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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 98 Antworten
und wurde 11.134 mal aufgerufen
 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Seiten 1 | 2 | 3 | 4
sitka Offline




Beiträge: 22

21.01.2014 10:07
#26 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Wäre es möglich in diesem erlesenen Kreis auch mal ein Meinung zu vertreten, die sich mal aller philosophischen feingeistigen und sicher ehrenwerten Argumente entledigt und -wie ich es tun werde - das Problem auf den Punkt bringt?

Es läuft in dieser Diskussion meist auf das Gleich hinaus: erster Punkt: irgendein Gott mag das nicht-oder Punkt2: die Nazis haben das mißbraucht. Und beides sollte bei der HILFE für Sterbende keine Rolle spielen.
Da es keinen "Gott" gibt, kann er auch nicht helfen-er tut es ja auch nicht wie man sieht-und die staatlich Verweigerung von Hilfe ist zutiefst inhuman-wolten wir das-siehe Punkt2 nicht hinter uns lassen-nämlich Folter für die armen Todkranken...und nebenbei : in anderen Ländern gehts ja auch..und dort soll sich der Staat als Mordhelfer aufführen-Schwachsinn??
Grüße

Krischan Offline




Beiträge: 642

21.01.2014 10:32
#27 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von Doeding im Beitrag #16

Ja, lieber Krischan. Solche Lösungen, wie ich -und anscheinend auch Sie- sie präferieren, haben eben auch jede Menge Nachteile. Sie sind wenig "elegant" sondern Stückwerk, "far from perfect", sie können auch schiefgehen. Sie sind weder fehlerfrei noch unangreifbar. Aber genau deshalb, so scheint mir, kommen sie den realen Lebensbedingungen und Bedürfnissen der Menschen mehrheitlich und tendenziell eher entgegen, und das ist nicht nur demoskopisch gemeint, aber auch. (bei aller andernorts geäußerten Kritik an Demoskopie). Aktuell haben sich 2/3 der Menschen für Sterbehilfe in ausweglosen Situationen ausgesprochen. Daß ich der Demoskopie oft skeptisch gegenüber stehe heißt ja nicht, daß man die Menschen nicht fragen sollte. Es geht ja schließlich um sie.

Herzliche Grüße,
Andreas


Lieber Döding,

ob ich beim Falle Sterbehilfe eine Beratungslösung präferiere, weiss ich nicht. Da tagt der Ausschuss noch . Aber, wie die Diskussion ja schon zeigt: Es gibt viele verschiedene Aspekte, so dass ich zum Fazit neige, dass eine gesetzliche Vorschrift hier möglicherweise die Lebens- (und Sterbens-)vielfalt nicht abdecken kann.

Im Grunde geht es doch um zwei Themen:

Suizid, d.h. Sterben von eigener Hand und aus eigenem Wunsch (Tabletten, Sprung von der Brücke, Auf-die-Schiene-Legen, Pistole, Seppukku, etc.)
Ist ja ein legitimer Weg, und viel mehr Selbstbestimmung kann ich mir nicht vorstellen. Mit der Einschränkung, dass die Gefährdung oder Beeinträchtigung von anderen dabei höchst verwerflich ist.
Da gibt es meines Erachtens auch keinen Streit, Selbstmord ist ja nicht strafbar, oder?

Sterbehilfe, d.h. Hilfe für Leute, die den Suizid zwar wollen, es aber selbst nicht durchführen können
Hier wird es dann kniffelig - und genau da dreht sich die Diskussion um die vielen Facetten. Ob mit oder ohne Patientenverfügung, ob aktiv oder passiv, das sind eigentlich die Hauptkampflinien, wie man auch aus der Diskussion hier sieht. Persönlich neige ich dazu: Wenn, dann mit ausreichend detaillierter Patientenverfügung und passiv, d.h. Verhungern/Verdursten lassen. Und soweit ich weiss, ist das heute schon geltende Rechtslage.

Freundlichst,
Krischan

Deutsche Wurst - alles andere ist Käse.

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.007

21.01.2014 11:36
#28 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von sitka im Beitrag #26
-wie ich es tun werde - das Problem auf den Punkt bringt?
Sie haben das Problem möglicherweise für sich auf den Punkt gebracht, aber auch für andere? Für mich zumindest nicht.

Weder möchte ich der Feststellung, das es keinen Gott gibt so ohne weiteres zustimmen (ohne dieses Thema vertiefen zu wollen), noch erkenne ich da einen Bezug zum Dritten Reich (für mich persönlich), wenn ich die Ethik hinter dem Problem sehe.

Unter dem Eindruck des Nachdenkens im Rahmen meines kürzlich hier veröffentlichen Beitrags, zur Moral des Handelns und der Moral von Zielen, erscheint mir das Problem über die zugrunde liegende Ethik zu befinden unentscheidbar.

Sieht man rein das Handeln, eine Tötung, ist es ethisch nach unserem Verständnis nicht vertretbar.
Sieht man rein das Ziel, kann uns (unter bestimmten Umständen) die "unethische" Handlung der Tötung durchaus ethisch vertretbar erscheinen. Aber sie muß es nicht.


Mir geht es da wie Meister Petz:
Zitat von Meister Petz im Beitrag #5
Fazit: Ich sehe - wie eingangs dargelegt - mich derzeit keineswegs in der Lage, eine kohärente Position für ein Gesetz einzunehmen, die über meine persönliche Moralvorstellung hinausgeht. Und da ich mich nicht in den Reigen derer einreihen möchte, die ihre persönlichen Moralvorstellungen in Gesetzesform gegossen haben wollen, kann ich nur zur Problemanalyse, nicht aber zu einer Lösung beitragen.

Ich kann viel über das Problem nachdenken, aber zu keinem Schluß kommen was richtig oder falsch, was gut oder böse wäre. Verbietet man die Sterbehilfe, kann dies zu Zuständen führen, die wir in unserer Ethik nicht richtig finden. Erlauben wir sie, können wir auch den Mißbrauch, also unethische Handlungen (in Wertung unter Hinblick auf das Ziel) nicht ausschließen. Das ist ein Problem, zu dem ich keine eindeutige Position beziehen kann.
Wenn man jetzt dazu Stellung beziehen soll was der Gesetzgeber regeln soll, wird das ganze nicht besser.

Für mich selbst, für mir nahestehende Personen würde ich wohl gerne in meiner eigenen Ethik frei entscheiden wollen. Insofern bin ich für die Freiheit und damit für die Freiheit meiner Ethik.

Bei dem von Doeding angeführten 15 Jährigen Mädchen, bin ich nicht sicher ob Freiheit das Maß der Dinge sein sollte.
Auch wenn Llarian (glaube ich) hier einmal in einem sehr guten Text schrieb, dass Freiheit auch heißt "die Freiheit das Falsche tun zu dürfen": Hier kommt der Freiheitsbegriff an seine (von mir unmittelbar empfundenen) ethischen Grenzen.

Betrachtet man dazu den Mißbrauch im Falle einer (ich nennen es einmal) legalen Tötung zur Vorteilsnahme, verlangt es in meinen Augen geradezu nach einer klaren Reglung durch den Gesetzgeber (einem Verbot) und solche schränken notwendigerweise die Freiheit ein.

Und konstruiert man irgenwas dazwischen wie "Sterbehilfe unter bestimmten Bedingungen" wird man zum einen Fälle erleben, "wo über die Ethik des Sterbens in einer Amtsstube entschieden werden wird", zum anderen erklärt man eine Ethik für alle als verbindlich. Beides nicht richtig erstrebenswert in meinen Augen.

Letztendlich glaube ich, dass man zu einer Entscheidung über Sterbehilfe ja/nein nur innerhalb seiner eigenen Moral kommen kann, die man (so man für die Freiheit ist) aber nur ungern einem anderen aufzwingen möchte. In meinen Augen ein klassischer Widerspruch, der aus Freiheit und Verantwortung erwachsen kann. Das macht es so schwer Stellung zu beziehen - für mich persönlich.


Edit:
Mein Ausschuß hat sich baw vertagt und hofft keine Entscheidung treffen zu müssen :/

\"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit.\" - Montesquieu

Doeding Offline




Beiträge: 2.612

21.01.2014 12:18
#29 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht
Letztendlich glaube ich, dass man zu einer Entscheidung über Sterbehilfe ja/nein nur innerhalb seiner eigenen Moral kommen kann, die man (so man für die Freiheit ist) aber nur ungern einem anderen aufzwingen möchte. In meinen Augen ein klassischer Widerspruch, der aus Freiheit und Verantwortung erwachsen kann.



Aber folgte nicht genau daraus der Grundsatz: in dubio pro libertas? Er scheint mir die einzige Möglichkeit zu sein, dass eben nicht einer dem anderen seine Haltung aufzwingt. Während momentan die Situation ist, dass Gegner den Befürwortern Ihre Haltung aufzwingen (gegenwärtige Gesetzeslage), ist der umgekehrte Fall, nach einer Liberalisierung, dass Befürworter einen Gegner zu einem vorzeitigen Tode zwingen würden, völlig ausgeschlossen; von kriminellen Machenschaften jetzt mal abgesehen. Auch bei einer Liberalisierung hätte jeder das Recht, sein Leiden zu Ende zu führen, bis Gott ihn abberuft. Aber er muß nicht mehr. Von daher hat sich mein Vermittlungsausschuss vorläufig entschieden.

Herzliche Grüße,
Andreas

Nola Offline



Beiträge: 1.719

21.01.2014 13:46
#30 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat

Zitat: nachdenken_schmerzt_nicht
Letztendlich glaube ich, dass man zu einer Entscheidung über Sterbehilfe ja/nein nur innerhalb seiner eigenen Moral kommen kann, die man (so man für die Freiheit ist) aber nur ungern einem anderen aufzwingen möchte. In meinen Augen ein klassischer Widerspruch, der aus Freiheit und Verantwortung erwachsen kann. Das macht es so schwer Stellung zu beziehen - für mich persönlich.




Dieser Aussage möchte ich vollumpfänglich zusprechen. Wobei ich selbst die eigene Moral als wandelbar erlebt habe und mit Einsicht aus tatsächlicher Situation heraus, eine andere, anwendbare Moral als Basis des Handelns (an)erkennen mußte.

Eine absolute als richtig geltende Entscheidung ob per Gesetz, ob des Arztes oder des Angehörigen selbst wird es nicht geben, einzig der Sterbende sollte darüber bestimmen.

Dafür ist auch eine Begleitung durch die fünf Phasen des Sterbens und das Wissen darum wichtig, wenn die Zeit dazu noch bleibt.

In meiner Erinnerung gab es dazu ein liebevolles Gespräch mit einer Schwester der Henriettenstiftung, die es mir so oder ähnlich erklärte und mir half, auch meinen Frieden mit der "Situation" zu machen. Man erkennt tatsächlich, wenn die fünfte Phase abgeschlossen ist und der Sterbende loslassen kann und will.

1
Nichtwahrhabenwollen und Isolierung
Die Krankheit wird zuerst vom Patienten geleugnet.(...)
2
Zorn
Der Patient verspürt Neid auf die Weiterlebenden. Das führt zu unkontrollierbaren Wutausbrüchen auf alle, (...)
3
Verhandeln
Diese Phase stellt eine kurze flüchtige Phase dar, in der kindliche Verhaltensweisen zu Tage kommen, wie die eines erst zornigen, dann verhandelnden Kindes, das sich mit häuslichen Tätigkeiten eine Belohnung erhandeln will. Der Patient hofft durch Kooperation auf Belohnung wie eine längere Lebensspanne und Freiheit von Schmerzen. Meist wird der Handel streng geheim mit Gott geschlossen,(...)
4
Depression
Die Erstarrung, der Zorn und die Wut wird in zwei Formen von Verzweiflung und Verlust abgelöst. (...)
5
Zustimmung
Nach Neid und Zorn auf alle Gesunden und Lebenden erwartet der Kranke den Tod und dehnt seinen Schlaf aus. Die Phase ist frei von Gefühlen, der Kampf ist vorbei, der Schmerz vergangen und der Patient will von den Problemen der Außenwelt in Ruhe gelassen werden. Somit ist dies die schwierigste Phase für die Personen im Umfeld des Sterbenden, da sie auch Zurückweisungen erfahren müssen (...)

♥lich Nola

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Status quo, nicht wahr, ist der lateinische Ausdruck für den Schlamassel, in dem wir stecken.
Zettel im August 2008

H_W Offline



Beiträge: 456

21.01.2014 13:49
#31 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von Doeding
Während momentan die Situation ist, dass Gegner den Befürwortern Ihre Haltung aufzwingen (gegenwärtige Gesetzeslage), ist der umgekehrte Fall, nach einer Liberalisierung, dass Befürworter einen Gegner zu einem vorzeitigen Tode zwingen würden, völlig ausgeschlossen; von kriminellen Machenschaften jetzt mal abgesehen. Auch bei einer Liberalisierung hätte jeder das Recht, sein Leiden zu Ende zu führen, bis Gott ihn abberuft. Aber er muß nicht mehr.



Das, lieber Herr Döding ist eine sehr schöne Zusammenfassung.
Etwas weiter ausgeführt der selbe Gedanke bei eifrei:
http://www.ef-magazin.de/2014/01/21/4860...es-liberalismus

Es war interessant für mich, die Argumente der Gegner einer Liberalisierung zu lesen, umgestimmt haben die mich jedoch nicht. Immerhin behalten die Gegner ja selbst bei einer Liberalisierung weiterhin jede Möglichkeit, bei keiner Sterbehilfeaktion mitzumachen.

Gruß, H_W

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Woran erkennt man ein linksgrünes Märchen?
Es beginnt mit: Es wird einmal sein.
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nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.007

21.01.2014 13:53
#32 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von Doeding im Beitrag #29

Aber folgte nicht genau daraus der Grundsatz: in dubio pro libertas? Er scheint mir die einzige Möglichkeit zu sein, dass eben nicht einer dem anderen seine Haltung aufzwingt......
.....Auch bei einer Liberalisierung hätte jeder das Recht, sein Leiden zu Ende zu führen, bis Gott ihn abberuft. Aber er muß nicht mehr. Von daher hat sich mein Vermittlungsausschuss vorläufig entschieden.

Was meinem Vermittlungsausschuß lähmt, steht möglicherweise in Zusammenahng mit der Tatsache, dass eine Tötung für einen Menschen eine irreversible und in jedem Sinne ultimative Handlung darstellt.

Daher treibt sie für mich den Widerspruch zwischen Freiheit und Verantwortung auf die Spitze.

Dein Beispiel mit dem 15 Jährigen Mädchen hat mir etwas klar gemacht:
Ich wäre hier gegen die Freiheit und ich kann nicht anders. Dies stellt mich im Weiteren (ich denke da an meinen kürzlich erstellten Beitrag) vor das Problem, dass ich hier die Ethik eines Zustands als wichtiger erachte als die Ethik des Handelns. Ich schließe aus, dass es ein ethisches Handeln gibt welches zu einem anderen Zustand führt als den, den ich persönlich als ethisch richtig empfinde. Im Sinne meines Beitrags argumentiere ich also gegen mich selbst. – Aber, wie gesagt: Ich kann nicht anders.

Ich habe also den "perfekten Widerspruch":
Ich bin an der Grenze angelangt, zwischen dem was mir mein Verstand zur Freiheit sagt und einem Punkt an dem ich die Ethik eines Zustands (ein 15 Jähriges, gesundes Mädchen, dessen Leben vor ihm liegt, darf nicht getötet werden. Punkt, Ende, aus.) nicht anders als absolut empfinden kann. Ich kann diesen Widerspruch nicht annähernd auflösen. Daher vertage ich mich.

Nun mag der Einwand kommen, das 15 jährige Mädchen sei ein Extrembeispiel, das vielleicht niemals vorkommen wird, oder zumindest klar geregelt werden kann. Das ist richtig.
Aber hier schlägt vielleicht mein Hang zur Naturwissenschaft wieder einmal durch: An Extrembeispielen kann man sehr oft das Wesen eines Problems erkennen oder ob ein Lösungsansatz allgemein taugt oder nicht.

In meinen Augen macht dein Beispiel das Wesen des Problems erkennbar, dass man „beliebig verdünnt“ in jedem zu Entscheidenden Fall vorfinden wird.

Klar: Sterbehilfe für 15 jährige Teenager ist ausgenommen.

Immer noch ganz klar: Sterbehilfe für 20 Jährige aufgrund von Liebeskummer ist ausgenommen.

Auch klar: Sterbehilfe für 50 Jährige muß auch ausgenommen werden aufgrund von Liebeskummer. (Oder vielleicht doch nicht? Irgendwie erscheint mir der Fall anders.)

Jemand verliert nach 70 Jahre Ehe seinen geliebten Partner und verliert jeden Lebenswillen. Warum soll ihm der Freitod nicht gestattet werden?

Irgendwo zwischen diesen vier Beispielen liegt der Punkt, wo meine „Ethik des Zustands“ ihren Absolutheitsanspruch verliert. Wo ich meinen Widerspruch zwischen Freiheit und Verantwortung auflösen kann. Wo ich nicht mehr in die Freiheit anderer eingreifen "muß", weil ich nicht anders kann. (Ich schreibe: "in die Freiheit anderer eingreifen "muß"".... und das in einem liberalen Forum. Eieiei....)

Letztendlich ist dieser Punkt völlig willkürlich. Eigentlich darf es ihn nicht geben, wenn man für die Freiheit ist. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass (fast) jeder ihn hat und er kann nur von jedem für sich selbst bestimmt werden. Gestattet der Gesetzgeber eine Sterbehilfe, muß sie klar geregelt sein, auch in Beispielen wie oben. Für alle. Verbindlich. Ultimativ. Irreversibel.


Ich kann hier nicht für die Freiheit sein, obwohl mich das in größte Widersprüche verstrickt. Kann man das verstehen?

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

Nola Offline



Beiträge: 1.719

21.01.2014 14:13
#33 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat
Irgendwo zwischen diesen vier Beispielen liegt der Punkt, wo die meine „Ethik des Zustands“ ihren Absolutheitsanspruch verliert. Wo ich meinen Widerspruch zwischen Freiheit und Verantwortung auflösen kann. Wo ich nicht mehr in die Freiheit anderer eingreifen "muß", weil ich nicht anders kann. (Ich schreibe: "in die Freiheit anderer eingreifen "muß"".... und das in einem liberalen Forum. Eieiei....)



Irgendwo zwischen diesen Beispielen und noch weiteren - ja.
Wenn ich nochmals gefordert wäre, eine Verantwortung zu übernehmen und es gibt eben genau diese Situationen, in welcher man sich nicht davor "drücken" kann, dann würde ich genauso entscheiden. Im Nachhinein hat sich diese Gewissheit nur noch bestärkt. Anders wäre es wohl auch nicht auszuhalten, was die Brisanz einer Entscheidung deutlich macht.

Unsere theoretischen Überlegungen helfen spätestens dann nicht weiter, wenn man persönlich und in einem spezifischen Fall (Man verzeihe mir diese unglückliche Wortwahl) um eine Entscheidung gefragt wird, dann ist man - Geseetz hin oder her - nur seinem Gewissen verantwortlich.

♥lich Nola

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Zettel im August 2008

Paul Offline




Beiträge: 1.285

21.01.2014 14:56
#34 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von sitka im Beitrag #26
und nebenbei : in anderen Ländern gehts ja auch..und dort soll sich der Staat als Mordhelfer aufführen-Schwachsinn??



Liebe Sitka,
Ihrer Argumentation kann ich weitgehend folgen und als eine mögliche Meinung akzeptieren.

Inakzeptabel erscheint mir der Bezug auf andere Länder.
Ich werde mich auch nicht des Arguments bedienen, dass es in anderen Ländern die Todesstrafe gibt und das dort auch geht.
Jedes Land hat einen anderen sozio-kulturellen Hintergrund. Deshalb muss ich das was ich in Deutschland ohne einen Bezug auf andere Länder diskutieren. Natürlich kann ich mir in anderen Ländern gemachte Erfahrungen ansehen. Aber es deshalb nachmachen? Wer weiß denn wie es in Deutschland läuft? In Deutschland läuft manches anders. Daran müssen wir uns schon gewöhnen.

LG, Paul

PS: Übrigens, für den der an Gott glaubt, gibt es ihn wirklich. Auch wenn Sie sich das nicht vorstellen können. Genauso wenig wie ich mir vorstellen kann, dass es keinen Gott gibt. Überdenken Sie bitte diese Argumentationsschiene.

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In dubio, pro reo.

H_W Offline



Beiträge: 456

21.01.2014 15:03
#35 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht
Klar: Sterbehilfe für 15 jährige Teenager ist ausgenommen.

Immer noch ganz klar: Sterbehilfe für 20 Jährige aufgrund von Liebeskummer ist ausgenommen.

Auch klar: Sterbehilfe für 50 Jährige muß auch ausgenommen werden aufgrund von Liebeskummer. (Oder vielleicht doch nicht? Irgendwie erscheint mir der Fall anders.)

Jemand verliert nach 70 Jahre Ehe seinen geliebten Partner und verliert jeden Lebenswillen. Warum soll ihm der Freitod nicht gestattet werden?



Lieber nachdenken_schmerzt_nicht, diese Beispiele haben aber genaugenommen nichts mit dem Thema Sterbehilfe zu tun.
Ganz wesentlich ist doch, alle diese Beispielsfiguren sind noch selber handlungsfähig, benötigen also nicht unbedingt externe Hilfe um den von ihnen empfundenen Leid ein Ende zu machen.

Ich hatte den Aertikel von Herrn Döding so verstanden, daß es um das ohnehin bevorstehende Ende einer hoffnungslos kranken Person ginge.
Ich denke, Ihr Ansatz mit Extrembeispielen ist "nicht hilfreich" für solch komplexe Themen. Es gibt immer einige klar schwarze oder klar weisse Fälle, und es gibt sehr viele Fälle in Grauzonen.
Man kann also jede angedachte Regelung damit torpedieren, daß man ein extremes Gegenbeispiel nennt, bei dem die Regelung ganz sicher falsch wäre.
Man muß also alles ganz genau regeln, damit es keine Unklarheiten gibt. Und man darf natürlich überhaupt nichts regeln, da die Regelung ja irgendwann mal falsch sein könnte.

Sie sehen, unser aller Vermittlungsausschuß wird niemals arbeitslos werden...

Zurück zum Thema, glücklicherweise gibt es gegen den Mißbrauch der aktiven Hilfe einen recht starken Filter: Um ein Leben unter dieser Überschrift zu beenden, braucht es zweimal das "Ja", das des Sterbewilligen und das des Helfenden.
Nur ein "Nein", und schon hat sich die Sache erledigt.
Und ich schätze, die Leute aus Ihrem Beispiel hätten es schwer, bei uns ein "Ja" zu bekommen!

Gruß, H_W

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Es beginnt mit: Es wird einmal sein.
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Paul Offline




Beiträge: 1.285

21.01.2014 15:10
#36 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #28

Edit:
Mein Ausschuß hat sich baw vertagt und hofft keine Entscheidung treffen zu müssen :/


Lieber nachdenken_schmerzt_nicht,

Ihre Überlegungen sind auch meine.

Manchmal schmerzt Nachdenken eben doch. Jedenfalls mich. Ganz besonders wenn ich darüber nachdenke, wie ich entscheiden würde, wenn mich ein mir nahestehender Angehöriger, z.B. meine Frau, um diesen Liebesdienst bitten würde.

Ich mache es wie Sie: ich denke nicht weiter darüber nach und werde entscheiden, wenn ich dazu aufgefordert werde.
Beim besten Willen kann ich heute noch nicht sagen, wie ich entscheiden würde. Bis dahin bete ich zu Gott, dass mir das erspart bleibt.

LG, Paul

Edit:
PS: Mir ist soeben noch einmal eindringlich klar geworden, weshalb wir Katholiken um eine gute Sterbestunde beten.

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In dubio, pro reo.

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.007

21.01.2014 16:19
#37 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Lieber H_W:

Zitat von H_W im Beitrag #35
Man kann also jede angedachte Regelung damit torpedieren, daß man ein extremes Gegenbeispiel nennt, bei dem die Regelung ganz sicher falsch wäre.
Das ist ein Mißverständnis. Ich wollte keine angedachte Regelung torpedieren, bzw. mich gegen ein Gesetz zur Sterbehilfe aussprechen. Ich wollte klar machen, warum mein Vermittlungsausschuß sich vertagt, mein Freiheitsbegriff an Grenzen stößt.

Zitat von H_W im Beitrag #35
Und ich schätze, die Leute aus Ihrem Beispiel hätten es schwer, bei uns ein "Ja" zu bekommen!
In allen vier Fällen? Auch in dem letztem Fall, wenn der Verlust in seiner schwere sogar körperliches Siechtum auslöst?
Zitat von H_W im Beitrag #35
Ganz wesentlich ist doch, alle diese Beispielsfiguren sind noch selber handlungsfähig, benötigen also nicht unbedingt externe Hilfe um den von ihnen empfundenen Leid ein Ende zu machen
In meinem letzten Beispiel, muß das nicht zwangsläufig der Fall sein.

Zitat von H_W im Beitrag #35
und es gibt sehr viele Fälle in Grauzonen.
Ja. Neben schwarz und weiß, ist es vor allem eine Grauzone. Eine Grauzone, in der es eine ultimative, irreversible Entscheidung zu treffen gilt.


Zitat von Erling Plaethe im Beitrag #10
wer sich für einen Suizid eigenverantwortlich entscheidet, soll dies auch eigenverantwortlich tun. Ist er selbst dazu nicht mehr in der Lage, ändert das in keiner Weise etwas an seiner Verantwortung. Er kann nicht die Verantwortung für eine Tat, die sein Leben beendet anstatt es zu erhalten, auf jemand anderen verlagern............... Wird sie im Einzelfall dennoch durchgeführt, muss es für eine Klage einen Kläger geben.
Wahrscheinlich trifft Erling Plaethe den Punkt und mein Widerspruch erwächst daraus, dass "die Freiheit der Entscheidung inklusive Verantwortung" eines Menschen auf einen anderen übertragen wird. Insofern, sollte man das vielleicht wirklich nicht in Gesetzesform giessen - was (so verstehe ich auch Erling Plaethe) nicht heisst, dass es nicht ethisch vertretbar sein kann Sterbehilfe zu leisten.

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

Christoph Offline




Beiträge: 241

22.01.2014 02:03
#38 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Lieber Andreas Döding,

Vielen Dank für Ihre Antwort.

Zitat von Doeding im Beitrag #25
Ja, lieber Christoph, das ist dann natürlich die andere Extremposition. Rein logisch kann ich Sie auch gut nachvollziehen.

Ob man meine Position jetzt als extrem (oder doch lieber als «konsequent») bezeichnet ist irrelevant – denn über ihre Richtigkeit sagt das nichts aus. Wenn die Argumentation logisch nachvollziehbar ist, fragt sich natürlich, welche meiner Prämissen Sie verwerfen.

Zitat von Doeding im Beitrag #25
Allerdings hat es meiner Meinung nach in dem meisten denkbaren konkreten Fällen mit Vernunft nicht viel zu tun. Es ist nicht vernünftig, wenn eine

Man muss hier, denke ich, zwei Sachen ganz strikt voneinander trennen:
1. das, was der Einzelne tut (ihr Beispiel von der Schülerin)
2. das, was die Gesellschaft tut, was der Staat vorschreibt, welches Verhalten er strafen sollte
dieser 2. Punkt ist es, der m.E. hier allein zur Diskussion steht bzw. stehen sollte. Was jemand tut, kann nicht absolut vernünftig sein sondern stets bloß relativ, gemessen an irgendwelchen Zielen, Tugenden oder Werten. Diese sind individuell höchst verschieden und selbst die Ziele, die sich der Einzelne setzt, widersprechen sich einander: wie viele wollen nicht ihrem Berufsstress entkommen und trotzdem mehr verdienen. Einer, der jeden Abend pokert, Schweinebraten verspeist, sauft und hurt, handelt nur dann unvernünftig, wenn er gleichzeitig erstrebt, seinen Reichtum zu mehren, seine Gesundheit zu erhalten, lange zu leben und als tugendhafter Familienvater zu gelten. Selbst wenn man dem Staat das Recht zugestände, seine Bürger zu vernünftigem Verhalten zu zwingen – er könnte es nicht, weil das menschliche Verhalten per se außervernünftig ist. Die Vernunft mag uns helfen, den kürzesten Weg zu einem Ziel zu finden – der Gebrauch der Vernunft setzt solche Ziele aber stets voraus und diese Voraussetzung kann die Vernunft sich nicht selbst erschaffen; so wie uns ein Navigationsgerät im Auto überall hinführen kann aber nie verrät, wo wir eigentlich hinwollen. Wenn sie also schreiben, die Motivlage eines Selbstmörders sei nicht zwingend von Vernunft geprägt, so entgegne ich, dass sie niemals von Vernunft geprägt ist – die Motive, die uns am Leben festhalten lassen, aber genausowenig.

Was nun den 1. Punkt angeht: auch eine Gesetzgebung kann nur vernünftig bezüglich eines Zieles sein. Dieses Ziel kann z.B. darin bestehen, Freiheit und Eigentum des Einzelnen gegen fremde Eingriffe zu schützen. Es ist aber nicht Aufgabe der Gesellschaft oder des Staates, jedem Einzelnen die Motive vorzuschreiben, nach denen er zu handeln hat.

Zitat
Noch viel unvernünftiger, ja geradezu absurd, nimmt sich für mich dagegen die Vorstellung aus, dass dieses Mädel sich eine Überweisung vom Hausarzt holt, in ein Krankenhaus legt, ihren Angehörigen gegebenenfalls Bescheid sagt, und sich dann durch Pentobarbital mit staatlichem Einverständnis von einem Arzt töten lässt.


Ich würde die Wendung «staatliches Einverständnis» nicht gebrauchen, weil sie, wenn nicht ganz und gar falsch doch grob irreführend ist, indem sie suggeriert, daß ein Mensch nur mit Einverständnis eines Staates handeln, reden oder denken dürfe und daß alles, was nicht verboten ist, vom Staat gutgeheißen würde. Der Staat, der nicht totalitär ist, sollte die Handlungen seiner Bürger weder gutheißen noch verwerfen – er sollte neutral bleiben – nach meinem Verständnis eines freiheitlichen Rechtsstaates sogar in jedem Fall. Es ist ja genau genommen nicht der Staat, der z.B. den Mord missbilligt – die Gesellschaft tut es, und schafft sich das Instrument des Staates, um ihn zu verhüten, aufzuklären oder zu bestrafen.
Ansonsten könnte man genauso gut behaupten, jeder Selbstmord geschähe mit «staatlichem Einverständnis», Jörg Kachelmann habe alle seine Geliebten «mit staatlichem Einverständnis» betrogen, Janis Joplin sich mit «staatlichem Einverständnis» zu Tode gesoffen. Scheint Ihnen die Vorstellung, daß eine unglücklich Verliebte Schülerin «mit staatlichem Einverständnis» aus dem Fenster oder von der Brücke springt weniger absurd?

Hier geht es auch nicht um die Schülerin, sondern um den Arzt. Dieser wird zu seiner Entlastung vom Vorwurf des Mordes (oder der «Tötung auf Verlangen») kaum die Erklärung einer 16-jährigen anführen können, die ohne fremdes Einverständnis nicht einmal Auto fahren, Spirituosen kaufen, eine Berufsausbildung antreten oder einen Handy-Vertrag abschließen darf.

Zitat
sprechen Sie sich für eine gewisse Abkehr von "objektiven" medizinischen Kriterien, wie sie mir vorschweben, hin zu einer stärker gewichteten subjektiven Erlebensweise des Betroffenen aus. Wo aber würden Sie dann die Grenze ziehen?

Ich behaupte, der Wunsch zu sterben, genau wie der, zu leben, kann keiner anderen Quelle als dem «subjektiven Erleben» entspringen (s.o.: unsere letzten Motive sind nie vernünftig). Das «objektiv» in «objektiver Kriterienkatalog» bedeutet ja nicht mehr als «objektiv überprüfbar». Allein das dürfte schwierig werden, aber auch dann bliebe der Makel, daß die objektiv überprüfbaren Kriterien bloß willkürlich gewählt sind. Man könnte natürlich höhere Prinzipien suchen, anhand derer die Kriterien objektiv gewählt werden, aber dann wäre eben die Wahl dieser höheren Prinzipien willkürlich – wie sollte es also über das subjektive Empfinden des Betroffenen stehen, daß ihm das Weiterleben unerträglich ist?

Wo ich die Grenze ziehe, schrieb ich schon, nämlich dort, wo Menschen nicht mehr (oder noch nicht) eigenverantwortlich handeln können (wie es für ihr Beispiel der Schülerin gilt), oder ihren Willen nicht mehr rechtsgültig zum Ausdruck bringen können, z.B. bei schwerer Demenz, Koma-Patienten oder dem Locked-in-Syndrom; da sehe ich sogar weniger Spielraum als Sie.

Viele Grüße,
Christoph

Solus Offline



Beiträge: 384

22.01.2014 07:00
#39 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Ich sehe eine ganz einfache Lösung: Wer rechtlich fähig ist, über sich selbst zu verfügen, sollte das Recht haben, auch über sein eigenes Leben zu verfügen.
Womit ich meine, dass Tötung auf Verlangen allgemein legalisiert werden sollte, unbesehen der Umstände. Es steht mir nicht zu, jemand anderem vorzuschreiben, auf Grund welcher Beweggründe er sein Leben zu beenden oder fortzuführen hat. Und ich würde mir auch ganz entschieden verbitten, dass jemand anderes mir diesbezügliche Vorschriften machen würde, machen könnte.

Solus Offline



Beiträge: 384

22.01.2014 07:12
#40 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Ich möchte als weiteres den Fall anführen, in dem jemand den Versuch unternimmt, sich selbst das Leben zu nehmen, aber scheitert - in der Folge, sei es aufgrund der zuvor bestehenden Krankheit, sei es in Folge der Effekte des Selbsttötungsversuches, die Möglichkeit verloren hat, sich selbst das Leben zu nehmen, - wer will einem solchen Menschen aufzwingen, sein Leben weiter zu führen? Ich kann mir ganz ehrlich gesagt nur schwer vorstellen, wie jemand, der bereits das langsame Sterben eines Menschen miterlebt hat, sich etwa noch gegen die Option eines solchen Menschen aussprechen könnte, sein eigenes Leben zu beenden. Es liegen Himmel und Hölle im Leben des Menschen - wer möchte den Menschen zwingen, die Hölle zu durchschreiten.

sitka Offline




Beiträge: 22

22.01.2014 10:55
#41 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

ganz recht: keep it simple! Alles andere heißt: sich aus der Verantwortung Humanität zu stehlen.
Den werten bedenkentragenden Vor-Schreibern-im wahrsten Sinne des Wortes- ins Stammbuch:versuchen Sie sich in einen qualvoll sterbenden hineinzuversetzen und erahnen, was es beutet,wenn sich ein potentieller Helfer einfach wegdreht und auf philosophische/juristische Argumente verweist.
Jeder Besitzer einer sterbenden Katze bekommt hier feuchte Augen-also, bitte beim armen Mitmenschen mindestens gleich Maßstäbe..es könnten auch getrost höhere sein.
Grüße FJ

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 2.007

22.01.2014 11:39
#42 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von Christoph im Beitrag #38
Wo ich die Grenze ziehe, schrieb ich schon, nämlich dort, wo Menschen ... noch nicht ... eigenverantwortlich handeln können (wie es für ihr Beispiel der Schülerin gilt)


Ganau darin liegt das Problem. Wer legt fest, wann das "noch nicht" entfällt?

Es gibt Fälle, wo ich einen Freitod ethisch nicht vertreten kann und glaube verhindern zu müssen. Diese Grenze kann jeder nur für sich ziehen. Wenn aber jemand einen Freitod wählt, auch wenn ich ihn ethisch nicht richtig finde, kann ich ihn trotzdem in den seltensten Fällen verhindern.

Wie Erling Plaethe ausführte, entsteht dieser Widerspruch wohl aus dem Übertragen der Verantwortung an einen anderen Menschen. Wenn irgendjemand (und sei es dem Gesetzgeber) die Verantwortung übertragen wird, beurteilt er möglicherweise die Situation (Ethik) anders als der Übertragende.



Zitat von sitka im Beitrag #41
ganz recht: keep it simple! Alles andere heißt: sich aus der Verantwortung Humanität zu stehlen.
Den werten bedenkentragenden Vor-Schreibern-im wahrsten Sinne des Wortes- ins Stammbuch:versuchen Sie sich in einen qualvoll sterbenden hineinzuversetzen und erahnen, was es beutet,wenn sich ein potentieller Helfer einfach wegdreht und auf philosophische/juristische Argumente verweist.
Jeder Besitzer einer sterbenden Katze bekommt hier feuchte Augen-also, bitte beim armen Mitmenschen mindestens gleich Maßstäbe..es könnten auch getrost höhere sein.

Ich erkenne hier einen moralischen Vorwurf an diejenigen, die Vorbehalte gegen die Sterbehilfe haben und versuchen zu begründen warum. Inklusive eines emotionalen, sehr griffigen Argumentes, welches auf einen Zustand abstellt, warum Sterbehilfe legalisiert werden sollte.

Ich kann die Position "Pro Sterbhilfe" nachvollziehen. Eine solche Argumentationsfürhung nicht. Warum, habe ich in meinem Gastbeitrag versucht zu beleuchten.

"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu

Doeding Offline




Beiträge: 2.612

22.01.2014 11:55
#43 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von Christoph im Beitrag #38


Man muss hier, denke ich, zwei Sachen ganz strikt voneinander trennen:
1. das, was der Einzelne tut (ihr Beispiel von der Schülerin)
2. das, was die Gesellschaft tut, was der Staat vorschreibt, welches Verhalten er strafen sollte
dieser 2. Punkt ist es, der m.E. hier allein zur Diskussion steht bzw. stehen sollte. Was jemand tut, kann nicht absolut vernünftig sein sondern stets bloß relativ, gemessen an irgendwelchen Zielen, Tugenden oder Werten [...]


Lieber Christoph,
auch Ihnen Dank für Ihre Antwort. Es ist mir immer ein äußerst lehrreiches Vergnügen, mit Ihnen zu diskutieren.

Mir scheint, man muß hier zwei Ebenen unterscheiden. Zum einen Ihr fast idealtypisch liberales Staatsverständnis, von dem ausgehend Sie selbstverständlich recht haben, und zum anderen der Aspekt „Wunschkonzert“; soll heißen, daß wir nun mal in der Bundesrepublik im Jahr 2014 leben, für die mit Blick auf Sterbehilfe auf Basis der geltenden und in realistischem Rahmen änderbaren Gesetze pragmatische Lösungen gefordert sind.

Mit „Vernunft“ meinte ich, ausgehend von der aktuellen Lebensrealität, eher so etwas wie „gesunder Menschenverstand“, eine Vorstellung, die Sie höchstwahrscheinlich wohlbegründet ablehnen werden. Mein Ausgangspunkt ist eben nicht ein idealtypisch-liberales Staatswesen, wie es Ihnen, wohl als Nachtwächterstaat, vorschwebt, sondern das, was wir heute haben. Gleichwohl, viele Entscheidungen im Zusammenleben zwischen Menschen laufen ja eher nach Daumenregeln (die ja keineswegs automatisch liberalen Kriterien genügen), also heuristisch ab, und der Staat sieht es vielleicht zunächst als seine Aufgabe an (was man kritisieren kann und wahrscheinlich muß), diese Daumenregeln in Gesetze zu gießen (um dann zunehmend Eigendynamik zu entwickeln und „überbordend“ zu werden). Und natürlich sind die von Ihnen angedeuteten individuellen Zielkonflikte von Menschen auch in staatlichem Handeln zu entdecken.

Ich beobachte bei mir selbst in den letzten Jahren zunehmend eine Art „doppelte Buchführung“ (ein typisch schizophrenes Symptom übrigens ): Regelungen, die ich hier im Forum und für mich selbst einerseits kritisieren würde, vertrete ich auf der anderen Seite (und nach außen) voller Überzeugung. Ein Beispiel für eine staatliche Regelung, die ich theoretisch kritisch, jedoch aus pragmatischen Gründen (und somit letztlich) befürworte: Es gibt Menschen, die sich irgendwann entscheiden, sich das Leben zu nehmen und punkt. Die bekomme ich nie zu sehen. Beruflich zu mir kommen dagegen erkrankte Menschen, deren Situation sich im Laufe der Behandlung dann krisenhaft und suizidal zuspitzen kann. Ich bin verpflichtet, dies regelmäßig abzuklären. Wenn sich die Hinweise dann verdichten, daß eine akute Suizidalität vorliegt (wieder nur eine heuristische Entscheidung übrigens), bin ich vom Staat verpflichtet, Ordnungsamt und Sozialpsychiatrischen Dienst zu informieren, die dann eine Unterbringung prüfen und ggf. veranlassen. Dem (ausgeprägt) Liberalen werden sich hier die Fußnägel aufrollen.

Dennoch mache ich damit regelmäßig folgende Erfahrung. 1. Die Patienten beantworten meine Fragen wahrheitsgemäß. 2. Alle, für die dies in der Vergangenheit zutraf (bis auf einen) haben froh und erleichtert auf meine „Verantwortungsübernahme“ reagiert und 3. alle (ohne Ausnahme) sind nach der stat. Maßnahme wieder (freiwillig, versteht sich) in die Behandlung gekommen. Soweit ich weiß, leben heute noch alle; wie zufrieden weiß ich freilich nicht. Ich habe aber noch nie jemand sagen hören „Hätte man mich bloß gelassen“; dagegen sehr viele, die sich heilfroh äußern, daß man sie „gehindert“ habe. Nun habe ich, soweit ich das überblicke, keine Libertären und nur sehr wenige ausgeprägt liberale Patienten, aktuell oder in der Vergangenheit in Behandlung gehabt, was kein Zufall sein dürfte. Das liegt zum einen, denke ich, an der geringen „Prävalenz“ von Liberalismus in der Bevölkerung, zum anderen natürlich daran, daß es dem Autonomieverständnis vieler Liberaler widersprechen dürfte, sich in psychischen Krisen auf die Hilfe von mehrheitlich linken Psychos zu verlassen oder hier überhaupt außerfamiliäre Hilfe aufzusuchen.

Die anderen Menschen aber ticken mehrheitlich wirklich anders. Staat und Bevölkerung stehen hier mMn in einem wechselseitigen Erziehungs- und Konditionierungsprozeß, der sich gegenseitig aufschaukelt (und freilich auf Kosten der individuellen Freiheit geht). Nicht „der Staat“, sondern Staat und Bevölkerung, in wechselseitigem Einvernehmen. Das ist, aus meiner Sicht, die Realität, mit der wir aktuell leben (müssen). Die Mehrheit der Menschen möchte in bestimmten Krisensituationen die Verantwortung für ihre Situation abgeben, und der Staat bedient diesen „Markt“. Da greift bloße (und meist abstrakte) Staatskritik zu kurz; die Menschen selbst sind Ansatzpunkt und Hebel. Aufklärung also, Aufklärung und nochmals Aufklärung.

Herzliche Grüße,
Andreas

Krischan Offline




Beiträge: 642

22.01.2014 13:27
#44 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von Doeding im Beitrag #43
Beruflich zu mir kommen dagegen erkrankte Menschen, deren Situation sich im Laufe der Behandlung dann krisenhaft und suizidal zuspitzen kann.


Lieber Döding (oder Andreas? Wie beliebts?),

da liegt ja der Hase im Pfeffer - psychisch erkrankte Menschen, ob nun "ernsthaft" oder nur mit einer Anpassungstörung (obwohl die ja eher seltener zu Suizid neigen), sind ja nicht mehr zu 100% Herr ihres eigenen Willens, deswegen landen die ja bei Ihnen. Gerade Ihr Beispiel zeigt ja sehr deutlich, dass nach erfolgreicher Therapie die Suizidgefahr vorbei ist und das Verhalten rückblickend anders bewertet wird. Da würde ich schon noch einen Unterschied ziehen wollen zur vollkommenen Entscheidungsfreiheit.

Gleichwohl: Natürlich ist ein pragmatisches Herangehen bei Sterbehilfe und Lebensende sinnvoll, und die Diskussion, so erhitzt sie sein mag, auch; sie ist nachgerade dringend nötig. Und sei es nur darum, dass sich jeder mit dieser Entscheidung in Bezug auf sein eigenes Ende befasst. Und, wie man den Kommentaren hier entnehmen kann, sieht da jeder unterschiedliche Wege. Dieser Vielfalt sollte der Gesetzgeber, wenn denn unbedingt eine Regelung notwendig sein sollte, auch Rechnung tragen.

Freundlichst,
Krischan

Deutsche Wurst - alles andere ist Käse.

Doeding Offline




Beiträge: 2.612

22.01.2014 14:05
#45 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von Krischan im Beitrag #44
Zitat von Doeding im Beitrag #43
Beruflich zu mir kommen dagegen erkrankte Menschen, deren Situation sich im Laufe der Behandlung dann krisenhaft und suizidal zuspitzen kann.


Lieber Döding (oder Andreas? Wie beliebts?),

da liegt ja der Hase im Pfeffer - psychisch erkrankte Menschen, ob nun "ernsthaft" oder nur mit einer Anpassungstörung (obwohl die ja eher seltener zu Suizid neigen), sind ja nicht mehr zu 100% Herr ihres eigenen Willens, deswegen landen die ja bei Ihnen. Gerade Ihr Beispiel zeigt ja sehr deutlich, dass nach erfolgreicher Therapie die Suizidgefahr vorbei ist und das Verhalten rückblickend anders bewertet wird. Da würde ich schon noch einen Unterschied ziehen wollen zur vollkommenen Entscheidungsfreiheit.

Gleichwohl: Natürlich ist ein pragmatisches Herangehen bei Sterbehilfe und Lebensende sinnvoll, und die Diskussion, so erhitzt sie sein mag, auch; sie ist nachgerade dringend nötig. Und sei es nur darum, dass sich jeder mit dieser Entscheidung in Bezug auf sein eigenes Ende befasst. Und, wie man den Kommentaren hier entnehmen kann, sieht da jeder unterschiedliche Wege. Dieser Vielfalt sollte der Gesetzgeber, wenn denn unbedingt eine Regelung notwendig sein sollte, auch Rechnung tragen.

Freundlichst,
Krischan


Volle Zustimmung, lieber Krischan, zu beiden Ihrer Punkte. Eine relevante Einschränkung des "freien Willens" hat man natürlich nur bei den schweren und schwersten Fällen, wie ebenjenen, die zu suizidalen Krisen führen. Man kann sich eben nicht "aus der Depression (oder Schizophrenie) heraus" und gleichzeitig "aus dem freien Willen heraus" umbringen wollen; so zumindest meine feste Überzeugung.

Zur Anrede: ist mir im Rahmen des im Forum üblichen wurscht. Wenngleich mir die norddeutsche Variante Vorname plus "Sie" grundsympathisch ist; also gerne so. Man kennt sich ja nun schon ein Weilchen...

Herzliche Grüße,
Andreas

Techniknörgler Offline



Beiträge: 2.738

22.01.2014 18:39
#46 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat
Sieht man rein das Handeln, eine Tötung, ist es ethisch nach unserem Verständnis nicht vertretbar.
Sieht man rein das Ziel, kann uns (unter bestimmten Umständen) die "unethische" Handlung der Tötung durchaus ethisch vertretbar erscheinen. Aber sie muß es nicht.




Ich sehe hier nicht den Konflikt zwischen Handlungs- und Zielethik.

Eine Tötung ohne Zustimmung des Getöteten ist ethisch nach unserem Verständnis nicht vertretbar. Eine gezielte Tötung ohne Zustimmung des Getöteten wäre nur im Falle der Notwehr oder Nothilfe zulässig. Ansonsten ist sie unzulässig.

Ein "Zielethiker" würde nun noch das Ziel berücksichtigen. Zum Beispiel würde er nach dem "wahren Motiv" hinter der Handlung fragen, sprich darüber spekulieren, ob der "Helfer" vielleicht böse Ziele verfolgt hat, wie Bush im Iran, als er Saddam Hussein gestürzt hat: Einen Diktator zu stürzen ist nach Zielethik an sich weder gut noch böse, aber das unterstellte Ziel, nämlich ein egoistisches Eigeninteresse einiger Kräfte in den USA war es. Während der Sturz eines Pinochets eine gute Tat gewesen wäre im Kampf gegen den bösen Kapitalismus. An letztem Beispiel erkennt man aber auch die Anfälligkeit der Konservativen für Zielethik: Das Ziel den Kommunismus in Schach zu halten - so nobel es auch ist, ich mag den Kommunismus nicht - hat hier plötzlich alles gerechtfertigt.)

Edit: Verwirrende Satzkonstruktion korrigiert.

______________________________________________________________________________

“Being right too soon is socially unacceptable.”
― Robert A. Heinlein

alteseuropa Offline



Beiträge: 259

23.01.2014 18:55
#47 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Bei diesem Thema habe ich so einige Bauchschmerzen. "Aktive Sterbehilfe" klingt doch sehr nach einem Euphemismus. Die Sendung im Fernsehen habe ich mir auch nicht angesehen (schon seit längerem bemühe ich mich, meine Nerven zu schonen), aber am nächsten Tag die Kommentare in der FAZ gelesen. Einige meinten, man wolle ihnen verbieten, sich umzubringen. Nun, wer könnte das überhaupt, wenn man nicht jedem Menschen einen Wächter zur Seite stellen will.
Aber ich komme schon mit dem Begriff nicht klar. Was ist damit gemeint? Das Bereitstellen oder Zur-Verfügung-Stellen eines tödlichen oder in entsprechender Dosierung tödlichen Medikaments, was dann eher als Beihilfe zum Suizid zu bezeichnen wäre, oder das aktive Töten beispielsweise per Spritze? Oder Ersticken oder Strangulieren auf Wunsch?

Christoph Offline




Beiträge: 241

24.01.2014 02:04
#48 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Lieber Andreas Döding,

Ich versuchte mich kurz zu fassen, aber dafür fehlt mir leider die Zeit.

Zitat von Doeding im Beitrag #43

Mir scheint, man muß hier zwei Ebenen unterscheiden. Zum einen Ihr fast idealtypisch liberales Staatsverständnis, von dem ausgehend Sie selbstverständlich recht haben,

Hätte ich von dort ausgehend recht, eigentlich aber nicht – dann müsste ich wohl vom falschen Punkt ausgegangen sein. Eine unbequeme Situation, weil man, von unterschiedlichen Prämissen ausgehend, nicht leicht diskutieren kann.

Zitat
und zum anderen der Aspekt „Wunschkonzert“;


Als «Wunschkonzert» würde ich eher den Versuch bezeichnen, die aus individueller und heutiger Sicht richtige Lösung jedes Einzelfalls mit haarkleinen Regelungen in Gesetze zu gießen, die bei ihrer Bekanntgabe schon veraltet sind, von niemandem mehr verstanden werden, eine riesige Bürokratie mit ihrer Umsetzung beschäftigen und doch nicht jedem Einzelfall gerecht werden können; Deshalb werden sie mindestens jährlich aktualisiert, um nicht zu sagen, ausgeweitet und verschlimmert. Siehe die SGBs und das deutsche Steuerrecht. Beides sicher keine Paradebeispiele idealtypischer Liberalität.

Mein Staatsverständnis nimmt gerade von da seinen Ausgangspunkt: das grauslig tönende «Wunschkonzert» der Interessengruppen zu beenden; was aber nur gelingen kann, indem die Kompetenzen des Staates eingegrenzt werden – ihm die falschen Töne ausgetrieben werden, sein Instrument neu gestimmt wird.

Zitat
soll heißen, daß wir nun mal in der Bundesrepublik im Jahr 2014 leben,


Ist da nun ein anderes Staatsverständnis als das meine nötig, oder ist meines bloß nicht durchsetzbar? Da hätten wir schon eine neue Trennungsebene geschaffen zwischen:
1. welcher Zustand sollte angestrebt werden?
2. Wie wäre der am besten zu erreichen?

Zitat
für die mit Blick auf Sterbehilfe auf Basis der geltenden [Gesetze]


Eine mögliche Änderung dieser geltenden Gesetze ist gerade der Gegenstand der Diskussion.

Zitat
und in realistischem Rahmen änderbaren Gesetze


das wäre dann der o.g. Punkt 2 – wie lässt sich der «eigentlich richtige» Zustand herbeiführen

Zitat
pragmatische Lösungen gefordert sind.


damit kommen Sie der Differenz zwischen uns wohl am nächsten. Zunächst sehe ich nicht, wie die von mir skizzierten Regeln «pragmatische Lösungen» verhindern sollten – sie schreiben sie bloß nicht so detailiert vor, und lassen die Pragmatik vor allem dort, wo sie hingehört: bei den Beteiligten, die ihre eigene Situation allein angeht, und die sie auch am Besten kennen: den «Patienten», den Ärzten, den Angehörigen – die ja alle frei in ihrer Entscheidung und auch frei, sich Rat und Hilfe bei Betreuern, Ethik-Komissionen, Kirchen, Gewerkschaften u.s.w. zu holen, wenn sie sich überfordert fühlen.

Zitat
Mit „Vernunft“ meinte ich, ausgehend von der aktuellen Lebensrealität, eher so etwas wie „gesunder Menschenverstand“,


mir jucken die Finger …

Zitat
eine Vorstellung, die Sie höchstwahrscheinlich wohlbegründet ablehnen werden.


… na, gut spulen wir etwas vor. Ein Zitat mag genügen, das Einstein zugeschrieben wird:

Zitat von A. Einstein
Der gesunde Menschenverstand ist die Summe aller Vorurteile, die wir bis zum 18. Lebensjahr erworben haben.



Zitat
Mein Ausgangspunkt ist eben nicht ein idealtypisch-liberales Staatswesen, wie es Ihnen, wohl als Nachtwächterstaat, vorschwebt, sondern das, was wir heute haben.


Das Staatswesen, das «wir heute haben» hat ja den von ihnen kritisierten Zustand erst hervorgebracht.

Zitat
Gleichwohl, viele Entscheidungen im Zusammenleben zwischen Menschen laufen ja eher nach Daumenregeln (die ja keineswegs automatisch liberalen Kriterien genügen), also heuristisch ab, und der Staat sieht es vielleicht zunächst als seine Aufgabe an (was man kritisieren kann und wahrscheinlich muß), diese Daumenregeln in Gesetze zu gießen (um dann zunehmend Eigendynamik zu entwickeln und „überbordend“ zu werden).


Sie beschreiben es genau, doch welchen Schluß ziehen Sie daraus? Wenn man diese Art der Gesetzgebung «kritisieren kann und wahrscheinlich muß», warum tun Sie es dann nicht? Warum plädieren Sie stattdessen dafür, der Staat möge auch hier wieder Daumenregeln in Gesetze zu gießen?

Was sie als Idealvorstellung bzw. Pragmatismus beschreiben, fügt sich recht gut in das Schema Top-Down- und Bottom-Up-Ansatz, das in der Technik verbreitet ist:

Der Top-Down-Ansatz beim Hausbau wäre z.B.: Grundriss festlegen, Dimensionen des Hauses bestimmen, Fassade, Dach, etc. festlegen, Passendes Grundstück suchen u.s.w.. Der Bottom-Up-Ansatz: wir haben da ein Grundstück geerbt, da passt das Haus noch drauf. Unser grünes Sofa behalten wir, also Wohnzimmer-Tür = Sofa + 5 cm breit. Die Schwiegereltern kaufen eine neue Küche und wir nehmen die alte. Der Grundriss von der Küche liegt damit fest. Das Haus muss ein bisschen höher werden, als das vom Nachbarn, … Die jeweiligen Nachteile dieser Methoden sind offensichtlich.

So hier: Top-Down- Der weltfremde Liberale spinnt sich in seinem Zimmer, dass er nie verlässt, nach wohlklingenden Prinzipien (je Lateiner desto besser) einen Idealstaat, der zwar nur zehn Gesetze benötigt, im echten Leben aber nie funktionieren könnte. Er meißelt die 10 Gebote in handliche Steintafeln und wartet damit auf dem Berg Sinai vergeblich auf einen, der sie abholt.
Bottom-Up: Der bodenständige Praktiker weiß schon, was funktioniert, hat tausend Einzelfälle gesehen, deren nach fachmännischem Wissen beste Lösung er in einer 100-seitigen Broschüre zusammenfasst, die an den Berufsschulen schnell Popularität gewinnt. Damit ahnungslose Kunden vor schlimmen Scharlatanen bewahrt werden, wird das Arbeiten nach der Broschüre für verbindlich erklärt.

Die scheinbare Überlegenheit der Bottom-Up-Methode in der Gesetzgebung beruht m.E. auf drei Mißverständnissen:
1. im Top-Down Ansatz scheinen praktische Erfahrungen und Erfordernisse gar nicht vorzukommen.
Tatsächlich liegen diese in den wohlklingenden Grundsätzen und den Prinzipien des Liberalen verborgen, die, Überraschung: Bottom-Up- aus praktischer Erfahrung destilliert sind, und zwar praktischer Erfahrung aus vielen Gebieten und langen Zeiträumen.
2. die Fachleute jedes Gebiets kennen alle relevanten Fälle, die zu berücksichtigen sind.
Ein Fachmann, kann 1000 verschiedene Fälle gesehen und gelöst haben und doch umfasst seine Erfahrung immer nur einen begrenzten Ausschnitt der Realität. Die Sicht anderer Betroffener wird er nicht berücksichtigen oder niedriger gewichten, als seine eigene. Zukünftige Entwicklungen kann auch der beste Fachmann nicht vorhersehen.
3. Der Top-Down-Ansatz erlaubt es nicht, im Einzelfall pragmatisch zu entscheiden
Das mag in den meisten Fällen stimmen – wenn top-down eine genaue Handlungsweise vorgeschrieben wird. Ein Prinzip des Liberalismus besteht aber gerade darin, keine genauen Handlungsanweisungen für jeden Einzelfall zu geben, sondern jedem Individuum soviel Entscheidungsfreiheit wie möglich zu belassen. Diese kann dann ganz pragmatisch genutzt werden.

Ich habe nach einer griffigen Illustration von Bottom-up oder Top-Down-Prinzip gesucht und diese gefunden. Erstaunlicherweise sieht in der Praxis die weltfremde liberale Kopfgeburt eher nach der Bottom-Up-Methode aus (2. Bild. Entscheidungen an der Basis). Während scheinbar pragmatisch entstandene Gesetze eher zum Diktat von oben nach unten führen (erstes Bild). Manche Einzelsituation wird der Pragmatiker eben doch nicht vorhersehen und wer in dieser Situation steckt wird das pragmatische Gesetz als auferlegten und willkürlichen Zwang empfinden.

Mit den Daumenregeln gibt es besonders ein Problem:
Wenn alle die selben «Daumenregeln» anwendeten, hätten sich alle schnell auf ein Gesetz geeinigt, das nicht nur ganz unnötig sondern auch schädlich wäre. Auf diese Weise erschafft man eine restriktive Gesetzgebung, die jede Abweichung von der Norm und damit auch jeden Fortschritt erstickt, indem sie zum Schluss bis zur Höhe des Trinkgelds für den Taxifahrer auf die denkbar kleinlichste Weise regeln (ich finde diese, der Demokratie innewohnende Tendenz sehr prägnant vom bekennenden Monarchisten Friedell beschrieben). Wenn aber verschiedene Menschen, Konfessionen, u.s.w. verschiedene «Daumenregeln» verwenden, so zwingt das Gesetz einer große Zahl von Menschen ihnen ganz fremde Regeln auf. Mit der «Vernunft» des «gesunden Menschenverstands» lassen sich solche Konflikte (wie sie z.B. hier beim Thema Sterbehilfe schon deutlich aufscheinen) nicht lösen, denn im Besitz des «gesunden Menschenverstand» wähnen sich alle. Konflikte werden so nicht gelöst sondern erst geschaffen. Im schlimmsten Fall spalten sich die verschiedenen Gruppen zum Schluss die Köpfe (siehe Religionskriege, siehe Balkan, siehe Stammeskriege nach schneinbar jeder zweiten «Wahl» in Afrika).

Sie selbst zeigen anhand praktischer Beispiele, daß die Ihnen vorschwebenden Regeln befriedigende Lösungen ermöglichen, befördern oder sogar erzwingen. Das wundert allerdings nicht, denn vermutlich waren es gerade solche Beispiele, anhand derer die Regeln konstruiert wurden – bewusst oder unbewusst. Allerdings umfassen diese Beispiele nicht alle vorkommenden Fälle nicht heute und schon gar nicht in Zukunft. Zudem ist dieses Verfahren kaum geeignet, Zweifler zu überzeugen, die im Einzelfall andere Lösungen präferieren – die werden dann demokratisch «überstimmt.» – zu ihrem Glück oder Unglück gezwungen weil irgendeinem Pragmatiker, daß das, was sie vorhaben nicht sinnvoll erschien.

Zitat
Ein Beispiel für eine staatliche Regelung, die ich […] befürworte: […] Beruflich zu mir kommen […] erkrankte Menschen […]. […] Wenn sich die Hinweise dann verdichten, daß eine akute Suizidalität vorliegt […], bin ich vom Staat verpflichtet, Ordnungsamt und Sozialpsychiatrischen Dienst zu informieren, die dann eine Unterbringung prüfen und ggf. veranlassen. […] Ich habe aber noch nie jemand sagen hören „Hätte man mich bloß gelassen“; dagegen sehr viele, die sich heilfroh äußern, daß man sie „gehindert“ habe.


Tja. Was ist bloß aus dem guten alten Beichtgeheimnis geworden? Müssen Sie Ihre Patienten dann warnen «Alles, was Sie hier sagen, kann für sie verwendet werden.»?

Nun. Offenbar folgen Sie auch einem eigenen Impuls, wenn Sie eine Unterbringung anstoßen. Die Betroffenen machen offenbar freiwillig mit und hinterher sind alle zufrieden. Warum brauchen Sie also ein Gesetz, dass allen anderen zwingt, genauso zu handeln?

Zitat
Staat und Bevölkerung stehen hier mMn in einem wechselseitigen Erziehungs- und Konditionierungsprozeß,
der sich gegenseitig aufschaukelt (und freilich auf Kosten der individuellen Freiheit geht). Nicht „der Staat“, sondern Staat und Bevölkerung, in wechselseitigem Einvernehmen.

Wo Einvernehmen herrschte, bräuchte es keine staatliche Gewaltandrohung. Der Staat ist ja kein therapeutischer Gesprächskreis – sondern eben das: die gewaltsame Durchsetzung von Gesetzen.

Und wäre ich der dümmste Mensch auf Erden: ich ließe mich mich von Ihnen nicht erziehen, und auch von keinem anderen. sei er Nobelpreisträger oder Analphabet, Egoist oder Altruist, bös- oder gutwillig – Es sind Tyrannen, alle miteinander, die meinen, mich mit Polizeigewalt erziehen zu müssen – vielleicht zum Verzehr von Brokolli. Es ist ein furchtbarere Strickfehler der Demokratie, daß sie diese Tyrannei sowohl begünstigt als auch verschleiert (indem die Mehrheitsentscheidung ein «Einvernehmen» suggeriert).

Zitat
Das ist, aus meiner Sicht, die Realität, mit der wir aktuell leben (müssen).


Und weil es Realität ist, soll es auch Realität bleiben?

Zitat
Die Mehrheit der Menschen möchte in bestimmten Krisensituationen die Verantwortung für ihre Situation abgeben, und der Staat bedient diesen „Markt“.


Ich gestehe dem, der irgendeinen Dummen sucht, um ihm die Verantwortung abzunehmen, alle Möglichkeiten zu, die sich dazu bieten, nur nicht eine: mich ebenfalls zur Abgabe von Verantwortung zu zwingen.

Zitat
Da greift bloße (und meist abstrakte) Staatskritik zu kurz;


Erst aus tausend Beispielen falschen oder gar verheerenden staatlichen Handelns, die man vernimmt oder erlebt, ensteht doch der Wille, die abstrakten Prinzipien zu finden, die dazu führen, dass ein Staat entsteht oder entartet, wie es der unsere tut. Ich weiß ehrlich nicht, worauf Sie hinauswollen: Sie wünschen offenbar das eine oder andere liberalere Gesetz, halten aber die liberale Prinzipien offenbar für untauglich, Gesetze danach zu konstruieren. Wenn Sie Gesetze immer von dem Standpunkt aus konstruieren, daß der Staat ein Obrigkeitsstaat ist und bleiben soll, dann gleichen die so entstehenden Gesetze eben immer Diktaten der wohlmeinenden Obrigkeit.

Wenn Sie als Experte in Ihrem Fachbereich stets das wohlmeinende Diktat an die offenbar hilflosen Mitmenschen fordern, wie können Sie dann erwarten, daß andere Experten es zulassen, daß Sie deren Erkenntnisse ignorieren? (Bsp.: Schockbilder auf Zigarettenschachteln oder die gemeinwohlförderliche Investition des BIP bei schrittweiser Aufhebung des Privateigentums).

Viele Grüße,
Christoph

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

03.02.2014 19:16
#49 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Die Geschichte über die alten Römer, die ich irgendwo las ...

Wer hätte das gedacht, ich stoße auf das Zitat zu Menschenopfern zufällig, beim Wieder-Lesen von Arno Schmidts "Kosmas oder Vom Berge des Nordens". Es lautet: "Depontani: zur Zeit der römischen Republik wurde4, wer unnütz 60 war, von der Brücke in den Tiber geworfen."
(Im Fischer-Tb 719 Seelenlandschaft mit Pocahontas S.94)
L. Weimer

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

03.02.2014 19:21
#50 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zwei Korrekturen nötig:Ziffer 4 streichen,statt Seelenlandschaft: Seelandschaft

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 Sprung  



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