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Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 50 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Seiten 1 | 2 | 3
Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

09.08.2017 18:43
Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Die spannende Diskussion zum Thema Justiz ist mir nun einen eigenständigen Artikel wert.
https://zettelsraum.blogspot.de/2017/08/...nken-eines.html

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

Martin Offline



Beiträge: 4.129

09.08.2017 19:02
#2 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Ohne mich in in die Tiefen der Juristerei begeben zu wollen stelle ich nur die Frage, wie sehr ein Urteil von der Zusammensetzung von Richter, Anwälten u.a. abhängig ist. Da habe ich durchaus den Eindruck, dass bei gleichen Gesetzen, gleicher Tat sehr unterschiedliche Urteile gefällt würden, gäbe es für einen Fall verschiedene Gerichtsverfahren. Das spräche gegen Qualität in der Rechtsprechung.

Gruß, Martin

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

09.08.2017 20:29
#3 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zitat von Martin im Beitrag #2
Da habe ich durchaus den Eindruck, dass bei gleichen Gesetzen, gleicher Tat sehr unterschiedliche Urteile gefällt würden, gäbe es für einen Fall verschiedene Gerichtsverfahren. Das spräche gegen Qualität in der Rechtsprechung.


"Gleiche Tat" im Sinne von Sachverhaltsgleichheit gibt es nur im Instanzenzug. Sonst gibt es keine "gleiche Tat". Als Rechtsanwender ist man schon außerordentlich froh, wenn man eine höchtgerichtliche Entscheidung findet, deren zugrunde liegender Sachverhalt zu 60 bis 80 Prozent mit dem Fall, den man selbst zu bearbeiten hat, übereinstimmt.

Aber selbst wenn zwei (Erst-)Gerichte über denselben Lebenssachverhalt zu entscheiden hätten, könnte es Unterschiede geben. Die richterliche Beweiswürdigung ist nämlich mit Ausnahme bestimmter Beweisregeln (z.B. des "in dubio pro reo" im Strafverfahren) frei. Dies bedeutet, dass es möglich ist, dass Richter A den Zeugen X für glaubwürdig hält, Richter B dies jedoch nicht tun würde. Dies betrifft die Sachverhaltsebene.

Aber auch auf der Rechtsebene kann es Unterschiede geben, weil vom Gesetz bisweilen ein Ermessens- bzw. Einzelfallspielraum eröffnet ist, der rechtsfehlerfrei* typischerweise nicht nur in eine Richtung ausgeübt werden kann.

Bei alledem kommt es auf die Urteilsbegründung an. In der Juristerei lässt sich sehr oft nicht nur eine Meinung, sondern auch deren Gegenmeinung gut begründen. Für wen dies unbefriedigend ist, der darf sich auf die schöne neue Welt freuen, in der es möglicherweise Justizroboter geben wird. Ich fürchte nur, dass diese die inkonsistenten Antworten der alten Frau, die zum ersten Mal als Zeugin vor Gericht aussagt und deshalb schon nervös ist und deren Nervosität sich nach der Belehrung über die strafrechtlichen Konsequenzen einer Falschaussage noch einmal steigert, qua Algorithmus jedenfalls für unglaubwürdig halten werden und die beim Durchrattern der bereits ergangenen Rechtsprechung das übersehen, was den zu entscheidenden Fall von den gefundenen Präjudizien unterscheidet.

* EDIT: Fugen-S eingefügt.

dirk Offline



Beiträge: 1.538

09.08.2017 22:11
#4 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Ein netter, ebenso informativer wie unterhaltsamer Beitrag. Danke dafuer.

Auch wenn es dem Artikel keinen Abbruch tut- ich bin gerne bereit die mir zugeschriebenen Position stellvertretend zu uebernehmen - moechte ich klarstellen, dass Sie mich falsch verstanden haben.

Mein urspruenglicher Beitrag wendet sich gegen die von mir wahrgenommene Arroganz von Juristen, etwa Laien das Recht abzusprechen, ein Urteil, das im Namen des Volkes gesprochen wurde, zu bewerten. Der Gegenstand der Juristerei ist ein einfacher: Auslegung von Recht. Da wird, jedenfalls sollte es so sein, nichts erfunden und nichts entdeckt. Was gilt, steht im Gesetz und gerade im Strafrecht - sollte es keine juristischen Fachkenntnisse benoetigen, um zu wissen, was ein Verbrechen ist und was nicht. Und, ja, ich halte es in der Tat fuer essenziell, dass Strafen innerhalb des rechtsstaatlichen Rahmens von der Allgemeinheit als angemessen angesehen werden. Das gaebe der Rahmen (Koerperverletzung bis zu 10 Jahren) auch her. Das ist aber etwas anderes als die Aufgabe rechtsstaatlicher Formalitaeten zu Gunsten einer "Volksrechtsprechung". Ich wuerde sagen: Fast sogar das Gegenteil.
In vielen Bereichen ist es leider so, dass die Rechtslage eben nicht klar aus dem Gesetz hervorgeht sondern sehr schwammig ist. Etwa im regulatorischen Bereich ("AIFMD" !), aber auch jetzt zum Beispiel neu bei "Hatespeech" . Die Konsequenz ist, dass die eigentliche Festlegung was denn der Gesetzestext bedeutet nicht durch den Gesetzgeber erfolgt, sondern eine Priesterkaste an juristischen Beratern, die eine Art "Best Practice" entwickeln (quasi Hadithe). Das entkoppelt nicht nur das Recht von denen, die es einhalten sollen, sondern widerspricht auch dem rechtsstaatlichen ideal. Denn es fuehrt darauf hinaus, dass der vorgesehene Gesetzgeber nicht der eigentliche Gesetzgeber ist.

Besonders gefaehrlich wird es dann, wenn derjenige, der das Recht in so weitem Seite auslegt, dass es schon als Gesetzgebung zaehlen muesste, auch derjenige ist, der Recht spricht. Wenn der Richter erst definiert, was Hatespeech ist, bevor er einen dafuer verurteilt, besteht die Gefahr der Willkuerherschaft. Eben weil die Formalitaeten wie Gewaltenteilung nicht eingehalten werden. Das ist meiner Laienmeinung nach beim Urteil des Hambuger OLG gegen einen Blogger, der dem Stern Fakenews oder Fakenewsproduzententum vorgehalten hatte (dabei weiss man doch eigentlich seit der Geschichte damals, dass der Stern selber auf Fakenews hereinfaellt und sie nicht selbst produziert) geschehen. Und es geschieht in grossen Umgang in der Regulierungm etwa wenn die BaFin Gezetzgeber, Richter und Klaeger in einem ist.

Detailanmerkung: Ich habe Rousseaus "volonte generale" immer ganz anders als den "Volkswillen" verstanden. Der (gemessene) Volkswille entspraeche dem "volonte de tous". Der wahre "volonte generale" dagegen komme nicht zum Vorschein solange die Welt in Fraktionen zerfalle und muss daher zwischenzeitlich von einer Elite bestoimmt werden, die gleichzeitig daran arbeitet alle Menschen gleich zu machen. Also ja, er teilt meinem Verstaendnis nach, mit dem "Volkswillen" die romantische Vorstellung dass alle einer Meinung sind. Er unterscheidet sich aber von diesem dadurch, dass er real nur von Eliten bestimmt werden kann.

Martin Offline



Beiträge: 4.129

09.08.2017 22:13
#5 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zitat von Noricus im Beitrag #3

Aber selbst wenn zwei (Erst-)Gerichte über denselben Lebenssachverhalt zu entscheiden hätten, könnte es Unterschiede geben. Die richterliche Beweiswürdigung ist nämlich mit Ausnahme bestimmter Beweisregeln (z.B. des "in dubio pro reo" im Strafverfahren) frei. Dies bedeutet, dass es möglich ist, dass Richter A den Zeugen X für glaubwürdig hält, Richter B dies jedoch nicht tun würde. Dies betrifft die Sachverhaltsebene.

Aber auch auf der Rechtsebene kann es Unterschiede geben, weil vom Gesetz bisweilen ein Ermessens- bzw. Einzelfallspielraum eröffnet ist, der rechtsfehlerfrei* typischerweise nicht nur in eine Richtung ausgeübt werden kann.

Bei alledem kommt es auf die Urteilsbegründung an. In der Juristerei lässt sich sehr oft nicht nur eine Meinung, sondern auch deren Gegenmeinung gut begründen.


Ja, man kann konstatieren, dass für richterliche Gesinnung oder auch Abhängigkeit eine Menge Spielraum bleibt. Damit erübrigt sich aber die Diskussion über Gerechtigkeit oder intuitive Nachvollziehbarkeit. Es geht letzlich um eine von denkbaren plausiblen Begründungen.

Der Roboter hätte zumindest den disziplinierenden Effekt, dass ein Korsett von Kriterien zu definieren wäre, die objektiver wären, als die unspezifische Überzeugung eines Richters. Darüberhinaus wäre einem Roboter gleichgültig, wenn der Angeklagte weiß, wo er 'wohnt'.

Gruß, Martin

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

10.08.2017 01:31
#6 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zitat von dirk
Mein urspruenglicher Beitrag wendet sich gegen die von mir wahrgenommene Arroganz von Juristen, etwa Laien das Recht abzusprechen, ein Urteil, das im Namen des Volkes gesprochen wurde, zu bewerten. Der Gegenstand der Juristerei ist ein einfacher: Auslegung von Recht. Da wird, jedenfalls sollte es so sein, nichts erfunden und nichts entdeckt. Was gilt, steht im Gesetz und gerade im Strafrecht - sollte es keine juristischen Fachkenntnisse benoetigen, um zu wissen, was ein Verbrechen ist und was nicht.


Und trotzdem sind wir uns - siehe Ursprungsdiskussion - nicht einig. Ich bin auch kein Jurist, aber mir erschließt sich die Logik der angewendeten Gesetze ziemlich auf Anhieb - wahrscheinlich (ich will nix unterstellen) weil ich keine so krass abweichenden Erwartungen an das Ergebnis habe wie die anderen Kommentatoren.

Zitat von dirk
Und, ja, ich halte es in der Tat fuer essenziell, dass Strafen innerhalb des rechtsstaatlichen Rahmens von der Allgemeinheit als angemessen angesehen werden. Das gaebe der Rahmen (Koerperverletzung bis zu 10 Jahren) auch her. Das ist aber etwas anderes als die Aufgabe rechtsstaatlicher Formalitaeten zu Gunsten einer "Volksrechtsprechung". Ich wuerde sagen: Fast sogar das Gegenteil.


Das glaube ich Ihnen ohne Weiteres, ich bezweifle nur, dass man das Eine ohne das Andere haben kann. Die rechtsstaatlichen Prinzipien ticken nun mal ziemlich anders als Auseinandersetzungen im Alltag. Nehmen wir nur die banalsten: Unschuldsvermutung, im Zweifel für den Angeklagten, nulla poena sine lege, Opportunitätsprinzip, Aussageverweigerung ungleich Schuldeingeständnis, Gleichheit vor dem Gesetz etc. etc.. Das sind alles Verfahrensweisen, die der alltäglichen Beurteilung von Handlungen, Motiven, ja gar Personen nicht entsprechen. Natürlich finden die meisten Menschen diese Grundsätze rational sinnvoll, aber man kann nicht selten beobachten, dass sie bei Urteilen, die dem allgemeinen Geschmack zuwiderlaufen, auch selbst in Frage gestellt werden, so nach dem Motto "Es kann doch nicht sein, dass diesem verdorbenen Subjekt (alternativ: einem Mitglied dieser bestimmten Gruppe, und das gilt nicht nur für muslimische Zuwanderer, sondern z. B. auch für reiche) noch so viele Privilegien zustehen". Soziale und unsoziale Medien tun ihr übriges dazu, diese Auffassung zu verstärken.

Zitat
In vielen Bereichen ist es leider so, dass die Rechtslage eben nicht klar aus dem Gesetz hervorgeht sondern sehr schwammig ist. Etwa im regulatorischen Bereich ("AIFMD" !), aber auch jetzt zum Beispiel neu bei "Hatespeech" . Die Konsequenz ist, dass die eigentliche Festlegung was denn der Gesetzestext bedeutet nicht durch den Gesetzgeber erfolgt, sondern eine Priesterkaste an juristischen Beratern, die eine Art "Best Practice" entwickeln (quasi Hadithe). Das entkoppelt nicht nur das Recht von denen, die es einhalten sollen, sondern widerspricht auch dem rechtsstaatlichen ideal. Denn es fuehrt darauf hinaus, dass der vorgesehene Gesetzgeber nicht der eigentliche Gesetzgeber ist.

Besonders gefaehrlich wird es dann, wenn derjenige, der das Recht in so weitem Seite auslegt, dass es schon als Gesetzgebung zaehlen muesste, auch derjenige ist, der Recht spricht. Wenn der Richter erst definiert, was Hatespeech ist, bevor er einen dafuer verurteilt, besteht die Gefahr der Willkuerherschaft. Eben weil die Formalitaeten wie Gewaltenteilung nicht eingehalten werden.


Kleine Frage vorweg: Waren Sie nicht einer der strammen Befürworter des Brexit, mit der Begründung "der EU-Regulierungswut" zu entgehen? Können Sie sich auch nur vorstellen, welche massive Regulierungsflut erst entstehen würde, wenn man jeden denkbaren Tatbestand so genau regeln müsste, dass ein Gericht keinen Interpretationsspielraum mehr haben soll? Ich kann und will mir das nicht vorstellen. Die gesetzeskonkretisierende und lückenfüllende Funktion der Rechtsprechung ist also Feature und kein Bug.

Im Vergleich zum angelsächsischen Rechtskreis ist das "Richterrecht" bei uns sowieso nicht sehr legislativ geprägt, die von Ihnen beschriebenen Zustände sind ziemlich übertrieben (da helfen auch die fortgesetzen Islamvergleiche nix ).

Zitat
Das ist meiner Laienmeinung nach beim Urteil des Hambuger OLG gegen einen Blogger, der dem Stern Fakenews oder Fakenewsproduzententum vorgehalten hatte (dabei weiss man doch eigentlich seit der Geschichte damals, dass der Stern selber auf Fakenews hereinfaellt und sie nicht selbst produziert) geschehen. Und es geschieht in grossen Umgang in der Regulierungm etwa wenn die BaFin Gezetzgeber, Richter und Klaeger in einem ist.


Der erste Fall sagt mir nix. Aber was die BaFin angeht - hier sind wir nicht im Bereich des Gesetzes, sondern einzig der Exekutive, der Gang zum Verwaltungsgericht gegen Entscheidungen der BaFin steht jederzeit offen, insofern kann sie schon mal kein Richter sein.

Zitat
Detailanmerkung: Ich habe Rousseaus "volonte generale" immer ganz anders als den "Volkswillen" verstanden. Der (gemessene) Volkswille entspraeche dem "volonte de tous". Der wahre "volonte generale" dagegen komme nicht zum Vorschein solange die Welt in Fraktionen zerfalle und muss daher zwischenzeitlich von einer Elite bestoimmt werden, die gleichzeitig daran arbeitet alle Menschen gleich zu machen. Also ja, er teilt meinem Verstaendnis nach, mit dem "Volkswillen" die romantische Vorstellung dass alle einer Meinung sind. Er unterscheidet sich aber von diesem dadurch, dass er real nur von Eliten bestimmt werden kann


So habe ich ihn auch verwendet, nämlich als Postulat zur Machtsicherung (der Eliten bzw. Herrschenden) in einer Diktatur.

Gruß Petz

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

10.08.2017 01:43
#7 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zitat von Martin im Beitrag #5
Ja, man kann konstatieren, dass für richterliche Gesinnung oder auch Abhängigkeit eine Menge Spielraum bleibt. Damit erübrigt sich aber die Diskussion über Gerechtigkeit oder intuitive Nachvollziehbarkeit. Es geht letzlich um eine von denkbaren plausiblen Begründungen.

Der Roboter hätte zumindest den disziplinierenden Effekt, dass ein Korsett von Kriterien zu definieren wäre, die objektiver wären, als die unspezifische Überzeugung eines Richters. Darüberhinaus wäre einem Roboter gleichgültig, wenn der Angeklagte weiß, wo er 'wohnt'.

Die einzige aussagekräftige Studie mit dem Automaten, die ich kenne, bezog sich lediglich auf Vorhersagen gegenüber ein und dem selben Gericht (da hat der Automat zu 79% mit den Richtern übereingestimmt), das hilft uns also hier nicht weiter.

Interessanter ist jedoch die Tatsache, dass sich der Automat immer am Vorangegangenen orientiert und damit höchstens den Effekt hätte, eine bestehende Rechtssprechungspraxis zu zementieren - sprich, er würde bei einer gefährlichen Körperverletzung in der Regel IMMER irgendwas zwischen einem und zwei Jahren auf Bewährung ausspucken. Kann mir kaum vorstellen, dass das im Sinne der meisten Anwesenden hier ist...

Gruß Petz

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

Martin Offline



Beiträge: 4.129

10.08.2017 02:28
#8 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zitat von Meister Petz im Beitrag #7
[quote="Martin"|p143042]
Die einzige aussagekräftige Studie mit dem Automaten, die ich kenne, bezog sich lediglich auf Vorhersagen gegenüber ein und dem selben Gericht (da hat der Automat zu 79% mit den Richtern übereingestimmt), das hilft uns also hier nicht weiter.

Interessanter ist jedoch die Tatsache, dass sich der Automat immer am Vorangegangenen orientiert und damit höchstens den Effekt hätte, eine bestehende Rechtssprechungspraxis zu zementieren - sprich, er würde bei einer gefährlichen Körperverletzung in der Regel IMMER irgendwas zwischen einem und zwei Jahren auf Bewährung ausspucken. Kann mir kaum vorstellen, dass das im Sinne der meisten Anwesenden hier ist...

Gruß Petz


Ich möchte einem Automaten nicht das Wort reden, um seine Möglichkeiten aber prinzipiell bewerten zu können würde ich doch erst mal seine Konstruktion inkl. Validation bewertet haben wollen. Mein Punkt dabei: Um zu konstruieren muss man umfangreich Kriterien definieren und umsetzen, die anzuwenden und deren Anwendung nachzuweisen dem menschlichen Richter erspart bleiben. Man mag das mit ärzlichen Diagnosen vergleichen, die heute durch allerlei automatisierten Hilfen (Programme), aber auch Zwang zu Dokumentation sicher einheitlicher geworden sind, bei vermutlich nicht geringerer Komplexität (Ein Beispiel, das mir gerade einfällt, ist die Erkennung einer vorliegenden Sepsis bevor sie nicht mehr therapierbar ist).

Gruß, Martin

Llarian Offline



Beiträge: 7.120

10.08.2017 02:33
#9 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Ich möchte mir zwei Anmerkungen erlauben:

- Jura darf keine reine Wissenschaft sein. Nicht weil sie nicht den Ansprüchen an eine Wissenschaft genügen soll, sondern deswegen weil sie vom Laien nicht nur verstanden werden soll, sondern verstanden werden muss! Wer Regeln für alle festlegt, der muss das so klar tun, dass diese auch von allen (oder zumindest von fast allen) auch verstanden werden. Wenn Recht derart kompliziert wird, wie beispielsweise das deutsche Steuerrecht, dann ist es kein Recht mehr. Sondern irgendwelcher Schmonz, den sich Juristen ausgedacht haben. Natürlich ist die Herausforderung beliebig schwer, aber auch in den Naturwissenschaften ist ein Modell, dass so kompliziert ist, dass es kaum jemand versteht, zu kaum etwas gut. Wenn ich Juristen wie Fischer sehe, die vor allem sich im Recht sehen, und dem Laien rundweg absprechen, einen Sachverhalt korrekt zu beurteilen, dann mag das in der Rechtslogik des deutschen Staates stimmen, aber dann ist die Rechtslogik Schrott.
Und nein, ich muss nicht selbst Beethoven zweite Symphonie auf einem Akkordeon spielen können, um zu hören, wenn etwas schief ist. Wenn also die Juristerei Probleme hat ihre Urteile zu erklären, dann wäre es ein guter Ansatz statt dem Laien die Kompetenz abzusprechen, mal darüber nachzudenken ob man seinen eigenen Job richtig gemacht hat.
Vielleicht ein Vergleich zur Naturwissenschaft: Die klassische Mechanik, wie wir sie aus der Physik kennen, ist ausgesprochen nützlich und leicht zu vermitteln. Und sie ist falsch. Es ist ein vereinfachtes Modell der Realität, aber spätestens wenn sich die Geschwindigkeiten erhöhen und größere Massen dazu kommen, dann stimmt sie nicht mehr. Dennoch kommen die meisten mit ihr wesentlich weiter als mit der Quantentheorie und Relativismus (weil auf der Erde eben weder Geschwindigkeit noch Massen besonders groß werden). Wenn nun die Juristerei hingeht und permanent Quanten verkaufen will, die der Laie ja "sowieso nicht versteht", dann ist es ein Versagen an der Stelle nichts zu präsentieren, was gemeinhin verstanden wird.

- Egal wie hoch man den Rechtsstaat hängt und wie sehr man ihn vom "Mob" absondern will, so findet der Rechtsstaat nicht im luftleeren Raum statt. Ein Rechtsstaat der von seiner Bevölkerung nicht getragen wird, hat keinerlei Zukunft. Kann er auch nicht. Weil die Bürger den Glauben daran verlieren und sich ihren eigenen Rechtsstaat schaffen. Dabei ist der "Mob" durchaus auch bereit einiges hinzunehmen. Zum Beispiel auf die Todesstrafe zu verzichten. Oder auf Folter. Oder "in dubio pro reo" hinzunehmen. Da geht eine ganze Menge. Aber nicht unendlich viel. Es muss ein Gefühl (ja, Gefühl) da sein, dass die Urteile gerecht sind. Vielleicht nicht so extrem, wie sich viele das wünschen, aber sie müssen da sein.

Um den akuten Fall, den wir alle im Details nicht kennen, dabei nicht noch mehr zu belasten: Nehmen wir an ein Kindermörder käme vor Gericht. Mit das Übelste was sich der "Mob" so vorstellen kann. Nennen wir ihn "Gagnus Mäfken". Und dieser Mann tritt jetzt auf, präsentiert unheimlich viele mildernde Umstände und am Ende bekommt er eine Strafe von sagen wir 5 Jahren. Raus nach 3. Da tobt der Mob. Und zwar zurecht. Weil das so weit ausserhalb dessen ist, was er bereit ist zu tolerieren, dass er eben nicht mehr an den Rechtsstaat glaubt. Bekommt der Mann stattdessen lebenslänglich, dann kann der Mob damit leben. Er hätte ihn lieber aufgehangen, aber das kann er ertragen.
Es ist ein inhärent unlösbares "Problem": Menschen haben ein Rechtsempfinden, das nicht vom Rechtsstaat geprägt ist, sondern aus den Moralvorstellungen, die ihnen mal vermittelt worden sind. Und die kann man weder kleinreden noch erzwingen. Es muss immer ein Verhältnis zwischen diesem geben. Das ist ein rein praktikables Argument: Auch der Rechtsstaat braucht Leute, die ihn tragen. Und damit meine ich nicht die Fischers dieser Welt, sondern den Bürger.

Gorgasal Offline




Beiträge: 4.093

10.08.2017 10:50
#10 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zum plea bargaining siehe diesen längeren Text über einen Spieltheoretiker (!), der zugegeben hat, seine Frau umgebracht zu haben (mit plea bargaining löst sich ja auch der Zusammenhang zwischen Schuldeingeständnis und tatsächlicher Schuld ein Stück weit auf) und der dann wegen Totschlag verurteilt wurde, obwohl Mord durchaus möglich gewesen wäre - und wo auch Hinweise es nicht bis vor Gericht geschafft haben: http://www.phillymag.com/news/2017/07/29...b-ellen-murder/

Hier spielt natürlich auch rein, dass Richter in den USA teilweise gewählt werden, politische Karrieren anstreben und sich entsprechend profilieren wollen. Das hatten wir in Deutschland mit Herrn Schill auch. Will ich nicht.

Zitat von dirk
Was gilt, steht im Gesetz und gerade im Strafrecht - sollte es keine juristischen Fachkenntnisse benoetigen, um zu wissen, was ein Verbrechen ist und was nicht.


Ich habe vor einiger Zeit mal als Nicht-Jurist den "Grundkurs Strafrecht" aus dem de Gruyter Verlag durchgeblättert. Da relativiert sich eine solche Ansicht schnell. Aus genau den Gründen, die andere Teilnehmer an dieser Diskussion anführen.

Ich kann dieses Buch nur sehr empfehlen. Man versteht auch als Nicht-Fachmann, dass und warum in konkreten Fällen viele Gesichtspunkte abgewogen werden müssen, und dass am Ende etwas Unintuitives herauskommt.

Zitat von Llarian
Wenn also die Juristerei Probleme hat ihre Urteile zu erklären, dann wäre es ein guter Ansatz statt dem Laien die Kompetenz abzusprechen, mal darüber nachzudenken ob man seinen eigenen Job richtig gemacht hat.


Dem stimme ich gerne zu. Allerdings muss sich der Laie auch die Frage gefallen lassen, ob er willens ist, sich die Erklärung erst einmal anzuhören und zu überdenken, bevor er ein Urteil kommentiert.

Ich sehe das häufig in meinem Arbeitsbereich, der nun überhaupt gar nichts mit Jus zu tun hat. Unsere Kunden haben gewisse Erwartungen, die erstmal intuitiv sinnvoll und realistisch erscheinen, die aber objektiv unmöglich zu erfüllen sind. Natürlich ist es mein Job, ihnen zu erklären, warum genau ihre Vorstellungen nicht erfüllbar sind. Aber dazu muss man sich einfach darauf einlassen, entweder relativ tief in die Statistik einzutauchen oder dem Experten ab einem gewissen Zeitpunkt zu glauben, dass er weiss, wovon er spricht. Ich gehe davon aus, dass das im juristischen Bereich ebenso ist. Und in jedem anderen Bereich auch, bis hin zum Klempner.

--
Non delectent verba nostra, sed prosint. - Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, 75, 3

Martin Offline



Beiträge: 4.129

10.08.2017 11:14
#11 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zitat von Gorgasal im Beitrag #10


Ich sehe das häufig in meinem Arbeitsbereich, der nun überhaupt gar nichts mit Jus zu tun hat. Unsere Kunden haben gewisse Erwartungen, die erstmal intuitiv sinnvoll und realistisch erscheinen, die aber objektiv unmöglich zu erfüllen sind. Natürlich ist es mein Job, ihnen zu erklären, warum genau ihre Vorstellungen nicht erfüllbar sind. Aber dazu muss man sich einfach darauf einlassen, entweder relativ tief in die Statistik einzutauchen oder dem Experten ab einem gewissen Zeitpunkt zu glauben, dass er weiss, wovon er spricht. Ich gehe davon aus, dass das im juristischen Bereich ebenso ist. Und in jedem anderen Bereich auch, bis hin zum Klempner.


Ich sehe hier einen kleinen Unterschied: Sie erklären auch alternative Optionen, eine Unrteilsbegründung tut das m.W. nicht. Der Laie kann aber keine Alternativen diskutieren, weil er diese nicht selbst kompetent begründen kann.

Gruß, Martin

dirk Offline



Beiträge: 1.538

10.08.2017 14:41
#12 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zitat von Meister Petz

Und trotzdem sind wir uns - siehe Ursprungsdiskussion - nicht einig. Ich bin auch kein Jurist, aber mir erschließt sich die Logik der angewendeten Gesetze ziemlich auf Anhieb - wahrscheinlich (ich will nix unterstellen) weil ich keine so krass abweichenden Erwartungen an das Ergebnis habe wie die anderen Kommentatoren.



Das sind aber zwei verschiedene Paar Schuhe. An der Verwirrung bin ich auch nicht unschuldig, weil ich auf Arroganz mit einem generellen Rant gegen Juristen reagiert habe.

Ich wehre mich gegen die Auffassung als juristischer Laie stuende mir eine Bewertung der Rechtssprechung ebenso wenig zu wie bei wissenschaftlicher Fachexpertise. Das ist mE absurd, denn erstens ist es mir als Teil des Souveraens sogar aufgetragen bei der Gestaltung der Gewalten mitzuwirken, und zweitens betreffen mich Recht und Rechtssprechung, denn Laie zu sein, entbindet leider nicht von der Verpflichtung Gesetze einzuhalten. Was kaeme den als naechtes? Politik bitte die Politiker machen und lizensierte Kolumnisten bewerten lassen? Punkt eins.

Ein konkretes Urteil kann sehr wohl "technisch richtig" sein, etwa anhand der gesetzlichen Normen oder der Vergleichbarkeit des Strafmasses, und dennoch Beleg dafuer, dass etwas grundsaetzlich falsch laeuft. Was muss denn geschehen damit das Strafmass fuer gefaehrliche Koerperverletzung zu mehr als deutlich weniger als 20% ausgeschoepft wird? Die von Ihnen verlinkte Statistik zeigt doch wunderbar die Diskrepanz zwischen vom Gesetzgeber vorgesehenem und realisiertem Strafmass. Punkt 2. Und ich nehme fuer mich auch das Recht in Anspruc, das Urteil gegen einen Blogger, der den Stern als "Fakenewsproduzent" bezeichnet hat (vgl hier) skandaloes zu nennen. Im Ergebnis, so wie ich festellem kann, dass ein Auto defekt ist, ohne zu wissen, auf welcher Ebene der Defekt liegt (hier bin ich mir allerdings sicher, dass es der Richter ist, denn ein unterstelltes Motiv oder eine unterstellte Absicht, sofern es die ueberhaupt gegeben hat, ist keine falsche Tatsachenbehauptung, es ist eine Bewertung. Und eine die in diesem Falle nicht vom Mond geholt ist. Wollen wir jeden verklagen, der irgendwem "Profitgier" vorwirft? Oder vielleicht jeden Staatsanwalt, der im Plaedoyer dem Angeklagten Vorsatz unterstellt )


Zitat
Kleine Frage vorweg: Waren Sie nicht einer der strammen Befürworter des Brexit, mit der Begründung "der EU-Regulierungswut" zu entgehen?

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

10.08.2017 15:33
#13 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zitat von Martin im Beitrag #5
Der Roboter hätte zumindest den disziplinierenden Effekt, dass ein Korsett von Kriterien zu definieren wäre, die objektiver wären, als die unspezifische Überzeugung eines Richters.


Das Problem an solchen Kriterien, also festen Beweisregeln, ist, dass sie dem Einzelfall wohl noch viel weniger gerecht werden als die freie Beweiswürdigung. Wie würden diese Kriterien aussehen? Z.B. dass in Strafverfahren wegen Sexualdelikten grundsätzlich dem Opfer zu glauben ist? Dass dem Zeugen mit der lückenlosen Aussage und nicht den Zeugen, die sich an einiges nicht mehr erinnern können, zu glauben ist? Nur als kleiner Hinweis: Eine lückenlose Aussage ist bei Zeugen aufgrund der zeitlichen Entfernung zum Vorfall eher selten. Zeugen denken aber bisweilen, dass von ihnen eine lückenlose Aussage erwartet wird, weshalb sie Mutmaßungen und Schlussfolgerungen anstellen, ohne diese als solche zu kennzeichnen.

Zitat von Martin im Beitrag #5
Darüberhinaus wäre einem Roboter gleichgültig, wenn der Angeklagte weiß, wo er 'wohnt'.


Noch einmal: Gibt es Belege dafür, bei wie vielen Urteilen eine derartige Drohung eine Rolle gespielt haben könnte?

Dennis the Menace Offline




Beiträge: 459

10.08.2017 15:34
#14 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zitat von Meister Petz im Blog
Ist also die Justiz, wie der Vorwurf lautet, a) undemokratisch und b) elitär?



Hmmm. Das könnte so sein und führt dann allerdings zu der Metafrage, wieso das eigentlich ein Vorwurf sein soll .

Zitat von Jean-Jacques Rousseau
Solange mehrere vereinigte Menschen sich als einen einzigen Körper betrachten, haben sie nur einen einzigen Willen, der die gemeinsame Erhaltung und die allgemeine Wohlfahrt zum Gegenstande hat. Dann sind alle Triebfedern des Staates kräftig und einfach, und seine Grundsätze klar und deutlich; er hat keine verwickelte, einander widersprechende Interessen.



So der gute Rousseau in seiner hier im Thread schon erwähnten berühmt-berüchtigten Abhandlung.

Es ist womöglich diese oder jedenfalls eine tendenziell in diese Richtung weisende Erwartungshaltung, Demokratie möge WAHRHEIT produzieren sowie das Spannungsverhältnis widerstreitender Privatinteressen, Zuneigungen und Abneigungen in einer Soße namens Gemeinwohl oder auch "rational" auflösen, was an dieser Stelle den Verdacht des Undemokratischen nährt, also die Annahme, dass die "Volksmeinung" bei der Rechtsprechung nicht gebührend beachtet wird. Der "Vorwurf" wäre also dann berechtigt, wenn es eine so gedachte Demokratie, in der nurmehr dass Allgemeine, das Abstrahierte gilt und alles Strittige darunter verschwindet, geben könnte.

Selbstverständlich gäbe es dann keinen Raum für so etwas Unangenehmes wie divergierende AUSLEGUNGEN, anlässlich derer man bei Rechtsfragen zu verschiedenen Ansichten kommen kann, was auch im Kreis von Berufsrichtern regelmäßig vorkommt, sonst gäbe es keine Abweichungen in Berufungssachen, keine Mehrheitsentscheidungen bei Kammern etc. Ungeheuerlich sowas eigentlich, wie kann man denn "im Namen des Volkes" mit verschiedenen Zungen reden? (Kann man, weil das Volk das auch macht!). Noch schlimmer, dass es ggf in letzter Instanz, mal CAUSA FINITA heißen muss, obschon auch durch 100 Instanzen keine Unstrittigkeit hergestellt wird, was auch bei den Minderheitsvoten des BVerfG erkennbar wird. Die sind die Sache betreffend dann schlicht und ergreifend ungültig, obwohl die betreffenden Richter im Vergleich zur Mehrheitsfraktion nicht dümmer sind.

Und so was Häßliches wie Eliten braucht man natürlich auch nicht, wenn jeder für alles gleichermaßen zuständig ist, was voraussetzt, dass das auch jeder anstrebt, ferner sich alle in allen Angelegenheiten gleichermaßen auskennen und von Kompetenzunterschieden nicht gesprochen werden kann. Bei Rousseau hört sich das so an :


Zitat von Jean-Jacques Rousseau
Wenn man sieht, wie bei dem glücklichsten Volke auf Erden Scharen von Landleuten die Staatsangelegenheiten unter einer Eiche entscheiden und dabei stets mit großer Weisheit zu Werke gehen, kann man sich dann wohl erwehren, die Spitzfindigkeiten anderer Völker zu verachten, die sich mit einer solchen Fülle von Kunst und Geheimnistuerei berühmt und elend machen?



Warum machen wir das nicht einfach so?

lich
Dennis

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

10.08.2017 16:20
#15 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zitat von Llarian im Beitrag #9
- Jura darf keine reine Wissenschaft sein. Nicht weil sie nicht den Ansprüchen an eine Wissenschaft genügen soll, sondern deswegen weil sie vom Laien nicht nur verstanden werden soll, sondern verstanden werden muss! Wer Regeln für alle festlegt, der muss das so klar tun, dass diese auch von allen (oder zumindest von fast allen) auch verstanden werden. Wenn Recht derart kompliziert wird, wie beispielsweise das deutsche Steuerrecht, dann ist es kein Recht mehr.
Das stimmt. Aber dürfen oder müssen Prozesse kompliziert sein, wenn in dem anhängigen Fall viele Einzelheiten eine Rolle spielen können? Im Gesetz ist ein Straftatbestand mit ein paar Zeilen beschrieben, aber die Schilderung eines beliebigen unstrittigen Tatherganges aus der Praxis füllt eher Seiten.

Zitat von Llarian im Beitrag #9
Es muss ein Gefühl (ja, Gefühl) da sein, dass die Urteile gerecht sind. Vielleicht nicht so extrem, wie sich viele das wünschen, aber sie müssen da sein.
Ist es nicht denkbar, daß so ein Gefühl trügerisch ist?

Zitat von Llarian im Beitrag #9
Und dieser Mann tritt jetzt auf, präsentiert unheimlich viele mildernde Umstände und am Ende bekommt er eine Strafe von sagen wir 5 Jahren. Raus nach 3. Da tobt der Mob. Und zwar zurecht.
Das kann man nicht sagen, weil ein Mob nie vor Gericht stehen wird, sondern bloß individuelle Angeklagte für das, was während des Tobens geschehen ist. Wenn es so weit kommt, dann löst sich so ein Mob übrigens ganz schnell in seine von Feigheit und Gehässigkeit getriebenen Bestandteile auf. Anders gesagt: Der Wunsch nach der Bestrafung eines Täters wird sich auch dann als Gerechtigkeitsempfinden anfühlen, wenn er in Wahrheit nur ein Übelwollen gegen eine ausgesonderte Person, ein Mobbing ist.

Llarian Offline



Beiträge: 7.120

10.08.2017 17:29
#16 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zitat von Emulgator im Beitrag #15
Aber dürfen oder müssen Prozesse kompliziert sein, wenn in dem anhängigen Fall viele Einzelheiten eine Rolle spielen können? Im Gesetz ist ein Straftatbestand mit ein paar Zeilen beschrieben, aber die Schilderung eines beliebigen unstrittigen Tatherganges aus der Praxis füllt eher Seiten.

Die Beobachtungen zu einem physikalischen Experiment können auch ganze Bücher füllen. Und dennoch am Ende zu einem ganz simplen Zusammenhang führen. Man muss (und sollte) Dinge auch nicht verkomplizieren. Ein Problemm, dass ich bei Juristerei, gerade in Deutschland (und noch mehr Europa) sehe, ist der Wille alles 100% auszuregeln. Und das wird natürlich unendlich kompliziert. Und dann wirds ungerecht, weil die Regelungen natürlich nicht ausgeglichen sein können. Ich für meinen Teil kann mit einer gewissen Willkür, die aus einfachen(!) Gesetzen resultiert, durchaus leben. Weil Gesetze in meinen Augen immer nur Approximationen sind (wie eben in der Naturwissenschaft ein vereinfachtes Modell). Ich sehe eine viel größere Unfairniss in der nicht beherschbaren Komplexität. Wie das Steuerrecht ja eindrucksvoll vorführt.

Zitat
Ist es nicht denkbar, daß so ein Gefühl trügerisch ist?


Denkbar aber gar nicht so unbedingt wahrscheinlich. Gefühle, gerade wenn es um das Gerechtigkeitsempfinden geht, sind ja nichts weiter als eine emotionale Verkürzung von persönlichen Präferenzen. Die können trügen, werden das aber in der Regel nicht tun. Das was die Menschen fühlen ist am Ende in aller Regel auch das, was sie wollen. Wenn ich jetzt wieder auf die Demokratie zurück komme, respektive auch den von der Masse getragenen Rechtsstaat, so muss eine gewisse Übereinstimmung existieren zwischen dem, was die meisten wollen und dem, was der Rechtsstaat produziert. Sonst geht er unter. Ob das, was die Menschen wollen, sich nun in Gefühlen ausdrückt oder hundertprozent rational runtergerattert werden kann, ist dabei nicht kriegsentscheidend. Wichtig ist, dass es eine gewisse Übereinstimmung zwischen dem gewünschten und dem realen Zustand gibt.

Zitat
Anders gesagt: Der Wunsch nach der Bestrafung eines Täters wird sich auch dann als Gerechtigkeitsempfinden anfühlen, wenn er in Wahrheit nur ein Übelwollen gegen eine ausgesonderte Person, ein Mobbing ist.


Das kann sicher passieren. Aber das ist nicht automatisch immer richtig. Es gibt Dinge, die werden auch vom friedlichsten Menschen der Welt als ungerecht empfunden. Solche Dinge dürfen im Rechtsstaat nicht passieren. Sonst verliert er seine Legitimation, weit wichtiger aber noch, er verliert seine Unterstützung.
Es lohnt an der Stelle ein Blick in eher archaische Gruppen unserer Gesellschaft, die eben nicht an den Rechtsstaat glauben. Die gründen ihre eigene Paralleljustiz und regeln das unter sich. Unabhängig davon, dass das auch nicht sein darf, zeigt sich ein gewaltiges Problem: Der Rechtsstaat ist zentral darauf angewiesen von einer breiten Mehrheit getragen zu werden. Er kann nicht gegen eine Mehrheit durchgesetzt werden. Wenn sich die Menschen vom Rechtsstaat abwenden, dann betreiben sie Selbstjustiz, sie zeigen nichts mehr an, sie ignorieren die Opfer und werden am Ende selber Täter. Das wäre eine verheerende Entwicklung. Ganz pakaktiv und ohne verschwurbelte Sprache: Wenn Magnus Gäfgen (der derzeit ja seine Entlassung zu betreiben sucht) seinerzeit wegen der Folterdrohungen frei gesetzt worden wäre (was ja im amerikanischen Recht wohl dann auch passiert wäre), dann haben wir wirklich irgendwann den Mob auf der Strasse und Gäfgen am nächsten Baum. Sitzt er stattdessen seine 20 Jahre ab, so werden immer noch eine Menge Leute die Faust in der Tasche ballen, aber es wird kein Mob am Gefängnistor auf ihn warten und ihn aufknüpfen.

Llarian Offline



Beiträge: 7.120

10.08.2017 17:51
#17 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zitat von Gorgasal im Beitrag #10
Allerdings muss sich der Laie auch die Frage gefallen lassen, ob er willens ist, sich die Erklärung erst einmal anzuhören und zu überdenken, bevor er ein Urteil kommentiert.

Ich weiss nicht, ob das wirklich das Problem ist. Denn das wäre am Ende nur die mangelnde Bereitschaft zuzuhören. Und wenn nicht gerade ein Mob unterwegs ist, sind auch viele Leute bereit zuzuhören. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass das, was die Juristen von sich gebem, auch überzeugt. Und das ist ein zentraler Knacktus. Der Jurist hat sicher das Recht (eher die Pflicht) sich zu erklären. Aber deswegen ist seine Erklärung nicht unbedingt richtig oder überzeugend. Wenn heute ein 20 jähriger Totschläger quasi automatisch als Jugendlicher verurteilt wird, dann ist das Problem nicht die Begründung dafür. Das Problem ist, dass die Begründung nicht verfängt.

Zitat
Aber dazu muss man sich einfach darauf einlassen, entweder relativ tief in die Statistik einzutauchen oder dem Experten ab einem gewissen Zeitpunkt zu glauben, dass er weiss, wovon er spricht. Ich gehe davon aus, dass das im juristischen Bereich ebenso ist. Und in jedem anderen Bereich auch, bis hin zum Klempner.


Ich glaube hier werden Äpfel mit Birnen durcheinandergeworfen. Ihr Bereich ist die Statistik (so ich es verstehe). Eine Wissenschaft, noch dazu eine mathematische, die abgesehen von ihrer Axiomatisierung auf eisernen Füßen steht und jeder Statistiker wird im Zweifelsfall zu genau ihrem Ergebnis kommen. Das ist bei Juristen absolut nicht so. Betrachtet man alleine die deutsche und die amerikanische Justiz sieht man Unterschiede wie Tag und Nacht. D.h. es ist ein großer willkürlicher Bereich darin wie man Regeln festlegt, sie umsetzt und formuliert. Und innerhalb einer solchen Willkür ist es Aufgabe des Juristen zu einer einfachen Lösung zu kommen, die eben nicht nur von Fachleuten verstanden wird.

Nehmen wir ihren Klempner: Es gibt mit Sicherheit hunderte von Methoden die Frischwasserversorgung in einem Haus zu realisieren. Es gibt aberhunderte von Legierungen, Dutzende Rohrmaße, Ventile, Druckreduzierer, Pumpen, Steuerungen und Weiss der Kuckuck was alles sonst noch. Und dennoch gibt es Regeln für das Klempnerhandwerk, die nicht hunderte von Büchern füllen. Da wird eine gewisse Willkür akzeptiert und selbst einfache Gesellen können das allermeiste umsetzen. Und was ein Unterschied ist: Wenn ich meinen Handwerker frage, warum er an dieser Stelle keinen Stahl sondern Rotguss verwendet, dann kann der das beantworten. Ich bin so eine Nervensäge: Wenn ich mit Handwerkern zu tun habe, dann stelle ich oftmals dumme Fragen, warum dies so ist und das so gehört. Die Allermeisten können nicht nur, die Allermeisten beantworten die Fragen sogar gerne. Ich habe bisher noch von keinem Handwerker die Aussage gehört: Ab diesem Zeitpunkt müssen Sie mir einfach mal glauben, dass ich weiss, was ich tue.

Und wenn mir der Nachsatz noch erlaubt ist: Es gibt noch einen weit wichtigeren Unterschied. Ich muss nicht wissen, dass man beispielsweise kein Messingrohr vor einem verzinkten Rohr einsetzen darf. Prinzipiell interessiert mich nur, dass das Wasser aus der Leitung kommt. Aber ich muss wissen was erlaubt ist und was verboten. Damit ist eigentlich die Anforderung an die Juristerei noch viel, viel größer als an diejenigen, die die Regeln für das Klempnerhandwerk aufstellen.

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

10.08.2017 17:53
#18 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zitat von Llarian
Ein Problemm, dass ich bei Juristerei, gerade in Deutschland (und noch mehr Europa) sehe, ist der Wille alles 100% auszuregeln. Und das wird natürlich unendlich kompliziert. Und dann wirds ungerecht, weil die Regelungen natürlich nicht ausgeglichen sein können. Ich für meinen Teil kann mit einer gewissen Willkür, die aus einfachen(!) Gesetzen resultiert, durchaus leben. Weil Gesetze in meinen Augen immer nur Approximationen sind (wie eben in der Naturwissenschaft ein vereinfachtes Modell). Ich sehe eine viel größere Unfairniss in der nicht beherschbaren Komplexität. Wie das Steuerrecht ja eindrucksvoll vorführt


Zitat von dirk
In vielen Bereichen ist es leider so, dass die Rechtslage eben nicht klar aus dem Gesetz hervorgeht sondern sehr schwammig ist. Etwa im regulatorischen Bereich ("AIFMD" !), aber auch jetzt zum Beispiel neu bei "Hatespeech" . Die Konsequenz ist, dass die eigentliche Festlegung was denn der Gesetzestext bedeutet nicht durch den Gesetzgeber erfolgt, sondern eine Priesterkaste an juristischen Beratern, die eine Art "Best Practice" entwickeln (quasi Hadithe). Das entkoppelt nicht nur das Recht von denen, die es einhalten sollen, sondern widerspricht auch dem rechtsstaatlichen ideal. Denn es fuehrt darauf hinaus, dass der vorgesehene Gesetzgeber nicht der eigentliche Gesetzgeber ist.


Hier liegt ein Dilemma: Für die einen liegt das Problem in zu unbestimmter Regulierung, die vom Richter willkürlich und obskur ausgelegt wird. Für die anderen kommt die Obskurität aus zu viel Regulierung, deren Befolgung man nicht nachvollziehen kann.

Ich glaube ja, dass in den letzten Jahren die "immer mehr, immer mehr, immer mehr"-Fraktion die Gesetzgebung maßgeblich prägt. Und hier ist auch - zumindest wenn man Llarians Position, der ich durchaus Sympathie entgegenbringe, teilt - die Ursache zu sehen. Beim Gesetzgeber und den nach Regulierung verlangenden Wähler- und Interessengruppen, denen er verpflichtet ist.

Gruß Petz

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

10.08.2017 18:41
#19 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zitat von Llarian im Beitrag #16
Die Beobachtungen zu einem physikalischen Experiment können auch ganze Bücher füllen. Und dennoch am Ende zu einem ganz simplen Zusammenhang führen.
Da gehen Sie ja den Rückwärtsgang: Vor Gericht gilt es, aus der allgemeinen Norm einen Einzelfall zu klären (deduktiv), im Physikexperiment wird induktiv aus dem Experiment auf das Naturgesetz geschlossen. Wenn Sie beim Bild bleiben wollen ohne Rückwärtsgang, dann könnten Sie eher von den Gesetzen der Mechanik auf die baustatische Berechnung Ihres Wohnhauses argumentieren. Ohne es genau zu kennen, gehe ich davon aus, daß diese Berechnungsunterlagen umfangreicher sind als eine Mechanikformelsammlung. Einzelfälle sind immer komplizierter als Allgemeingesetze, bei denen ganz viel abstrahiert wird oder als klar vorausgesetzt wird.


Zitat von Llarian im Beitrag #16
Denkbar aber gar nicht so unbedingt wahrscheinlich.
Erstens ist es für einen unschuldig Verurteilten angesichts seiner bevorstehenden staatsgewaltsamen Vernichtung wenig tröstlich, daß sein Todesurteil a priori genauso wahrscheinlich gewesen wäre wie ein Lottogewinn. Zweitens ist es überflüssig, von Wahrscheinlichkeiten zu sprechen, wenn es die unabhängigen Replikationen nicht gibt: Auch in der DDR war es unwahrscheinlich, menschenrechtswidrigen DDR-Gesetzen zum Opfer zu fallen, aber das nur deswegen, weil die gelernten DDR-Bürger die Bedrohung antizipiert haben. Was im Einzelfall gerecht ist, darf dewegen nur von den Merkmalen des Einzelfalls abhängen, nicht von Wahrscheinlichkeiten außerhalb oder gar einer stalinistisch vorgegebenen Verurteiltenquote.

Zitat von Llarian im Beitrag #16
Gefühle, gerade wenn es um das Gerechtigkeitsempfinden geht, sind ja nichts weiter als eine emotionale Verkürzung von persönlichen Präferenzen. Die können trügen, werden das aber in der Regel nicht tun. Das was die Menschen fühlen ist am Ende in aller Regel auch das, was sie wollen.
Das klingt fast banal und unwidersprechbar, ist es aber nicht. Denken wir an den Freispruch von Herrn Kachelmann. Den wollten bestimmte Personen einfach nicht. Für sie hätte er verurteilt werden müssen, einfach weil sie nach eigener Aussage wollen, daß Vergewaltiger verurteilt werden (will ich nebenbei auch). Daß Herr Kachelmann kein Vergewaltiger ist, war den Eiferdamen dabei völlig egal (mir nicht). Natürlich hat da das Gefühl "Kachelmann muß verurteilt werden" die Publizistin betrogen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte man gar nicht Vergewaltiger bestraft sondern eine Merkmalsträgergruppe, in der die Vergewaltiger eine echte Teilmenge sind.

Zitat von Llarian im Beitrag #16
Ich für meinen Teil kann mit einer gewissen Willkür, die aus einfachen(!) Gesetzen resultiert, durchaus leben. Weil Gesetze in meinen Augen immer nur Approximationen sind (wie eben in der Naturwissenschaft ein vereinfachtes Modell).
Ja, so kann sich jeder aussuchen, mit welcher Approximation er einverstanden ist. Der einen reicht es, wenn approximativ alle Männer verurteilt werden, dem anderen reicht es, wenn approximativ alle Neger verurteilt werden. Solange man selber nicht betroffen ist! Denn dann ist die Approximation am angenehmsten, bei der nur die sicheren Täter(innen) verurteilt werden und im Zweifel freigesprochen wird oder strafmindernde Gesichtspunkte einbezogen werden. Dann arrangiert man sich damit, daß manche Täter eben erst beim Jüngsten Gericht ihr Urteil bekommen. Ach, wie schön! Das ist ja genau so, wie es tatsächlich in der Justiz gedacht ist!

Zitat von Llarian im Beitrag #16
Wenn ich jetzt wieder auf die Demokratie zurück komme, respektive auch den von der Masse getragenen Rechtsstaat, so muss eine gewisse Übereinstimmung existieren zwischen dem, was die meisten wollen und dem, was der Rechtsstaat produziert.
Denken wir uns einfach, daß Leute wie Alice Schwarzer in der Situation eine Mehrheit gehabt hätten ("die meisten wollen"). Dann hätten wir dadurch gar kein rechtsstaatliches Urteil gehabt, weil ein Unschuldiger verurteilt worden wäre. Ich glaube, Sie verwechseln hier Demokratie und Rechtsstaat. Beides ist notwendig zweierlei, will man nicht wie Gysi und Co. irgendwann das Recht mit seiner eigenen Demokratietheorie kontaminieren.

Zitat von Llarian im Beitrag #16
Es lohnt an der Stelle ein Blick in eher archaische Gruppen unserer Gesellschaft, die eben nicht an den Rechtsstaat glauben. Die gründen ihre eigene Paralleljustiz und regeln das unter sich.
Sie meinen das Fehderecht? Das ist nicht unbedingt unrechtsstaatlich. Elemente davon gelten bei uns auch noch, etwa bei der wechselseitig begangenen Beleidigung §199 StGB. Das ist eine sehr schöne Norm. Das moderne strafrechtliche Konzept, daß durch die Straftat der Straftäter die Allgemeinheit (nicht das Opfer!) verletzt habe, würde erfordern, daß beide Beleidiger verurteilt werden müssen. Durch §199 wird aber anerkannt, daß Beleidigung keine Gewalttat ist und somit quasi der Ewige Landfrieden nicht berührt ist, wenn die Fehde rein verbal ausgefochten wird. Also kann die Strafe entfallen.

Rechtsstaat heißt in erster Linie, daß die Staatsgewalt mit Gerichten, Polizei usw. sich einer Gerichtsbarkeit unterwirft. Wenn die Menschen in einem Staat einverstanden sind, diverse Rechtskonflikte auch ohne Staat zu lösen (etwa freiwillige Gerichtsbarkeit), dann ist das kein Problem für den Rechtsstaat. Es kann sich sogar die Staatsgewalt selber nichtstaatlichen Gerichten unterwerfen (z.B. Investitionsschutzgerichten). Es ist auch kein Problem für einen Rechtsstaat, wenn er Straftaten nicht als gegen die Allgemeinheit gerichtet verfolgt, sondern die Sache zivilrechtlich zwischen Täter und Opfer bleibt. In der Bibel werden z.B. diverse Körperverletzungen rein zivilrechtlich geahndet; die Reparation ist für die Täter oft schlimm genug. Eine zusätzliche Strafe durch die Allgemeinheit dort ist nicht vorgesehen.

Zitat von Llarian im Beitrag #16
Ganz pakaktiv und ohne verschwurbelte Sprache: Wenn Magnus Gäfgen (der derzeit ja seine Entlassung zu betreiben sucht) seinerzeit wegen der Folterdrohungen frei gesetzt worden wäre (was ja im amerikanischen Recht wohl dann auch passiert wäre), dann haben wir wirklich irgendwann den Mob auf der Strasse und Gäfgen am nächsten Baum. Sitzt er stattdessen seine 20 Jahre ab, so werden immer noch eine Menge Leute die Faust in der Tasche ballen, aber es wird kein Mob am Gefängnistor auf ihn warten und ihn aufknüpfen.
Bei der Argumentation ist mir einfach nicht wohl. Es kann ja nicht sein, daß Gerichte in vorauseilender Angst vor dem Mob das Recht beugen. Würden Sie diese Argumentation beibehalten, wenn der Mob sich wegen einer Karikatur beleidigt fühlt? Sollen dann die Karikaturisten verurteilt werden? Nach meiner Vorstellung erfordert der Schutz, den ein Staat seinen Bürgern schuldet, daß die Polizei in so einem Fall eben gegen den Lynchmob vorgeht und die Beteiligten für ihre Gewalttaten verurteilt werden. Wenn dieser Staat ein Rechtsstaat ist, dann werden diese Gewalttäter natürlich selbst in den Genuß der strafprozeßlichen Bestimmungen kommen können, die sie vorher entzürnt haben, aber damit bin ich einverstanden.

Erling Plaethe Offline




Beiträge: 4.660

10.08.2017 18:46
#20 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zitat von Meister Petz im Beitrag #1
Die spannende Diskussion zum Thema Justiz ist mir nun einen eigenständigen Artikel wert.
https://zettelsraum.blogspot.de/2017/08/...nken-eines.html

Ich weiß es zu schätzen, lieber Meister Petz, wie hier im kleinen Zimmer differenziert über das Thema diskutiert wird. Als Laie bin ich allerdings nicht frei von so einer profanen Annahme wie der, dass Richter und Staatsanwälte von Tätern z.B. aus dem Bereich der organisierten Kriminalität, bedroht werden. Und das das ein Grund für viele grotesk milde Strafen ist. Einer, der so naheliegend ist, dass vielleicht genau darum nicht darüber gesprochen wird. Das heißt, gesprochen schon (https://www.welt.de/politik/deutschland/...ppen-ueber.html), nur eben nicht diskutiert.
Denn solch eine Diskussion würde den Rechtsstaat in vieler Augen, denke ich, schwerer beschädigen, als eingeschüchterte und verzweifelte Richter und Staatsanwälte die den Rechtsstaat schwächen weil sie überfordert sind
Ein wenig erinnert mich das an die Zurechtweisung Erika Steinbachs durch Bundestagspräsident Lammert, es bedürfe für die Abgeordneten „keiner Freigabe, weder durch Fraktionen, noch durch Parteien.“ Obwohl die Kanzlerin genau dies zuvor tat und die Fraktionsdisziplin bzw. der Fraktionszwang jedem in der Politik bekannt ist.
Also würde mich mal interessieren, wie und ob Du diesen Aspekt in die Diskussion einfügen würdest.
So Du es nicht schon getan hast und mir es entgangen ist.

Viele Grüße, Erling Plaethe

Ulrich Elkmann Online




Beiträge: 14.547

10.08.2017 20:48
#21 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zitat von Llarian im Beitrag #16
dann haben wir wirklich irgendwann den Mob auf der Strasse und Gäfgen am nächsten Baum.



Aus Sicht historischer Erfahrungen: nein. Lynchjustiz hat genau eine Ausformung. Der Täter - vermeintlich oder nicht - auf frischer Tat gestellt. Kann ein reines Gerücht sein, ist aber zur Entfesselung des Mobs unabdingbar. Stichwort südafrikanischer Kragen. Der Sonderfall Mussolini ist selten und setzt jahrelangen Vorlauf voraus. Der andere Fall ist die privatisierte Einzeljustiz, Stichwort The Godfather, Anfangsszene. Hier ist das gesellschaftliche Subsystem Rechtstaat weiter existent, aber für diesen Bereich suspendiert. Auftragskiller + Selbstjustiz. Exemplairscher Fall: der schweizer Fluglotse 2002.



"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire

Llarian Offline



Beiträge: 7.120

11.08.2017 00:20
#22 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zitat von Emulgator im Beitrag #19
Bei der Argumentation ist mir einfach nicht wohl. Es kann ja nicht sein, daß Gerichte in vorauseilender Angst vor dem Mob das Recht beugen. Würden Sie diese Argumentation beibehalten, wenn der Mob sich wegen einer Karikatur beleidigt fühlt?

Ja. Und das bedarf wohl der Erläuterung: Wir reden hier zwar salopp vom "Mob", aber es geht ja nicht wirklich um eine plündernde Menschenmenge mit einem Strick in der Hand. Der "Mob" ist in unserem Fall die Allgemeinheit, vor allem die Allgemeinheit der Nichtjuristen, die in diesem Staat leben. Diese Allgemeinheit ist, bei aller wunderschön hochtrabenden Theorie, die Menschenmenge, die diesen Staat am Leben erhält. Rechtsstaat wie Demokratie sind wunderschöne Dinge, aber sie müssen von einer hinreichend großen Menge getragen werden, um wirklich wehrhaft zu sein.
Wenn ein Rechtsstaat permanent Entscheidungen trifft, die dem Rechtsempfinden der Allgemeinheit zuwider laufen, hat dieser irgendwann das Problem, dass ihn keiner mehr verteidigt, bzw. das sich immer weniger Leute an ihn halten. Aber genau dann funktioniert er eben nicht mehr. Gerade die westlichen Rechtsstaaten sind im Kern darauf angewiesen, dass sie großflächig in der Bevölkerung respektiert werden. Unser Rechtssystem basiert weniger auf Abschreckung sondern vor allem darauf, dass die breite Mehrheit den Rechtsstaat für richtig hält und aus Überzeugung keine Straftaten begeht.

Wenn 90% der Menschen dieses Landes der Meinung wäre, dass man eben nicht alles karrikieren kann, dann muss der Rechtsstaat darauf reagieren und dieses Verlangen widerspiegeln (das war ja nebenbei auch mal so). Nicht aus ethischen sondern aus ganz praktikablen Gründen. Recht ist per se nichts demokratisches (sollte es auch nicht sein), aber es kann sich in der Praxis nie zu weit davon entfernen, ohne seine eigenen Grundlagen umzuholzen.
Es ist (aus meiner Sicht) absurd zu meinen der Rechtsstaat könnte gegen die Bevölkerung durchgesetzt werden. Das mag eine Zeit lang unter Einsatz von viel Gewalt funktionieren (böse Zungen würden sagen etwas ganz ähnliches ist 1945 durchgeführt worden), aber auf Dauer trägt das nicht.

Und da das auch scheinbar nicht so recht rübergekommen ist: Es geht nicht darum willkürliche Urteile gegen Delinquenten zu sprechen, weil auf der Strasse eine brandschatzende Menge steht. Keine Bestrafung ohne Gesetz und Gesetze kann man nicht rückdatieren (das ist eine durchaus noch mehrheitliche Position). Aber: Was man sehr wohl kann ist Gesetze zu schaffen, bzw. ändern. Wenn also eine breite Mehrheit der Meinung ist, eine Karrikatur des fliegenden Spaghettimonsters gehe mal gar nicht, dann ist die Juristerei ganz gut damit beraten sich mal Gedanken zu machen wie so ein Gesetz aussehen könnte. Und wenn 90% der Meinung sind, dass es eben für einen Mord nicht reicht jemanden 15 Jahre gesiebte Luft atmen zu lassen, dann wären auch hier Gedanken angebracht.


PS. Ich bin nicht die Sprachpolizei, aber offene und verdeckte (und sei es auch nur witzig gemeint) Argumentationen mit unterstelltem Rassismus ("Neger") haben hier keinen Platz.

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

11.08.2017 00:52
#23 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zitat von Erling Plaethe im Beitrag #20
Ich weiß es zu schätzen, lieber Meister Petz, wie hier im kleinen Zimmer differenziert über das Thema diskutiert wird.

Und ich freue mich ausgesprochen, mal wieder von Dir zu lesen!

Zitat
Als Laie bin ich allerdings nicht frei von so einer profanen Annahme wie der, dass Richter und Staatsanwälte von Tätern z.B. aus dem Bereich der organisierten Kriminalität, bedroht werden. Und das das ein Grund für viele grotesk milde Strafen ist. Einer, der so naheliegend ist, dass vielleicht genau darum nicht darüber gesprochen wird. Das heißt, gesprochen schon (https://www.welt.de/politik/deutschland/...ppen-ueber.html), nur eben nicht diskutiert.
Denn solch eine Diskussion würde den Rechtsstaat in vieler Augen, denke ich, schwerer beschädigen, als eingeschüchterte und verzweifelte Richter und Staatsanwälte die den Rechtsstaat schwächen weil sie überfordert sind



Ich kann das schlecht beurteilen, weil mir dazu ein komplettes Bild fehlt, aber richtig überzeugt es mich nicht. Aus mehreren Gründen:

1. Die Strafpraxis bei gefährlicher Körperverletzung ist ziemlich einheitlich im unteren Drittel angesiedelt. Der Einfluss von Bedrohung würde aber nahelegen, dass die Mehrzahl der Urteile höher ausfallen und es einzelne Ausreißer nach unten gibt (wo eben nachgeholfen wurde). Es sei denn, man vermutet ein flächendeckendes Bedrohungsszenario. Das halte ich wiederum für unwahrscheinlich, weil bei gefährlicher Körperverletzung ein großer Teil klassische Fälle wie Bierzeltschlägereien (der Masskrug als Waffe) und Beziehungstaten, wo die Täter keinen Clan im Hintergrund haben.

2. Wenn man sich die letzten Prozesse gegen klassische Vertreter des organisierten Verbrechens anschaut (also wo man eine Bedrohung als allererstes erwartet), fahren die durchaus nicht unspektakulär ein: http://www.wn.de/Muensterland/2016/07/24...Haft-verurteilt.

3. Es kommen durchaus Fälle ans Licht, eine Anfrage bei der Datenkrake nach "Richter bedroht" bzw. "Staatsanwalt bedroht" liefert einige Treffer auch in der Systempresse. Ich gebe Dir aber Recht, dass es kein Debattenthema ist - wahrscheinlich, weil sich das Justizpersonal keinen Rainer Wendt leistet.
Aber das Hauptargument ist

4. Es ist ziemlich dumm und ineffizient, das Justizpersonal zu nötigen. Dafür sind die Zeugen da!

Gruß Petz

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

11.08.2017 01:00
#24 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zitat
böse Zungen würden sagen etwas ganz ähnliches ist 1945 durchgeführt worden


Eine ganz böse Zunge, nämlich meine, würde sagen, dass die Abschaffung der Todesstrafe 1949 vor allem deshalb erfolgt ist, weil einigen Mächtigen nach Nürnberg ordentlich die Düse gegangen ist...

Gruß Petz

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

11.08.2017 10:26
#25 RE: Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen Antworten

Zitat von Meister Petz im Beitrag #24
Eine ganz böse Zunge, nämlich meine, würde sagen, dass die Abschaffung der Todesstrafe 1949 vor allem deshalb erfolgt ist, weil einigen Mächtigen nach Nürnberg ordentlich die Düse gegangen ist...

Das halte ich solange für eine hanebüchene These, solange nicht einige Namen von "Mächtigen" genannt werden, die 1949 Einfluß hatten, aber irgendetwas zu befürchten hatten.

Ich glaube nicht, daß es solche Leute gibt. Man kann in manchen Aspekten über Mängel der Entnazifizierung streiten. Aber niemand, der so ernsthaft in die Nazi-Verbrechen verstrickt war, daß er eine Maximalstrafe zu befürchten hatte, hat im politischen System Deutschlands nach 1945 noch eine Rolle gespielt.

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