ihnen reicht der Verweis darauf, dass es eben keine seriösen Daten gibt und die GLS-Angestellten (bzw. die Angestellten der Subunternehmer) dann wohl Pech haben. Ich glaube ihre Skepsis rührt einfach daher, dass das, was Wallraff feststellt, einfach nicht in ihr schönes buntes liberales Bild passt, in der der Staat immer der Böse und der Markt Gott ist. Jede Kritik wkrd entweder als Öko-Faschismus oder Stalinismus gebrandmarkt.

Ansonsten habe ich übrigens (bevor Sie das denken), prinzipiell nichts gegen die Privatisierung im Zustellbereich, da sie generell (das ist zumindest meine Wahrnehmung), tatsächlich zu einem besseren Service geführt hat (früher hat die Post ja überhaupt keine Pakete nach Hause zugestellt, was Wallraff wohl vergessen hat). Dennoch: Wallraffs Artikel gibt berechtigten Anlass zu der Vermutung, dass in gewissen Firmen einiges schief läuft...

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

02.06.2012 15:01
#50 RE: Wallraff der Lügner Antworten

Zitat von Noricus
Dann noch für bestimmte Berufe Rentenversicherungspflicht in Höhe von 19,6 %. Das ist Selbständigkeitsverhinderungspolitik.


Als ich in meiner Antwort von Sozialversicherung sprach, meinte ich die Gesamtheit aller, natürlich vor allem die Rentenversicherung. Diese ist es auch, welche den freien Mitarbeitern schon immer zugesetzt hat. Ja, und es aktuell tut. Das ist sicher eine weitere Zuspitzung. Da gebe ich Ihnen völlig Recht.

Viele Grüße, Erling Plaethe

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