Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #75Ich habe von Vince Ebert einmal einen Gedanken gelesen. Er formulierte in der Welt folgendermaßen:
Zitat Vielleicht liegt es ja an unserer Geschichte. Deutschland war jahrhundertelang ein sehr instabiles Gebiet aus vielen Kleinstaaten. Das Land war an mehreren Grenzen offen, verwundbar und nie abschließend definiert. Und wer fast ein Jahrtausend keine sicheren Grenzen hat, macht eben nicht Freiheit, sondern Sicherheit und die bekannten preußischen Tugenden Gehorsam, Pflichtbewusstsein und Unterordnung zum Leitprinzip.
Das ist eine sehr interessante Theorie, die umgekehrt auch erklärt, warum England, insbesondere nach der Bildung des Vereinigten Königreichs mit Schottland, geradezu zur Wiege der Freiheit wurde. Die Insellage als natürliche Grenze gibt die materielle Sicherheit, die Voraussetzung für geistige Freiheit ist. In Frankreich, dessen Grenze nur etwa zur Hälfte durch das Meer natürlich definiert ist, ging der Freiheitsgedanke der frz. Revolution bald in Zwang und dann bezeichnenderweise in Napoleons Bedürfnis nach Eroberungen im Osten über.
Aber so plausibel die Theorie auch ist, völlig automatisch scheint sich die Freiheit aus der räumlichen Abgeschlossenheit nicht zu ergeben, sonst hätte das japanische Shogunat die freiste aller Gesellschaften sein müssen.
Wahrscheinlich, gar nichts weil die Mehrheit genau das möchte was unseren Gesellschaft ausmacht: Starke Regulierung im Dienste der Gleichheit, ein enges politisches Spektrum als Kuschelkonsens, das Kollektiv als Herrscher über das Individuum mittels Staatsgewalt.
Deutschland hat seinen historischen Rückfall in die Barbarei längst überwunden. Die Erkenntnis aber, dass der konsequente Schutz von Minderheiten und der persönlichen Freiheit den Rückfall in diese Barberei möglicherweise hätte verhindern können, was der Glaube an den Konsens nicht geschafft hat, scheint aber ausgeblieben zu sein. Mich beunruhigt dieser Gedanke manchmal.
"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu
Zitat von Martin im Beitrag #69Und ich hätte dem Fall, dass ein möglicherweise unschuldig hinter Gittern Sitzender durch neue technische Möglichkeiten freikommen könnte, sogar den Vorrang vor der Chance einer späten Mordaufklärung gegeben.
Da haben Sie natürlich Recht, lieber Martin, und das ist freilich das noch bessere Argument für den Einsatz neuer Ermittlungsmethoden auch bei alten Fällen.
Zitat Trotzdem denke ich, dass eine Gesellschaft eine sagen wir mal 90%-Rate an Aufklärung auch bei Tötungsdelikten ertragen muss.
Das muss sie wohl ohnehin. Denn nicht einmal in einem totalen Überwachungsstaat wäre eine 100-Prozent-Quote bei der Aufklärung von Tötungsdelikten erreichbar. (Das soll jetzt nicht als Apologie für einen solchen, mir verhassten Staatstypus verstanden werden.)
Allerdings beinhalten Grundrechte ja nicht nur eine Abwehrfunktion gegen Eingriffe des Staates, sondern auch dessen Verpflichtung, den Grundrechtsträger wirksam vor Eingriffen Dritter zu schützen. Das schärftste Strafgesetz ist dann nicht effektiv, wenn die Aufklärungsquote zu niedrig ist. Im Gegenteil: Bei den schwersten Straftaten ist es wohl geboten, dass die Aufklärungsquote möglichst (dh im Rahmen des rechtlich Zulässigen) hoch ist.
Freilich kann man das auch ganz anders sehen: Es war ja nicht immer so, dass Mord unverjährbar war. Man könnte deshalb durchaus argumentieren, dass nach zB 30 Jahren der Nichtentdeckung auch der Mörder in der Gewissheit leben soll, nunmehr nicht mehr belangt zu werden.
Es wäre vielleicht ein guter Mittelweg, schwerste Straftaten (jedenfalls die vorsätzliche Beeinträchtigung des Supergrundrechts Leben) nicht verjähren zu lassen und bei diesen auch neue, im Tatzeitpunkt nicht bekannte Ermittlungsmethoden zum Einsatz anzuwenden, während bei minder schweren Delikten die Verjährung griffe und hinsichtlich der erlaubten Ermittlungsmethoden auf den Tatzeitpunkt abgestellt würde (was zur Folge haben müsste, dass es ein Verwertungsverbot für Beweise gäbe, die - allenfalls in Unkenntnis des Tatzeitpunktes - mit zu diesem noch nicht gestatteten Ermittlungsmethoden erlangt worden sind).
Aber wie gesagt: Dieses Thema ist sehr schwierig und mE einer restlos befriedigenden Lösung gar nicht zugänglich.
Zitat von Noricus im Beitrag #62Ich habe über diese Frage nachgedacht. ....
Vielen lieben dank, lieber Noricus für diese Interpretationen, die viel für sich haben. Sie versuchen genau das zu beleuchten, was mich so interessiert. (Kennt man die Ursache, hat man immerhin eine Möglichkeit etwas zu tun, auch wenn ich wenig Hoffnung habe.)
Ich habe von Vince Ebert einmal einen Gedanken gelesen. Er formulierte in der Welt folgendermaßen:
Zitat Vielleicht liegt es ja an unserer Geschichte. Deutschland war jahrhundertelang ein sehr instabiles Gebiet aus vielen Kleinstaaten. Das Land war an mehreren Grenzen offen, verwundbar und nie abschließend definiert. Und wer fast ein Jahrtausend keine sicheren Grenzen hat, macht eben nicht Freiheit, sondern Sicherheit und die bekannten preußischen Tugenden Gehorsam, Pflichtbewusstsein und Unterordnung zum Leitprinzip.
Vielleicht wirkt auch dieses suspekte Gefühl der Freiheit gegenüber, in Ihre Interpretation hinein und läßt ein Bild enstehen.
Diese geschichtliche Tatsache spielt ganz sicher eine Rolle, lieber nachdenken_schmerzt_nicht. Im Falle Deutschlands kommt ja noch hinzu, dass es nicht nur keine äußere, sondern auch keine innere Sicherheit gab, und zwar dergestalt, dass man vor der Begehrlichkeit eines anderen Fürsten aus dem Alten Reich eben nicht sicher war. Das zeigte sich im Dreißigjährigen Krieg ganz deutlich.
Dieser ist vielleicht (und diese Betrachtung ist keineswegs auf meinem Mist gewachsen) so etwas wie die Urkatastrophe der deutschen Identität und Mentalität. Während andere Länder zu einem starken Einheits- und Zentralstaat heranwuchsen, bekriegten sich die deutschen Fürsten gegenseitig (und "[d]er frechen Völker Schar" [Gryphius, Tränen des Vaterlandes] marodierte durch das Reichsgebiet).
Gegen die apokalyptisch anmutende Gefahr eines weiteren derartigen Krieges schien wohl nur das Kraut der geplanten Gesellschaft gewachsen zu sein. Diese Planung bezog sich zunächst insbesondere auf die Religion ("cuius regio, eius religio"). Aber der Gedanke - man muss die Gesellschaft planen, dh ihre Dynamik staatlich reglementieren, damit es nicht wieder zu solchen Verheerungen kommt - war damit in die Welt gesetzt (und er scheint mir auch die Grundlage für das Spezifische an der German angst zu sein).
Zitat von Noricus im Beitrag #79Gegen die apokalyptisch anmutende Gefahr eines weiteren derartigen Krieges schien wohl nur das Kraut der geplanten Gesellschaft gewachsen zu sein. Diese Planung bezog sich zunächst insbesondere auf die Religion ("cuius regio, eius religio"). Aber der Gedanke - man muss die Gesellschaft planen, dh ihre Dynamik staatlich reglementieren, damit es nicht wieder zu solchen Verheerungen kommt - war damit in die Welt gesetzt (und er scheint mir auch die Grundlage für das Spezifische an der German angst zu sein).
Ganz-spontan: warum ist das dann in England genau andersherum gelaufen? Der Hobbes`sche "Leviathan", der genau auf diese Vision abhebt, verdankt sich ja der Erfahrung des englischen Bürgerkriegs. Andererseits dürfte die Erfahrung des puritanischen Tugendterrors des Lord Protectors Cromwell als Schutzimpfung gegen die totalitäre Verlockung gewirkt haben. Und in England gab es nie die räumliche Trennung der Konfessionen.
Zitat von Noricus im Beitrag #79.....Dieser ist vielleicht so etwas wie die Urkatastrophe der deutschen Identität und Mentalität. Während andere Länder zu einem starken Einheits- und Zentralstaat heranwuchsen, bekriegten sich die deutschen Fürsten gegenseitig .... Gegen die apokalyptisch anmutende Gefahr eines weiteren derartigen Krieges schien wohl nur das Kraut der geplanten Gesellschaft gewachsen zu sein.....
Vielen Dank lieber Noricus,
ich glaube ich habe jetzt wirklich etwas gelernt.
"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu
Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #75Ich habe von Vince Ebert einmal einen Gedanken gelesen. Er formulierte in der Welt folgendermaßen:
Zitat Vielleicht liegt es ja an unserer Geschichte. Deutschland war jahrhundertelang ein sehr instabiles Gebiet aus vielen Kleinstaaten. Das Land war an mehreren Grenzen offen, verwundbar und nie abschließend definiert. Und wer fast ein Jahrtausend keine sicheren Grenzen hat, macht eben nicht Freiheit, sondern Sicherheit und die bekannten preußischen Tugenden Gehorsam, Pflichtbewusstsein und Unterordnung zum Leitprinzip.
Da irrt der ansonsten hervorragende Vince Ebert ziemlich komplett. Er ist ja auch Naturwissenschaftler, kein Historiker ;-)
Deutschland war den größten Teil seiner Geschichte NICHT offen an den Grenzen, sondern mußte im Gegenteil gar keine äußeren Gegner fürchten. Und als dann mit Ludwig XIV und den Türken doch mal Feinde auftraten, wurde es mit diesen relativ gut fertig - da sind keine psychischen Folgen zurückgeblieben.
Wie Noricus schon richtig sagte, waren interne Konflikte das Hauptproblem. Die Bedrohung kam von Raubrittern oder benachbarten Feudalherren - und die waren nicht "Staat". Und der Schutz kam im Zweifelsfall vom Kaiser und den Reichsinstitutionen, also dem "Staat". Zu fürchten war die "schreckliche, die kaiserlose" Zeit. Das ist eben eine völlig andere Situation als in England, wo die Macht- und Steueransprüche des Königs das Hauptproblem waren.
Die eher preußische Tradition von Gehorsam und Unterordnung hat natürlich auch ihre Spuren hinterlassen. Aber viel wichtigeres Erbe der deutschen Geschichte ist der Glauben an den Staat als Ordnungsfaktor und an das Rechtssystem.
Wenn der Engländer vom Staat in seinen Rechten beschnitten wird, schreibt er Leserbriefe. Der Italiener ignoriert die Gesetze. Der Franzose macht eine Demo incl. Blockade und Sachbeschädigung. Der Deutsche geht vors Verwaltungsgericht. In den meisten anderen Ländern gibt es gar keine explizite Verwaltungsgerichtsbarkeit ...
Zitat von Noricus im Beitrag #79Gegen die apokalyptisch anmutende Gefahr eines weiteren derartigen Krieges schien wohl nur das Kraut der geplanten Gesellschaft gewachsen zu sein. Diese Planung bezog sich zunächst insbesondere auf die Religion ("cuius regio, eius religio"). Aber der Gedanke - man muss die Gesellschaft planen, dh ihre Dynamik staatlich reglementieren, damit es nicht wieder zu solchen Verheerungen kommt - war damit in die Welt gesetzt (und er scheint mir auch die Grundlage für das Spezifische an der German angst zu sein).
Ganz-spontan: warum ist das dann in England genau andersherum gelaufen? Der Hobbes`sche "Leviathan", der genau auf diese Vision abhebt, verdankt sich ja der Erfahrung des englischen Bürgerkriegs.
Das ist richtig. Die Ausgangslage ist der deutschen gar nicht unähnlich.
Zitat Andererseits dürfte die Erfahrung des puritanischen Tugendterrors des Lord Protectors Cromwell als Schutzimpfung gegen die totalitäre Verlockung gewirkt haben. Und in England gab es nie die räumliche Trennung der Konfessionen.
M.E. spielt auch eine Rolle, dass England zur Zeit des Bürgerkrieges bereits über eine für damalige Verhältnisse fortgeschrittene rechtsstaatliche Tradition verfügte: Untertanenbeglückung durch die "gute Polizey" des Monarchen wäre wohl kritisch gesehen worden. Außerdem dürfte es mit der Gewohnheitsrechtstradition im englischen Recht schwer zu vereinbaren sein, dass mit einem Federstrich alle Bürger gleich gemacht würden.
Zitat von R.A. im Beitrag #82Zu fürchten war die "schreckliche, die kaiserlose" Zeit.
Und genau darin liegt vielleicht das Urkatastrophale des Dreißigjährigen Krieges. Das Reich bzw. seine Rechts- und Friedensordnung hatte sich als unfähig erwiesen, diesen Konflikt zu verhindern. Dadurch mochte der Eindruck entstehen, dass man am Menschen ansetzen, also die Gesellschaft uniformieren musste, um derartige Zerstörungen fürderhin zu unterbinden.
Zitat In den meisten anderen Ländern gibt es gar keine explizite Verwaltungsgerichtsbarkeit ...
Es spricht ja eigentlich auch nichts dagegen, die Verwaltungsgerichtsbarkeit bei den ordentlichen Gerichten anzusiedeln. Dann gäbe es dort halt nicht nur Straf- und Zivilrichter/-senate, sondern auch Verwaltungsrichter/-senate. (Einiges von dem, was nach deutschem Verständnis Verwaltungsrecht ist, betrifft im Sinne der EMRK ohnehin "civil rights".) Ebenso kommt ein Land wie die USA ohne ein reines Verfassungsgericht aus.
Zitat von R.A. im Beitrag #82 Wie Noricus schon richtig sagte, waren interne Konflikte das Hauptproblem. Die Bedrohung kam von Raubrittern oder benachbarten Feudalherren - und die waren nicht "Staat". Und der Schutz kam im Zweifelsfall vom Kaiser und den Reichsinstitutionen, also dem "Staat". Zu fürchten war die "schreckliche, die kaiserlose" Zeit. Das ist eben eine völlig andere Situation als in England, wo die Macht- und Steueransprüche des Königs das Hauptproblem waren.
Schöne und plausible Erklärung.
Hier aber noch ein anderer historischer Blickwinkel:
Das historisch besondere an Deutschland ist seine Zersplitterung. Eine Folge davon ist, dass es häufig KEINE dominante fürstliche Zentralautorität gab. Vielmehr gab es ein vergleichsweise mächtiges und unabhängiges Bürgertum. (Dies gilt natürlich in erster Linie für die freien Reichsstädte. Aber auch viele anderen Städte hatten eigene Stadtmauern und waren es gewohnt, sich ggf. selbst zu verteidigen. Oder auch mit ihrem regionalen Herrscher um ihre Rechte zu streiten.).
In einer vom Adel dominierten Gesellschaft sind soziale Unterschiede etwas ganz natürliches und sogar erstrebenswertes. Es geht immer um die soziale Distinktion: wer hat das Ohr des Königs? wer hat bei Hofe die schillerndsten Kleider? etc. In einer städtischen Bürgergesellschaft ist das anders: natürlich gibt es auch hier eine soziale Hierarchie. Aber das Zusammenleben in der räumlichen Enge einer ummauerten Stadt funktioniert nur, wenn es keine zu großen sozialen Unterschiede gibt. Die Bürger der Stadt müssen sich immer noch gemeinsam als ein Stand empfinden. (Daher z.B. auch die Zunftordnungen, die allen Bürgern einen gewissen sozialen Mindeststandard sichern wollten und zugleich übermäßigen wirtschaftlichen Erfolg zu verhindern suchten).
Also vereinfacht gesagt: Das soziale Idealbild der städtischen Bürgergesellschaft (die in Deutschland relativ bedeutend war und auch kulturell prägend) war also Gleichheit. Das soziale Idealbild der Adelsgesellschaft (wie sie idealtypisch in Frankreich dominierte) war hingegen soziale Distinktion.
Zitat von R.A. im Beitrag #82Zu fürchten war die "schreckliche, die kaiserlose" Zeit.
Und genau darin liegt vielleicht das Urkatastrophale des Dreißigjährigen Krieges.
Nein. Die schreckliche, kaiserlose Zeit war deutlich früher, nach dem Untergang der Staufer. Und die hat deutliche Spuren hinterlassen - es wurden Institutionen geschaffen, die ein Regierungsvakuum verhindern sollten. Und das hat eigentlich überraschend gut geklappt. Man sollte sich weniger an den Ausnahmen orientieren (von denen der 30-jährige Krieg natürlich eine sehr einschneidende ist), sondern an den langen Zeiten dazwischen. Die halt nicht so spektakulär in den Geschichtsbüchern erscheinen, eben weil die Rechtsordnung halbwegs funktioniert hat. Wir haben zum Beispiel in Deutschland den wohl weltweit singulären Fall, daß ein Herrscher (Wenzel der Faule) wegen ungenügender Regierungsleistung schlicht abgesetzt wurde.
Zitat Das Reich bzw. seine Rechts- und Friedensordnung hatte sich als unfähig erwiesen, diesen Konflikt zu verhindern. Dadurch mochte der Eindruck entstehen, dass man am Menschen ansetzen, also die Gesellschaft uniformieren musste, um derartige Zerstörungen fürderhin zu unterbinden.
Aber nun gar nicht! Im Gegenteil ist der 30-jährige Krieg entstanden, weil versucht wurde, eine nicht mehr zeitgemäße (katholische) Uniformität durchzusetzen. Und als Reaktion wurde die Rechtsordnung des Reiches so umgestaltet, daß ein gewisser Pluralismus möglich wurde. Deutschland war der einzige Staat in Europa, in dem mehrere Konfessionen zulässig waren. Das ging bis in Details, z. B. dem ebenfalls europaweit einzigartigem Usus, daß Kirchen gemeinsam genutzt wurden. Auch im Umgang mit den verschiedenen Sprachen und Völkern war das Reich deutlich weniger Uniformismus-süchtig als die anderen Staaten.
Und der Preis für diesen Pluralismus waren komplizierte gesetzliche Regelungen, deren Einhaltung und gerichtliche Überprüfung einen ganz hohen Stellenwert bekamen.
Zitat Es spricht ja eigentlich auch nichts dagegen, die Verwaltungsgerichtsbarkeit bei den ordentlichen Gerichten anzusiedeln.
Natürlich geht das organisatorisch. Aber die explizite Einrichtung von gleich drei gesonderten und spezialisierten Gerichtsformen (neben den normalen Verwaltungsgerichten auch noch die Sozialgerichte und die Finanzgerichte) zeigt, daß die Überprüfbarkeit der staatlichen Regeln über die Gerichtsbarkeit in Deutschland einen viel höheren Stellenwert hat als in anderen Ländern.
Zitat von Florian im Beitrag #85Das soziale Idealbild der städtischen Bürgergesellschaft (die in Deutschland relativ bedeutend war und auch kulturell prägend) war also Gleichheit. Das soziale Idealbild der Adelsgesellschaft (wie sie idealtypisch in Frankreich dominierte) war hingegen soziale Distinktion.
Das ist viel dran. Mal abgesehen davon, daß es wie von Dir schon erwähnt auch in Deutschland starke soziale Hierarchien gab, war aber auch in England und Frankreich die Adelsgesellschaft nicht nur dominierend. Denn da gab es zwar keine Zersplitterung mit vielen Städten - aber es gab die überstarken städtischen Zentren London und Paris. Die de facto das Land sehr stark im Sinne bürgerlicher Gleichheit geprägt haben. Speziell Paris hat es ja im Prinzip geschafft, seine Vorstellung von "Egalité" dem restlichen Frankreich mit brutaler Gewalt aufzudrücken. Heute gibt es in Frankreich die beiden widersprüchlichen Traditionen - die des Absolutismus und die der Revolution.
Zitat von R.A. im Beitrag #82Zu fürchten war die "schreckliche, die kaiserlose" Zeit.
Und genau darin liegt vielleicht das Urkatastrophale des Dreißigjährigen Krieges.
Nein. Die schreckliche, kaiserlose Zeit war deutlich früher, nach dem Untergang der Staufer. Und die hat deutliche Spuren hinterlassen - es wurden Institutionen geschaffen, die ein Regierungsvakuum verhindern sollten. Und das hat eigentlich überraschend gut geklappt. Man sollte sich weniger an den Ausnahmen orientieren (von denen der 30-jährige Krieg natürlich eine sehr einschneidende ist), sondern an den langen Zeiten dazwischen. Die halt nicht so spektakulär in den Geschichtsbüchern erscheinen, eben weil die Rechtsordnung halbwegs funktioniert hat.
Das mag in der Retrospektive ja zutreffend sein, lieber R.A., aber ob die Zeitgenossen des Dreißigjährigen Krieges das auch so gesehen haben? Es geht ja nicht darum, das Alte Reich aus heutiger Sicht zu bewerten (ich bemerke bei Ihnen eine positive Einstellung dazu, die mir durchaus sympathisch ist), sondern sich zu fragen, wie die Stimmung 1648 in Deutschland war.
Zitat Deutschland war der einzige Staat in Europa, in dem mehrere Konfessionen zulässig waren.
Ja, aber die einzelnen Fürsten wurden doch durch den Westfälischen Frieden ermächtigt, gleichsam die Staatsreligion in ihrem Territorium festzulegen und Andersgläubige auszuweisen. Eine religiöse Koexistenz in ein und demselben Territorium sah der Westfälische Friede gerade nicht vor, jedenfalls nicht zwingend im Sinne eines Grundrechts auf Religionsfreiheit.
Zitat Auch im Umgang mit den verschiedenen Sprachen und Völkern war das Reich deutlich weniger Uniformismus-süchtig als die anderen Staaten.
Weil es wohl auch nie als Nationalstaat gedacht war. Übrigens: Ich habe jüngst gelesen - was ich vorher nicht gewusst hatte -, dass selbst die französischen Revolutionäre in den ersten Jahren Rechtsakte in die Minderheitensprachen übersetzen ließen, was man dann aber aus Kostengründen eingestellt hat. (Der berüchtigte Rapport Grégoire wurde ja erst 1794 vorgestellt.)
Zitat Aber die explizite Einrichtung von gleich drei gesonderten und spezialisierten Gerichtsformen (neben den normalen Verwaltungsgerichten auch noch die Sozialgerichte und die Finanzgerichte) zeigt, daß die Überprüfbarkeit der staatlichen Regeln über die Gerichtsbarkeit in Deutschland einen viel höheren Stellenwert hat als in anderen Ländern.
Das sehe ich anders: Die (konsequente) Trennung von Justiz und Verwaltung ist in vielen Teilen Deutschlands relativ jungen Datums. Und z.B. über Einsprüche gegen Bußgeldbescheide entscheidet das Amtsgericht, also ein ordentliches Gericht und eben kein spezialisiertes Verwaltungsgericht. Und dass z.B. der Prüfung von Gesetzen am Maßstab der Verfassung in den USA ein geringerer Stellenwert zukäme als in Deutschland, kann ich auch nicht erkennen: Der Supreme Court hat solche Verfahren schon geführt, als man in Deutschland noch nicht einmal von einem Bundesverfassungsgericht geträumt hat. Sie schließen hier m.E. zu sehr von der Gerichtsorganisation auf die Bedeutung des judicial review, der etwa in den angelsächsischen Ländern eine viel ältere Tradition hat.
Zitat von Noricus im Beitrag #83M.E. spielt auch eine Rolle, dass England zur Zeit des Bürgerkrieges bereits über eine für damalige Verhältnisse fortgeschrittene rechtsstaatliche Tradition verfügte: Untertanenbeglückung durch die "gute Polizey" des Monarchen wäre wohl kritisch gesehen worden.
In dem Zusammenhang findet sich eine interessante englische Besonderheit. Die englische Armee, die als "Polizey" dienen konnte, war nie "königlich" sondern immer "britisch" oder "englisch", im Gegensatz zur Royal Navy oder der Royal Air Force. Die erste professionelle Armee in England, die New Model Army wurde nach dem Bürgerkrieg zur Englischen Armee und nicht zur Royal Army, bwz. nach 1707 zur British Army Die Engländer waren sich sehr wohl bewusst, welche Machtmittel sie ihrem Monarchen überlassen wollten. Eine eigene Armee im Lande war nicht dabei.
Zitat von Noricus im Beitrag #88 Ja, aber die einzelnen Fürsten wurden doch durch den Westfälischen Frieden ermächtigt, gleichsam die Staatsreligion in ihrem Territorium festzulegen und Andersgläubige auszuweisen. Eine religiöse Koexistenz in ein und demselben Territorium sah der Westfälische Friede gerade nicht vor, jedenfalls nicht zwingend im Sinne eines Grundrechts auf Religionsfreiheit.
Anmerkung: Dieses Rechtsprinzip entstammt nicht dem Westfälischen Frieden sondern ist fast 100 Jahre älter (Augsburger Religionsfriede von 1555).
Zitat von Elmar im Beitrag #89Die Engländer waren sich sehr wohl bewusst, welche Machtmittel sie ihrem Monarchen überlassen wollten. Eine eigene Armee im Lande war nicht dabei.
Für die Periode 1688 (nach der "Glorious Revolution") bis ~1725 ist das in der englischen Politik einer der entscheidenden, wenn nicht gar die zentrale Frage. Die Zahl der wütenden Pamphlete pro oder contra einer standing army gehen in die Hunderte (alle, die nicht gezeichnet sind -das sind die meisten - werden gerne, sowohl pro als auch contra, Daniel Defoe zugeschlagen). Zum einen wird die Armee als Sicherung der Ordnung für nötig gesehen; zum andren will man der Krone kein Machtmittel in die Hand geben. Außerdem, so das Argument der "nation of shopkeepers", sei das nichts als "rutsmeten geld". Heftig wird das im Verlauf des spanischen Erbfolgekriegs, spätestens im Vorlauf & der Nachbereitung der Schlacht der Höchstadt ("battle of Blenheim") 1704, weil die Armee Marlboroughs die Staatskasse in den Bankrott zu führen droht (und das letztlich für eine als unwichtig empfundene Sache). Das Kabinett von Robert Harley (letzter Schatzkanzler) ist nach dem Tod von Queen Anne über diese Frage gestürzt (weil man entgegen aller Koalitionsverträge mit den anderen Bündnisstaaten heimlich 1712 einen Separatfrieden mit Frankreich ausgehandelt hatte, um den Staatsbankrott abzuwenden). Für die Marine war die Lage anders: die wurde fortwährend benötigt (nicht zuletzt in den 3 Kriegen gegen die Holländer im 17. Jhdt.) - da konnte man das nicht vom Wankelmut von Abgeordneten abhängig machen, die in Wahlperioden denken. Zudem konnte man damit kein Unheil im Landesinneren anrichten.
Zitat von Noricus im Beitrag #83M.E. spielt auch eine Rolle, dass England zur Zeit des Bürgerkrieges bereits über eine für damalige Verhältnisse fortgeschrittene rechtsstaatliche Tradition verfügte: Untertanenbeglückung durch die "gute Polizey" des Monarchen wäre wohl kritisch gesehen worden.
In dem Zusammenhang findet sich eine interessante englische Besonderheit. Die englische Armee, die als "Polizey" dienen konnte, war nie "königlich" sondern immer "britisch" oder "englisch", im Gegensatz zur Royal Navy oder der Royal Air Force. Die erste professionelle Armee in England, die New Model Army wurde nach dem Bürgerkrieg zur Englischen Armee und nicht zur Royal Army, bwz. nach 1707 zur British Army Die Engländer waren sich sehr wohl bewusst, welche Machtmittel sie ihrem Monarchen überlassen wollten. Eine eigene Armee im Lande war nicht dabei.
Danke, lieber Elmar, für diesen interessanten Gesichtspunkt.
Wenn die aufgeklärten Absolutisten von der "guten Polizey" sprachen, bezogen sie das übrigens nicht auf die Ordnungshüter, sondern auf den Regierungsstil. Gute Polizey war gute Politik. Aber ein Bewusstsein wie in England, dass man dem König nicht das Heer überlassen wollte, das auch nach innen wirken konnte, gab es meines Wissens in den deutschen Staaten nicht.
Zitat von Noricus im Beitrag #88 Ja, aber die einzelnen Fürsten wurden doch durch den Westfälischen Frieden ermächtigt, gleichsam die Staatsreligion in ihrem Territorium festzulegen und Andersgläubige auszuweisen. Eine religiöse Koexistenz in ein und demselben Territorium sah der Westfälische Friede gerade nicht vor, jedenfalls nicht zwingend im Sinne eines Grundrechts auf Religionsfreiheit.
Anmerkung: Dieses Rechtsprinzip entstammt nicht dem Westfälischen Frieden sondern ist fast 100 Jahre älter (Augsburger Religionsfriede von 1555).
Zitat von Noricus im Beitrag #92Aber ein Bewusstsein wie in England, dass man dem König nicht das Heer überlassen wollte, das auch nach innen wirken konnte, gab es meines Wissens in den deutschen Staaten nicht.
Aber sicher gab es dieses Bewußtsein! Und auch langanhaltende Auseinandersetzungen um dieses Thema. Zumindestens in den größeren Territorien, die sich überhaupt über ein stehendes Heer Gedanken machen konnten.
Und wie in England war der Haupthebel dieser Auseinandersetzung zwischen Parlament (in den Deutschland: der jeweiligen Ständeversammlung) und dem Fürsten die Finanzierung. Es gelang den Fürsten nur relativ spät und schwer, die nötigen Steuern genehmigt zu bekommen.
Am einfachsten war das in Österreich, weil dort die Türkenbedrohung deutlich sichtbar war und deswegen die Zustimmung der Stände kein großes Problem war.
Und der Aufstieg Brandenburg-Preußens beruht ganz wesentlich darauf, daß es dort (trotz fehlender Begründung über eine äußere Bedrohung) dem Fürsten ganz früh gelang, sich gegen die Stände durchzusetzen und sein stehendes Heer zu finanzieren. Dieses Heer war die Basis für die erfolgreiche Machtpolitik gegenüber den anderen Fürsten. Und wegen dieses Erfolgs hat Preußen Deutschland stärker geprägt als die Traditionen der vielen Regionen, in denen es weniger militärorientiert zuging.
xanopos
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08.04.2014 14:05
#95 RE: Fragen zu allen Dingen überhaupt (1): Steuerhinterziehung und Plagiat
Zitat - ein gesetzliches Mindesteinkommen in der Höhe von € 1.250 (ab 01. Jänner 2015)
Er fordert ja nicht, dass das gesetzliche Mindesteinkommen die Form eines Mindestlohns annehmen muss. Aufgrund der unklaren Formulierung könnte er auch an ein bedingungsloses Grundeinkommen oder auf ein "Aufstocken" hinauswollen. Beides wäre dann natürlich aus Steuermitteln zu finanzieren.
Aber freilich: Wenn ihm das Mindesteinkommen so viel bedeutet, könnte er bei seinen zwei Angestellten mit gutem Beispiel vorangehen ...
Dass es dem Mann nicht per se (zB aus liberalen Erwägungen) um eine Minderung der Steuerlast geht, zeigt folgende Forderung:
Zitat von Von Xanopos verlinkter Presse-Artikeleine EU-weite Finanztransaktions-, Vermögens- und Gewinnsteuer zur Schuldentilgung
Die Belastung durch diese Steuer wäre für den Trafikanten wohl gering (ich nehme mal an, dass sein Laden keine astronomischen Erträge abwirft). Aber schon seltsam, dass er für eine Gewinnsteuer plädiert, aber die Umsatzsteuer, die ihn wirtschaftlich ja nicht belastet, vorenthält.
Zitat von xanopos im Beitrag #95Der Selbstständige, dem 2 Angestellte brutto 23.000 € im Jahr kosten (siehe obigen Salzburger Nachrichten Artikel) fordert ernsthaft:
Zitat - ein gesetzliches Mindesteinkommen in der Höhe von € 1.250 (ab 01. Jänner 2015)
Der hat halt die "Logik" der Grundeinkommensbefürworter kapiert: Wenn die Kunden seines Büdchens alle einige hundert Euro mehr in der Tasche hätten, dann würden sie beim ihm viel mehr Kamillentee (oder vergleichbare Getränke ...) kaufen. Er würde einen Riesenumsatz machen und könnte dann auch seine Angestellten fürstlich entlohnen. Eine klassische Win-Win-Situation. Noch besser, eine Win-Win-Win-Situation, weil es ja sowohl ihm, wie seinen Angestellten, wie auch den Kunden besser geht.
HR
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Beiträge:
14.04.2014 04:04
#98 RE: Fragen zu allen Dingen überhaupt (1): Steuerhinterziehung und Plagiat
Auch hier ein "depends". Ein Ph.D., ein Dr.... mir egal, da ist`s wie von Ihnen beschrieben. Eine Approbation als Arzt oder Apotheker? Schon schwieriger. Immerhin entsteht hier die unsägliche Situation, dass der Patient einem womöglich nicht nur nicht entsprechend ausgebildetem ausgesetzt wird, sondern einem Scharlatan, der kurzfristige Erfolge hat, aber langfristig Schaden verursacht. [das geht in diesem Bereich: setzen Ärzte bei Patienten mit einem nur langsam progressivem Krebs die Chemo vorzeitig ab, geht es dem Patienten sogar Monate lang besser! Danach aber eben nicht mehr. Auch bei vielen anderen Erkrankungen führt ein Absetzen der lebensverlängernden/lebensrettenden Medikation durchaus zu kurzfristig besserer Lebensqualität - verkürzt aber die Lebenserwartung deutlich]
Kürzere Lebenserwartung bei höherer Lebensqualität? Klingt gut.
Meine an Leukämie erkrankte Mutter ist razfaz gestorben, nachdem nicht mehr der sie behandelnde Assistenzarzt die Medikamente dosiert hat (wegen Urlaubs), sondern der Chefarzt.Ich als Laie hab damals Panik geschoben.Zu recht.Ich hab Tabletten gezählt: Das waren zu wenig, eindeutig. Als sie dann tot war wurde mit Kollateralschaden gehandelt.
Nächstes Thema wäre die deutsche Handwerksordung.Ein freches Monopol, das sich selbst seit Clement bis heute hält.
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