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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 78 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
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Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.404

30.12.2014 23:07
#26 RE: Russland heute Antworten

Zitat von Techniknörgler im Beitrag #15
Die deutschen Medien haben sicherlich nicht immer recht, aber auch nicht immer unrecht.


Was verschiedene Stoffe betrifft, sicher. Aber auf jeweils einen Fokus reduziert? Da hat man des oftern den Eindruck, in einer Klonfarm gelandet zu sein. Zumal wenn es neuralgische Punkte geht, um das, was "auf keinen Fall zum Wahlkampfthema" gemacht werden darf. Und selbst wenn in einzelnen Punkten immer mal wieder Anderslautendes aufblinkt (SpOn aktuell: "Forscher halten Fukushima-Strahlung im Meer für harmlos") - das ist 1 Tropfen auf dem heißen Stein. Das andere ist die beständige pädagogische Vorhaltung, was der Zuschauer dabei gefälligst zu denken & zu fühlen habe. Und da das jedesmal von Neuem der Fall ist, auch wenn wenn man das von gestern oder letztem Monat noch nicht vergessen hat, macht sich Mißmut breit. Und der summiert sich über die Jahre: es wird ja immer con brio auf der Posaune des Jüngsten Gerichts getutet - & es wird niemals Bilanz gezogen: tut uns leid, war 'ne Ente. Obwohl die mexikanische Grippe nicht vorbeigeschaut hat, der Vulkanstaub aus Island ebensowenig, die Weihnachten immer noch weiß sind & EHEC keinerlei Folgen für die Biobranche hatte (man stelle sich kurz mal vor, was los gewesen wäre, die Firma mit dem Doppelbogen hätte 50 Kunden mit Big Macs unter die Erde & 5000 ins Lazarett gebracht). Natürlich haben die "Hauptstrommedien" manchmal recht. Das geht aber auch bei den meisten eher ... propagandalastigen ... Varianten so (das war in der DDR so & in der SU ab dem Einsetzen des Tauwetters): ein Drittel Zutreffendes, ein Drittel frei Erfundenes, und 80% unentwirrbare Verquickung aus Beidem mit "pädagogischer Soße". Wer weiß, wie viele Pedigisten sich da sagen: wenn ich das eh' serviert bekomme, wähl' ich gleich das Tagesgericht, wo ich aus alter Erfahrung sicher sein kann, daß ich betuppt werde?

Werwohlf Offline




Beiträge: 997

31.12.2014 00:47
#27 RE: Russland heute Antworten

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #26
Zitat von Techniknörgler im Beitrag #15
Die deutschen Medien haben sicherlich nicht immer recht, aber auch nicht immer unrecht.


Was verschiedene Stoffe betrifft, sicher. Aber auf jeweils einen Fokus reduziert? Da hat man des oftern den Eindruck, in einer Klonfarm gelandet zu sein. Zumal wenn es neuralgische Punkte geht, um das, was "auf keinen Fall zum Wahlkampfthema" gemacht werden darf. Und selbst wenn in einzelnen Punkten immer mal wieder Anderslautendes aufblinkt (SpOn aktuell: "Forscher halten Fukushima-Strahlung im Meer für harmlos") - das ist 1 Tropfen auf dem heißen Stein. Das andere ist die beständige pädagogische Vorhaltung, was der Zuschauer dabei gefälligst zu denken & zu fühlen habe.
Eben - man hat den Eindruck, in den Redaktionsstuben lägen eine Handvoll Schemata bereit, von denen eins dann für den jeweiligen Gegenstand der Berichterstattung herhalten muss. Diese Schemata haben jeweils eins gemeinsam: Es gibt Schurken und Helden. Putin hat, nicht ganz ohne eigenes Zutun, z.B. immer die Schurkenrolle für sich gepachtet, Obama meistens die des Helden. Und Demonstrationen werden praktisch immer als "der" Wille des Volkes gedeutet ("rechte Aufmärsche" sind natürlich keine Demonstrationen im engeren Sinn), selbst wenn der angeblich illegitime Herrscher demokratisch gewählt ist und mitten in seiner Amtszeit steht. Ob nun in Istanbul gegen Erdogan (auch einer, der seit einiger Zeit als Schurke gelistet ist), in arabischen Hauptstädten gegen die jeweiligen Machthaber oder eben auf dem Maidan. Dieses Schwarz-Weiß-Schema wird dann in der Regel voll durchgezogen, bis zum bitteren Ende. Zur Erklärung trägt das alles natürlich nichts bei. Wir erfahren nicht, wie sich Erdogan die Zustimmung in den ländlichen Teilen der Türkei sichert, die ihm die Wahlsiege garantiert, wir erfahren nichts oder nur sehr wenig z.B. über die Rolle des Militärs bei den Demonstrationen in Kairo (stattdessen werden mit leuchtenden Augen die "sozialen Netzwerke" bemüht), wir erfahren nichts über die Macht der Stämme in Libyen, und es wird natürlich auch so getan, als hätten die Amis auf dem Maidan nicht kräftig mitgemischt (stattdessen immer wieder Warnungen von Rechtsradikalen, weil man die so schön mit Bildern vierschrötiger Gestalten untermalen kann).

Ähnliche auch z.B.: Konzerne (Schurken) gegen NGOs (Helden). Die Medien drohen sich zu wandeln von in erster Linie berichtenden Institutionen zu in erster Linie werturteilenden, und damit nehmen sie eine Rolle als eine Art Hohepriester des politischen Mainstreams (von mir auch gern "Dauerkonsens" genannt) ein. Es gibt ja praktisch keinen Korrespondenten-Bericht mehr, in dem uns der Journalist vor Ort von seiner Meinung verschont. Seriöse Berichterstattung gibt es nur noch in Sendungen wie "Brisant", wenn über abgefackelte Reetdächer berichtet wird...

--
Bevor ich mit den Wölfen heule, werd‘ ich lieber harzig, warzig grau,
verwandele ich mich in eine Eule oder vielleicht in eine graue Sau.
(Reinhard Mey)

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.404

31.12.2014 03:39
#28 RE: Russland heute Antworten

Zitat von Werwohlf im Beitrag #27
...als hätten die Amis auf dem Maidan nicht kräftig mitgemischt...


Man sollte aber auch anmerken, daß dieses spezielle Narrativ seit einiger Zeit (zumindest außerhalb der üblichen Rückzugswinkel) doch ziemlich eingemottet worden ist. Die "klandestinen Machenschaften" der USA waren ja mehrere Jahrzehnte lang - & beileibe nicht nur in linksradikalen oder toitschen Reservaten - als Erklärungsmuster für alles & jedes recht beliebt. Ob nun Pearl Harbour auf Roosevelts Betreiben zurückgeführt wurde (das Mem ist von [ex-]Admiral Robert A. Theobold 1954 in The Final Secret of Pearl Harbour losgetreten worden); der Sturz Mossadeghs 1953, der angebliche Einsatz von Biowaffen im Koreakrieg, ob das Desaster in der Schweinebucht auf Kennedys zurückging; die "Verantwortung" des CIA für Allendes Sturz und und und: das war alles mal ziemliches Allgemeingut. "Die Wahrheit über 9/11" ist dagegen nicht über die Folklore-Ecke hinausgekommen, in der auch die Chemtrails spuken; nicht mal Oliver Stone hat sich ködern lassen. Daß AIDS eine US-Biowaffe sein sollte, hat noch jeder (und seis nur als Gerücht) noch mitbekommen; die Abschaltung von HAARP ist nicht mal mehr als das registriert worden. Kann sein, daß das Fass mal wieder aufgemacht wird; momentan macht sich das aber nur sehr schemenhaft bemerkbar ("TTIP ist sicher was mit Genen...") Wmgl. liegts daran, daß Weltverschwörungen, die für alles & nichts & das Gegenteil zeichnen, der entscheidende Faktor der erklärenden Stringenz abgeht; vielleicht hat sich rumgesprochen, daß es nichts damit war (die historische Erfahrung lehrt in allen derartigen Fällen, wo es sich einigermaßen nachzeichnen läßt, daß der Einfluss der "Mächte im Hintergrund" realiter Null ist: das geht seit dem frühen 17. Jhdt. so); kann auch sein, daß Dr. No-Pläne, die alle das an sich haben, daneben zu gehen, das Vertrauen des geneigten Publikums irgendwann verspielen.

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

01.01.2015 17:24
#29 RE: Russland heute Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #19
Und zweitens ist "Schuld" im Sinne von Verursachen (und so war das in meinem Kontext gemeint) ganz zentral wichtig für die internationale Politik.
Wer einen Konflikt "verschuldet", und dabei sogar völkerrechtlich wichtige Verträge bricht, der wird von vielen Staaten als Gefahr für die eigene Sicherheit wahrgenommen. Und die Wahrung der eigenen Sicherheit ist eine ganz wesentliche Motivation von Außenpolitik.
Vertragsbrüchige tragen natürlich immer Schuld gegenüber den Vertragstreuen, das ist klar. Allerdings ist diese Schuld praktisch irrelevant, wenn ein anderer Anspruch vorhanden ist, der dem Anspruch aus dem Vertrag gegenüber vorrangig ist. Das ist z.B. im Zivilrecht der Fall, wenn man erst die Alimente seiner Exfrau befriedigen können muß, bevor man wegen Gasschulden gepfändet werden kann. Die Schuldfrage ist also nicht isoliert von den anderen Rechtsverhältnissen zu betrachten.

In der Politik wäre das das Vertretungsverhältnis der Politiker gegenüber ihrem Staatsvolk. Und da ist eine Schuldfrage der Ukraine, NATO, EU und USA höchst aktuell und interessant, schon aus demokratischen Gründen. Wenn ein Staatslenker einen Nichtangriffspakt so interpretiert, als könne er sein Land völlig wehrlos gegenüber den Nichtangriffsvertragspartner werden lassen, der verschuldet sich gegenüber seinem Volk. Er kann sich nicht darauf zurückziehen, daß der Aggressor ja die Schuld habe. Denn wäre auf politischer Ebene schon Schuldvermeidung hinreichend für korrektes Verhalten ohne die Abschreckung durch Staatsgewalt, dann wäre die Staatsgewalt und damit der Staatslenker selber überflüssig. Der Staat existiert also nur auf der Prämisse, daß Schuld praktisch irrelevant ist. Damit ist meine steile These bewiesen.

Und daraus folgt eben auch, daß man eine Mitschuld aller Politiker gegenüber ihren Entitäten diskutieren muß, inwiefern ihr Handeln in der Kausalität eine Rolle gespielt hat. Es ist eben nicht der Nichtangriffspakt (z.B. mit der Ukraine), der den Frieden garantiert, sondern es ist die eigene Wehrhaftigkeit zusammen mit einer Situation, in der es für den Gegner nicht ratsam ist, diese Wehrhaftigkeit auf die Probe zu stellen. Mögen auch unsere Politiker supermoralisch sein und Militär immer nur zum Schutz von Drittvölkern und nie zum Schutz der eigenen Steuerzahler einsetzen, dürfen sie daraus nicht schließen, daß andere Staaten sich auch nicht für ihren eigenen Profit militärisch engagieren.

Die Schuld liegt also so, daß lange bekannt war, spätestens seit Georgien 2008, daß Putins Einstellung zur Gewalt und die unbedarfte Militärpolitik mit offenen Flanken zu Rußland eine Gefahr für die Sicherheit ist.

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

01.01.2015 17:47
#30 RE: Russland heute Antworten

Zitat von Techniknörgler
Der Eindruck liegt nahe, das es hier bereits zu einer automatisierten Trotzreaktion auf die Berichterstattung der traditionellen Medien kam. Menschlich nachvollziehbar ist das, rational ist es nicht.

Ich glaube nicht an so eine Trotzreaktion, die ja bei Themen wie Klimawandel oder sexuelle Umerziehung nicht so auftreten. Ich glaube eher, daß die meisten Menschen durch die deutschen "Leitmedien" einfach kein schlüssiges Bild von anderen Ländern bekommen und deswegen Schwierigkeiten haben, die Geschehnisse einzuordnen. Es werden eben lieber die unerheblichen Aussprüche eines zurückgetretenen Ministers als Nachricht präsentiert, als gewaltsame Konflikte im Ausland.

Was haben wir denn von Rußland präsentiert bekommen? Zu Schröders Zeiten die Dinge mit Tschetschenien und gelenkter Demokratie, aber seither ist viel zuverlässig geliefertes Gas die Дружба hinuntergeflossen. Dann noch die schönen Bilder von Gerd Ruge oder der Transsibirischen Eisenbahn. Außerdem hat sich noch Volker Beck in Moskau auf Demos verprügeln lassen und man hat Dinge am russischen Staat kritisiert, die man selber so ähnlich macht. Alles andere ist ziemlich abstrakt, mit Korruption und so. Korruption haben wir ja auch.

Von der horrenden Aufrüstung der russischen Streitkräfte, von der Pogromstimmung gegen "Kaukasier", vom Exodus russischer Wissenschaftler oder der "niederländischen Krankheit" weiß ich nur aus persönlichen Quellen oder weil es mich besonders interessiert. Aber es ist wichtig, um das (Un-)Gleichgewicht zu erkennen, aus dem heraus politisch gehandelt wird. Das fehlt den normalen deutschen Medienkonsumenten.

Techniknörgler Offline



Beiträge: 2.738

01.01.2015 20:08
#31 RE: Russland heute Antworten

Zitat von Emulgator im Beitrag #30

Zitat von Techniknörgler
Der Eindruck liegt nahe, das es hier bereits zu einer automatisierten Trotzreaktion auf die Berichterstattung der traditionellen Medien kam. Menschlich nachvollziehbar ist das, rational ist es nicht.
Ich glaube nicht an so eine Trotzreaktion, die ja bei Themen wie Klimawandel oder sexuelle Umerziehung nicht so auftreten. Ich glaube eher, daß die meisten Menschen durch die deutschen "Leitmedien" einfach kein schlüssiges Bild von anderen Ländern bekommen und deswegen Schwierigkeiten haben, die Geschehnisse einzuordnen. Es werden eben lieber die unerheblichen Aussprüche eines zurückgetretenen Ministers als Nachricht präsentiert, als gewaltsame Konflikte im Ausland.

Was haben wir denn von Rußland präsentiert bekommen? Zu Schröders Zeiten die Dinge mit Tschetschenien und gelenkter Demokratie, aber seither ist viel zuverlässig geliefertes Gas die Дружба hinuntergeflossen. Dann noch die schönen Bilder von Gerd Ruge oder der Transsibirischen Eisenbahn. Außerdem hat sich noch Volker Beck in Moskau auf Demos verprügeln lassen und man hat Dinge am russischen Staat kritisiert, die man selber so ähnlich macht. Alles andere ist ziemlich abstrakt, mit Korruption und so. Korruption haben wir ja auch.

Von der horrenden Aufrüstung der russischen Streitkräfte, von der Pogromstimmung gegen "Kaukasier", vom Exodus russischer Wissenschaftler oder der "niederländischen Krankheit" weiß ich nur aus persönlichen Quellen oder weil es mich besonders interessiert. Aber es ist wichtig, um das (Un-)Gleichgewicht zu erkennen, aus dem heraus politisch gehandelt wird. Das fehlt den normalen deutschen Medienkonsumenten.


Zitat

„Ich denke, dass ich ordentlichen Mut bewiesen habe.“



http://www.mz-web.de/panorama/-prozess-f...6,29226550.html

Ja, das denkt der oder die Post-Protestant(in). Und er oder sie will die Bestätigung der Welt haben: Ich bin mutig!

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“Being right too soon is socially unacceptable.”
― Robert A. Heinlein

crastro Offline



Beiträge: 212

19.02.2015 23:40
#32 RE: Russland heute Antworten

Lieber Techniknörgler,

bin ich zu rechthaberisch, wenn ich nachfrage

Zitat
Er trat zurück.

, wann es mir entgangen ist, daß Janukowitsch zurücktrat?
Er trat doch eben nicht zurück, sondern floh.

Techniknörgler Offline



Beiträge: 2.738

20.02.2015 03:23
#33 RE: Russland heute Antworten

Zitat
bin ich zu rechthaberisch, wenn ich nachfrage, wann es mir entgangen ist, daß Janukowitsch zurücktrat?



Nein, rechthaberisch sind Sie damit nicht.
Es stimmt, er floh und wurde des Amtes enthoben bzw. sein Fliehen als Rücktritt gewertet.

Ich werde dies im Artikel konkretisieren.

Dieses Vorgehen beim Absetzen eines Autokraten ist übrigens nicht neu.

Schon Jakob II. wurde sein Fluchtversuch als Abdankung ausgelegt. Steht also in guter Tradition.

Edit: Nähere Ausführung.

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“Being right too soon is socially unacceptable.”
― Robert A. Heinlein

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

20.02.2015 09:42
#34 RE: Russland heute Antworten

Zitat von Techniknörgler im Beitrag #33
Dieses Vorgehen beim Absetzen eines Autokraten ist übrigens nicht neu.
Schon Jakob II. wurde sein Fluchtversuch als Abdankung ausgelegt. Steht also in guter Tradition.

Der Vergleich mit James II hinkt allerdings gewaltig.
Janukowitsch war, was immer man von seinen persönlichen und politischen Qualitäten halten will, kein Autokrat, sondern ein demokratisch gewählter Präsident mit beträchtlicher Unterstützung der Bevölkerung in der Osthälfte der Ukraine.
Die Ukraine war und ist keine Monarchie, sondern eine Republik mit einer Verfassung und Gesetzen, die den Amtswechsel, die Absetzung eines Präsidenten und auch den Fall seines permanenten Abhandenkommens (wozu ich eine Abwesenheit von wenigen Stunden noch nicht einmal rechnen würde) genau regelten - und hier nicht bzw. nur in sehr kreativer Auslegung angewendet wurden.

Und selbst abgesehen davon: Die Absetzung James II ging immerhin als "Glorious Revolution" in die Geschichte ein, während der revolutionäre Charakter der Absetzung Janukowitschs sehr heruntergespielt und verleugnet wird.

Frank2000 Offline




Beiträge: 3.422

20.02.2015 10:25
#35 RE: Russland heute Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #34

Die Ukraine war und ist keine Monarchie, sondern eine Republik mit einer Verfassung und Gesetzen, die den Amtswechsel, die Absetzung eines Präsidenten und auch den Fall seines permanenten Abhandenkommens (wozu ich eine Abwesenheit von wenigen Stunden noch nicht einmal rechnen würde) genau regelten - und hier nicht bzw. nur in sehr kreativer Auslegung angewendet wurden.



Die Flucht außer Landes war in der ukrainischen Verfassung geregelt? Das hätte ich bitte belegt; denn diese Information würde mein Urteil beeinflussen. Bisher ging ich davon aus, dass dieser Fall gerade nicht geregelt war und deswegen ein Verfassungsnotstand vorlag. Wenn allerdings das ukrainische Parlament einen legalen Weg gehabt hätte, mit der Situation umzugehen, dann würde das in der Tat die Absetzung von Janukowitsch in anderem Licht erscheinen lassen.

___________________
Kommunismus mordet.
Ich bin bereit, über die Existenz von Einhörnern zu diskutieren. Aber dann verlange ich außergewöhnlich stichhaltige Beweise.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

20.02.2015 11:08
#36 RE: Russland heute Antworten

Zitat von Frank2000 im Beitrag #35
Zitat von Fluminist im Beitrag #34

Die Ukraine war und ist keine Monarchie, sondern eine Republik mit einer Verfassung und Gesetzen, die den Amtswechsel, die Absetzung eines Präsidenten und auch den Fall seines permanenten Abhandenkommens (wozu ich eine Abwesenheit von wenigen Stunden noch nicht einmal rechnen würde) genau regelten - und hier nicht bzw. nur in sehr kreativer Auslegung angewendet wurden.



Die Flucht außer Landes war in der ukrainischen Verfassung geregelt? Das hätte ich bitte belegt; denn diese Information würde mein Urteil beeinflussen. Bisher ging ich davon aus, dass dieser Fall gerade nicht geregelt war und deswegen ein Verfassungsnotstand vorlag. Wenn allerdings das ukrainische Parlament einen legalen Weg gehabt hätte, mit der Situation umzugehen, dann würde das in der Tat die Absetzung von Janukowitsch in anderem Licht erscheinen lassen.


Artikel 108 der Verfassung bestimmt, daß das Amt des Präsidenten in vier Fällen endet: 1) Rücktritt, 2) Unfähigkeit zur Amtsausübung aus gesundheitlichen Gründen, 3) Amtsenthebung durch Impeachment, 4) Tod.

Flucht oder Nichtverfügbarkeit für einige Stunden beenden das Präsidentenamt mithin nicht. Der verfassungsmäßige Weg, die Präsidentschaft Janukowitschs auf Basis seiner Flucht zu beenden, wäre also gewesen, die Flucht als mutmaßlichen Landesverrat zu behandeln und entsprechend ein Impeachment-Verfahren zu eröffnen. Dieses ist in Artikel 111 der Verfassung geregelt:

Grundlage für ein Impeachment sind Verrat oder ein Verbrechen des Präsidenten.
Das Verfahren kann durch Mehrheitsbeschluß des Parlaments in Gang gesetzt werden. Dann muß ein besonderer Untersuchungsausschuß gebildet werden, der der Vorwürfe prüft. Die Schlußfolgerungen und Vorschläge des Untersuchungsausschusses müssen im Parlament diskutiert werden. Das Parlament kann dann mit einer Zweidrittelmehrheit beschließen, den Präsidenten anzuklagen.
Dann geht diese Anklage an den Obersten Gerichtshof der Ukraine, der die Beschuldigungen prüfen und die verfassungsmäßige Ordnung des Verfahrens bestätigen muß.
Im Anschluß an den Richtspruch des Obersten Gerichtshofs kann das Parlament mit mindestens einer Dreiviertelmehrheit den Präsidenten des Amts entheben.

Dieses Verfahren wurde meines Wissens nicht in der vorgeschriebenen Weise durchgeführt.

Von einem Verfassungsnotstand kann überhaupt keine Rede sein. Es ist auch nicht so, daß das Land plötzlich ohne Oberhaupt dagestanden hätte, denn Artikel 112 regelt, daß im Falle eines vorzeitigen Amtsendes des Präsidenten der Parlamentspräsident dessen Aufgaben kommissarisch übernimmt, bis ein neuer Präsident durch das Volk gewählt ist; dabei sind seine Befugnisse gegenüber denen eines echten Präsidenten eingeschränkt (Details kann ich gerne herausklamüsern, aber das ist, glaube ich, minderwesentlich).

Der einzige möglicherweise zweifelhafte Punkt ist, ob der kommissarische Präsident sofort oder erst nach Abschluß der Amtsenthebung aktiv wird; aber das wäre pragmatisch und im Sinne der Verfassung zu regeln gewesen, indem der Parlamentspräsident die eingeschränkten Pflichten (ggf. vorübergehend) übernimmt, sobald klar wurde, daß der Präsident nicht zur Verfügung steht.

Das tatsächlich durchgeführte Verfahren, insbesondere die Einsetzung eines vollmächtigen Präsidenten durch das Parlament, war ein klarer Verfassungsbruch.

Nachtrag: Von einem Amtsende durch Rücktritt kann auch keine Rede sein. Artikel 109 bestimmt, daß der Rücktritt durch den Präsidenten persönlich in einer Sitzung des Parlaments erklärt werden muß.

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

20.02.2015 11:56
#37 RE: Russland heute Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #36


Von einem Verfassungsnotstand kann überhaupt keine Rede sein.

Abgesehen davon, dass Sie, lieber Fluminist, meiner Kenntnis nach alles korrekt dargestellt haben, möchte ich in diesem Punkt widersprechen.
Denn in dem Janukowitsch durch Mitwirkung an der "Vereinbarung über die Beilegung der Krise in der Ukraine" der Wiedereinführung der Verfassung von 2004 zustimmte, aber die Unterschrift verweigerte und stattdessen verkündete, er sei und bleibe der rechtmäßige Präsident, beging er Vertragsbruch.
Das war ein mieser Trick, in dem eine Hängepartie die Vertragserfüllung unmöglich machen sollte. Ohne Unterschrift des Präsidenten keine Verfassungsänderung, ohne Verfassungsänderung keine Verfassungsreform, keine Änderung der Befugnisse des Präsidenten und keine vorgezogenen Präsidentschaftswahlen.
Das war der Verfassungsnotstand. An dem die beteiligten EU-Länder nicht ganz unschuldig waren, weil sie damals (wie heute) die geschickte Verhandlungstaktik ihrer Verhandlungspartner nicht durchschauen. Und für diese Blödheit gab es auch Ärger mit den USA (f... the EU).
Also ist der einen Trickserei eine noch ärgere gefolgt. Aber das Amt hätte Janukowitsch sicher nicht freiwillig aufgeben (dürfen).
Bedauerlich, aber für mich kein Grund, an der Einschätzung der Lage und seiner Ursachen irgendetwas zu ändern. Ich habe schon damals Ihnen in diesem Punkt recht gegeben, wie Sie sich bestimmt erinnern.

Viele Grüße, Erling Plaethe

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

20.02.2015 11:58
#38 RE: Russland heute Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #36
Artikel 108 der Verfassung bestimmt, daß das Amt des Präsidenten in vier Fällen endet: 1) Rücktritt, 2) Unfähigkeit zur Amtsausübung aus gesundheitlichen Gründen, 3) Amtsenthebung durch Impeachment, 4) Tod.

Damit trifft zu, was Frank2000 dargestellt hat: Es bestand eine Regelungslücke.
Denn die Flucht paßt ja zu keinem der vier Fälle, und trotzdem hatte die Ukraine keinen handlungsfähigen Präsidenten mehr.

Man kann die Vorgehensweise des Parlaments natürlich kritisch diskutieren. Janukowitsch hätte auch zurückkommen und die Angelegenheit vor dem Verfassungsgericht anfechten können.

Man kann aber bei einer solchen Notfallentscheidung eines demokratisch legitimierten Parlaments nicht von einem "Putsch" sprechen.
Und was immer auch zu bemängeln war: Mit der demokratischen Neuwahl gab es auf jeden Fall wieder eine solide Rechtsgrundlage.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

20.02.2015 12:13
#39 RE: Russland heute Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #38
Zitat von Fluminist im Beitrag #36
Artikel 108 der Verfassung bestimmt, daß das Amt des Präsidenten in vier Fällen endet: 1) Rücktritt, 2) Unfähigkeit zur Amtsausübung aus gesundheitlichen Gründen, 3) Amtsenthebung durch Impeachment, 4) Tod.

Damit trifft zu, was Frank2000 dargestellt hat: Es bestand eine Regelungslücke.
Denn die Flucht paßt ja zu keinem der vier Fälle, und trotzdem hatte die Ukraine keinen handlungsfähigen Präsidenten mehr.

Nein! Bitte lesen Sie nochmal, was ich geschrieben habe. Oder ich kann es auch noch einmal erklären: Die Flucht per se ist kein verfassungsmäßiger Grund für das Ende der Präsidentschaft, d.h. nach Verfassung war der schon in Rußland befindliche Präsident weiterhin im Amt. Daß Sie gerne sähen, daß eine Flucht schon das Ende des Präsidentenamts bedeuten müsse, ist Ihr Privatvergnügen, keine Regelungslücke.
Und wie ich geschrieben hatte, stand der Weg des regelmäßigen Impeachments auf Basis von Landesverrat offen.
Der handlungsfähige Präsident wäre der Parlamentspräsident (kommissarisch) gewesen.

Die Flucht Janukowitschs ist also keinerlei Rechtfertigung für die im Anschluß vollkommen freihändig und ohne Rücksicht auf die Verfassung gefaßten "Notfall"-Maßnahmen des Parlaments. Es lag kein Notfall vor, außer daß man gerne einen haben wollte.
Zitat von R.A. im Beitrag #38
Und was immer auch zu bemängeln war: Mit der demokratischen Neuwahl gab es auf jeden Fall wieder eine solide Rechtsgrundlage.

Na das ist ja ein lustiges Argument. Dazwischen ist doch einiges passiert, und hätte man das verfassungsmäßige Verfahren befolgt, dann wäre vielleicht manches anders gelaufen.

Nachtrag: Das Parlament hätte nach Verfassung unter keinen Umständen einen neuen Präsidenten einsetzen dürfen. Das war der "Putsch", wie auch immer die anderen Aspekte der Sache einzuordnen sind.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

20.02.2015 12:27
#40 RE: Russland heute Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #39
Die Flucht per se ist kein verfassungsmäßiger Grund für das Ende der Präsidentschaft ...

Da stimme ich ja zu - deswegen nenne ich das eine Regelungslücke.

Die Verfassung geht davon aus, daß der Präsident dazu bereit ist, sein Amt korrekt auszuüben. Z. B. also einen Rücktritt auch formal durch Erklärung im Parlament vollzieht.

Schlichtes Abhauen ist von der Verfassung schlicht nicht vorgesehen. Und ist ja auch noch kein "Landesverrat", sondern erst einmal nur Arbeitsverweigerung.
Und es kann nicht sinnvoll sein, dann die restliche Amtszeit vom Stellvertreter ausfüllen zu lassen - der ist normalerweise für kurzfristige Ausfälle wie Krankheit oder Dienstreisen zuständig.

Wie schon gesagt, man kann über die Details streiten. Vielleicht hätte man z. B. noch einige Zeit warten müssen, ob der geflüchtete Präsident doch noch zu einer Rückkehr und Weiterführung des Amts bereit ist.
Aber die Wahrscheinlichkeit dafür war natürlich gering.
Und wie Erling Plaethe schon ausgeführt hat, bestand Zeitdruck - das Abkommen sollte umgesetzt werden.

Zitat
Es lag kein Notfall vor ...


Wochenlang Unruhen, mit Toten, hochdramatische Verhandlungen, dann Flucht des Präsidenten - das würde ich schon als Notfall sehen.

Zitat
Dazwischen ist doch einiges passiert, und hätte man das verfassungsmäßige Verfahren befolgt, dann wäre vielleicht manches anders gelaufen.


Sicher.
Ohne baldige Neuwahlen hätte Putin noch viel stärker die angeblichen demokratischen Defizite in Kiew für seine Propaganda verwenden können. Und wahrscheinlich erst recht als Ausrede für eine (dann vielleicht sogar offenen) Intervention benutzt.

Die rasche Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit mit demokratischen Legitimation war für die Ukraine sehr wichtig.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

20.02.2015 12:47
#41 RE: Russland heute Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #40

Zitat
Dazwischen ist doch einiges passiert, und hätte man das verfassungsmäßige Verfahren befolgt, dann wäre vielleicht manches anders gelaufen.

Sicher.
Ohne baldige Neuwahlen hätte Putin noch viel stärker die angeblichen demokratischen Defizite in Kiew für seine Propaganda verwenden können. Und wahrscheinlich erst recht als Ausrede für eine (dann vielleicht sogar offenen) Intervention benutzt.

Die rasche Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit mit demokratischen Legitimation war für die Ukraine sehr wichtig.


Das ist jetzt natürlich alles Spekulation. Ich hätte gedacht, daß ein Verbleib Janukowitschs in Rußland, zusammen mit seiner Weigerung, das vereinbarte Abkommen zu unterzeichnen, zumindest als mutmaßlicher Landesverrat für eine Eröffnung des Impeachment-Verfahrens ausgereicht hätte. Das hätte die Maidan-Aktivisten (bis auf die, die ohnehin Umstürzler waren) vorderhand beruhigen müssen, denn den Präsidenten zur Rechenschaft zu ziehen war ja eine ihrer Hauptforderungen. Der Parlamentspräsident hätte bis zum Abschluß des Verfahrens und den Neuwahlen (also nicht für ein Jahr, sondern vielleicht 1-2 Monate lang) die Amtsgeschäfte des Präsidenten mit Einschränkung wahrgenommen.
Es hätte also idealerweise statt der revolutionären Aufbruchsstimmung im Parlament eher eine sehr dringend nötige Verschnaufpause gegeben, keine nagelneue Regierung mit lustigen Vorschlägen wie Verbot der russischen Sprache usw.
Es wäre eine Chance für das Land gewesen, sich von der Maidan-Eskalation zu erholen.

Was Rußlands Verhalten betrifft, so steht es freilich jedem frei zu meinen, Putin bräuchte keinen Anlaß für eine Intervention oder fände immer einen. Aber in dem oben skizzierten Szenario wäre es nicht so leicht gewesen, die Notwendigkeit einer Intervention (als außergewöhnliche Notfallmaßnahme in Reaktion auf eine außergewöhnliche Notfallmaßnahme) glaubhaft zu machen.

Aber mein Szenario war vermutlich schon aus inneren Gründen unwahrscheinlich. Einige nationalistische Umstürzler (Pravyi Sektor z.B.), die auf dem Maidan schon die Federführung über die ursprünglich friedlichen Protestierer übernommen hatten, sahen ihre Stunde gekommen und hatten überhaupt keine Interesse daran, das Land zur Ruhe kommen zu lassen oder einem relativ langwierigen Amtsausschlußverfahren geduldig zuzusehen.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

20.02.2015 13:20
#42 RE: Russland heute Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #41
Das ist jetzt natürlich alles Spekulation.

Sicher. Aber sie hat - wie auch andere Varianten - eine ausreichende Plausibilität.

Und mit "ausreichend" meine ich: Das Parlament hat sich in Abwägung verschiedener Varianten für eine entschieden. Die wie alle anderen Varianten gewisse Nachteile hatte. Hätte auch sein können, daß (falls Janukowitsch geklagt hätte) das Verfassungsgericht befindet, daß die beschlossene Variante anfechtbar ist.

Aber es gab genug vernünftige Gründe auch für diese Variante, daß ich nicht von "Verfassungsbruch" sprechen würde. Denn das würde Vorsatz implizieren, und das bewußte Ignorieren der klar sichtbaren besseren Lösung. Und "klar sichtbar" war nicht im damaligen Kiew nicht die geeignetste Beschreibung der Situation ...

Zitat
Ich hätte gedacht, daß ein Verbleib Janukowitschs in Rußland, zusammen mit seiner Weigerung, das vereinbarte Abkommen zu unterzeichnen, zumindest als mutmaßlicher Landesverrat für eine Eröffnung des Impeachment-Verfahrens ausgereicht hätte.


Weiß nicht - ein Präsident darf nach Rußland reisen, und die Unterzeichnung eines konkreten Abkommens gehört nicht zu seinen Amtspflichten. Man kann ihm politische Vorwürfe machen, weil er in einer schwierigen Situation nicht "hilfreich" agiert hat - aber Landesverrat ist noch etwas ganz Anderes.

Zitat
Es hätte also idealerweise statt der revolutionären Aufbruchsstimmung im Parlament eher eine sehr dringend nötige Verschnaufpause gegeben, keine nagelneue Regierung mit lustigen Vorschlägen wie Verbot der russischen Sprache usw.


Eine Verschnaufpause - oder eine offene Situation, die zu Interventionen einlädt. Ist einfach nicht gut zu prognostizieren.
Denn "lustige Vorschläge" hätte es mit einer unklaren Machtlage noch viel mehr gegeben. Bei der Sprachenfrage war wenigstens in kurzer Zeit klar, daß das nicht durchgeführt wird (was die Putinisten natürlich nicht gehindert hat, das bis heute anzuführen).
Bei unklaren Machtverhältnissen hätte Putin jeden obskuren Vorschlag von irgendeiner Seite als Vorwand nehmen können - nach dem Motto: Man weiß ja nicht, ob die sich nicht durchsetzen werden.

Zitat
Was Rußlands Verhalten betrifft, so steht es freilich jedem frei zu meinen, Putin bräuchte keinen Anlaß für eine Intervention oder fände immer einen.


Dieser Glaube wird gestärkt dadurch, daß Putin Wiederholungstäter ist. Bisher hat er schon viermal einen Anlaß gefunden.

Zitat
Einige nationalistische Umstürzler (Pravyi Sektor z.B.), die auf dem Maidan schon die Federführung über die ursprünglich friedlichen Protestierer übernommen hatten, sahen ihre Stunde gekommen und hatten überhaupt keine Interesse daran, das Land zur Ruhe kommen zu lassen oder einem relativ langwierigen Amtsausschlußverfahren geduldig zuzusehen.


Falls die ein solches Interesse gehabt haben, dann sind sie gescheitert. Weil das Land ja grundsätzlich durchaus durch das Vorgehen des Parlaments zur Ruhe gekommen ist. Wenn man von Putins Interventionen absieht.
Ansonsten sind diese Gruppen für den weiteren Verlauf ziemlich unwichtig gewesen - wie man auch am Wahlergebnis sehen kann.

Llarian Offline



Beiträge: 7.109

20.02.2015 15:11
#43 RE: Russland heute Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #42
Bei der Sprachenfrage war wenigstens in kurzer Zeit klar, daß das nicht durchgeführt wird (was die Putinisten natürlich nicht gehindert hat, das bis heute anzuführen).

Dazu möchte ich ein bischen was ergänzen, denn ich kann den Quatsch nun auch langsam nicht mehr hören, denn das meiste was darüber verbreitet wird ist falsch.

Das einzige was das Restparlament nach dem Maidan und der Flucht Janukowitschs beschlossen hat war die Aufhebung eines Sprachgesetzes, das Janukowitsch selber erst 2012 erlassen hatte. Es sollte also der Zustand von vor 2012 wiederhergestellt werden. Es handelt sich auch nicht um ein Verbot, sondern die Anerkennung von russisch als Minderheitensprache sollte wieder abgeschafft werden. Die Abschaffung selber trat zu keinem Zeitpunkt in Kraft.

Der Aufhänger ist geradezu grotesk und kann wirklch nur von hartgesottenen Putin-Verstehern ernsthaft geschluckt werden. Da wurde kein russisch verboten, da gehts im Endeffekt darum welche Amtssprache in der Ukraine verwendet wird. Die russische Minderheit war der Meinung russisch habe eine zweite Amtssprache zu sein. Nun, die Ideen gibts auch in Deutschland. Und zwar für türkisch. Man darf sich fragen wie die Putin-Versteher wohl damit umgehen, wenn demnächst in deutschen Amtsstuben türkisch als zweite Amtssprache anzusehen sein soll.

So oder so, die Festlegung der Amtssprache ist eine Frage, die demokratisch zu beantworten ist. Es benachteiligt niemanden, wenn er die Sprache des Landes, in dem er lebt, auch sprechen können muss und wenn auf den Schulen des Landes auch in dieser Sprache unterrichtet wird. In Neukölln mag es auch praktischer sein, wenn der Unterricht in türkisch oder gar arabisch abgehalten würde. Aber das passiert nicht. Denn in Deutschland ist der demokratische Beschluss, dass die Amtssprache deutsch ist. Das hindert keinen Türken oder Deutschtürken daran privat türkisch zu reden (im Gegenteil, das ist ein Riesenproblem). Nur muss er eben auch deutsch lernen, und seine Kinder werden in deutsch unterrichtet. Es wäre absurd etwas anderes anzunehmen.

Dies als Rechtfertigung für die Invasion zu stilisieren, entspricht dem, es Ankara einzuräumen demnächst in Berlin einzumarschieren oder den "Duisburger Seperatisten" schwere Waffen zu liefern.

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

20.02.2015 15:57
#44 RE: Russland heute Antworten

Zitat von Llarian im Beitrag #43
Das einzige was das Restparlament nach dem Maidan und der Flucht Janukowitschs beschlossen hat war die Aufhebung eines Sprachgesetzes, das Janukowitsch selber erst 2012 erlassen hatte. Es sollte also der Zustand von vor 2012 wiederhergestellt werden. Es handelt sich auch nicht um ein Verbot, sondern die Anerkennung von russisch als Minderheitensprache sollte wieder abgeschafft werden. Die Abschaffung selber trat zu keinem Zeitpunkt in Kraft.
Nebenbei bemerkt wäre die Behandlung von Minderheitssprachen ohnehin keine rein nationale Angelegenheit der Ukraine gewesen. Da ist nämlich noch der Europarat, in dem sogar Rußland Mitglied ist.

Was man an der ganzen Sache sehr deutlich sieht, ist mangelhaftes Verständnis für demokratische Vorgänge (Unterschied zwischen Vorlage und Gesetz) und die Möglichkeiten internationaler Organisationen. Das hat der Sowjetmensch eben nie gelernt. Man kann sogar sagen, daß Putins Macht nur darauf fußt, denn er selber ignoriert regelmäßig russische Gesetze.

Techniknörgler Offline



Beiträge: 2.738

20.02.2015 21:29
#45 RE: Russland heute Antworten

Zitat
Janukowitsch war [...] kein Autokrat, sondern ein demokratisch gewählter Präsident mit beträchtlicher Unterstützung der Bevölkerung in der Osthälfte der Ukraine.



Autokrat und "demokratisch gewählt" ist kein Widerspruch.

______________________________________________________________________________

“Being right too soon is socially unacceptable.”
― Robert A. Heinlein

Techniknörgler Offline



Beiträge: 2.738

20.02.2015 21:45
#46 RE: Russland heute Antworten

Zitat
Man kann aber bei einer solchen Notfallentscheidung eines demokratisch legitimierten Parlaments nicht von einem "Putsch" sprechen.



Ein wesentlich Punkt, der übrigens häufig ignoriert wird, wenn in nachgeradezu unfreiwillig komischer/realsatirischer Art immer wieder von "demokratisch gewählter Präsident" die Rede ist, sobald ein Autokrat abgesetzt wurde: Das Parlament ist (mindestens) genauso demokratisch legitimiert. Trotzdem erscheint in diesem Framing das Parlament immer wieder als böser Putschist, nachgeradzu als Verschwörung, gegen den beinahe zum Volkstribun verklärten "starken Mann" als Präsident. Fluminist hat das jetzt hier so nicht gemacht, das ist kein Vorwurf an ihn. Aber es ist ein immer wieder auftachendes Framing, nicht nur in diesem Fall.

Interessant ist dabei immer auch die Sicht, wenn der "demokratisch gewählte Präsident" sich über die Verfassung hinwegsetzt, dann sei das jetzt zwar nicht optimal, aber herje, es ist halt demokratisch gewählt, also irgendwie ermächtigt im Namen des Volkes alles zu tun. Das demokratisch gewählte Parlament dagegen wird regelmäßig als schlimmster Verfassungsbrecher des Landes dargestellt, absolut inakzeptabel, was die machen, egal was der "starke Mann" im Ein-Personen-Verfassungsorgan Präsidentenamt vorher alles so angestellt hat und wie er gegebenfalls die anderen Gewalten (auch und gerade die Gerichte, inklusive Verfassungsgericht) ungesetzlich gegängelt und in ihrer Funktionsweise behindert hat... Demokratisch gewählter Volkstribun halt.


Zitat
Und was immer auch zu bemängeln war: Mit der demokratischen Neuwahl gab es auf jeden Fall wieder eine solide Rechtsgrundlage.



Nana, demokratische Legitimation ist nur beim "starken Mann" ausreichend, bei allen anderen muss alles penibelst(!) rechtlich formal korrekt und genau sein... und da findet man immer etwas, was zumindest als Grund für Zweifel an der rechtmäßigkeit heran gezogen werden kann.


Mal ehrlich, was sagt uns das alles?

1. Autokratische Präsidenten haben als Ein-Personen-Organ bessere Propagandanetzwerke als die Mehr-Personen-Organe, welche Parlamente nun einmal zwangsläufig (und glücklicher Weiße) sind. Letztere haben es mit ihren vielen unterschiedlichen Parteien und bei Mehrheitswahlrecht(skomponente) auch noch relativ unabhängigen Einzelmitgliedern da deutlich schwerer.

Oder

2. Starke Männer üben bewusst und unbewusst eine größere Faszination aus als die "Schwatzbude" namens Parlament.

Oder, am wahrscheinlichsten

3. Beides zusammen.

PS: Interessant in diesem Zusammenhang ist auch, das die Volkstribune der römischen Republik, die als direkt gewählte und legitimer Verteidiger des Volkes auftraten, die direkt und unmittelbar vom Volk hierzu ermächtigt wurden, aus gutem Grund nur eine passive Rolle spielten mit ihrer bloßen Veto-Macht. Daneben konnten Sie zu bestimmten Zeiten noch Gesetze initiieren und an die Volksversammlungen schicken, aber das war es dann auch. Und trotzdem war ihre Amtszeit auf ein Jahr beschränkt und Wiederwahl ausgeschlossen. Die Römer wussten schon warum. Jemand mit diesem Anspruch darf man gerade nicht zu viel Macht geben.

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“Being right too soon is socially unacceptable.”
― Robert A. Heinlein

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

20.02.2015 23:10
#47 RE: Russland heute Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #41

Was Rußlands Verhalten betrifft, so steht es freilich jedem frei zu meinen, Putin bräuchte keinen Anlaß für eine Intervention oder fände immer einen.

Klar, nur saug ich mir das nicht aus den Fingern. Deswegen ist es weit mehr als nur eine Meinung.

Zitat von http://www.spiegel.de/politik/ausland/uk...-a-1019711.html
Nach Angaben der angesehenen Moskauer Tageszeitung "Nowaja Gaseta" könnte Russland die Eskalation in der Ukraine von langer Hand geplant haben. "Dieses Szenario wurde geschrieben, bevor (der damalige Präsident der Ukraine, Anmerkung der Redaktion) Wiktor Janukowytsch seines Amtes enthoben wurde", sagte der Chefredakteur der Zeitung, Dmitrij Muratow.

Dem Blatt sei ein entsprechendes Strategiepapier aus dem Kreml in die Hände gefallen. Muratow zitierte während einer Sendung des Radiosenders Echo Moskau einige Kernsätze aus dem Papier, das die Ukraine-Strategie des Kreml beschreiben soll. Man müsse "auf die Zentrifugalbestrebungen verschiedener Regionen des Landes setzen, mit dem Ziel, den Anschluss der östlichen Gebiete an Russland zu initiieren." Dabei sei das Hauptaugenmerk auf "die Krim und das Gebiet Charkiw" zu richten. Muratow kündigte an, das Papier in der kommenden Woche zu veröffentlichen.
(...)
Moskaus Partner Janukowytsch charakterisieren die Autoren wenig schmeichelhaft als "Menschen ohne hohe Moral und Willensstärke". Mit seinem Sturz sei jederzeit zu rechnen. In dem Papier ist auch die Rede von einer PR-Kampagne, mit der die Operation begleitet werden müsse, um Russlands Intervention in der Ost- und Südukraine zu rechtfertigen.
(...)
Moskaus Ziel - so wird es in dem Papier formuliert - sei die "Föderalisierung" der Ukraine, weiterhin der Beitritt des Südostens der Ukraine zur von Moskau dominierten Zollunion, später dann eine "direkte Souveränität mit anschließender Angliederung an Russland". Chefredakteur Muratow beteuert, man sei sich "der Echtheit des Dokuments absolut sicher".


Und völlig uneigennützig möchte ich dazu noch meinen Artikel "Putins Imperialismus" aus dem September 20014 in Erinnerung rufen, in dem es um die strategische Ausrichtung der russischen Armee aus Sicht des damals frischen Generalstabschefs Gerassimow ging. Liest sich nach wie vor wie eine Beschreibung dessen, was aus der Ukraine zu hören und zu lesen ist: http://zettelsraum.blogspot.de/2014/09/p...erialismus.html

Viele Grüße, Erling Plaethe

Frank Böhmert Offline




Beiträge: 927

16.03.2015 15:10
#48 RE: Russland heute Antworten

Zeit-Korrespondent Herwig G. Höller, "Wann die Krim-Annexion wirklich begann":
http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-...komplettansicht

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

16.03.2015 15:20
#49 RE: Russland heute Antworten

Zitat von Frank Böhmert im Beitrag #48
Zeit-Korrespondent Herwig G. Höller, "Wann die Krim-Annexion wirklich begann":
http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-...komplettansicht

Vielen Dank, lieber Frank Böhmert. Werd ich bei mir nachtragen.

Viele Grüße, Erling Plaethe

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

16.03.2015 15:39
#50 RE: Russland heute Antworten

Zitat von Frank Böhmert im Beitrag #48
Zeit-Korrespondent Herwig G. Höller, "Wann die Krim-Annexion wirklich begann":
http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-...komplettansicht
Kleiner Service für Leser: Das Urgestein der Politik auf der Krim, Leonid Grutsch (KP), wurde von Moskau noch vor der Flucht Janukowitschs gebeten, Premier der Krim zu werden.

Klingt alles ganz plausibel. Interessant wäre jetzt nur noch, ob Putins Plan vielleicht sogar schon vor dem plötzlichen Schwenk Janukowitschs bei den EU-Assoziierungsverhandlungen existiert hat, mit dem Janukowitsch ein wichtiges Wahlversprechen gebrochen hat. Leider waren Steinmeier, Merkel und Hollande zu bedröppelt, um vor einem Jahr entschieden genug auf dem Februarabkommen zu bestehen. Dann wäre wahrscheinlich deutlich geworden, daß Janukowitsch und Rußland selber kein Interesse mehr am rechtmäßigen Status quo ante gehabt haben.

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