Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #58 Ich bin mir selbst nicht sicher: In der Theorie befürworte ich den klassischen Liberlismus mit seiner inhärenten Beschränkung. In der Praxis weiß ich nicht, ob ich in einer Welt ohne kulturelle Prägung leben möchte. Dabei bin ich mir vollkommen bewußt, dass kulturelle Prägung immer ein Element der Willkür beinhalten muß.
Dieser Widerspruch ist auch mir sehr vertraut. Ich glaube das ist aber auch einer der Unterschiede zwischen Liberal und Libertär. Der Schlüssel, den ich für mich gefunden habe, läuft ungefähr auf das hinaus, was bei den Juristen durch den Begriff der Verhältnismäßigkeit ausgedrückt wird. Natürlich ist das Tanzverbot am Karfreitag freiheitseinschränkend. Auch für mich, da ich mit dem organisierten Christentum nix zu tun habe und auch nicht daran glaube, dass irgendjemand für meine Sünden gestorben ist. Aber ich erkenne an, dass es anderen sehr wichtig ist
Übrigens, hier scheint noch ein großes Missverständis vorzuliegen. Nämlich die Verhältnismäßigkeitsprüfiung als so eine Art reine Bauchgefühlsentscheidung zu sehen. Das ist aber nicht (ganz) korrekt. Es ist eine mehrstufige Prüfung. Eine Stufe ist dabei die Frage, ob die gewünschte Maßnahme überhaupt geeignet ist, das Ziel, mit dem sie offiziel begründet wird, zu erreichen.
Das scheitert nicht nur die Film- und Theaterzensur (was juristisch relevant ist, denn es sind Einschränkungen eines Grundrechts), sondern auch das pauschale Tanzverbot (was nicht juristsich Relevant ist, da keine Grundrechtseinschränkung, aber in der ordnungspolitischen Debatte hier) direkt am Anfang.
Beides kann nämlich nicht dem Schutz vor Störung und Belästigung dienen. Wie denn, bei Veranstaltungen, die nach Außen nicht mehr Lärm verursachen, als es auch am Karfreitag legale Veranstaltungen tun würden?
Da muss man schon die Katze aus dem Sack lassen: Es geht nicht um den Schutz vor Störung und Belästigung. Es geht um etwas ganz anderes: Den Versuch mit Hilfe des Staates eine traditionelle Stimmung durchzusetzen und - das ist wichtig - eben nicht nur den Schutz derjenigen, die eine solche Stimmung haben wollen, vor Störungen, sondern der Wunsch eine einheitliche Gemeinschaftsstimmung durchzusetzen, von der man nicht im Verbund mit anderen abweichen können soll. Zwar kann der Staat nicht direkt eine Stimmung anordnen, das wäre totalitär, aber er versucht jedem Abweichen von der gewünschten Stimmung enorme Steine in den Weg zu legen. Und das ist einfach nicht die Aufgabe eines liberalen Rechtsstaates.
Ich halte hierfür "Tradition" als Begründung für ziemlich dürftig. Ein "das haben wir schon immer so gemacht" ist eben keine rechtsstaatliche Begründung. Füher wurde noch so einiges andere gemacht und der Hinweis auf Verhältnismäßigkeit bringt hier auch nicht - wie eben dargelegt scheitert die Prüfung schon an der ersten Stufe.
(Womit übrigens auch deutlich wird, dass es hier nicht um einen Unterschied zwischen "liberal" und "libertär" geht. Es ist auch nicht liberal. Libertär ist eher ein Oberbegriff für verschiedene Strömungen, zu denen neben klassischen Liberalen und Ordoliberalen auch Anarchokapitalisten gehören. Aber um eine Ablehnung des Gewaltmonopolisten geht es hier nicht. Manchmal wird der Begriff Libertär auch als Abgrenzung zum Linksliberalismus gebraucht. Es wäre schade, wenn der Liberlismus jetzt auch noch durch einen Rechtsliberalismus verwässert würde, der eine Abgrenzung mit dem Begriff Libertär nötig machen würde.)
Nachtrag:
Zitat Und dazu gehört es auch, auf andere Rücksicht zu nehmen, auch wenn wir dann ein bissel von unserem Ideal abweichen. Wir sind immernoch in erster Linie soziale Wesen.
Es hat ja nichts mir Rücksichtsnahme zu tun. Das Verbot geht ja viel weiter. Es geht hier um die Art von "Rücksichtnahme", die anderen einfach nur ihr Leben vorschreiben will. Ginge es um Rücksichtnahme, dann wäre es auch kein grundsätzliches Abweichen vom liberalen Ideal. Und das hier kein Klartext geredet wird, sondern man an den eigentlichen Argumenten vorbei redet und es sich zurecht interpretiert, liegt vermutlich daran, dass in Schubladen gedacht wird: Wer den Stillen Feiertag ablehnt habe vermutlich verwerfliche Hintergedanken, sei ein schlechter Mensch, habe dubiose Motive. Das wurde auch an ihrer Äußerung, lieber Llarian, deutlich, in der Sie meinten, wer gegen Stille Feiertage sei, der fahre vermutlich nur eine Kampagne gegen die Kirche. Das es tatsächlich darum gehen könnte, einen schlechten Präzedenfall zu verhindern, dass Gegnerschaft zu den Kirchen nur in dem Rahmen beim Gegenüber vorhanden ist, wie diese solche Präzedenzfälle fordern, geht dabei offenbar unter.
Zitat von Llarian im Beitrag #57Und natürlich ist dieser Teil unserer Kultur, um nicht zu sagen, Tradition, eine Einschränkung von Freiheit (und keine Zensur nebenbei, der Begriff ist in dem Kontext absurd). Und unter dem Gesichtspunkt der maximal möglichen Freiheit für einen Libertären auch unerträglich. Nur leben wir nicht in einer libertären Gesellschaft sondern in einer demokratischen. Und da muss man auch mal damit leben, dass ein Einschränkungen gibt. Ich persönlich halte diese für geradezu lächerlich.
Ich finde es interessant, dass sie in Ihren Ausführung von einer anderen Warte aus auf einen Gedanken kommen, den ich einmal versuchte in einem meiner Gastbeiträge zu formulieren.
Zitat von Gastbeitrag"Moral ist die für einen Menschen durch seine kulturelle Prägung entstandene, zulässige Beschränkung der persönlichen Freiheit." [...] Das Besondere am Liberalismus erscheint mir unter diesem Aspekt die Tatsache, daß er sich mit einer in der persönlichen Freiheit inhärenten Beschränkung zufrieden gibt, nämlich eben jenen "begrenzenden Regeln", welche die persönliche Freiheit des Individuums gegen die der anderen Individuen des Kollektivs schützen. Somit ist der Liberalismus der "kleinste gemeinsame Nenner" von kultureller Prägung und persönlicher Freiheit.
Der kleinste Nenner, aber eben nicht der einzig mögliche. Dabei liegen Kultur und das Streben nach Freiheit im ständigen Widerstreit, um dem "Miteinander" den "geeigneten Rahmen" zu geben.
Lieber NSN, hier würde ich schon wiedersprechen. Ich sehe hier keinen Widerstreit, es geht nämlich um zwei vollkommen unterschiedliche Bereiche: Einmal welche Kultur sie befürworten und einmal um einen Satz an Regeln bezüglich der Frage, wann die Initiierung von Gewalt und Handlungen des Gewaltmonopolisten zulässig sind.
Zitat Ich bin mir selbst nicht sicher: In der Theorie befürworte ich den klassischen Liberlismus mit seiner inhärenten Beschränkung. In der Praxis weiß ich nicht, ob ich in einer Welt ohne kulturelle Prägung leben möchte. Dabei bin ich mir vollkommen bewußt, dass kulturelle Prägung immer ein Element der Willkür beinhalten muß.
Ich will auch nich in einer Welt ohne kulturelle Prägung leben. Ist auch gar nicht möglich. Es ist die Frage, warum hier "klassischer Liberalismus" immer so Missverstanden wird. Die Frage, die der Liberalismus stellt, ist, wann staatliche Gewalt angemessen ist. Ich glaube, dass sich hier die Auswirkungen des linken Verständnisses von Gesellschaftsliberalismus zeigen:
Zitat Liberalismus ist den Abbau von Gesetzen. Gesellschaftsliberalismus ist nur der Abbau von Moral.
Offenbar besteht dieses Missverständnis aber auch umgekehrt, wenn Konservative der Abbau von Gesetzen mit dem Abbau von Moral verwechseln. Oder meinen eine Islamisierung liese sich dadurch Bekämpfen, dass man am Karfreitag das Tanzen und am Ostersonntag das (gewerbliche) Backen verbietet.
Zitat Ich glaube allerdings auch, das "wohldosierte gesellschaftliche Identität" einem gesellschaftlichen Zusammenleben nicht abträglich sind. Im Gegenteil. Ob das über "organisierte Spiritualität" geschehen muß, sei einmal dahingestellt. Immerhin habe ich für mich erkannt (über Lernen in diesem Forum), dass die Aufklärung wohl gewissermaßen im neuen Testament angelegt war und nicht zuletzt dies läßt mich das Christentum persönlich durchaus wohlwollender betrachten, als es gemeinhin der Zeitgeist zu tun scheint.
Warum lange diskutieren? Das Tanzverbot an Karfreitag existiert, weil dessen Abschaffung keine Sau wirklich braucht. Ungefähr so wie die FDP.
-- L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat) Je länger das Dritte Reich tot ist, um so stärker wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen. (Johannes Gross)
Zitat von Rayson im Beitrag #78Warum lange diskutieren? Das Tanzverbot an Karfreitag existiert, weil dessen Abschaffung keine Sau wirklich braucht.
Das ist aber verdreht. Die Frage sollte nicht sein, warum ein Verbot abgeschafft werden soll, sondern warum esnötig sei.
Die richtige Frage ist: "Muss das verboten sein?" Die falsche Frage ist: "Muss das erlaubt sein?"
Es ist die deutsche Kurx, dass häufig die Haltung besteht "Lass sie doch verbieten, ist doch nicht so schlimm".
Was, wenn nicht diese Haltung, muss der Liberalismus versuchen zu ändern? Die konkrete Vorlage ist da eher zweitrangig.
Ich habe aber das Gefühl, dass der Versuch unter dem Vorwand "irrelevant" dem Gegenüber dunkle Motive zu unterstellten (nicht von ihnen, lieber Rayson) oder als jemand "ohne andere Sorgen" abzutun, nichts damit zu tun hat, dass andere Dinge für dringender befunden werden. Zum einen würde ich da gar nicht widersprechen, zum anderen wäre dann auch die Antworten auf meine Beitrage anders ausgefallen.
Ich denke, viele finden es auch hier großartig, anderen Dinge zu verbieten, die sie gar nicht stören, da sie nichts davon mitbekommen müssen. Soll trotzdem verboten sein. Es geht nicht um Freiheit (nur die eigene), sondern doch um den Versuch einen bestimmten Lebenstil aufzudrängen.
Die Ausrede Islamisierung zieht hier übrigens nicht, denn weder ein Tanzverbot am Karfreitag noch das Backverbot am Ostersonntag haben hier irgendeine Auswirkung. Das ist allein nach Innen gerichtet, um Konformität der autochthonen Bevölkerung zu erzwingen. Nur von einer anderen Warte als die Grünen.
Zitat Das ist aber verdreht. Die Frage sollte nicht sein, warum ein Verbot abgeschafft werden soll, sondern warum esnötig sei.
Zitat Es ist die deutsche Kurx, dass häufig die Haltung besteht "Lass sie doch verbieten, ist doch nicht so schlimm".
Der Punkt ist ein anderer: Politik wird nicht jedes Jahr neu am grünen Tisch entworfen, sondern besteht daraus, eine bestehende Situation zu verändern. Man verändert nur, was man für wichtig hält. Und eine Abschaffung des Verbots wäre nunmal eine Veränderung. Das ist für seine Gegner so etwas wie der Fluch der früheren Gesetzgebung.
-- L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat) Je länger das Dritte Reich tot ist, um so stärker wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen. (Johannes Gross)
Zitat Das ist aber verdreht. Die Frage sollte nicht sein, warum ein Verbot abgeschafft werden soll, sondern warum esnötig sei.
Zitat Es ist die deutsche Kurx, dass häufig die Haltung besteht "Lass sie doch verbieten, ist doch nicht so schlimm".
Der Punkt ist ein anderer: Politik wird nicht jedes Jahr neu am grünen Tisch entworfen, sondern besteht daraus, eine bestehende Situation zu verändern. Man verändert nur, was man für wichtig hält. Und eine Abschaffung des Verbots wäre nunmal eine Veränderung. Das ist für seine Gegner so etwas wie der Fluch der früheren Gesetzgebung.
Ah, verstehe, das war nur eine faktische Anmerkung, keine Wertung.
Sie haben natürlich recht.
Wobei ich mir Angesichts der Theaterzensur ein Eingreifen des Verfassungsgerichtes wünschen würde. Beim Tanzverbot erwarte ich das nicht einmal.
Ich finde das Tanzverbot auch nicht für das dringenste Problem. Womit ich ein Problem hatte, war der Versuch es sich schön zu reden oder als ein Mittel darzustellen, das lediglich ungestörtes Gedenken ermöglichen soll (denn das ist es nicht).
Zitat wie eben dargelegt scheitert die Prüfung schon an der ersten Stufe.
Oder zweiten oder dritten Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung, ich weiß es nicht mehr Exakt auswendig. Die eher bauchgefühlsgetriebene Bewertung folgt auf jeden Fall erst in der vierten Stufe, wenn die Maßnahme die ersten drei Stufen der Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgreich durchlaufen hat.
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