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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 98 Antworten
und wurde 11.054 mal aufgerufen
 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Seiten 1 | 2 | 3 | 4
alteseuropa Offline



Beiträge: 259

07.02.2014 11:47
#76 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat
Zitat

Zitat
Ärzte dürfen jedem Gesunden auf seinen Wunsch hin die Nase oder die Ohren abschneiden?


Natürlich. Die ganze Schönheitschirurgie macht im Grunde genau das. Da kann man die Nase umformen lassen, die Ohren anlegen. Manche lassen sich den Busen entfernen. Männer, die lieber Frauen wären, lassen die Hoden entfernen. Andere lassen sich den Samenleiter durchtrennen, also kastrieren.Manche finden es schön, einen Haufen Gerümpel an Ohren, Nase, Zunge, Lippen, Brustwarzen oder an den Genitalien zu befestigen. Manche lassen sich irgendwelche Buckel unter die Haut schieben. Bei irgendeinem Volksstamm werden den Männern Muster in den Rücken geritzt, damit sie nach Krokodil aussehen.
Soll denn nun «das gesunde Volksempfinden», der alte Tyrann, entscheiden, wann so etwas gut oder böse, gerechtfertigt oder verboten ist? Niemand weiß das doch besser und hat ein höheres Recht darauf, das zu entscheiden, als der Betroffene selbst.



Genau in Ihren Beispielen zeigen Sie, daß es irgendwo eine Grenze gibt. Sie machen keinen Unterschied zwischen der Entfernung einer Warze und dem Abhacken eines Armes. Die Grenze bei der Nasenkorrektur ist ebenfalls fließend. Da gibt es die Korrektur wegen eines tatsächlich verunstaltenden Zinkens, die schon etwas seltsamere, weil man ein Näschen wie Filmstar XY haben will, und dem von mir genannten drastischen Beispiel des Entfernens der ganzen Nase. Glauben Sie im Ernst, ein Arzt verliere nicht seine Approbation, wenn er diesem Wunsch nachkäme? Und das hat mit dem "gesunden Volksempfinden", das Sie mir unterstellen (Godwin's Law), überhaupt nichts zu tun. Es gibt eine (nicht genau zu bestimmende) Grenze zwischen Selbstbestimmung und Selbstverstümmelung, die leider oft nicht aufzuhalten ist, wenn sich das jemand im stillen Kämmerlein antut (aber sicher jeder Mitmensch, der dazukommt, versucht den Betreffenden aufzuhalten), aber bei der ein Arzt bestimmt nicht mitwirken darf.

Nach Ihrer Logik ist es auch durchaus unverständlich, warum Passanten Feuerwehr und Polizei holen, wenn sie einen Menschen entdecken, der auf einem Hochhaus steht und im Begriff ist zu springen.

Da steht Christoph kopfschüttelnd, warum die Feuerwehr ein Sprungtuch ausbreitet und womöglich ein herbeigeeilter Psychologe versucht, den armen Menschen vom Sprung abzuhalten. Christoph verkündet allen Umstehenden: "Es ist sein freier Wille. Laßt ihn springen."

adder Offline




Beiträge: 1.073

07.02.2014 13:28
#77 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von Christoph im Beitrag #73
Manche lassen sich den Busen entfernen. Männer, die lieber Frauen wären, lassen die Hoden entfernen.


Lieber Christoph, ich bekomme langsam den Eindruck, Sie hätten etwas gegen Transsexuelle.

Zitat von Christoph im Beitrag #73
Das hat er natürlich, nach geltenden Gesetzen. Das Gesetz hat er gebrochen, und das kann man ihm vorwerfen. Aber war sein Tun, abgesehen vom Gesetzesbruch Unrecht? Was werfen Sie ihm denn vor? Daß er ihr ästhetisches Empfinden verletzt? Das ist ein bisschen wenig.


Wie bitte? Er hat gegen ein - aus gutem Grund bestehendes - Tabu verstoßen. Kannibalismus ist im westlichen Kulturkreis - außer in Ausnahmesituationen - absolut unüblich und immer verwerflich. Das hat nichts mehr mit "ästhetischem Empfinden" zu tun.

Und als Replik auf Ihr Mises-Zitat: ich verwehre niemandem, so zu leben, wie er will. Ich verwehre ihm nur, diese Lebensansichten auf andere auszudehnen. Wenn sich jemand den Penis ambutieren will, soll es das machen. Wenn jemand einen Penis amputieren und essen will, soll er es mit seinem eigenen machen. Ganz einfach. Aber es bei anderen zu machen, ist ein Eingriff in deren Freiheit - selbst wenn sie glauben, es auch "zu wollen".

Techniknörgler Offline



Beiträge: 2.738

07.02.2014 18:23
#78 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von adder im Beitrag #77

Und als Replik auf Ihr Mises-Zitat: ich verwehre niemandem, so zu leben, wie er will. Ich verwehre ihm nur, diese Lebensansichten auf andere auszudehnen. Wenn sich jemand den Penis ambutieren will, soll es das machen. Wenn jemand einen Penis amputieren und essen will, soll er es mit seinem eigenen machen. Ganz einfach. Aber es bei anderen zu machen, ist ein Eingriff in deren Freiheit - selbst wenn sie glauben, es auch "zu wollen".


Dieser Logik kann ich nicht folgen. Man kann gerne sagen der Schutz der nötigsten Grundlagen der Zivilisation geht in diesem Fall der individuellen Freiheit vor, aber jetzt den Begriff der Freiheit umzudeklarieren und zu behaupten jemand "glaube [nur] es auch zu wollen", es sei immer ein Eingriff in seine Freiheit, denn wenn er so etwas mit sich von anderen machen lässt, dann könne es nicht sein wahrer Wille sein, das geht mir zu weit. Wo ist denn da noch die Grenze, wo ist der Unterschied zur linken Argumentation, in der auch Dritte ihren Willen besser kennen als sie selber?

Daher: Ein Grundkonservatismus (=Verteidigung der Zivilisation) als Bewahrer der notwendigen Grundlage für individuelle Freiheit (=Ziel der Liberalen) ist auch aus liberaler Sicht zu rechtfertigen, in dem Rahmen in dem er wirklich notwendig ist. Aber bitte nicht als Selbstzweck und insbesondere nicht als U-Boot um den Freiheitsbegriff umzudeklarieren.

______________________________________________________________________________

“Being right too soon is socially unacceptable.”
― Robert A. Heinlein

Simon Offline



Beiträge: 334

07.02.2014 21:03
#79 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #4
Die Gedanken zum Thema sind wohl umfassend dargestellt; ich denke nur noch an eine unerwähnte Konsequenz. Dazu eine Geschichte, die ich irgendwo las und die mir glaubhaft vorkam:
Als die Römer noch am Anfang ihres Reichaufbaus und wirtschaftlich knapp dranwaren, führten sie die über Sechzigjährigen eines Nachts auf die Tiberbrücke und kippten sie hinein. Offensichtlich gab es keinen Protest; das Sichopfern gehörte zum Ethos. Das passte zu dem, was ich im Lateinunterricht gehört hatte: Mit dem vierzigsten Lebensjahr fiel man dem Tod nicht mehr in den Arm, etrug das Faulen der Zähne männlich und ging nicht mehr zum Arzt.
Was ich als Konsequenz bei der heutigen Debatte, die ja auch eine ökonomische Seite hat, vermisse, ist die Frage: Was sagen die Nahestehenden, wenn ein geistig noch reger Patient sich zu opfern wünscht? Gibt es da eine Grenze? Sie kann nicht herunter reichen bis zur Erforschung und Entscheidung vor der Geburt, denn "Opfern" wäre hier eine fremdbestimmte Entscheidung. Das war das Argument von Habermas: In unserer Kultur herrsche Übereinstimmung darüber, dass jeder Mensch das Recht habe, seine Meinung zu äußern; die Mutter könne nicht sagen "Mein Bauch gehört mir", das Kind müsse gefragt werden, ob es leben wolle oder nicht.
Gruß, Ludwig Weimer

adder Offline




Beiträge: 1.073

07.02.2014 22:38
#80 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von Techniknörgler im Beitrag #78
Zitat von adder im Beitrag #77

Und als Replik auf Ihr Mises-Zitat: ich verwehre niemandem, so zu leben, wie er will. Ich verwehre ihm nur, diese Lebensansichten auf andere auszudehnen. Wenn sich jemand den Penis ambutieren will, soll es das machen. Wenn jemand einen Penis amputieren und essen will, soll er es mit seinem eigenen machen. Ganz einfach. Aber es bei anderen zu machen, ist ein Eingriff in deren Freiheit - selbst wenn sie glauben, es auch "zu wollen".


Dieser Logik kann ich nicht folgen. Man kann gerne sagen der Schutz der nötigsten Grundlagen der Zivilisation geht in diesem Fall der individuellen Freiheit vor, aber jetzt den Begriff der Freiheit umzudeklarieren und zu behaupten jemand "glaube [nur] es auch zu wollen", es sei immer ein Eingriff in seine Freiheit, denn wenn er so etwas mit sich von anderen machen lässt, dann könne es nicht sein wahrer Wille sein, das geht mir zu weit. Wo ist denn da noch die Grenze, wo ist der Unterschied zur linken Argumentation, in der auch Dritte ihren Willen besser kennen als sie selber?


Gute Frage, denn bei Freigabe von kulturfremden Taten an anderen "auf Verlangen" wird mit Sicherheit genau dieses ("sie wollten es ja auch") ständig behauptet werden. Ich glaube aber nicht, dass ein normaler Mensch einen solchen Tabubruch (zivilisatorischer Bruch) tatsächlich aus freien Willen so sehr wollen könnte, dass er ihn auch durchführt. Selbst in Randgruppen unserer westlichen Kultur, die aus konservativer Sicht sicherlich schon einen Kulturbruch begehen (und aus linker Sicht gar schröcklich sind, da sie nicht dem political correct mainstream entsprechen) ist ein solcher Kulturbruch ja verpönt.

Aber Sie haben tatsächlich recht: ich habe - da ich mich doch sehr über die unanständigen Vergleiche erregt habe - mich hier verrannt. Dennoch bin ich der Meinung, dass das Mises-Zitat sich nicht auf "Kannibalismus auf Verlangen" oder "Tötung auf Verlangen" anwenden lassen sollte. Und sei es nur deshalb, weil die Freiheit, Unrecht zu begehen (und nichts anderes ist Kannibalismus), eben auch eine Freiheitsberaubung der anderen darstellt.

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

07.02.2014 23:04
#81 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von Simon im Beitrag #79
Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #4
Die Gedanken zum Thema sind wohl umfassend dargestellt; ich denke nur noch an eine unerwähnte Konsequenz. Dazu eine Geschichte, die ich irgendwo las und die mir glaubhaft vorkam:
Als die Römer noch am Anfang ihres Reichaufbaus und wirtschaftlich knapp dranwaren, führten sie die über Sechzigjährigen eines Nachts auf die Tiberbrücke und kippten sie hinein. Offensichtlich gab es keinen Protest; das Sichopfern gehörte zum Ethos. Das passte zu dem, was ich im Lateinunterricht gehört hatte: Mit dem vierzigsten Lebensjahr fiel man dem Tod nicht mehr in den Arm, etrug das Faulen der Zähne männlich und ging nicht mehr zum Arzt.
Was ich als Konsequenz bei der heutigen Debatte, die ja auch eine ökonomische Seite hat, vermisse, ist die Frage: Was sagen die Nahestehenden, wenn ein geistig noch reger Patient sich zu opfern wünscht? Gibt es da eine Grenze? Sie kann nicht herunter reichen bis zur Erforschung und Entscheidung vor der Geburt, denn "Opfern" wäre hier eine fremdbestimmte Entscheidung. Das war das Argument von Habermas: In unserer Kultur herrsche Übereinstimmung darüber, dass jeder Mensch das Recht habe, seine Meinung zu äußern; die Mutter könne nicht sagen "Mein Bauch gehört mir", das Kind müsse gefragt werden, ob es leben wolle oder nicht.
Gruß, Ludwig Weimer


Es sollte einem nicht verboten sein, sich verantwortungslos zu verhalten - in dem man sich das Leben nimmt und die Angehörigen mit ihren Schuldgefühlen zurück lässt, so als würde man sie bestrafen, wie es sich das ungeliebte Kind ausmahlt.
Aber hier einen Schritt weiterzugehen und noch die Tat selbst von jemand anderem zu "verlangen", ist der Feigheit und Verantwortungslosigkeit höchste Ausdrucksform beim aus dem Leben scheiden.
Den Begriff des Selbsteigentums so sehr von dem der Verantwortung zu trennen, verkennt, wie sehr die Nächsten am eigenen Eigentum teilhaben und wie sehr man selbst am Eigentum seiner Nächsten teilhat. Das geht auf Kosten der eigenen Freiheit und kann u.U. durchaus zu weit gehen.
Dennoch, beide Absolutheiten - die völlige Selbstaufgabe und die völlige Verweigerung der Abgabe eines Teils seines Selbsteigentums - offenbaren nicht gleichermaßen, dass es auch die Liebe ist, welche die individuelle Freiheit begrenzt.
Die Liebe zu sich selbst und damit die zu anderen.
Die Tötung auf Verlangen ist beides: Selbstaufgabe bei gleichzeitiger Einforderung des gesamten Selbsteigentums. Insofern ist sie hinsichtlich der Freiheit ein Paradoxon.

Viele Grüße, Erling Plaethe

Christoph Offline




Beiträge: 241

08.02.2014 03:40
#82 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von alteseuropa im Beitrag #76

Zitat
Da kann man die Nase umformen lassen, die Ohren anlegen. Manche lassen sich den Busen entfernen. Männer, die lieber Frauen wären, lassen die Hoden entfernen. Andere lassen sich den Samenleiter durchtrennen, also kastrieren.Manche finden es schön, einen Haufen Gerümpel an Ohren, Nase, Zunge, Lippen, Brustwarzen oder an den Genitalien zu befestigen. Manche lassen sich irgendwelche Buckel unter die Haut schieben. Bei irgendeinem Volksstamm werden den Männern Muster in den Rücken geritzt, damit sie nach Krokodil aussehen.

Genau in Ihren Beispielen zeigen Sie, daß es irgendwo eine Grenze gibt. Sie machen keinen Unterschied zwischen der Entfernung einer Warze und dem Abhacken eines Armes.

Genau. Und ich warte immer noch darauf, daß Sie mir erklären, warum ich damit falsch liege. Diese Fälle unterscheiden sich bestimmt in vielerlei Hinsicht, aber ich sehe keine Grenze zwischen Recht und Unrecht. Wenn die Existenz irgendeiner Grenze so offensichtlich ist, warum können sie dann deren Verlauf nicht bestimmen?

Zitat
Die Grenze bei der Nasenkorrektur ist ebenfalls fließend. Da gibt es die Korrektur wegen eines tatsächlich verunstaltenden Zinkens, die schon etwas seltsamere, weil man ein Näschen wie Filmstar XY haben will, und dem von mir genannten drastischen Beispiel des Entfernens der ganzen Nase.


Tja. «verunstaltend», «seltsam», «drastisch»: alles willkürliche, subjektive Bewertungen. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn Sie für sich persönlich entscheiden. Für eine rechtsstaatlich saubere Regelung müsste es schon überprüfbare Kriterien geben.
Dabei ist es schlicht nicht notwendig, eine solche Abwägung allgemein für alle zu treffen oder die Entscheidung jedes Einzelnen über die Umformung seines Körpers zu beschränken.

Zitat
Glauben Sie im Ernst, ein Arzt verliere nicht seine Approbation, wenn er diesem Wunsch nachkäme?


Vielleicht habe ich mich da missverständlich ausgedrückt: es geht mir nicht darum, was ein Arzt nach geltenden Gesetzen tun darf, sondern darum, was er meiner Meinung nach dürfen sollte.

Zitat
Und das hat mit dem "gesunden Volksempfinden", das Sie mir unterstellen (Godwin's Law)


Unterstellungen pflege ich mit ‹.› oder ‹!› abzuschließen. Hier stellte ich aber eine Frage: «Soll denn nun ‹das gesunde Volksempfinden› […] entscheiden […]?» Eine einfache und, wie ich meine, auch berechtigte Frage. Soll es entscheiden: ja oder nein? Und wenn nicht: wer oder was dann?

Zitat
Und das hat mit dem "gesunden Volksempfinden […] "überhaupt nichts zu tun.


Was zu beweisen wäre.

Zitat
Es gibt eine (nicht genau zu bestimmende) Grenze zwischen Selbstbestimmung und Selbstverstümmelung,


Was ebenfalls zu beweisen wäre. Ich meine: Grenzen gibt es zwischen Begriffen der gleichen Kategorie, die sich gegenseitig ausschließen, zum Beispiel zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, zwischen Bayern und Österreich, oder zwischen Vormittag und Nachmittag. Dagegen liegen Bestimmung und Verstümmelung auf ganz verschiedenen Landkarten, so daß der Begriff der Grenze hier sinnlos ist. Es wird Ihnen auch nicht gelingen, eine Grenze zwischen Vormittag und Österreich zu ziehen.

Zitat
Selbstverstümmelung […] bei der ein Arzt bestimmt nicht mitwirken darf.


Bestimmt von wem und mit welchem Recht?

Zitat
Nach Ihrer Logik ist es auch durchaus unverständlich, warum Passanten Feuerwehr und Polizei holen, wenn sie einen Menschen entdecken, der auf einem Hochhaus steht und im Begriff ist zu springen.


Durchaus nicht. Keine Regel der Logik verbietet es mir, die Legalisierung von Erdbeer-Eis zu befürworten und gleichzeitig einem Freund von dessen Verzehr abzuraten, weil ich den Geschmack scheußlich finde.


Zitat
Da steht Christoph kopfschüttelnd, […]. Christoph verkündet allen Umstehenden: […]


Na bitte. So sehen Unterstellungen aus :).

Viele Grüße,
Christoph

Christoph Offline




Beiträge: 241

08.02.2014 04:37
#83 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Lieber adder,

Zitat von adder im Beitrag #77
Zitat von Christoph im Beitrag #73
Manche lassen sich den Busen entfernen. Männer, die lieber Frauen wären, lassen die Hoden entfernen.


Lieber Christoph, ich bekomme langsam den Eindruck, Sie hätten etwas gegen Transsexuelle.

Woher? (Warum vor allem «langsam»?)
Ich nenne einen Eingriff, den manche vornehmen lassen, und ich möchte keinen Zweifel daran lassen, daß ich einen solchen Eingriff im gegenseitigen Einvernehmen durchaus für recht halte. Darüber hinaus bin ich neugierig mit welchem Recht jemand die Amputation eines Ohrs verbieten sollte, die Amputation des Hodens aber nicht. Ich persönlich würde doch lieber auf das Ohr verzichten, als auf meine Hoden, aber andere sehen es eben umgekehrt.

Zitat von adder im Beitrag #77
Zitat von Christoph im Beitrag #73
Das hat er natürlich, nach geltenden Gesetzen. Das Gesetz hat er gebrochen, und das kann man ihm vorwerfen. Aber war sein Tun, abgesehen vom Gesetzesbruch Unrecht? Was werfen Sie ihm denn vor? Daß er ihr ästhetisches Empfinden verletzt? Das ist ein bisschen wenig.


Wie bitte? Er hat gegen ein - aus gutem Grund bestehendes - Tabu verstoßen. Kannibalismus ist im westlichen Kulturkreis - außer in Ausnahmesituationen - absolut unüblich und immer verwerflich. Das hat nichts mehr mit "ästhetischem Empfinden" zu tun.

Womit denn dann? Da gibt es zum Beispiel ein Urteil gegen Armin Meiwes das sagt:

Zitat von BGH
Rechtsgut des § 168 Abs. 1 StGB [Störung der Totenruhe] ist nicht nur der postmortale Persönlichkeitsschutz des Toten, sondern auch das Pietätsgefühl der Allgemeinheit.

Was ist nun dieses Pietätsgefühl der Allgemeinheit anderes als ästhetisches Empfinden? Mit dem Argument könnte man auch die Feuerbestattung verbieten, jegliche Obduktion und die Organspende.

Was unterscheidet denn das Tabu des Kannibalismus von denen der Homosexualität, der Transsexualität, des Sadomasochismus, der Leugnung Gottes, des Verzehrs von Hunden, des Inzests, des Verzehrs von Pferden oder des außerehelichen Geschlechtsverkehrs? Das alles ruft Empörung hervor. Je nach Zeit und Ort bei mehr oder weniger Menschen. Und? Welches dieser Tabus bestand nun «aus gutem Grund»? Woraus folgern wir, daß die britische Regierung den Homosexuellen Alan Turing nicht zur «chemischen Kastration» zwingen durfte, wir aber durchaus berechtigt sind, einen Kannibalen einzusperren?
Es ist schnell behauptet: Kannibalismus ist verwerflich. Worauf gründet sich aber diese angebliche Verwerflichkeit? Auf die Unüblichkeit sicher nicht, oder war es je verwerflich den Mount-Everest zu besteigen oder sich die Haare grün zu färben, auch als es «absolut unüblich» war?

Viele Grüße,
Christoph

--
edit: Satzzeichen

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

08.02.2014 08:35
#84 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Ich möchte alle Mitdiskutierenden in dieser Diskussion bitten, mit Bedacht die Worte zu wählen und die Personen aus dem Spiel zu lassen. Die aktive Sterbehilfe ist ein sehr sensibles Thema bei dem das Prinzip der wohlwollenden Interpretation Vorraussetzung für einen erkenntnisbringenden Diskurs ist.
Christoph hat hier, neben dem ausgezeichneten Blogbeitrag und den Kommentaren von Andreas, m. E. exzellente Beiträge geschrieben, die für die Vertiefung des Themas geradezu notwendig sind.

Viele Grüße, Erling Plaethe

alteseuropa Offline



Beiträge: 259

08.02.2014 11:16
#85 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat
Na bitte. So sehen Unterstellungen aus :).


Sie haben recht. Mein Beispiel sieht so aus. Allerdings muß ich sagen, daß es in blumigen (oder zu persönlichen) Worten die Konsequenz aus Ihrer Logik ist. Ich hätte auch schreiben können: "Würden Sie wirklich einen Menschen, der gerade dabei ist, sich zu verstümmeln oder sich von einem Hochhaus zu stürzen oder vor einen Zug zu werfen, und Sie kämen gerade zufällig dazu, nicht daran hindern wollen, diese Tat auch auszuführen?"
Und ich betone noch einmal, daß es Grenzen gibt, die nicht starr sind, die sich im Laufe der Jahrhunderte ändern können, ja, die nicht einmal heute starr sind.
Ein einfaches Beispiel: In unserer Kultur wird sich wohl niemand daran stören, wenn er an einem einsamen See auf einen nackten (badenden) Menschen stößt, nicht einmal daran, wenn er dort mit seiner Partnerin dem Liebesleben frönt. (In anderen Ländern wird er mit Steinen beworfen, und da muß man gar nicht so weit gehen.) Der gleiche Mensch oder das Pärchen (in Ausübung der gleichen Tätigkeit) in der Fußgängerzone Ihrer Heimatstadt wird wohl doch einiges Aufsehen erregen. Sollte er noch dazu auf die Idee kommen, Ihren Hauseingang als Toilette zu benutzen, dürfte wohl jedem das Hütchen hochgehen. Zumindest mit der Nacktheit, mit der er in der Fußgängerzone und anschließend in den Bäckerladen hineinspaziert, hat er doch nur sein liberales Recht wahrgenommen?
Mit anderen Worten: Liberal ist doch schön und gut (bin auch dafür), aber Grenzen sind doch vorhanden?

Doeding Offline




Beiträge: 2.612

08.02.2014 12:41
#86 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von Christoph
Was unterscheidet denn das Tabu des Kannibalismus von denen der Homosexualität, der Transsexualität, des Sadomasochismus, der Leugnung Gottes, des Verzehrs von Hunden, des Inzests, des Verzehrs von Pferden oder des außerehelichen Geschlechtsverkehrs? Das alles ruft Empörung hervor. Je nach Zeit und Ort bei mehr oder weniger Menschen. Und? Welches dieser Tabus bestand nun «aus gutem Grund»? Woraus folgern wir, daß die britische Regierung den homosexuellen Alan Turing nicht zur «chemischen Kastration» zwingen durfte, wir aber durchaus berechtigt sind, einen Kannibalen einzusperren?



Lieber Christoph,

Natürlich sind solche Tabus Veränderungen unterworfen; gleichwohl sind sie nicht willkürlich. Die meisten haben recht simple evolutionsbiologische Gründe. Die Frage, ob dies "gute" oder "schlechte" Gründe sind, stellt sich m. E. dabei nicht. Und die (Evolutions)Biologie ist eben vieles, liberal oder tolerant ist sie nicht.

Rein "darwinistisch" betrachtet sind die von Ihnen genannten Menschengruppen aus Sicht des "Kollektivs" bzw. der Art (oder auch der Eltern) ein "totes Investment", was in Gesellschaften, in denen noch stärker das Überleben im Vordergrund steht oder in denen Stammeszugehörigkeit und Kinderreichtum die hauptsächliche Zukunftssicherung darstellen, zu drastischen Maßnahmen bis hin zur Todesstrafe führen. Daß in Saudi-Arabien oder dem Iran Homosexualität oder auch Ehebruch bei Todesstrafe verboten ist, hat m. E. nur indirekt etwas mit dem Islam zu tun bzw. der Koran stellt gewissermaßen auf drastische Weise das "survival of the fittest" bzw. die Verhinderung von "Kuckuckskindern" sicher.

Je mehr eine Gesellschaft in Wohlstand lebt, desto mehr "Liberalismus" kann sie sich dagegen erlauben. Politischer (und v. a. wirtschaftlicher) Liberalismus ist ja nicht nur eine Hauptquelle von Wohlstand, scheint mir, sondern Liberalismus hat umgekehrt einen gewissen Wohlstand zur Voraussetzung). Der Liberalismus hat uns eine ganze Reihe höchst erfreulicher gesellschaftlicher Reformen beschert. So z. B. daß das "Tabu" der Homosexualität gefallen ist. Das Inzesttabu ist dagegen erhalten geblieben, was natürlich willkürlich erscheint (das Argument, daß der reduzierte Genpool mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu Fehlbildungen bei der Fortpflanzung führt sticht nicht, da auch erblich Körperbehinderte heiraten und Kinder bekommen dürfen).

Diese Liberalisierungen sind aber kulturelle und zivilisatorische Errungenschaften, die grundsätzlich die Eigenschaft haben, reversibel zu sein. Gnade den Alten und Kranken Gott, wenn es zu einem weltweiten "nuklearen" Winter infolge eines Meteoriteneinschlags käme. Da haben Ludwig Weimer, Erling und alteseuropa zweifellos, jeder auf seine Art, recht. Die Gefahr des Mißbrauchs bei einer Liberalisierung der Gesetze zum assistierten Suizid ist nicht von der Hand zu weisen, in Zeiten von Frieden und Wohlstand, so scheint mir, ist sie aber eher gering, der Gewinn an Entscheidungsfreiheit dagegen evident.

In gewisser Weise kann man den Liberalismus wohl als Gegenspieler der Evolutionsbiologie sehen; das Individuum als Überwindung des Zwangs zum Kollektiv, das den eigenen Genpool aggressiv verbreitet; in seiner Extremform zu betrachten bei Massenvergewaltigungen in Kriegszeiten oder dem explizit darwinistisch motivierten Vernichtungskrieg Hitlers im Osten.

Die meisten gesellschaftlichen Konventionen mit Blick auf Sitte, Anstand, Moral etc. haben also letztlich zumindest auch biologische Gründe und somit durchaus einen "Sinn". Das kann man aus liberaler Sicht kritisieren, ignorieren sollte man dies aber m. E. nicht. Es bedeutet vielmehr, daß jede Gesellschaft in einem Spannungsfeld lebt aus derartigen evolutionsbiologischen Determinanten und dem Bedürfnis nach individueller Freiheit. Wenn man ausschließlich von der einen Warte aus diskutiert, hat man zwar intern konsistent recht (wie Sie sehr oft, lieber Christoph), blendet aber real existierende andere Determinanten menschlichen Zusammenlebens einseitig aus und verkürzt damit möglicherweise die Diskussion zu stark.
Vermutlich steckt in dem Thema auch ein brauchbarer Blogbeitrag .

Herzliche Grüße,
Andreas

Doeding Offline




Beiträge: 2.612

08.02.2014 12:44
#87 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von Erling Plaethe im Beitrag #84
Ich möchte alle Mitdiskutierenden in dieser Diskussion bitten, mit Bedacht die Worte zu wählen und die Personen aus dem Spiel zu lassen. Die aktive Sterbehilfe ist ein sehr sensibles Thema bei dem das Prinzip der wohlwollenden Interpretation Vorraussetzung für einen erkenntnisbringenden Diskurs ist.


Das darf ich nochmal unterstreichen.

Herzliche Grüße,
Andreas

Techniknörgler Offline



Beiträge: 2.738

08.02.2014 22:56
#88 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von adder im Beitrag #80
Und sei es nur deshalb, weil die Freiheit, Unrecht zu begehen (und nichts anderes ist Kannibalismus), eben auch eine Freiheitsberaubung der anderen darstellt.


Nicht wenn der Betroffene im geschäftsfähigen Zustand zugestimmt hat. Und der Tatsache, dass jemand eine von unserer Kultur überhaupt nicht nachvollziehbare Entscheidung getroffen hat, macht diese noch nicht zu etwas, was nicht "wahrer Wille" seien kann und die Person die so entscheidet noch lange nicht unzurechnungsfähig. Natürlich kann es ihr nach reiflicher Überlegung entwickelter Wille sein. Diesen Fakt zu leugnen, nur um das Verbot mit der angeblichen Freiheitseinschränkung des Opfers zu begründen, halte ich für viel gefährlicher, als offen die gesetzliche Freiheitseinschränkung der Beteiligen zu rechtfertigen. Ersteres verwässert die verwendeten Begriffe, letzteres muss besonders begründet werden. Das ist auch möglich, um zum Beispiel zivilisatorische Grundlagen einer Gesellschaft mit der größtmöglichen Freiheit zu bewahren, aber durch die Notwendigkeit zur Begründung in klaren Worten gibt es eine entscheidende Hürde gegen zu vielen Freiheitseinschränkungen, die beim Umdeuten und Verwässern von Begriffen fehlt.

______________________________________________________________________________

“Being right too soon is socially unacceptable.”
― Robert A. Heinlein

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

08.02.2014 23:55
#89 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von Techniknörgler im Beitrag #88
Zitat von adder im Beitrag #80
Und sei es nur deshalb, weil die Freiheit, Unrecht zu begehen (und nichts anderes ist Kannibalismus), eben auch eine Freiheitsberaubung der anderen darstellt.


Nicht wenn der Betroffene im geschäftsfähigen Zustand zugestimmt hat. Und der Tatsache, dass jemand eine von unserer Kultur überhaupt nicht nachvollziehbare Entscheidung getroffen hat, macht diese noch nicht zu etwas, was nicht "wahrer Wille" seien kann und die Person die so entscheidet noch lange nicht unzurechnungsfähig. Natürlich kann es ihr nach reiflicher Überlegung entwickelter Wille sein. Diesen Fakt zu leugnen, nur um das Verbot mit der angeblichen Freiheitseinschränkung des Opfers zu begründen, halte ich für viel gefährlicher, als offen die gesetzliche Freiheitseinschränkung der Beteiligen zu rechtfertigen. Ersteres verwässert die verwendeten Begriffe, letzteres muss besonders begründet werden. Das ist auch möglich, um zum Beispiel zivilisatorische Grundlagen einer Gesellschaft mit der größtmöglichen Freiheit zu bewahren, aber durch die Notwendigkeit zur Begründung in klaren Worten gibt es eine entscheidende Hürde gegen zu vielen Freiheitseinschränkungen, die beim Umdeuten und Verwässern von Begriffen fehlt.

Lieber Techniknörgler,
würden Sie auch noch von einem freien Willen sprechen, wenn jemand seinen freien Willen freiwillig aufgibt und sich komplett einem anderen Willen unterordnet? Denn nach dem er seinen freien Willen über sein Leben abgegeben hat, lebt er ja noch für einige Minuten. Als Mensch ohne Verfügung über sich selbst. Was ist, wenn er in diesem Moment seinen freien Willen vermisst? Was ist, wenn er ihn zurück haben will, aber nicht kann, weil seine Entscheidung irreversibel ist?

Ist eine Entscheidung demokratisch, die die Demokratie abschafft? Ja, aber sie wird nicht akzeptiert, weil sie als Paradox eine Gefahr für die Demokratie darstellt.

So gesehen ist die Verwehrung der Aufgabe des freien Willens eine, die seine Existenzsicherung nicht in Frage stellt, sondern, im Gegenteil, bewahrt.

Selbst die passive Sterbehilfe ist aus dieser Sicht schon problematisch und würde für mich als Verfügung zu irgendeinem Zeitpunkt auch nicht in Frage kommen. Gerade weil ich bis zum Schluss mir die Möglichkeit erhalten will, alle Mittel, die derzeit bekannten und die noch unbekannten, nutzen zu können, um meinen Willen zu artikulieren. Ich kann ja den Zeitpunkt nicht kennen, an dem ich über keinen freien Willen mehr verfüge. Vielleicht stellt es sich für mich auch so dar, dass ich ihn gar nicht verlieren kann oder ihn so lange wie es nur geht, erhalten will.
Wenn ich einen Zeitpunkt festlegen sollte, an dem ich ihn abgebe, wird es bei der aktiven Sterbehilfe garantiert immer zu früh sein. Das heißt ich werde im Fall der Abgabe meines freien Willens in diesem Fall immer den Zustand der Enteignung meines Selbst erleben müssen. Des Verlustes meines Selbsteigentums.
Eine schreckliche Vorstellung und keine die ich mit dem Freiheitsbegriff in Verbindung bringen könnte.

Viele Grüße, Erling Plaethe

Techniknörgler Offline



Beiträge: 2.738

09.02.2014 02:10
#90 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von Erling Plaethe im Beitrag #89


Lieber Techniknörgler,
würden Sie auch noch von einem freien Willen sprechen, wenn jemand seinen freien Willen freiwillig aufgibt und sich komplett einem anderen Willen unterordnet?



Geschätzer Plaethe,

in dem Moment, in dem er seinen freien Willen noch hat und diese Entscheidung treffen kann und trifft - ja natürlich. Bloß ist es (gerechtfertigter weiße) nicht zulässig, wie sie ja selber schon mit einem guten Beispiel verdeutlichen:

Zitat

Ist eine Entscheidung demokratisch, die die Demokratie abschafft? Ja, aber sie wird nicht akzeptiert, weil sie als Paradox eine Gefahr für die Demokratie darstellt.



So wäre es auch mit der Selbstaufgabe in die Sklaverei. Es ist nicht zulässig, weil es die zivilisatorische Grundvoraussetzung der Freiheit gefährdet bzw. das Vertrauen in diese. Denn eine freiheitliche Gesellschaft braucht mündige Bürger um ihre Organe zu tragen und kann Sklaverei nicht tolerieren.

Das ist aber etwas anderes als jemandem abzusprechen, das sein Wille sein "wahrer Wille" ist und zu behaupten Dritte könnten diesen besser kennen.

Darum ging es mir, denn mit diesem Anspruch ist der Bevormundung Tür und Tor geöffnet.

Zitat

Denn nach dem er seinen freien Willen über sein Leben abgegeben hat, lebt er ja noch für einige Minuten. Als Mensch ohne Verfügung über sich selbst. Was ist, wenn er in diesem Moment seinen freien Willen vermisst? Was ist, wenn er ihn zurück haben will, aber nicht kann, weil seine Entscheidung irreversibel ist?



Irreversible Entscheidungen gibt es durchaus im Leben und auch gegen Lebensende und sie sind deswegen noch nicht unzulässig. Sonst müsste man übrigens das katholische Ehesakrament verbieten - ist nämlich irreversibel (im Gegensatz übrigens zu sogenannten Naturehen, wie die katholische Kirche es nennt, die unter bestimmten Bedingungen durchaus auch nach katholische Vorstellung auflösbar sind).

Zitat

So gesehen ist die Verwehrung der Aufgabe des freien Willens eine, die seine Existenzsicherung nicht in Frage stellt, sondern, im Gegenteil, bewahrt.



Das kommt auf den Kontext an: Zerstört es die zivilisatorische Grundlage für seine freiheitliche Gesellschaft? Bei Sterbehilfe ist die Antwort nicht eindeutig ja, sondern eher nein. Sterbehilfe ist keine Sklaverei, denn es wird keine missbrauchte Sklavenkaste geschaffen (um Sklave zu sein muss man leben), es zerstört nicht das vertrauen in eine Gesellschaft, die den einzelnen als Mündig ansieht. Es ist auch kein Kannibalismus. Das Gebot nicht alles gleichzusetzen gilt halt nicht nur in eine Richtung: Sowie Kannibalismus nicht mit Schönheitschirurgie gleichgesetzt werden sollte, so sollte er auch nicht mit Sterbehilfe gleichgesetzt werden.


Zitat
Selbst die passive Sterbehilfe ist aus dieser Sicht schon problematisch und würde für mich als Verfügung zu irgendeinem Zeitpunkt auch nicht in Frage kommen. Gerade weil ich bis zum Schluss mir die Möglichkeit erhalten will, alle Mittel, die derzeit bekannten und die noch unbekannten, nutzen zu können, um meinen Willen zu artikulieren. Ich kann ja den Zeitpunkt nicht kennen, an dem ich über keinen freien Willen mehr verfüge. Vielleicht stellt es sich für mich auch so dar, dass ich ihn gar nicht verlieren kann oder ihn so lange wie es nur geht, erhalten will.



Das ist aber ihre Entscheidung. Genau wie die sich in riskante Situationen zu begeben.


Zitat

Wenn ich einen Zeitpunkt festlegen sollte, an dem ich ihn abgebe, wird es bei der aktiven Sterbehilfe garantiert immer zu früh sein.



Das mag aus ihrer Sicht so sein, Sie müssen ja aber auch nicht.

Zitat

Das heißt ich werde im Fall der Abgabe meines freien Willens in diesem Fall immer den Zustand der Enteignung meines Selbst erleben müssen. Des Verlustes meines Selbsteigentums.



Nicht wirklich, dafür ist der Zeitraum zwischen Artikulationsunfähigkeit und Tod bei richtiger Umsetzung zu kurz, als das man hieraus einen sklavenähnlichen Zustand basteln könnte. Es ist durchaus üblich für eine kurze, begrenzte Frist die Kontrolle abzugeben, sei es, wenn jemand in eine Narkose einwilligt, sei es wenn jemand in ein Verkehrsmittel einsteigt, aus dem man nicht jederzeit aussteigen kann. Auch in gewissen Sexualpraktiken kommt ein zeitlich stark befristetes Unterbinden oder starkes Erschweren von Willensäußerungen, nach vorherige ausführlicher Absprache und eindeutiger Zustimmung durchaus vor. Der Zeitaspekt erscheint mir hier entscheidend.

Zitat

Eine schreckliche Vorstellung und keine die ich mit dem Freiheitsbegriff in Verbindung bringen könnte.



Wenn Sie so zutreffend wäre, was sie aber denke ich nicht ist.

Mit freundlichen Grüßen

Techniknörgler

______________________________________________________________________________

“Being right too soon is socially unacceptable.”
― Robert A. Heinlein

Christoph Offline




Beiträge: 241

09.02.2014 04:15
#91 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Lieber Erling Plaethe,

Zitat von Erling Plaethe im Beitrag #89

Lieber Techniknörgler,
würden Sie auch noch von einem freien Willen sprechen, wenn jemand seinen freien Willen freiwillig aufgibt und sich komplett einem anderen Willen unterordnet? Denn nach dem er seinen freien Willen über sein Leben abgegeben hat, lebt er ja noch für einige Minuten. Als Mensch ohne Verfügung über sich selbst. […]
Ist eine Entscheidung demokratisch, die die Demokratie abschafft? Ja, aber sie wird nicht akzeptiert, weil sie als Paradox eine Gefahr für die Demokratie darstellt.


Sie sprechen es nicht explizit aus, aber ich lese heraus: Die Freiheit, seine Freiheit aufzugeben, ist paradox. Nehmen wir an, daß es so wäre¹ – so sollten wir dennoch die Alternative nicht unbesehen vorziehen, denn diese, nämlich den freien Willen gegen sich selbst zu verteidigen, ist nicht weniger paradox. Anders als der Esel zwischen zwei Heuhaufen, können wir uns der Entscheidung nicht enthalten, weil das Verweigern der Entscheidung einer Entscheidung für den status quo gleichkommt – das Kriterium der Paradoxie allein genügt jedoch nicht, um zwischen den beiden Alternativen zu entscheiden.
Interessant ist natürlich auch die Frage, wie man in die missliche Lage kommt, nur zwischen Paradoxa wählen zu können. Sind die Prämissen (Axiome) falsch gewählt?

Viele Grüße,
Christoph
--

1) Mir scheint, ein Paradoxon liegt nur vor, wenn man darauf besteht, dass die Freiheit sich nicht selbst aufgeben dürfte, bzw. daß sie stets erhalten bleiben müsste. Unter dieser Prämisse ließen sich aber überhaupt keine Verträge eingehen, der Selbstmord (auch ohne jede «Hilfe») gar nicht und das Eingehen von Risiken kaum noch rechtfertigen.

--
edit: gleich kommen -> gleichkommen

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

09.02.2014 08:11
#92 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Lieber Christoph,
der freie Wille gegen sich selbst, in der Handlung gegen sich selbst ist zwar ebenfalls ein Paradox, aber nicht beeinflussbar.
Ich möchte mit dieser Argumentation nur darauf hinweisen, dass es auch eine andere Erklärung als die der staatlichen Bevormundung gibt, wenn verhindert, oder verboten wird, was einen Suizid vereinfacht.
Die Aufgabe des Selbsteigentums, also die Zerstörung des eigenen Selbst, habe ich bei der Argumentation mit der absoluten Aufgabe des freien Willens gleichgesetzt, weil er ja nach der Entscheidung im Angesicht des nahenden Todes nicht mehr wirksam ist.
Das war als Überspitzung gedacht, weil der freie Wille und das Selbsteigentum m.E. zusammengehören.

Viele Grüße, Erling Plaethe

Solus Offline



Beiträge: 384

09.02.2014 08:25
#93 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Erling Plaethe: Hat denn ein unheilbar Kranker keinen freien Willen mehr? Etwa jemand der an Krebs erkrankt ist und nurnoch Wochen oder Tage zu leben hat.
Ist es nicht eher so, dass zwischen der Freiheit des Willens und der Möglichkeit, mit seinem Willen praktisch etwas zu bewirken, kein zwingender Zusammenhang besteht, jedenfalls ersteres ohne letzteres bestehen kann?
Und hat nicht auch der Sterbende, solange er noch bei Bewusstsein ist, nicht zumindest die Freiheit, zu denken, was er will? Da fällt es mir schwer, ihm den freien Willen abzusprechen. Wille und die Macht, seinen Willen zu verwirklichen, sind verschiedene Dinge.

Überhaupt ist das Resultat, der Tod, eine Folge einer aus seinem freien Willen heraus getroffenen Entscheidung - ist damit der so gefundene Tod nicht ein dauerhafter Ausdruck seiner Entscheidung, also seines Willens?

adder Offline




Beiträge: 1.073

09.02.2014 10:23
#94 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von Christoph im Beitrag #83
Lieber adder,

Zitat von adder im Beitrag #77
Zitat von Christoph im Beitrag #73
Manche lassen sich den Busen entfernen. Männer, die lieber Frauen wären, lassen die Hoden entfernen.


Lieber Christoph, ich bekomme langsam den Eindruck, Sie hätten etwas gegen Transsexuelle.

Woher? (Warum vor allem «langsam»?)
Ich nenne einen Eingriff, den manche vornehmen lassen, und ich möchte keinen Zweifel daran lassen, daß ich einen solchen Eingriff im gegenseitigen Einvernehmen durchaus für recht halte. Darüber hinaus bin ich neugierig mit welchem Recht jemand die Amputation eines Ohrs verbieten sollte, die Amputation des Hodens aber nicht. Ich persönlich würde doch lieber auf das Ohr verzichten, als auf meine Hoden, aber andere sehen es eben umgekehrt.


Lieber Christoph, falls ich Sie da falsch verstanden haben sollte, bitte ich Sie, meine Schroffheit zu entschuldigen.
Ich halte es (so wie Sie es darstellen) durchaus nicht für vergleichbar. Die Entfernung der Hoden bei Trans-Frauen geschieht nach langer Zeit, und aus dem einzigen Grund, das offensichtliche Geschlecht dem gefühlten Geschlecht anzupassen. Diese Entscheidung wird nicht "mal so eben" getroffen, die Trans-Frau muss vorher einige Zeit (=mehrere Jahre) unter ärztlicher Betreuung etc. als "Frau leben". Außerdem benötigt sie hier in Deutschland auch noch entsprechende ärztliche Empfehlungen - es muss also aus medizinischer Sicht sinnvoll sein. Vergleichbar wäre die Entfernung eines Ohres aufgrund eines schweren Hautleidens nur da am Ohr oder aufgrund von Krebs. Und dann ist die Entfernung des Ohres eben auch nicht verboten.

Zitat
Zitat von adder im Beitrag #77
Zitat von Christoph im Beitrag #73
Das hat er natürlich, nach geltenden Gesetzen. Das Gesetz hat er gebrochen, und das kann man ihm vorwerfen. Aber war sein Tun, abgesehen vom Gesetzesbruch Unrecht? Was werfen Sie ihm denn vor? Daß er ihr ästhetisches Empfinden verletzt? Das ist ein bisschen wenig.


Wie bitte? Er hat gegen ein - aus gutem Grund bestehendes - Tabu verstoßen. Kannibalismus ist im westlichen Kulturkreis - außer in Ausnahmesituationen - absolut unüblich und immer verwerflich. Das hat nichts mehr mit "ästhetischem Empfinden" zu tun.

Womit denn dann? Da gibt es zum Beispiel ein Urteil gegen Armin Meiwes das sagt:

Zitat von BGH
Rechtsgut des § 168 Abs. 1 StGB [Störung der Totenruhe] ist nicht nur der postmortale Persönlichkeitsschutz des Toten, sondern auch das Pietätsgefühl der Allgemeinheit.

Was ist nun dieses Pietätsgefühl der Allgemeinheit anderes als ästhetisches Empfinden? Mit dem Argument könnte man auch die Feuerbestattung verbieten, jegliche Obduktion und die Organspende.




Störung der Totenruhe ist ja nun wirklich nicht der angemessene Ausdruck für Kannibalismus. Der Verzehr von Menschen ist in unserer Kultur mit einem sehr starken Tabu belegt - und das aus guten Gründen. Menschenfleisch gehört nicht zu den wirklich genießbaren Fleischsorten, es ist überaus ungeeignet für Menschen, nicht nur wegen der Anreicherung von verschiedenen toxischen Stoffen aus der Nahrungskette oder Medikamenten.
Kannibalismus wird für die Übertragung einiger Krankheiten (z.B. Kuru) verantwortlich gemacht.

Zitat
Was unterscheidet denn das Tabu des Kannibalismus von denen der Homosexualität, der Transsexualität, des Sadomasochismus, der Leugnung Gottes, des Verzehrs von Hunden, des Inzests, des Verzehrs von Pferden oder des außerehelichen Geschlechtsverkehrs? Das alles ruft Empörung hervor. Je nach Zeit und Ort bei mehr oder weniger Menschen. Und? Welches dieser Tabus bestand nun «aus gutem Grund»? Woraus folgern wir, daß die britische Regierung den Homosexuellen Alan Turing nicht zur «chemischen Kastration» zwingen durfte, wir aber durchaus berechtigt sind, einen Kannibalen einzusperren?



Kannibalismus ist auch in liberalen Gesellschaften eine Gefahr für das Überleben der Art. Homosexuelle und Transsexuelle entfernen sich selbst aus dem Genpool der Gesellschaft, Kannibalen dagegen entfernen sich und andere aus dem Genpool. Mehr noch: bei einem Homosexuellen oder Transsexuellen ist auch - genauso wie bei Anhängern von SM oder außerehelichem Geschlechtsverkehr - nachher die "Konsensualität" feststell- oder negierbar. Bei dem Opfer eines Kannibalen stellt sich dieses mitunter als schwierig heraus. Um bei Meiwes zu bleiben: er kann so oft behaupten wie er will, dass Brandes dem zugestimmt hat. Beweisen kann er es nicht. Brandes befragen kann ein Richter auch nicht mehr. Und ein - hypothetisches - Schreiben mit dem Einverständnis könnte eben auch gefälscht werden.
Ein Kannibale ist immer auch ein potentieller Mörder - es sei denn, er ernährte sich aussschließlich von bereits länger toten Menschen. Das wiederum tut kein Kannibale, der bekannt geworden wäre.

Zitat
Es ist schnell behauptet: Kannibalismus ist verwerflich. Worauf gründet sich aber diese angebliche Verwerflichkeit? Auf die Unüblichkeit sicher nicht, oder war es je verwerflich den Mount-Everest zu besteigen oder sich die Haare grün zu färben, auch als es «absolut unüblich» war?

Viele Grüße,
Christoph



Siehe oben.

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

09.02.2014 11:17
#95 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von Solus im Beitrag #93
Erling Plaethe: Hat denn ein unheilbar Kranker keinen freien Willen mehr? Etwa jemand der an Krebs erkrankt ist und nurnoch Wochen oder Tage zu leben hat.

Natürlich hat er einen freien Willen und umso stärker der ist umso mehr Tage kann er dem nahenden Tod abtrotzen.
Zitat von Solus im Beitrag #93
Ist es nicht eher so, dass zwischen der Freiheit des Willens und der Möglichkeit, mit seinem Willen praktisch etwas zu bewirken, kein zwingender Zusammenhang besteht, jedenfalls ersteres ohne letzteres bestehen kann?
Und hat nicht auch der Sterbende, solange er noch bei Bewusstsein ist, nicht zumindest die Freiheit, zu denken, was er will? Da fällt es mir schwer, ihm den freien Willen abzusprechen. Wille und die Macht, seinen Willen zu verwirklichen, sind verschiedene Dinge.

Überhaupt ist das Resultat, der Tod, eine Folge einer aus seinem freien Willen heraus getroffenen Entscheidung - ist damit der so gefundene Tod nicht ein dauerhafter Ausdruck seiner Entscheidung, also seines Willens?

Natürlich kann der Mensch wollen ohne dies mit einer Tat zu verbinden. Das ist aber hier, soweit ich das richtig überblicke, nicht das Thema.
Es geht m.E. um den freien Willen der eine Tat nach sich zieht. Ich unterscheide dabei allerdings die Tat des Selbsteigentümers und die Tat einer Person, die das Selbsteigentum einer anderen Person beendet. Was voraussetzt, dass diese ihren freien Willen über ihr Selbsteigentum, und damit über alles was sie wollen kann, aufgibt und praktisch überträgt auf die Person, die an ihrer statt handelt.

Ein Sterbender hat, solange er sein Selbsteigentum behält, natürlich auch einen freien Willen. Was das Handeln anbelangt: Dafür braucht man mit heutiger Technik keines seiner Gliedmaßen bewegen zu können.
Stephen Hawking ist so ein Beispiel.
Um bei diesem Beispiel zu bleiben: Ja, er hat keine Möglichkeit einen Suizid zu begehen. Aber macht ihn das unfreier? Freiheit zu definieren über die Möglichkeit seine Freiheit die man besitzt zu beenden halte ich für paradox. Freiheit wird durch sehr viele Faktoren eingeschränkt und kann durch andere auch wieder erschaffen werden.

Viele Grüße, Erling Plaethe

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

09.02.2014 12:20
#96 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von Techniknörgler im Beitrag #90

Zitat
Selbst die passive Sterbehilfe ist aus dieser Sicht schon problematisch und würde für mich als Verfügung zu irgendeinem Zeitpunkt auch nicht in Frage kommen. Gerade weil ich bis zum Schluss mir die Möglichkeit erhalten will, alle Mittel, die derzeit bekannten und die noch unbekannten, nutzen zu können, um meinen Willen zu artikulieren. Ich kann ja den Zeitpunkt nicht kennen, an dem ich über keinen freien Willen mehr verfüge. Vielleicht stellt es sich für mich auch so dar, dass ich ihn gar nicht verlieren kann oder ihn so lange wie es nur geht, erhalten will.


Das ist aber ihre Entscheidung. Genau wie die sich in riskante Situationen zu begeben.


Ja das ist es. Und ein starker Ausdruck meines Willens, meines freien Willens. Ich (und andere auch, denke ich) begebe mich, und das war ja mal Thema eines Beitrages von mir (http://zettelsraum.blogspot.de/2013/10/v...ennfahrens.html), nicht in riskante Situationen weil mir mein Leben nicht lieb ist. Die Liebe zum Leben ist die Triebfeder.

Zitat

Das heißt ich werde im Fall der Abgabe meines freien Willens in diesem Fall immer den Zustand der Enteignung meines Selbst erleben müssen. Des Verlustes meines Selbsteigentums.



Zitat von Techniknörgler im Beitrag #90
Nicht wirklich, dafür ist der Zeitraum zwischen Artikulationsunfähigkeit und Tod bei richtiger Umsetzung zu kurz, als das man hieraus einen sklavenähnlichen Zustand basteln könnte. Es ist durchaus üblich für eine kurze, begrenzte Frist die Kontrolle abzugeben, sei es, wenn jemand in eine Narkose einwilligt, sei es wenn jemand in ein Verkehrsmittel einsteigt, aus dem man nicht jederzeit aussteigen kann. Auch in gewissen Sexualpraktiken kommt ein zeitlich stark befristetes Unterbinden oder starkes Erschweren von Willensäußerungen, nach vorherige ausführlicher Absprache und eindeutiger Zustimmung durchaus vor. Der Zeitaspekt erscheint mir hier entscheidend.

Die Abgabe der Kontrolle ist bei der aktiven Sterbehilfe ist eine Abgabe für immer. Die Entscheidung geht so weit, dass diese nicht wiedererlangt werden soll. Da gehen die Vergleiche fehl, denke ich.

Viele Grüße, Erling Plaethe

nachdenken_schmerzt_nicht Offline




Beiträge: 1.994

09.02.2014 13:22
#97 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat von Christoph im Beitrag #91
Interessant ist natürlich auch die Frage, wie man in die missliche Lage kommt, nur zwischen Paradoxa wählen zu können. Sind die Prämissen (Axiome) falsch gewählt?


Lieber Christoph,

ich komme gerade vom Joggen und mußte die ganze Zeit über die Beiträge hier nachdenken. Folgende Gedanken kamen mir in den Sinn, nach Ihren und Doedings letztem Beitrag.

Liberalismus, wie auch Kommunismus, Konservativismus ..... sind eine Art "Gesellschaftsmodelle", welche das Zusammenleben Regeln sollen. Ich halte den Liberalismus aus diversen Gründen für das allen anderen Überlegene. Aus vielerlei Gründen. Ich konnte darüber hinaus in Ihrer Argumentation keinen logischen Fehler entdecken.

Lassen Sie mich nun eine Anleihe aus der Physik entnehmen: Die klassischen Bewegungsgleichung sind ein hervorragendes, leistungsstarkes Modell. Trotzdem versagt es bei dem Wellen Teilchen Dualismus, versucht man streng in seiner Logik zu bleiben. Es hat hier keine Gültigkeit mehr, was es an den Stellen, an denen es seine Gültigkeit behält, um keinen Deut schlechter macht.
Andreas Doedings Vermutung, dass das Verbot des Tötens etwas mit unserer Evolution, mit dem Selbsterhalt unserer Spezies zu tun hat, scheint mir sehr viel für sich zu haben. Er passt auch irgendwie in meine Vermutung (die ich meinem Gastbeitrag voranstellte), dass unsere Moral aus der Evolution heraus unser Zusammenleben regelt und alleine aus Selbsterhalt die Tötung unserer eigene Art "etwas Schelchtes" werden lies.

Der Liberlismus ist in meinen Augen hervorragend geeignet, das (Zusammen)Leben zu reglen. Vielleicht taugt er aber nicht um den "Tod" zu regeln. Das klingt jetzt vielleicht platt und pathetisch, aber ich weiß es nicht besser auszudrücken.

In der Physik ist das zumindest das normalste der Welt, dass man mit Modellen mit beschränkten Gültigkeitsbereichen arbeitet. Ich persönlich glaube sogar, dass dies ein in unserer Welt immanent enthaltener Zustand ist und es nie allgemeingültige Modelle geben wird. Einiges spricht dafür. Zumindest sind alle die Anfang des 20 Jahrhunderts meinten, die Physik sei eine "tote Wissenschaft" in der es nichts mehr zu entdecken gäbe oder auch Stephen Hawking, der meinte man hätte bald die GUT, bisher Lügen gestraft worden.

Auch der Liberlismus könnte durchaus Bereiche ohne Geltung haben. (Was in meinen Augen nicht schlimm wäre, weil er dort wo er gilt weitrhin das in meinen Augen überlegene Gesellschaftsmodell ist.) Auf diese Bereiche "ohne Geltung" kann man aber natürlich nicht stoßen, wenn man immer streng in seiner Logik bleibt.

Ich hoffe ich habe jetzt nicht wieder großen Unsinn geschrieben... in diesem Sinne.

Herzlich


nachdenken_schmerzt_nicht

\"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit.\" - Montesquieu

Christoph Offline




Beiträge: 241

15.02.2014 15:10
#98 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Lieber adder,

Zitat von adder im Beitrag #94
Lieber Christoph, falls ich Sie da falsch verstanden haben sollte, bitte ich Sie, meine Schroffheit zu entschuldigen.
Keine Ursache. Ich habe ja selbst etwas provokant formuliert. Ganz bewusst, denn man kommt der Wahrheit hinter dem Tabu nicht auf den Grund, wenn man es von vorn herein als solches akzeptiert und darauf verzichtet, weiter zu fragen. Mein Eindruck verfestigt sich allerdings immer mehr: wenn man am Tabu kratzt und hineinstochert findet sich einfach nichts dahinter. Das Tabu ist eine Pappfassade die man vor all die Dinge stellt, mit denen man sich einfach nicht befassen möchte.

Zitat von adder im Beitrag #94
Ich halte es (so wie Sie es darstellen) durchaus nicht für vergleichbar.
Es ist nicht gleichzusetzen, aber vergleichbar natürlich schon. Indem ich Schönheitsoperationen, Genitalpiercings, Geschlechtsumwandlung und das Abschneiden des Ohres nebeneinander stelle, provoziere ich ganz bewusst, nämlich um herauszulocken, welches nun das unterscheidende Kriterium ist, das diese Fälle «durchaus nicht […] vergleichbar» werden lässt. Sie nennen eines:

Zitat
Die Entfernung der Hoden bei Trans-Frauen geschieht nach langer Zeit, und aus dem einzigen Grund, das offensichtliche Geschlecht dem gefühlten Geschlecht anzupassen. Diese Entscheidung wird nicht "mal so eben" getroffen, die Trans-Frau muss vorher einige Zeit (=mehrere Jahre) unter ärztlicher Betreuung etc. als "Frau leben". Außerdem benötigt sie hier in Deutschland auch noch entsprechende ärztliche Empfehlungen - es muss also aus medizinischer Sicht sinnvoll sein.


Da ist er nun also der Unterschied: die gesellschaftliche Konvention, die wohlerzogene Schwester des gesunden Volksempfindens, hat in ihrer unendlichen Güte entschieden, daß das Empfinden im falschen Körper zu leben, einen «guten Grund», für einen medizinischen Eingriff darstellt – der Betroffene sich also operieren lassen darf. Dagegen ist das Empfinden mit einem Ohr zuviel zu leben kein «guter Grund».
Sie können da noch so viele Experten und Formalien vorschieben und vermögen doch nicht zu verschleiern, daß die Unterscheidung zwischen den von mir genannten Beispielen nicht in der Art oder den Folgen des Eingriffs liegt, sondern bloß in der rein subjektiven und daher willkürlichen Bewertung der Motive. Diese steht aber der Gesellschaft nicht an, sondern bloß dem betreffenden Individuum. Wer nur «medizinisch sinnvolle» Eingriffe vorzunehmen wünscht, kann einen Mediziner fragen; wer nur ästhetisch wertvolle Eingriffe vorzunehmen wünscht, kann jemanden fragen, dessen Sinn für Ästhetik er traut.

Zitat von adder im Beitrag #77
Störung der Totenruhe ist ja nun wirklich nicht der angemessene Ausdruck für Kannibalismus.

Dann wird es Sie sicher empören, daß Armin Meiwes wegen Störung der Totenruhe verurteilt worden ist. Einen anderen Grund, den Verzehr von Menschenfleisch zu strafen, finden Sie im Gesetzbuch nicht. Gerade im vorliegenden Fall haben die Gerichte das Gesetz gebogen und gedehnt, um nicht zu sagen: mißbraucht, um Herrn Meiwes wegen Mordes zu bestrafen, was emotional geboten scheint, aber rechtlich kaum zu begründen war. Die Kommentatoren sprechen von «Rechtsfindungsphantasie» und zielgerichteter Argumentation auf ein «gewünschtes Ergebnis» hin.

Zitat
Der Verzehr von Menschen ist in unserer Kultur mit einem sehr starken Tabu belegt - und das aus guten Gründen.


Daß es mit einem Tabu belegt ist, habe ich nie bestritten. Ich meine aber, daß solche Tabus nicht Grundlage der Gesetzgebung sein dürften. In der Südsee verspeiste man einst einen Missionar, weil der die Haare einer Frau berührt und damit ein Tabu ihres Stammes verletzt hatte. Die Leute, die ihn verzehrten verletzten damit wiederum eines unserer Tabus. Wie unterscheiden wir uns nun von diesen Leuten, daß wir sie verurteilen? Oder von unseren Vorfahren, wenn wir die Hexenverbrennungen verurteilen? Mir scheint, wir verwerfen bloß die alten und fremden Vorurteile und legen uns stattdessen neue und eigene zu. Welch ein Fortschritt!

Zitat
Menschenfleisch gehört nicht zu den wirklich genießbaren Fleischsorten, es ist überaus ungeeignet für Menschen, nicht nur wegen der Anreicherung von verschiedenen toxischen Stoffen aus der Nahrungskette oder Medikamenten.
Kannibalismus wird für die Übertragung einiger Krankheiten (z.B. Kuru) verantwortlich gemacht.


Soso. Demnach vermissen sie die Abteilung «Straftaten gegen die gesunde Ernährung» im StGB? Sie müssen mir jetzt keine Gründe nennen, keine Menschen zu verzehren – das habe ich nicht vor. Aber wenn wir von «Unrecht», «Verwerflichkeit» und Bestrafung durch die Justiz sprechen, dann ist der gesundheitliche Aspekt eine Lappalie.

Zitat
Kannibalismus ist auch in liberalen Gesellschaften eine Gefahr für das Überleben der Art.


Diese Gefahr besteht schon deshalb nicht, weil kaum jemand freiwillig Kannibalismus praktiziert. Wenn wir nur aller 5 bis 10 Jahre von einem Fall von Kannibalismus hören, dann doch nicht deshalb, weil er als «Störung der Totenruhe» unter Strafe steht! Auch die Abteilung «Verbrechen gegen die Erhaltung der Art» fehlt bislang im StGB. Vermutlich weil man dann auch die Herstellung, Verbreitung und den Besitz von Präservativen bestrafen müsste, sowie die Benutzung falscher Fahrradsättel und der Sitzheizung im Auto.

Zitat
Homosexuelle und Transsexuelle entfernen sich selbst aus dem Genpool der Gesellschaft,


Wie die jährlichen CSD-Aufmärsche eindrucksvoll belegen.

Zitat
Kannibalen dagegen entfernen sich und andere aus dem Genpool. Mehr noch: bei einem Homosexuellen oder Transsexuellen ist auch - genauso wie bei Anhängern von SM oder außerehelichem Geschlechtsverkehr - nachher die "Konsensualität" feststell- oder negierbar. Bei dem Opfer eines Kannibalen stellt sich dieses mitunter als schwierig heraus.


Es geht mir hier nicht um die Tötung (die, wie die Diskussion um die Sterbehilfe zeigt, keinem so starken Tabu unterliegt) sondern um den Verzehr von Toten. Das Einverständnis festzustellen ist nicht schwerer als nach einem verunglückten Bungee- oder Fallschirm-Sprung.

Zitat
Um bei Meiwes zu bleiben: er kann so oft behaupten wie er will, dass Brandes dem zugestimmt hat. Beweisen kann er es nicht. Brandes befragen kann ein Richter auch nicht mehr. Und ein - hypothetisches - Schreiben mit dem Einverständnis könnte eben auch gefälscht werden.


Lesen Sie die verlinkten Dokumente. Die Gerichte und die Beobachter hatten keinen Zweifel am Einverständnis des «Opfers».

Zitat
Ein Kannibale ist immer auch ein potentieller Mörder


potentiell. Wie skandalös. Wenn sich Herrn Meiwes «Opfer» nun selbst getötet hätte, wäre der Kannibalismus demnach in Ordnung.

Gegenüber den großen Worten, den starken Emotionen und dem scharfen Verdikt die dem Kannibalismus entgegengestellt werden, findet sich keine ebenso starke rationale Begründung. Die Einwände, die Sie nennen, ließen sich auch gegen andere, ganz alltägliche Vorgänge richten.

Viele Grüße,
Christoph

Techniknörgler Offline



Beiträge: 2.738

16.02.2014 03:51
#99 RE: Plädoyer für die aktive Sterbehilfe Antworten

Zitat

Gute Frage, denn bei Freigabe von kulturfremden Taten an anderen "auf Verlangen" wird mit Sicherheit genau dieses ("sie wollten es ja auch") ständig behauptet werden.



Lieber adder,

behauptet wird viel. Natürlich wird sich jeder Täter erst einmal mit allen möglichen Erklärungen versuchen zu verteidigen. Nicht auszuschließen, dass ein Mörder vor Gericht behauptet, das Opfer hätte eingewilligt. Im Rahmen solche Praktikabilitätserwägungen ist es auch durchaus gerechtfertigt Straftatbestände etwas weiter zu fassen, um weniger Beweisen zu müssen.

Das aber etwas als Ausrede genutzt wird, obwohl es nicht zutrifft, macht die Argumentation in Fällen, in denen sie stimmt, nicht unzulässig. Bei Argumenten ist es da wie mit Rechten: Der Missbrauch schränkt den rechten Gebrauch nicht ein.

Zitat
Ich glaube aber nicht, dass ein normaler Mensch einen solchen Tabubruch (zivilisatorischer Bruch) tatsächlich aus freien Willen so sehr wollen könnte, dass er ihn auch durchführt.



Hier ist denke ich unsere entscheidende Differenz auf den Punkt gebracht: Sie "glauben", das ein "normaler Mensch" nicht aus "tatsächlich [...] freien Willen" etwas wollen könnte, weil sie sich nicht vorstellen können so etwas zu wollen.


Zitat

Selbst in Randgruppen unserer westlichen Kultur, die aus konservativer Sicht sicherlich schon einen Kulturbruch begehen (und aus linker Sicht gar schröcklich sind, da sie nicht dem political correct mainstream entsprechen) ist ein solcher Kulturbruch ja verpönt.



Ja, ich habe mich ja auch explizit für das Verbot von Kannibalismus ausgesprochen. Aber den Brückenschlag vom Zivilisationsbruch zu einer Logik nach dem Motto "es kann nicht sein freier Wille sein, in dem Fall müssen wir als Dritte es einfach besser wissen", den kann ich nicht mitgehen. Das würde Willkür Tür und Tor öffnen, da es Begrifflichkeiten, die mit Zivilisationsbruch schon schwammig genug sind, nochmal zusätzlich verwischt. Wenn Einschränkungen der Freiheit rhetorisch nicht einmal mehr solche sind, dann sind sie nicht mehr begründungsbedürftig. Außerdem wird dann ein Präzedenzfall geschaffen, als Dritter besser zu wissen, was einer will und was gut für ihn ist.

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“Being right too soon is socially unacceptable.”
― Robert A. Heinlein

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