Ein interessanter Aspekt. Wahrscheinlich hat Böhmermann hier relativ gedankenlos alles zusammengereiht, was Traditionstürken à la Erdogan ärgert. Und daß "schwul" in diesen Kreisen als schimpflich gilt, ist halt nicht in erster Linie dem vorzuwerfen, der diese Schimpfworte aufgreift.
Interessant finde ich übrigens die Spiegel-Umfrage unter deutschen Comedians. Die meisten von ihnen (m. E. die inhaltlich schwächeren) stimmen dem Böhmermann-Text zu nach dem Motto: "Wir finden's lustig, also ist es Satire".
Ganz anders reagiert Dieter Nuhr. Den ich (neben Vince Ebert) für den Intelligentesten in dieser Szene halte. Der stellt nüchtern fest: "Der Satz "Satire darf alles" ist selbstverständlich falsch. Ein Satiriker darf genauso viel wie ein Klempner." Er findet Böhmermanns Text schlecht, sieht aber keine Notwendigkeit einer Strafverfolgung.
Aus der Tatsache, dass eine ganze Menge Prominenter für Böhmermann und auch Merkel in die Bresche springen ist für mich ein Zeichen mehr oder weniger leiser Panik. Springt man Böhmermann bei entlastet man damit Merkel. So deute ich das Bekenntnis des Chefs des Springerkonzerns, wie auch die Einlassung Prantls.
Zitat von R.A. im Beitrag #2Wahrscheinlich hat Böhmermann hier relativ gedankenlos alles zusammengereiht, was Traditionstürken à la Erdogan ärgert.
Das halte ich sogar für recht wahrscheinlich. In der aggressiven Logik mit der an andere Stelle die ewig Gestrigen bekämpft werden, ist solche Gedankelosigkeit allerings ein Indiz für eine unlautere Geisteshaltung.
Ein zweites Thema sind die fehlenden Reaktionen all derer, die sonst noch über jedes Stöckchen springen, die nicht einmal hochgehalten werden, sondern in der Erde verbuddelt liegen. Daher auch meine beispielhafter Vergleich mit dem "Fall Brüderle" und wie man dort die Empörungsbereitschaft triggern konnte. Man kann nur vermuten, was die Zeile aus Böhmermanns Gedicht aus anderem, ewiggestrigem Mund, für Reaktionen ausgelöst hätte.
Letztendlich geht es mir um Doppelstandards. Es geht beim moralisieren augenscheinlich nicht ein zulässiges moralisches Maß oder um eine bessere Welt, sondern um Eitelkeiten und Interessen, die man wohlfeil verpackt. Mich widert das an.
"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu
Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #4Letztendlich geht es mir um Doppelstandards. Es geht beim moralisieren augenscheinlich nicht ein zulässiges moralisches Maß oder um eine bessere Welt, sondern um Eitelkeiten und Interessen, die man wohlfeil verpackt. Mich widert das an.
Generell ein guter Standpunkt, aber auf den vorliegenden Fall angewendet setzt das doch noch voraus, daß Böhmermann hier etwas moralisch-satirisch bloßgestellt hätte. Das ist, wie mir nach Lektüre des Textes scheint, nicht der Fall. Bloßgestellt wird hier nur Böhmermann selbst, als kunstloser Provokateur um jeden Preis; vielleicht noch diejenigen, die in des Kaisers neuen Kleidern eine n-fach ironisch gewendete Satire sehen wollen. Das Schreiben und Verlesen dieser Zeilen mag für Böhmermann selbst eine gewisse kathartische Wirkung gehabt haben; der 2. Teil der Läuterung kommt ggf. im Gerichtsverfahren. Aber den Rest der Nation sollte das so wenig angehen wie jeder andere indiskutable Blödsinn, den irgendein Landsmann von sich gibt. Am ärgerlichsten finde ich daher diejenigen, die sich jetzt groß mit Böhmermann solidarisieren und aus einem mißlungenen Kothäufchen eine Prinzipienfrage machen wollen.
Zitat von Martin im Beitrag #3Aus der Tatsache, dass eine ganze Menge Prominenter für Böhmermann und auch Merkel in die Bresche springen ist für mich ein Zeichen mehr oder weniger leiser Panik. Springt man Böhmermann bei entlastet man damit Merkel. So deute ich das Bekenntnis des Chefs des Springerkonzerns, wie auch die Einlassung Prantls.
Es handelt sich ja nur um Leute, deren Beruf zu "Meinungsverbrechen" exponiert. Es ist inkonsequenter Eigennutz, denn ein Strafrecht ohne Beleidigungs- und Propagandadelikte (was es in freien Ländern ja schon gibt) streben die Herrschaften nicht an.
Zitat von Martin im Beitrag #3Aus der Tatsache, dass eine ganze Menge Prominenter für Böhmermann und auch Merkel in die Bresche springen ist für mich ein Zeichen mehr oder weniger leiser Panik. Springt man Böhmermann bei entlastet man damit Merkel. So deute ich das Bekenntnis des Chefs des Springerkonzerns, wie auch die Einlassung Prantls.
Gruß, Martin
Ist das so? Döpfner schreibt, wenn er selbst schreibt, in der WELT, und die habe ich im Vergleich mit den meisten anderen Medien schon sehr früh ausgesprochen merkelkritisch (in der Flüchtlingsfrage) erlebt. Ich bin auch nicht sicher, ob man von Entlastung für Merkel sprechen kann, wenn Erdogan im schlimmsten Fall die Vereinbarung in der Flüchtlingssache schleift, nachdem Merkel (u. a. unter medialem Druck) Ermittlungen nach §103 verweigerte. Das könnte Merkel m. E. das Amt kosten.
Herzliche Grüße, Andreas
"Man kann einen gesellschaftlichen Diskurs darüber haben, was Meinungsfreiheit darf. Oder man hat Meinungsfreiheit." (Christian Zulliger)
Guter Punkt, lieber n_s_n. Allerdings sehe ich das Problem bei Böhmermann eher in dieser Massierung von Anwürfen unterster Schublade. Auch andere Comedians "spielen" z. B. mit der homophoben Neigung vieler Türken und Deutschtürken, da kommen dann auch Sprüche wie "Biste schwul oder was!?", vordergründig als Abwertung, aber natürlich meist eingebettet letztlich als Kritik an ebendieser Homophobie. Beim Böhmermann müßte man schon sehr wohlwollend sein, um ihm das gleiche hier zugute halten zu wollen.
Wie schätzen das hier eigentlich die juristisch Gebildeten ein: Ist das Döpfnersche "Ich mache mir jede Zeile des Gedichts juristisch vollumfänglich zu eigen" eigentlich seinerseits justiziabel, d. h. droht ihm im Falle einer Veruteilung Böhmermanns Ungemach oder ist es doch eher eine harmlos-wohlfeil formulierte Überidentifizierung?
Herzliche Grüße, Andreas
"Man kann einen gesellschaftlichen Diskurs darüber haben, was Meinungsfreiheit darf. Oder man hat Meinungsfreiheit." (Christian Zulliger)
Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #4Ein zweites Thema sind die fehlenden Reaktionen all derer, die sonst noch über jedes Stöckchen springen, die nicht einmal hochgehalten werden, sondern in der Erde verbuddelt liegen.
Schönes Beispiel ;-)
Ich neige nun wirklich nicht dazu, diese Berufs-Empörten zu verteidigen. Aber hier gehe ich einfach davon aus, daß sie diesen Aspekt gar nicht bemerkt haben. Die viel deutlicheren Aussagen Böhmermanns zu Ziegen etc. sind so krass, daß die "kleineren" Beleidigungen nicht wirklich beachtet werden.
Zitat von Martin im Beitrag #3Aus der Tatsache, dass eine ganze Menge Prominenter für Böhmermann und auch Merkel in die Bresche springen ...
Ich sehe bisher keine Prominente, die IN DIESER ANGELEGENHEIT für Merkel in die Bresche springen. Im Gegenteil hat ihr gutes Verhältnis zu Erdogan auch bei ihren linken Sympathisanten zu großen Bauchschmerzen und teilweise zu Distanzierung geführt.
Zitat Springt man Böhmermann bei entlastet man damit Merkel.
Aber überhaupt nicht! Im Gegenteil verschärft jede Unterstützung für Böhmermann die Zwangslage Merkels. Sie muß sich entscheiden, ob sie innen- oder außenpolitischen Ärger bekommt. Und beständig wird das Ausmaß des potentiellen Ärgers in beiden Varianten größer.
Es gibt auch weder in der Flüchtlingskrise noch in der Böhmermann-Affäre klare Frontlinien. Der Springer-Verlag mag tendenziell pro CDU sein. Aber die BILD unterstützt seit Monaten die Merkel'sche Flüchtlingspolitik, während die WELT das Hauptsprachrohr der Kritiker ist. Diverse Journalisten sortieren sich sehr unterschiedlich in beiden Themen, nicht unbedingt entsprechend ihrer "normalen" politischen Richtung.
Zitat von Fluminist im Beitrag #5auf den vorliegenden Fall angewendet setzt das doch noch voraus, daß Böhmermann hier etwas moralisch-satirisch bloßgestellt hätte.
Nicht unbedingt. Ich kritisiere, die Art und Weise in welchem Kontext er das Wort benutzt. So wie er das tut, fällt es schwer darin überhaupt keine moralische Wertung sehen zu wollen. Und ich kritisiere, dass diejenigen die sonst die kleinste diesbezügliche Verfehlung am liebsten mit der Reichsacht belegen würden, dazu kein Wort verlieren. Fällt denen nicht auf, was da einer schreibt, weil er (nach deren Empfinden) auf ihrer Seite steht? Brüderle tat das wohl nicht.
Zitat von Doeding im Beitrag #8sehe ich das Problem bei Böhmermann eher in dieser Massierung von Anwürfen unterster Schublade.
… in denen die Zuschreibung "schwul" gleichberechtigt auftaucht. Ganz genau.
Zitat von Doeding im Beitrag #8 da kommen dann auch Sprüche wie "Biste schwul oder was!?", vordergründig als Abwertung, aber natürlich meist eingebettet letztlich als Kritik an ebendieser Homophobie.
Absolut.
Ich will jetzt das Gedicht des Herrn Böhmermann nicht neu schreiben, aber es wäre durchaus möglich gewesen, ihm Homosexualität in einem eigenen Kontext, in einer (zum Beispiel) liebevollen Art und Weise zuzuschreiben. Wenn man ihn als zärtlich liebenden Homosexuellen dargestellt hätte, wäre das womöglich noch viel Wirkungsvoller im Sinne der Bloßstellung gewesen. Böhmermann hat das aber nicht getan. Er hat die Homosexualität gleichrangig mit sehr heftigen Invektiven verwendet.
Das muß nun nicht zwingend etwas über Böhmermanns Einstellung zur Homosexualität aussagen, wie auch nichts über die Einstellung derer, die sonst bei jeder anderen diesbezüglichen Gelegenheit, Zeter und Mordio schreien. Auffällig scheint mir, sowohl die Formulierung Böhmermanns, wie auch das Schweigen der Sittenwächter, schon.
Herzlich
nachdenken_schmerzt_nicht
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Zitat von Martin im Beitrag #3Aus der Tatsache, dass eine ganze Menge Prominenter für Böhmermann und auch Merkel in die Bresche springen ist für mich ein Zeichen mehr oder weniger leiser Panik. Springt man Böhmermann bei entlastet man damit Merkel. So deute ich das Bekenntnis des Chefs des Springerkonzerns, wie auch die Einlassung Prantls.
Zitat von R.A. im Beitrag #9Aber hier gehe ich einfach davon aus, daß sie diesen Aspekt gar nicht bemerkt haben.
Du meinst die, die ansonsten sogar bemerken, was Brüderle im vertraulichen Gesprächs nachts an der Hotelbar flüstert?
Aber ich gebe dir natürlich Recht, dass auch diese Möglichkeit zutrifft. - Wenn ich auch kaum glauben kann, dass dies bei der heutigen, schieren Masse an Sittenwächtern wirklich sein kann. Ich würde daher eher glauben, für die Sittenwächter ist gesetzt. dass es "innerhalb ihrer eigenen Frontlinie" (zu der ich Böhmermann einmal zähle) zu keinen moralischen Verfehlungen kommen kann. Daher überlesen sie es einfach. Die moralische Zuschreibung ist bei ihnen bereits definiert. Dafür braucht es keine Handlungen mehr und so entsteht letztendlich ein faktisch moralfreier Raum. Das wäre dann meine Erklärung dafür, warum der Weg zu Hölle mit dem Monopol auf Moral beginnt.
Herzlich
nachdenken_schmerzt_nicht
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Zitat von Doeding im Beitrag #8Wie schätzen das hier eigentlich die juristisch Gebildeten ein: Ist das Döpfnersche "Ich mache mir jede Zeile des Gedichts juristisch vollumfänglich zu eigen" eigentlich seinerseits justiziabel, d. h. droht ihm im Falle einer Veruteilung Böhmermanns Ungemach oder ist es doch eher eine harmlos-wohlfeil formulierte Überidentifizierung?
Das ist ja im Kontext nur politisch gemeint wegen Meinungsfreiheit usw. Sein Wunsch ist es ja nicht, mit Peniswitzen Herrn Erdoğan in seiner persönlichen Würde zu verletzen. Das liegt bei Böhmermann ja anders, da sein Plan, wie Meister Petz in seinem ursprünglichen Blogartikel schon schrieb, ohne den hervorgerufenen Unmut ja gescheitert wäre.
Eigentlich unnötig zu sagen, dass mir Ihr Beitrag gefällt, lieber n_s_n. Ich mach es trotzdem. Und was ich noch sagen wollte: Schön wieder hier zu sein; es ist sehr interessant und mir macht es wirklich Spaß!
Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #13Du meinst die, die ansonsten sogar bemerken, was Brüderle im vertraulichen Gesprächs nachts an der Hotelbar flüstert?
Was Brüderle angeblich geflüstert hat - es ist ja bis heute völlig unbelegt, ob an den Himmelreich-Behauptungen irgend etwas dran war.
Ganz klar ist aber, daß das damals ein inszenierter Skandal war und die künstliche Aufregung diverser Leute kann man zu Recht kritisieren.
Zitat Wenn ich auch kaum glauben kann, dass dies bei der heutigen, schieren Masse an Sittenwächtern wirklich sein kann.
Das ist doch auch nur eine Herde mit wenigen Leithammeln. Und angesichts der Gesamtaufregung um den Text, seine krassen Formulierungen und die politischen Konsequenzen glaube ich durchaus, daß die dieses Detail schlicht übersehen haben.
Zitat Ich würde daher eher glauben, für die Sittenwächter ist gesetzt. dass es "innerhalb ihrer eigenen Frontlinie" (zu der ich Böhmermann einmal zähle) zu keinen moralischen Verfehlungen kommen kann.
Das ist grundsätzlich richtig. Und es gab auch Fälle, da war das direkt sichtbar (leider fällt mir kein konkretes Beispiel ein. Aber ich sehe nicht unbedingt, daß die PC-Wächter Böhmermann so automatisch zu ihrer Seite rechnen, dazu ist sein Wirken zu unernst und eigentlich nicht einzuordnen.
Zitat von Fluminist im Beitrag #5auf den vorliegenden Fall angewendet setzt das doch noch voraus, daß Böhmermann hier etwas moralisch-satirisch bloßgestellt hätte.
Nicht unbedingt. Ich kritisiere, die Art und Weise in welchem Kontext er das Wort benutzt. So wie er das tut, fällt es schwer darin überhaupt keine moralische Wertung sehen zu wollen. Und ich kritisiere, dass diejenigen die sonst die kleinste diesbezügliche Verfehlung am liebsten mit der Reichsacht belegen würden, dazu kein Wort verlieren. Fällt ihnen nicht auf, was da einer schreibt, weil er (nach ihrem Empfinden) auf ihrer Seite steht? Brüderle tat das wohl nicht.
Natürlich ist das Wort im Kontext als moralische Wertung zu sehen. Von dem ganzen "Ironie/Twist/Raffinement"-Überbau befreit, der von allerlei Seiten hineininterpretiert wird (darum ging's mir vor allem), ist das Machwerk erkennbar der Versuch, alle möglichen Injurien, mehr nach Härte als nach Plausibilität ausgewählt, anzuhäufen und mit dem Namen einer Person zu verbinden. Das ist an sich schon reichlich albern. Es zeigt aber, wie Sie völlig zu recht anmerken, daß Böhmermann selbst offenbar "schwul" als Schimpfwort versteht, also eine latente Neigung zeigt, mit der er sich hier selbst bloßstellt.
Daß das von den Üblichen nicht angekreidet wurde, hängt vermutlich mit dem PC-Rangsystem zusammen; insbesondere hängt alles davon ab, wer etwas sagt. Die Homophobie des Islam wird ja z.B. auch nie bemängelt, weil die Religion offenbar einer höheren Schutzklasse angehört als die sexuelle Orientierung. Islamophobie sticht Homophobie.
Zitat von R.A. im Beitrag #2 Ganz anders reagiert Dieter Nuhr. Den ich (neben Vince Ebert) für den Intelligentesten in dieser Szene halte. Der stellt nüchtern fest: "Der Satz "Satire darf alles" ist selbstverständlich falsch. Ein Satiriker darf genauso viel wie ein Klempner."
Womit er natürlich recht hat.
Man hat den Eindruck, dass manche Leute tatsächlich meinen, es gäbe irgendwelche Sonderrechte, nur weil etwas als Satire bezeichnet wird.
Trotz Jura-Studium hat Tucholsky sein berühmtes Zitat m.E. auch nicht juristisch gemeint. Sondern ästhetisch. Also in dem Sinne, dass eine Satire nicht dadurch künstlerisch schlecht wird, weil sie bestimmte Techniken oder Inhalte verwendet. Es gibt keine "Satire-Standards". Anders als bei anderen Ausdrucksformen. Es gibt zum Beispiel gewisse journalistische Methoden und Standards. Wenn man die verletzt, dann produziert man schlechten Journalismus. Natürlich "darf" man das im juristischen Sinne. Aber es ist halt nicht comme il faut.
Zitat von R.A. im Beitrag #2 Ganz anders reagiert Dieter Nuhr. Den ich (neben Vince Ebert) für den Intelligentesten in dieser Szene halte. Der stellt nüchtern fest: "Der Satz "Satire darf alles" ist selbstverständlich falsch. Ein Satiriker darf genauso viel wie ein Klempner."
Womit er natürlich recht hat.
Man hat den Eindruck, dass manche Leute tatsächlich meinen, es gäbe irgendwelche Sonderrechte, nur weil etwas als Satire bezeichnet wird.
Trotz Jura-Studium hat Tucholsky sein berühmtes Zitat m.E. auch nicht juristisch gemeint. Sondern ästhetisch. Also in dem Sinne, dass eine Satire nicht dadurch künstlerisch schlecht wird, weil sie bestimmte Techniken oder Inhalte verwendet. Es gibt keine "Satire-Standards".
Ich meine auch, daß Nuhr recht hat. Aber Satire hat schon auch ihren eigenen Standard. Und der ist, soweit ich erkennen kann, bei Böhmermanns Gedicht nicht erfüllt. Nicht alles, was schlechter Stil und ohne Niveau ist, wird dadurch schon zur Satire. Nicht jede Obszönität ist satirisch. Wenn ich die Böhmermann-Sympathisanten richtig verstehe, erkennen sie Satire auch nicht in dem Gedicht als solchem, sondern in dem performance happening, das hier gerade von Erdoğan, Merkel, verschiedenen Journalisten und Juristen aufgeführt wird. Aber ehrlich gesagt verschließt sich mir auch hier der satirische Aspekt. Es werden keine verborgenen oder verdrängten Mißstände aufgedeckt, ich sehe keine humoristische Seite, und die Übertreibung übertreibt nur allgemeine, unspezifische Stereotype. Wenn das Satire sein soll, dann ist es ganz schlechte Satire.
Zitat von Martin im Beitrag #3Aus der Tatsache, dass eine ganze Menge Prominenter für Böhmermann und auch Merkel in die Bresche springen ist für mich ein Zeichen mehr oder weniger leiser Panik. Springt man Böhmermann bei entlastet man damit Merkel. So deute ich das Bekenntnis des Chefs des Springerkonzerns, wie auch die Einlassung Prantls.
Gruß, Martin
Ist das so? Döpfner schreibt, wenn er selbst schreibt, in der WELT, und die habe ich im Vergleich mit den meisten anderen Medien schon sehr früh ausgesprochen merkelkritisch (in der Flüchtlingsfrage) erlebt. Ich bin auch nicht sicher, ob man von Entlastung für Merkel sprechen kann, wenn Erdogan im schlimmsten Fall die Vereinbarung in der Flüchtlingssache schleift, nachdem Merkel (u. a. unter medialem Druck) Ermittlungen nach §103 verweigerte. Das könnte Merkel m. E. das Amt kosten.
Herzliche Grüße, Andreas
Auch wenn ich die Chronologie möglicherweise nicht ausreichend verfolgt habe, so meine ich, dass nachdem öffentlich geworden ist, dass Merkel sich in eine Sache eingemischt hat, bei der sie sich hätte völlig neutral verhalten können, sie sich zu einem Angriffspunkt gemacht hat. Sie selbst kann ja letztlich nicht entscheiden, ob Böhmermann Gesetze nicht eingehalten hat, sie wird aber bis zu einer eventuell stattfindenden Klärung darauf hinweisen müssen, dass es in Deutschland künstlerische Freiheiten gibt (warum sollte sie Ermittlungen verweigern?). In dieser Position wäre sie ohne die in die gleiche Kerbe hauenden Äußerungen der Promis erst mal nach innen etwas allein gelassen, so aber wird die notwendigerweise einzunehmende Position bis auf weiteres Allgemeingut.
Wie Erdogans Reaktion letztlich sein wird, will ich nicht einschätzen. Zum einen habe ich keine Ahnung, was im Detail vereinbart wurde, was davon als umgesetzt gilt, was passiert, wenn dies nicht umgesetzt wird, wann beispielsweise Geld fließt. In den letzten Tagen hieß es immer wieder, die Vereinbarung sei bereits gescheitert, Konsequenzen wurden aber nie erwähnt.
Ich will mich auf diese eher aus dem Bauch gemachte Einschätzung nicht versteifen, aber ich denke, dass sich die jetzt meldende Szene des Dilemmas bewusst ist, sollte sie auf die Frau Druck ausüben, auf deren Seite sie üblicherweise steht. Oder gilt da Haut, Hemd, Jacke? Vielleicht sind aber die üblichen Lager plötzlich völlig aufgemischt, ähnlich wie n-s-n vermutet.
Zitat von Fluminist im Beitrag #20Wenn das Satire sein soll, dann ist es ganz schlechte Satire.
Hmmm. Vollkommen entgegengesetzt sieht das Gabriele Rittig, heute in der FAZ:
Zitat Und was gibt es juristisch für Probleme mit der Satire? G.R.: Die Satire hat heute ein mehrstufiges Problem. Zunächst das uneigentliche Sprechen: Ist das tatsächlich so gemeint? Und erkennt man das auch? Dazu entwickelte die Rechtsprechung die sogenannte Deckmantel-Theorie: Jemand benutzt die satirische Form nur als Vorwand, um jemanden zu beleidigen.
Trifft das auf Jan Böhmermann zu? G.R.: Nein, das wäre nachgerade absurd. [...] G.R.: Böhmermann hat mit sämtlichen Vorurteilen und dem Vokabular des Rassismus gespielt. Aber er ist kein Rassist. Seine Satire war, legt man die Maßstäbe der Satiretheorie an, perfekt. Er hat das Geschwätz auf den Punkt gebracht.
"Wäre nachgerade absurd", weil ... I know it when I see it? Böhmermann "ist kein Rassist", wenn er eine Einzelperson mit einer Litanei rassistischer Invektiven attackiert, weil wir einfach mal annehmen, daß er hiermit nur die hypothetischen Rassisten bloßstellen will, die solche Dinge vielleicht unter sich insgeheim sagen oder denken (und damit sicher keine Beleidigung begehen) würden? Ist nicht diese implizierte Begründung "nachgerade absurd"?
Und wenn man sie akzeptiert, warum läßt man dieselbe großzügige Interpretation künstlerischer Freiheit nicht Akif Pirinçci zukommen, wenn er auf ähnliche (im übrigen amüsantere und auch viel klarer erkennbar satirische) Weise "das Geschwätz auf den Punkt gebracht" hat?
Zitat von Fluminist im Beitrag #22 Und wenn man sie akzeptiert, warum läßt man dieselbe großzügige Interpretation künstlerischer Freiheit nicht Akif Pirincci zukommen, wenn er auf ähnliche (im übrigen amüsantere und auch viel klarer erkennbar satirische) Weise "das Geschwätz auf den Punkt gebracht" hat?
Was lernt man daraus, es findet sich immer eine passende Rhetorik, notfalls verteilt man Etiketten. Ich halte die Argumentation für abstrus, da werden Verrenkungen gemacht um sich im Vorfeld einer denkbaren Klage mit den 'besseren' Argumenten zu profilieren.
Zitat von Fluminist im Beitrag #22Vollkommen entgegengesetzt sieht das Gabriele Rittig, heute in der FAZ
Lieber Fluminist, Ich habe zunächst das Interview in der FAZ gelesen und dann Ihre Anmerkungen. Mir sprang exakt dieselbe Passage wie Ihnen ins Auge.
Zitat von FAZBöhmermann hat mit sämtlichen Vorurteilen und dem Vokabular des Rassismus gespielt. Aber er ist kein Rassist.
Wie ich weiter oben anmerkte:
Zitat von nachdenken_schmerzt_nicht im Beitrag #13für die Sittenwächter ist gesetzt. dass es "innerhalb ihrer eigenen Frontlinie" ... zu keinen moralischen Verfehlungen kommen kann. ... Die moralische Zuschreibung ist bei ihnen bereits definiert. Dafür braucht es keine Handlungen mehr und so entsteht letztendlich ein faktisch moralfreier Raum.
Frau Rittig muß nicht erklären, warum Böhmermann kein Rassist ist und zwar nicht nur weil sie es weiß, sondern weil in ihren Augen offensichtlich ist, dass jeder es wissen muss. Das ist Moral "per definitionem", welche sich jeglicher Mündigkeit entzieht. Moral ensteht nicht mehr aus eigener Verantwortung, sondern aus externen Regeln, welche gleichsam monopolistisch von einem kleinen, elitären Teil des Kollektivs, auf welches sie anzuwenden sind, produziert werden.
Es ist dem Wesen nach genau diese Art der Moral, welche in der Weltgeschichte schon alle möglichen Kollektive zu Unmenschlichkeiten und Zivilisationsbrüchen hinriß, über die Aussenstehende nur entsetzt den Kopf schütteln können.
Herzlich
nachdenken_schmerzt_nicht
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Zitat von Fluminist im Beitrag #20Wenn das Satire sein soll, dann ist es ganz schlechte Satire.
Hmmm. Vollkommen entgegengesetzt sieht das Gabriele Rittig, heute in der FAZ:
Zitat Und was gibt es juristisch für Probleme mit der Satire? G.R.: Die Satire hat heute ein mehrstufiges Problem. Zunächst das uneigentliche Sprechen: Ist das tatsächlich so gemeint? Und erkennt man das auch? Dazu entwickelte die Rechtsprechung die sogenannte Deckmantel-Theorie: Jemand benutzt die satirische Form nur als Vorwand, um jemanden zu beleidigen.
Trifft das auf Jan Böhmermann zu? G.R.: Nein, das wäre nachgerade absurd. [...] G.R.: Böhmermann hat mit sämtlichen Vorurteilen und dem Vokabular des Rassismus gespielt. Aber er ist kein Rassist. Seine Satire war, legt man die Maßstäbe der Satiretheorie an, perfekt. Er hat das Geschwätz auf den Punkt gebracht.
"Wäre nachgerade absurd", weil ... I know it when I see it? Böhmermann "ist kein Rassist", wenn er eine Einzelperson mit einer Litanei rassistischer Invektiven attackiert, weil wir einfach mal annehmen, daß er hiermit nur die hypothetischen Rassisten bloßstellen will, die solche Dinge vielleicht unter sich insgeheim sagen oder denken (und damit sicher keine Beleidigung begehen) würden? Ist nicht diese implizierte Begründung "nachgerade absurd"?
Und wenn man sie akzeptiert, warum läßt man dieselbe großzügige Interpretation künstlerischer Freiheit nicht Akif Pirincci zukommen, wenn er auf ähnliche (im übrigen amüsantere und auch viel klarer erkennbar satirische) Weise "das Geschwätz auf den Punkt gebracht" hat?
An Pirincci habe ich in dem Zusammenhang noch gar nicht gedacht; guter Punkt! Seine "KZ-Rede" war ja im Kontext seiner Schilderungen nachgerade harmlos (wenngleich ich ihn für satirisch ähnlich talentiert halte wie Böhmermann), aber schon der lokale Kontext (Pegida) ließ die Menschen/Medienvertreter sein Traktat so hören und verstehen wollen wie Erdogan mutmaßlich den Böhmermann hat hören und verstehen wollen. Jemanden absichtlich falsch verstehen wollen ist gute schlechte Übung im politischen Geschäft, scheint mir, und ist über alle politischen Lager hinweg zu beobachten.
Daß Menschen aus solchen Beobachtungen ihre Schlüsse ziehen, finde ich gleichwohl nicht so ungewöhnlich; ich bin da ebenso heuristisch unterwegs (und wer nicht?). Beim Pirincci habe ich damals gedacht, daß man ihm jetzt endlich, Migrationshintergrund hin oder her, die Nazikeule würde überziehen können. Implizit bin ich damit aber sehr wohl davon ausgegangen, daß er weder Holocaustrelativierer noch naziaffin sei. Aber genau genommen kenne ich natürlich nicht genug, um das sagen zu können. Zumindest spielt er mit Homophobie usw. mindestens so offensiv wie Böhmermann in seinem "Gedicht". Sein "Deutschland von Sinnen" habe ich gelesen, und da war mir teilweise echt nicht mehr klar, wie er das eigentlich meint. Die Grenzen zwischen satirischer Überspitzung und Denke auf Rechtsaußen-Niveau erschien mir mehrfach wenig trennscharf, um nicht zu sagen: überhaupt nicht mehr erkennbar. Seine "Große Verschwulung" werde ich mir auch sicher nicht antun.. Er wäre wohl besser bei Katzenkrimis geblieben.
Nochmal kurz "heuristisch" zum Böhmermann. "Linker" Rassismus kommt ja in der Regel als Paternalismus aller Schattierungen daher, weniger in (direkt) aggressiv-abwertender Weise. Insofern käme ich bei Böhmermanns ebenfalls nicht auf die Idee, ihn als in letzterem Sinne rassistisch (bzw. homophob) zu sehen, jedenfalls nicht aufgrund seines jüngsten Ergusses. Das halte ich ihm genauso zugute wie dem Pirincci, Irrtumsrisiko inklusive und eingepreist.
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