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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 134 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
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juka Offline



Beiträge: 18

07.10.2013 12:00
#26 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Ich möchte das Problem gerne mal an einem analogen Beispiel verdeutlichen:

Man stelle sich vor, hier in Deutschland bekäme jeder, der von der DLRG gerettet wird, 500 Euro als Soforthilfe für seine erlittenen Beeiträchtigungen. Dann hätten wir ziemlich schnell ein massenhaftes Ertrinkenden-Problem und bald wohl auch das eine oder andere Ertrunkenen-Drama.
Selbstverständlich würden sich auch dann genügend Deppen finden, die lautstark fordern, das Problem durch eine Erhöhung der Soforthilfe zu lösen.

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.560

07.10.2013 12:19
#27 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat von juka im Beitrag #26
Selbstverständlich würden sich auch dann genügend Deppen finden, die lautstark fordern, das Problem durch eine Erhöhung der Soforthilfe zu lösen.


Sh hier: "Deutschland muss mehr Flüchtlinge aufnehmen"

Zitat Die Welt
________________
EU-Parlamentspräsident Schulz ist unzufrieden mit Europas Flüchtlingspolitik. Angesichts des Dramas von Lampedusa müsse auch Deutschland offener sein. Italien dürfe nicht alleingelassen werden.
________________

Da das wohl auf ein Bruxella locuta, causa finita auslaufen dürfte, sollte man vorher die Bedingung aushandeln, daß die Mühseligen-&-Beladenen nicht mehr fahrlässig in Gefahr gebracht werden, indem sie auf morschen Seelenverkäufern transportiert werden, sondern nur dann einen Anspruch aufs Exil geltend machen können, wenn die Schaluppe TÜV-abgenommen ist & der Bootsführer ein Kapteinspatent für die Hochsee vorweisen kann.

Doeding Offline




Beiträge: 2.612

07.10.2013 12:49
#28 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat von hanszen im Beitrag #25
Ich habe mich hier neu registriert, um auf einen Punkt in der Argumentation einzugehen. Vorweg also einen Gruß in die Runde..

Zitat
Wenn ich mein gesamtes Einkommen nähme und mein Girokonto überzöge, und all dieses Geld an "Brot für die Welt" spendete, könnte ich vermutlich einer ganzen Reihe Menschen das Überleben kurzfristig sichern helfen (auf die schädlichen Konsequenzen und Nebenwirkungen von Spenden für die Betroffenen sei hier nur andeutend hingewiesen). Ich rettete kurzfristig mutmaßlich Leben dadurch. Aber man muß schon sehr verquer denken, um mir, da ich dergleichen nicht im Entferntesten vorhabe, die Schuld am Tod von Menschen, etwa in der Sahelzone, zu geben.


Das ist mitnichten so "verquer", wie Sie das darstellen. Im Gegenteil wird ein konsequentes Denken wohl kaum umhin kommen, Sie schuldig zu sprechen. Immerhin wird diese Sachlage in der Moralphilosophie auch seit einigen Jahrzehnten sehr intensiv diskutiert und von den prominentesten Denkern mit sehr starken (zugleich aber einfach nachvollziehbaren) Argumenten vertreten. Das Stichwort ist hier die "unterlassene Hilfeleistung": Wer in einer drängenden Notlage helfen könnte, es aber nicht tut, macht sich schuldig. Es gibt – moralisch gesehen, und über Moralfragen sprechen wir ja hier, wenn die Rede von "Schuld" ist – keine vernünftige Möglichkeit, die Reichweite des Konzepts der Hilfspflicht zu begrenzen, etwa auf Ihre Familie, Dorf-, Volks- oder Rassegemeinschaft. Vielmehr reicht Ihre Hilfspflicht genau so weit, wie ihre Möglichkeiten zur Hilfe reichen.

Damit will ich nicht moralisieren, sondern nur darauf hinweisen, dass die von Ihnen als "verquer" beiseite geschobene Position alles andere als verquer ist, sondern ziemlich starke Gründe für sich hat. Das sieht man ja auch daran, dass sie üblicherweise nicht mit Gründen, sondern mit Polemik ("verquer") abgefertigt wird. Man sollte das also etwas tiefer erwägen, bevor man es verwirft.



Schön daß Sie ins Forum gefunden haben, lieber hanszen.
Die Sache mit der Polemik muß ich so stehen lassen, da sie zutrifft. Natürlich argumentiere ich auch im Artikel nicht von einem moralphilosophischen Standpunkt sondern vom pragmatischen her. Wenn ich nochmals polemisch werden darf?

1. ist Schuld ein rückwärtsgewandtes, grüblerisches Konzept des Leidens. Es ist ein psychologisches Konstrukt, das historisch v. a. genutzt wurde, um andere Menschen gefügig zu machen und zu manipulieren. Man könnte so weit gehen, sämtliche Schuldkonzepte als bloße Herrschaftsinstrumente zu betrachten. Um aus Fehlern zu lernen (bzw. sie zu vermeiden) braucht es lediglich Einsicht in die Fehlerhaftigkeit eigenen Handels und die Bereitschaft, daraus für die Zukunft zu lernen. Dafür braucht es kein Schuldkonstrukt. Problem für die Schuldfans: jetzt muß man tatsächlich mit inhaltlichen Argumenten überzeugen, warum diese oder jene Handlung falsch sei. "Das ist böse, und du bist schuld daran" reicht dann eben nicht mehr.

2. Auch heute werden suggerierte Schuldgefühle weithin zur politischen Manipulation eingesetzt; einen moralischen Mehrwert kann ich da in der Regel nicht erkennen. Eigentlich kenne ich da nur zwei Varianten:

a. ich rede anderen Schuld ein, um sie gefügig zu machen und meinem Willen zu unterwerfen (früher kath. Kirche, heute die Grünen beispielsweise; aber auch oft genug im Privaten: Eltern mit ihren Kindern)

b. Ich suhle mich weithin sichtbar in meinen eigenen Schuldgefühlen, um der Umwelt zu zeigen, daß ich ja offenbar trotz meiner Sünden einen "guten Kern" habe und so schlecht nicht sein kann, was mithin ebenfalls manipulativ gemeint ist, nämlich zum Mildestimmen der relevanten sozialen Bezugsgruppe.

3. Davon abzugrenzen ist freilich der Begriff der Verantwortung, und da bin ich ein radikaler Anhänger des Konzeptes der Eigenverantwortung mit Ausnahme der Verantwortung, die man für (eigene) minderjährige Kinder (zunehmend weniger, je älter sie werden) hat. Und natürlich schließt das nicht aus, daß man um Hilfe bitten oder gebeten werden kann und diesem auch nachkommt. Aber Schuldkonzepte können mir in dem Zusammenhang gestohlen bleiben. Die habe ich mir vor Jahren rausnehmen lassen und stehe dennoch nicht im geringsten in dem Ruf, ein psychopathischer Egoist zu sein.

Edit: stilistische Korrekturen

Herzliche Grüße,
Andreas Döding

stefanolix Offline



Beiträge: 1.959

07.10.2013 13:18
#29 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat von hubersn im Beitrag #24
Nein, müssen wir nicht.

Obwohl ich mir nicht ganz sicher bin, was genau Sie unter dem "moralischen Recht, die Grenze zu sichern" verstehen. Ich halte es für ein völlig natürliches Recht einer jeden Nation, seine Grenze zu sichern. Ich tue mich schwer, eine Kategorie "Moral" damit zu verknüpfen.

Ist es moralisch zu rechtfertigen, abends seine Haustür abzuschließen, obwohl man nicht alles dafür getan hat, die Armut der Einbrecher zu lindern?

Gruß,
hubersn



Ich sichere das Eigentum meiner Familie in dem Bewusstsein, dass meine Frau und ich über direkte und indirekte Steuern sowie Sozialbeiträge sehr wohl dazu beigetragen haben, dass in diesem Land niemand zum Einbrecher werden muss, um sein physisches Überleben zu sichern.

Sicher ist auch eine Menge Kritisches über das deutsche Steuer- und Sozialversicherungssystem zu sagen, aber es sichert uns immerhin funktionsfähige Strukturen und jedem Einwohner das Überleben. Somit ist es nicht nur legal, sondern auch völlig legitim, die Tür abends und bei Abwesenheit sorgfältig abzuschließen.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

07.10.2013 13:18
#30 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat von Doeding im Beitrag #28
Aber Schuldkonzepte können mir in dem Zusammenhang gestohlen bleiben. Die habe ich mir vor Jahren rausnehmen lassen und stehe dennoch nicht im geringsten in dem Ruf, ein psychopathischer Egoist zu sein.

Eine hervorragende Analyse dieser Frage bietet Walter Kaufmanns sehr empfehlenswertes Buch "Jenseits von Schuld und Gerechtigkeit". Er legt die ethische Unbrauchbarkeit des Schuldbegriffs dar und zeigt, wie er praktisch durch etwas Positiveres ersetzt werden kann und sollte.

stefanolix Offline



Beiträge: 1.959

07.10.2013 13:20
#31 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat von juka im Beitrag #26
Ich möchte das Problem gerne mal an einem analogen Beispiel verdeutlichen:

Man stelle sich vor, hier in Deutschland bekäme jeder, der von der DLRG gerettet wird, 500 Euro als Soforthilfe für seine erlittenen Beeiträchtigungen. Dann hätten wir ziemlich schnell ein massenhaftes Ertrinkenden-Problem und bald wohl auch das eine oder andere Ertrunkenen-Drama.
Selbstverständlich würden sich auch dann genügend Deppen finden, die lautstark fordern, das Problem durch eine Erhöhung der Soforthilfe zu lösen.


Nein, das ist kein adäquates Beispiel. Denn die 500 Euro stellen hier in Deutschland ein Luxusproblem dar, während die Zustände in Somalia oder Äthiopien ein Existenzproblem sind.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

07.10.2013 13:27
#32 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat von stefanolix im Beitrag #29
Ich sichere das Eigentum meiner Familie in dem Bewusstsein, dass meine Frau und ich über direkte und indirekte Steuern sowie Sozialbeiträge sehr wohl dazu beigetragen haben, dass in diesem Land niemand zum Einbrecher werden muss, um sein physisches Überleben zu sichern.

Sicher ist auch eine Menge Kritisches über das deutsche Steuer- und Sozialversicherungssystem zu sagen, aber es sichert uns immerhin funktionsfähige Strukturen und jedem Einwohner das Überleben. Somit ist es nicht nur legal, sondern auch völlig legitim, die Tür abends und bei Abwesenheit sorgfältig abzuschließen.

Ganz so einfach dürfen Sie es sich natürlich nicht machen. Wenn man das Prinzip, daß man die Erlaubnis für die Sicherung des eigenen Besitzes erst durch Teilen mit den Bedürftigeren erwerben muß, wirklich ernst nimmt, dann dürfte niemand, dessen Besitzstand über dem Durchschnitt liegt, seine Haustür abschließen, sondern müßte sogar alle Bedürftigeren zur Selbstbedienung einladen. Ein Steuerobolus ist da nicht genug und dient allenfalls zur Gewissensberuhigung.

Wem diese Art von freier und offener sozialer Gerechtigkeit nicht schnell genug geht, der kann natürlich auch von Staats wegen umfairteilend eingreifen. Abwarten --- rotrotgrün ist ja noch nicht vom Tisch.

stefanolix Offline



Beiträge: 1.959

07.10.2013 13:30
#33 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat von Doeding im Beitrag #28
Die Sache mit der Polemik muß ich so stehen lassen, da sie zutrifft. Natürlich argumentiere ich auch im Artikel nicht von einem moralphilosophischen Standpunkt sondern vom pragmatischen her. Wenn ich nochmals polemisch werden darf?

1. ist Schuld ein rückwärtsgewandtes, grüblerisches Konzept des Leidens. Es ist ein psychologisches Konstrukt, das historisch v. a. genutzt wurde, um andere Menschen gefügig zu machen und zu manipulieren. Man könnte so weit gehen, sämtliche Schuldkonzepte als bloße Herrschaftsinstrumente zu betrachten. Um aus Fehlern zu lernen (bzw. sie zu vermeiden) braucht es lediglich Einsicht in die Fehlerhaftigkeit eigenen Handels und die Bereitschaft, daraus für die Zukunft zu lernen. Dafür braucht es kein Schuldkonstrukt. Problem für die Schuldfans: jetzt muß man tatsächlich mit inhaltlichen Argumenten überzeugen, warum diese oder jene Handlung falsch sei. "Das ist böse, und du bist schuld daran" reicht dann eben nicht mehr.

2. Auch heute werden suggerierte Schuldgefühle weithin zur politischen Manipulation eingesetzt; einen moralischen Mehrwert kann ich da in der Regel nicht erkennen. Eigentlich kenne ich da nur zwei Varianten:

a. ich rede anderen Schuld ein, um sie gefügig zu machen und meinem Willen zu unterwerfen (früher kath. Kirche, heute die Grünen beispielsweise; aber auch oft genug im Privaten: Eltern mit ihren Kindern)

b. Ich suhle mich weithin sichtbar in meinen eigenen Schuldgefühlen, um der Umwelt zu zeigen, daß ich ja offenbar trotz meiner Sünden einen "guten Kern" habe und so schlecht nicht sein kann, was mithin ebenfalls manipulativ gemeint ist, nämlich zum Mildestimmen der relevanten sozialen Bezugsgruppe.

3. Davon abzugrenzen ist freilich der Begriff der Verantwortung, und da bin ich ein radikaler Anhänger des Konzeptes der Eigenverantwortung mit Ausnahme der Verantwortung, die man für (eigene) minderjährige Kinder (zunehmend weniger, je älter sie werden) hat. Und natürlich schließt das nicht aus, daß man um Hilfe bitten oder gebeten werden kann und diesem auch nachkommt. Aber Schuldkonzepte können mir in dem Zusammenhang gestohlen bleiben. Die habe ich mir vor Jahren rausnehmen lassen und stehe dennoch nicht im geringsten in dem Ruf, ein psychopathischer Egoist zu sein.

Edit: stilistische Korrekturen

Herzliche Grüße,
Andreas Döding


Ich argumentiere nicht (vordergründig) mit Schuld. Die Kolonialherrschaft, die Sklaverei und die Stellvertreterkonflikte in der Zeit des Kalten Krieges haben aber dazu beigetragen, dass große Teile Afrikas heute auf diesem deprimierenden Stand sind.

Nun können wir nicht alle militärischen Konflikte der Geschichte wieder ungeschehen machen. Das große Karthago führte drei Kriege und es bleibt natürlich zerstört. Für mich kommt nur eine Unterstützung ohne Anerkennung eines Rechtsanspruchs in Frage. Ich argumentiere mit einer gewissen ethisch-moralischen Pflicht und mit dem Nutzen, den ich für Europa auf lange Sicht sehe.

Noch zur Verantwortung: Verhungernde und Mittellose in einem failed state können keine Verantwortung übernehmen. Sie müssen erst wieder in die Lage versetzt werden. Danach sollen sie natürlich wieder eigenverantwortlich für ihr Land sein und eine unkontrollierte Einwanderung in die EU kommt überhaupt nicht in Frage.

AldiOn Offline




Beiträge: 983

07.10.2013 13:33
#34 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat von hanszen im Beitrag #25
Wer in einer drängenden Notlage helfen könnte, es aber nicht tut, macht sich schuldig.
worin besteht denn diese drängende Notlage, deren wir schuldig sind?
Diese Notlage besteht doch im wesentlichen in einer durchaus dramatischen Wohlstandsdifferenz. Wobei ja nicht die Ärmsten kommen sondern die Reichsten, den die Reiseaufwendungen (Schlepper u.ä) bedeuten in diesen Ländern ein Vermögen.
Und diese Wohlstandsifferenz kann man nicht von jetzt auf sofort verringern. Es würde nicht klappen, wenn wir all diese Leute hier aufnehmen und die hier gemachten Vorschläge (Rekoloniasierung, mehr Entwicklungshilfe) haben ja alle nicht nur nicht funktioniert sondern meist das Problem noch verschärft.

Tatsächlich sind wir (diese Welt) auf dem richtigen Weg. Seit 1990 gibt es 2 Milliarden Menschen mehr auf der Welt und die Zahl der Hungernden hat sich um mehr als 100 Millionen verringert. Das heißt doch nichts anderen, als das über zusätzliche 2 Milliarden Menschen mit anständiger Nahrung in einer kurzen Zeit versorgt werden konnten. Bei anderen Wohlstandkriterien ist es auch so. In China gibt es mit ca. 80 Millionen Menschen die regelmäßig Fleisch essen und 1-2 Autos haben mehr Menschen im Wohlstand als Deutschland Einwohner hat.

Ich sehe weder eine Schuld noch einen Handlungsbedarf. Höchstens das die Kontrolle des Mittelmeeres deutlich verschärft wird und jegliches Auslaufen eines Schiffes aus nordafrikanischen Häfen grundsätzlich und automatisiert auf seine Legitimität überprüft wird. Mit quasimilitärischen Mitteln dürfte es keine Problem sein, festzustellen ob auf einen einem Schiff mehr Menschen sind als es funktionell richtig ist. Ein rechtzeitiges Eingreifen im Sinne eines Zwangs zur unmittelbaren Umkehr wird den geplagten Einwohnern von Lampedusa - einem ansonsten ja trostlosem Ort - wieder ihre verdiente (?) Ruhe schaffen.

stefanolix Offline



Beiträge: 1.959

07.10.2013 13:34
#35 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #32
Ganz so einfach dürfen Sie es sich natürlich nicht machen. Wenn man das Prinzip, daß man die Erlaubnis für die Sicherung des eigenen Besitzes erst durch Teilen mit den Bedürftigeren erwerben muß, wirklich ernst nimmt, dann dürfte niemand, dessen Besitzstand über dem Durchschnitt liegt, seine Haustür abschließen, sondern müßte sogar alle Bedürftigeren zur Selbstbedienung einladen. Ein Steuerobolus ist da nicht genug und dient allenfalls zur Gewissensberuhigung.

Wem diese Art von freier und offener sozialer Gerechtigkeit nicht schnell genug geht, der kann natürlich auch von Staats wegen umfairteilend eingreifen. Abwarten --- rotrotgrün ist ja noch nicht vom Tisch.



Ich hoffe, dass in meinen Beiträgen eines deutlich wurde: Es geht um die Existenzsicherung und die Daseinsvorsorge. Dazu trägt jeder bei, der in Deutschland Steuern und Abgaben zahlt. Ergebnis: Die Existenz ist gesichert, auch die Existenz der ALG-II-Empfänger und der Asylbewerber. Es geht mir hier nicht um den Ausgleich jeglicher Unterschiede und (oder) die Einführung des Kommunismus.

J.Tiberius Offline




Beiträge: 20

07.10.2013 13:41
#36 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

lieber Andreas Döding,

vielen Dank für diesen Artikel, ich habe Sie in den letzten Wochen als Autor schon schmerzlich vermisst...

In der Summe stimme ich Ihnen voll zu, dass es zwar menschlich nachvollziehbar ist, dass Menschen aus wirtschaftlichen Gründen ihr Heil in Europa suchen, Europa dieses Heilssversprechen für Wirtschaftsflüchtlinge nicht einlösen kann. Das Asylrecht Verfolgter ist hiervon natürlich ausgenommen.

Etwas anderes kommt aber in der Diskussion zu kurz: Es scheint wohl so, dass es bislang italienische Vorschriften gab, die eine Hilfe bereits in Seenot befindlicher untersagte und man diesen dann zusah, wie sie untergingen.Dies ist natürlich inakzeptabel.

Aber jede Maßnahme, die die (unerfüllbaren) Hoffnungen der Witrschaftsflüchtlinge verstärkt, in Europa ein glücklicheres Leben zu finden, muss vermieden werden, um den Anreiz möglichst nierig zu halten.

Viele Grüße

J. Tiberius

stefanolix Offline



Beiträge: 1.959

07.10.2013 13:41
#37 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat von AldiOn im Beitrag #34
Diese Notlage besteht doch im wesentlichen in einer durchaus dramatischen Wohlstandsdifferenz. Wobei ja nicht die Ärmsten kommen sondern die Reichsten, den die Reiseaufwendungen (Schlepper u.ä) bedeuten in diesen Ländern ein Vermögen.
Und diese Wohlstandsifferenz kann man nicht von jetzt auf sofort verringern. Es würde nicht klappen, wenn wir all diese Leute hier aufnehmen und die hier gemachten Vorschläge (Rekoloniasierung, mehr Entwicklungshilfe) haben ja alle nicht nur nicht funktioniert sondern meist das Problem noch verschärft.


Richtig, deswegen muss man ja aus den Fehlern lernen und es diesmal besser machen. Zuerst in einer Modellregion.

Es kommen nicht nur Menschen, die ihre Überfahrt selbst bezahlen können. Denken Sie mal an die Methoden des organisierten Verbrechens. Dazu zählen: Illegale Beschäftigung unter üblen Bedingungen, Zwangsprostitution oder Schlimmeres, um die Kosten über Jahre abzuzahlen.

Und selbst wenn wir denjenigen, die über das Meer kommen, unterstellen, dass sie Wirtschaftsflüchtlinge sind: Es bleiben die wirklich dramatischen Zustände in einigen Staaten Afrikas.

hanszen Offline



Beiträge: 8

07.10.2013 13:45
#38 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Besten Dank für Ihre detailierte Antwort.
Mir ging es ja auch eigentlich nicht um den Schuld-Begriff, sondern um den der moralischen Pflicht. Sicherlich stimmt vieles von dem, was Sie zu "Schuld" ausführen, allerdings betrifft das nur den psychologischen oder vielleicht auch rechtlichen Schuld-Begriff. Sofern es so etwas wie Schuld im moralischen Sinne gibt – die könnte zum Beispiel durch verletzen einer moralischen Pflicht entstehen –, scheint mir diese nicht von Ihren Argumenten betroffen zu sein.
Es ist ein anderes Thema, und daher hier nicht besonders wichtig, ich habe aber den Eindruck, dass man den Schuld-Begriff auch im moralischen Sinne nicht benötigt. Es genügt der Pflicht-Begriff. (Allerdings scheint mir dafür der psychologische und rechtliche Schuldbegriff, den Sie ja abschaffen wollen, leider weiterhin unverzichtbar – der allergrößte Teil der Menschheit hat nunmal nicht die oberen Stufen des Kohlberg-Stufenschemas erreicht.)

Zitat
1. ist Schuld ein rückwärtsgewandtes, grüblerisches Konzept des Leidens. Es ist ein psychologisches Konstrukt, das historisch v. a. genutzt wurde, um andere Menschen gefügig zu machen und zu manipulieren. Man könnte so weit gehen, sämtliche Schuldkonzepte als bloße Herrschaftsinstrumente zu betrachten. Um aus Fehlern zu lernen (bzw. sie zu vermeiden) braucht es lediglich Einsicht in die Fehlerhaftigkeit eigenen Handels und die Bereitschaft, daraus für die Zukunft zu lernen. Dafür braucht es kein Schuldkonstrukt. Problem für die Schuldfans: jetzt muß man tatsächlich mit inhaltlichen Argumenten überzeugen, warum diese oder jene Handlung falsch sei. "Das ist böse, und du bist schuld daran" reicht dann eben nicht mehr.


Ich bin mir nicht klar, ob "psychologisch" und vor allem "Konstrukt" schon ein Einwand sind (oder ob sie das nach Ihrer Argumentation sein sollen). Ähnlich polemisieren ja Feministen immer irgendwas von "sozialen Konstrukten". Was in der Welt wäre denn beispielsweise kein Konstrukt? Um es polemisch zu sagen: Die menschliche Sprache könnte man mit gleichen Argumenten abschaffen: Ist sie nicht ein "psychologisches" und "soziales" "Konstrukt"? Wurde sie nicht dazu genutzt, zu manipulieren etc.?
Ich sehe jedenfalls nicht ohne Weiteres, was mit "Konstrukt" gemeint ist und sofern etwas ein Konstrukt ist, warum das schon dagegen spräche.

Die "Bereitschaft, daraus für die Zukunft zu lernen", von der sie sprechen, scheint jedenfalls ohne ein motivierendes "schlechtes Gewissen" (und da ist wohl das Schuldgefühl psychologisch gesehen zu verorten) kaum denkbar. Dann sieht man aber schnell, welch unglaubliche zivilisatorische Kraft gerade das "Konstrukt" Schuld hat: Hätten wir nicht in den letzten Jahrtausenden Vergehen mit Schuld (und Strafe –– Schuld ist sozusagen die internalisierte Strafe!) belastet, wäre wohl bisher noch kaum zivilisatorischer Fortschritt zu verbuchen. Insofern kann man wohl auch prognostizieren: solange wir noch leibliche und emotionale Wesen sind, kann man wohl kaum auf die Emotion "Schuld" verzichten.

Zitat
2. Auch heute werden suggerierte Schuldgefühle weithin zur politischen Manipulation eingesetzt; einen moralischen Mehrwert kann ich da in der Regel nicht erkennen. Eigentlich kenne ich da nur zwei Varianten:


"Mehrwert"? In der Manipulation natürlich nicht. Das ist aber nun mal nicht die einzige Rolle, die das Schuld-Konzept spielt, und sicher auch bei weitem nicht die vorrangige.

Zitat
3. Davon abzugrenzen ist freilich der Begriff der Verantwortung, und da bin ich ein radikaler Anhänger des Konzeptes der Eigenverantwortung mit Ausnahme der Verantwortung, die man für (eigene) minderjährige Kinder (zunehmend weniger, je älter sie werden) hat. Und natürlich schließt das nicht aus, daß man um Hilfe bitten oder gebeten werden kann und diesem auch nachkommt. Aber Schuldkonzepte können mir in dem Zusammenhang gestohlen bleiben. Die habe ich mir vor Jahren rausnehmen lassen und stehe dennoch nicht im geringsten in dem Ruf, ein psychopathischer Egoist zu sein.


Nun gut, das ist schön, dass das bei Ihnen funktioniert. Das gestehe ich aber 99% der Menschheit bisher nicht zu. Zunächst mal haben wir hier ja bisher zwei Ebenen diskutiert: Der Schuld-Begriff im psychologischen Sinne, das heißt ein Gefühl bezeichnend. Und Begriffe von Verantwortung und Pflicht, die ich hier nur als moralphilosophische Begriffe verstehen kann. Fazit bisher: Um Moralität unter realen Lebensbedingungen und in realen Menschen wirksam werden zu lassen, muss man sie irgendwie psychisch und emotional verankern. Das läuft über Gewissen, Schuld, Belohnung, Ehre und derartiges. (Die Möglichkeit des Missbrauchs macht die Konzepte selbst noch nicht verdammenswert.)
Dass ich "Schuld" soweit psychologisch verortet habe, schließt nicht aus, dass es auch vielleicht so etwas wie einen moralisch-metaphysischen Schuld-Begriff gibt. Möglicherweise haben Sie den sogar dann schon mit eingekauft, wenn Sie von "Verantwortung" und dergleichen in einem moralischen Sinne sprechen, d. h. nicht in einem bloß psychologischen und relativistischen Sinne sprechen. Ich nehme an, Sie meinen mit "Verantwortung" oder "Pflicht" nicht bloß ein "Gefühl" das Sie haben, sondern etwas, das real und objektiv gilt – und die Frage ist eben, was es bedeutet, wenn Sie diesem Geltungsanspruch nicht entsprechen.

stefanolix Offline



Beiträge: 1.959

07.10.2013 13:45
#39 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat von J.Tiberius im Beitrag #36
In der Summe stimme ich Ihnen voll zu, dass es zwar menschlich nachvollziehbar ist, dass Menschen aus wirtschaftlichen Gründen ihr Heil in Europa suchen, Europa dieses Heilssversprechen für Wirtschaftsflüchtlinge nicht einlösen kann. Das Asylrecht Verfolgter ist hiervon natürlich ausgenommen.

Etwas anderes kommt aber in der Diskussion zu kurz: Es scheint wohl so, dass es bislang italienische Vorschriften gab, die eine Hilfe bereits in Seenot befindlicher untersagte und man diesen dann zusah, wie sie untergingen.Dies ist natürlich inakzeptabel.

Aber jede Maßnahme, die die (unerfüllbaren) Hoffnungen der Witrschaftsflüchtlinge verstärkt, in Europa ein glücklicheres Leben zu finden, muss vermieden werden, um den Anreiz möglichst nierig zu halten.


Richtig. Deshalb muss man bestimmte Grundlagen schaffen, damit diese Menschen ihre Chancen auf ein Leben und einen Aufschwung in ihren Heimatländern nutzen können. Und nicht das Problem verschärfen, indem man ihnen z. B. vor ihren Küsten noch den letzten Fisch wegfängt, wo es in diesen Ländern schon jetzt an Eiweiß mangelt. Was wird aus den ehemaligen Fischern? Piraten, Schlepper oder im schlimmsten Fall Terroristen.

vivendi Offline



Beiträge: 663

07.10.2013 13:45
#40 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat von stefanolix im Beitrag #21
Zitat von xanopos im Beitrag #19
Warum streben Somalier ins ferne Europa und nicht auf die vergleichsweise nahe arabische Halbinsel?

Weil sie dort noch viel rigider abgewiesen werden? Weil dort keine Einwanderung ins Sozialsystem möglich ist?

Einwanderung ins Sozialsystem? In unserer Stadt gibt es einige Menschen, die würden gerne in meine Wohnung einwandern, jedenfalls solange, bis sie alle meine selbst erarbeiteten "sozialen" Güter ergattert haben. Und dann auf ins nächste "Sozialsystem", zum Beispiel beim Nachbarn.

hanszen Offline



Beiträge: 8

07.10.2013 13:53
#41 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat
worin besteht denn diese drängende Notlage, deren wir schuldig sind?
Diese Notlage besteht doch im wesentlichen in einer durchaus dramatischen Wohlstandsdifferenz. Wobei ja nicht die Ärmsten kommen sondern die Reichsten, den die Reiseaufwendungen (Schlepper u.ä) bedeuten in diesen Ländern ein Vermögen.
Und diese Wohlstandsifferenz kann man nicht von jetzt auf sofort verringern. Es würde nicht klappen, wenn wir all diese Leute hier aufnehmen und die hier gemachten Vorschläge (Rekoloniasierung, mehr Entwicklungshilfe) haben ja alle nicht nur nicht funktioniert sondern meist das Problem noch verschärft.
Tatsächlich sind wir (diese Welt) auf dem richtigen Weg. Seit 1990 gibt es 2 Milliarden Menschen mehr auf der Welt und die Zahl der Hungernden hat sich um mehr als 100 Millionen verringert. Das heißt doch nichts anderen, als das über zusätzliche 2 Milliarden Menschen mit anständiger Nahrung in einer kurzen Zeit versorgt werden konnten. Bei anderen Wohlstandkriterien ist es auch so. In China gibt es mit ca. 80 Millionen Menschen die regelmäßig Fleisch essen und 1-2 Autos haben mehr Menschen im Wohlstand als Deutschland Einwohner hat.


Das mag sein, obwohl ich sachlich gesehen diese Argumentation nicht schlucke. In meiner Antwort auf den Beitrag ging es ja auch nicht um diesen konkreten Fall hier, über den ich nichts aussagen kann und will. Ich muss also auch nicht erklären, worin "diese" "drängende Notlage, deren wir schuldig sind" besteht, da ich jedenfalls niemandem schuld zugesprochen habe.
Mir ging es lediglich um die Kritik der (aus dem Blogpost verallgemeinernd rekonstruierbaren) Behauptung: Wer die Pflicht zur Hilfeleistung unterlässt, macht sich nicht schuldig. Für die weitere Argumentation in diesem Punkt kann ich auch einfach auf Peter Singer verweisen..

Zitat
Ich sehe weder eine Schuld noch einen Handlungsbedarf. Höchstens das die Kontrolle des Mittelmeeres deutlich verschärft wird und jegliches Auslaufen eines Schiffes aus nordafrikanischen Häfen grundsätzlich und automatisiert auf seine Legitimität überprüft wird. Mit quasimilitärischen Mitteln dürfte es keine Problem sein, festzustellen ob auf einen einem Schiff mehr Menschen sind als es funktionell richtig ist. Ein rechtzeitiges Eingreifen im Sinne eines Zwangs zur unmittelbaren Umkehr wird den geplagten Einwohnern von Lampedusa - einem ansonsten ja trostlosem Ort - wieder ihre verdiente (?) Ruhe schaffen.


Das klingt mir zu zynisch und menschenverachtend. Oder anders gesagt: hartherzig und auch noch stolz darauf. Ich selbst halte mich in dem Punkt lieber mit Meinungen und Ratschlägen zurück. Sachlich gesehen überzeugt mich ihr "Plan zur Lösung des Flüchtlingsproblems" allerdings nicht. Mir ist nichtmal klar, was Sie mit "quasimilitärisch" meinen. Die Flüchtlingsboote zusammenballern?

AldiOn Offline




Beiträge: 983

07.10.2013 14:10
#42 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat von hanszen im Beitrag #41

Zitat
Ich sehe weder eine Schuld noch einen Handlungsbedarf. Höchstens das die Kontrolle des Mittelmeeres deutlich verschärft wird und jegliches Auslaufen eines Schiffes aus nordafrikanischen Häfen grundsätzlich und automatisiert auf seine Legitimität überprüft wird. Mit quasimilitärischen Mitteln dürfte es keine Problem sein, festzustellen ob auf einen einem Schiff mehr Menschen sind als es funktionell richtig ist. Ein rechtzeitiges Eingreifen im Sinne eines Zwangs zur unmittelbaren Umkehr wird den geplagten Einwohnern von Lampedusa - einem ansonsten ja trostlosem Ort - wieder ihre verdiente (?) Ruhe schaffen.

Das klingt mir zu zynisch und menschenverachtend.


Aber zulassen das Menschen in so gefährlicher Art wie das jetzt gemacht wird reisen ist nicht zynisch und menschenverachtend?


Zitat von hanszen im Beitrag #41
Mir ist nichtmal klar, was Sie mit "quasimilitärisch" meinen. Die Flüchtlingsboote zusammenballern?
Feststellen und zur unmittelbaren Umkehr zwingen habe ich geschrieben. Was ist daran miß- oder unverständlich?
Die technischen Möglichkeiten haben die Militärs heute alles und von "zusammenballern" habe ich nichts geschrieben.

SIE sind es der Menschen übers Meer in den Tod fahren lassen will - nicht ich. Das sollte man hier bitte festhalten wenn man von

Zitat
zynisch und menschenverachtend

schreibt. Der Vorwurf geht nun wirklich an Sie.

Doeding Offline




Beiträge: 2.612

07.10.2013 14:18
#43 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat von hanszen
Besten Dank für Ihre detailierte Antwort.
Mir ging es ja auch eigentlich nicht um den Schuld-Begriff, sondern um den der moralischen Pflicht. Sicherlich stimmt vieles von dem, was Sie zu "Schuld" ausführen, allerdings betrifft das nur den psychologischen oder vielleicht auch rechtlichen Schuld-Begriff. Sofern es so etwas wie Schuld im moralischen Sinne gibt – die könnte zum Beispiel durch verletzen einer moralischen Pflicht entstehen –, scheint mir diese nicht von Ihren Argumenten betroffen zu sein.
Es ist ein anderes Thema, und daher hier nicht besonders wichtig, ich habe aber den Eindruck, dass man den Schuld-Begriff auch im moralischen Sinne nicht benötigt. Es genügt der Pflicht-Begriff. (Allerdings scheint mir dafür der psychologische und rechtliche Schuldbegriff, den Sie ja abschaffen wollen, leider weiterhin unverzichtbar – der allergrößte Teil der Menschheit hat nunmal nicht die oberen Stufen des Kohlberg-Stufenschemas erreicht.)



Auch von mir danke für Ihre ausführliche Antwort.
Nun, ich war immer skeptisch gegenüber Stufenmodellen der Moral sensu Kohlberg oder auch Piaget mit seiner heteronomen Zwangsmoral vs. autonomer Moral, da ich immer den Eindruck hatte, diese Modelle seien weniger deskriptiv oder erklärend, sondern vielmehr normativ gedacht, was nicht gerade Aufgabe entwicklungspsychologischer Forschung ist. Aber das ist in der Tat eine andere Baustelle…

Zitat
Ich bin mir nicht klar, ob "psychologisch" und vor allem "Konstrukt" schon ein Einwand sind (oder ob sie das nach Ihrer Argumentation sein sollen). Ähnlich polemisieren ja Feministen immer irgendwas von "sozialen Konstrukten". Was in der Welt wäre denn beispielsweise kein Konstrukt? Um es polemisch zu sagen: Die menschliche Sprache könnte man mit gleichen Argumenten abschaffen: Ist sie nicht ein "psychologisches" und "soziales" "Konstrukt"? Wurde sie nicht dazu genutzt, zu manipulieren etc.?
Ich sehe jedenfalls nicht ohne Weiteres, was mit "Konstrukt" gemeint ist und sofern etwas ein Konstrukt ist, warum das schon dagegen spräche.



Wenn ich von „psychologischem Konstrukt“ schreibe ist das keineswegs a priori despektierlich gemeint, und ich stimme Ihnen zu, daß die meisten (oder gar alle) Überzeugungssysteme letztlich Konstrukte sind. Ihren Beispielen kann ich gut zustimmen.

Sie schreiben sinngemäß, man sollte Schuldgefühle aus pädagogisch-praktischen Gründen beibehalten; und genau das sehe ich anders. Es ist wie bei Prüfungen. Man kann mit „Angst vor Mißerfolg“ als negativ valente Emotion an die Sache herangehen oder mit „Hoffnung auf Erfolg“. Empirisch haben letztere übrigens deutliche Vorteile. Ich kann entsprechend aus Fehlern lernen, weil ich mir verbesserte Lebensbedingungen davon verspreche oder um einen aversiven (Schuld)zustand zu beenden. Letzteres aber ist mMn nicht gut zu vereinen mit der angedeuteten Kohlbergpyramide, da „schuldmoralisch“ motiviertes verhalten eben nur so lange gezeigt wird, wie das Zwangssystem aufrecht erhalten werden kann, so wie bei jeder Form von Strafandrohung. Ein autonomes Moral/Pflichtkonzept, wie Sie es angedeutet haben, wird so nicht erworben.

Ahem: wenn ich in meinem Eingangsbeispiel im von Ihnen skizzierten Sinne "schuldig" bin, wenn ich mich für "Brot für die Welt" nicht verschulde (müßte ich nicht sogar meine Existenz ruinieren; wo ist die Grenze?), wer ist dann eigentlich auf diesem Planeten ohne Schuld? Sind wir hier nicht wieder ganz in der Nähe von Erbsünde und alttestamentarischen Vorstellungen von der Vertreibung aus dem Paradies?

Herzliche Grüße,
Andreas Döding

hanszen Offline



Beiträge: 8

07.10.2013 14:19
#44 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat
Aber zulassen das Menschen in so gefährlicher Art wie das jetzt gemacht wird reisen ist nicht zynisch und menschenverachtend?


doch, auch. Das heißt aber nicht, dass das Ihrige mir nicht ebenfalls zynisch und menschenverachtend erscheint. In höherem Maße sogar.

Zitat
Was ist daran miß- oder unverständlich?


unverständlich ist Ihre Rede von "quasimilitärisch".

Zitat
SIE sind es der Menschen übers Meer in den Tod fahren lassen will - nicht ich.


Ich will jemanden "übers Meer in den Tod fahren lassen"? Ist mir neu, ich wollte eigentlich gerade nur schnell eine heiße Dusche nehmen.

Doeding Offline




Beiträge: 2.612

07.10.2013 14:23
#45 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Lieber Aldi On,

Zitat
SIE sind es der Menschen übers Meer in den Tod fahren lassen will - nicht ich.



darf ich darum bitten, sachlich zu bleiben und nicht zur Person zu diskutieren? Sie wissen doch: ein hohes und seltenes Gut im Internet, daß hier nicht ad personam diskutiert wird.

Herzliche GRüße,
Andreas Döding

AldiOn Offline




Beiträge: 983

07.10.2013 14:24
#46 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat von hanszen im Beitrag #44
ich wollte eigentlich gerade nur schnell eine heiße Dusche nehmen.

Nehmen Sie lieber eine kalte Dusche . Es ist immerhin schon nachmittag und das ist auch CO2-neutraler.

Martin Offline



Beiträge: 4.129

07.10.2013 14:45
#47 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat von AldiOn im Beitrag #42
Aber zulassen das Menschen in so gefährlicher Art wie das jetzt gemacht wird reisen ist nicht zynisch und menschenverachtend?


Bevor wir uns mit Menschenverachtung und Zynismus bewerfen möchte ich nur eine Merkwürdigkeit an den moralischen Ausflüssen von SZ bis zu Herrn Schulz im EU Parlament feststellen: Ich will mich ja nicht am Fall Libyen (von wo ja das nun gesunkene Boot gekommen sein soll) festbeissen. Aber die Bombardierung Libyens hatte eine weit höhere Anzahl 'Kollateralschäden' zur Folge, als es die aktuelle Flüchtlingsbewegung hat. Und die von Bomben Getroffenen hatten nicht mal selbst eine gefährliche Entscheidung gefällt, außer die, in dem Land ihrer Geburt zu leben zu wollen. Das hat die jetzt so betroffenen Schreiberlinge und Politiker merkwürdig kalt gelassen. Warum setzt die Selbstkasteiung und der Ruf nach Verantwortung so selektiv ein? Ich finde zumindest keinen einfach nachvollziehbaren Grund.

Gruß, Martin

hanszen Offline



Beiträge: 8

07.10.2013 14:52
#48 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat
Letzteres aber ist mMn nicht gut zu vereinen mit der angedeuteten Kohlbergpyramide, da „schuldmoralisch“ motiviertes verhalten eben nur so lange gezeigt wird, wie das Zwangssystem aufrecht erhalten werden kann, so wie bei jeder Form von Strafandrohung. Ein autonomes Moral/Pflichtkonzept, wie Sie es angedeutet haben, wird so nicht erworben.


die These ist wohl, dass der Weg zum Erwerb eines etwa kantischen Moralkonzepts eben auch über Stufen läuft, auf denen mit "Schuld" operiert wird. Und das sehe ich zunächst mal empirisch auch bestätigt: Wie bringen wir einem Kind oder Hund beispielsweise die Stuhlkontrolle bei? Doch nicht über den zwanglosen Zwang des besseren Arguments (da ja u.a. Sprache noch gar nicht verfügbar ist), sondern über Strafe, Schuld, Belohnung – oder etwas sanfter gesprochen: Lob und Tadel. Alles weitere folgt dann. Aber die Notwendigkeit, in der frühen Erziehung zunächst über Strafe und Belohnung, später über Schuld (die ich, wie gesagt, mal einfach als internalisierte (Selbst)Strafe fasse) zu operieren, dies führt natürlich zur "Installation" von gewissen Mechanismen in den Subjekten, die später nur allzu problematisch werden können (nicht: müssen!). Und ich würde zugestehen: Eigentlich sollte man diese Schuld-Mechanismen dann später besser irgendwie wieder loswerden. Dreht sich nicht vieles in der psychoanalytischen Therapie genau darum? Eigentlich erwachsene Leute kommen mit sich nicht klar, weil Sie irgendwelchen verdeckten imaginierten Erwartungen nicht entsprechen, weil sie sich ihren Eltern gegenüber schuldig fühlen usw. usf.
Insofern stimme ich Ihnen zwar einerseits zu, dass das Schuld-Konzept (ab einem gewissen Zeitpunkt) überflüssig werden sollte, d. h. überflüssig im "moralkognitiven Haushalt" eines erwachsenen und mündigen Individuums. Andererseits bleibt wieder die Frage: Könnte man mit gleichen Argumenten nicht gleich einige weitere "menschliche" Emotionen abschaffen? Was bleibt übrig? Würde ich selbst eigentlich noch so funktionieren, d.h. wäre ich noch ein und derselbe, wenn tatsächlich alle Schuld-Mechanismen, die in den Untiefen meiner Psyche wirken, restlos ausgetilgt wären? Ich würde eigentlich eher noch behaupten, dass auch bei Ihnen das nicht erreicht ist - wenn Sie diese psychoanalytische These erlauben, die natürlich nicht ad personam gemeint ist, sondern als eine allgemeine psychologische These über die menschliche Psyche.

Zitat
Ahem: wenn ich in meinem Eingangsbeispiel im von Ihnen skizzierten Sinne "schuldig" bin, wenn ich mich für "Brot für die Welt" nicht verschulde (müßte ich nicht sogar meine Existenz ruinieren; wo ist die Grenze?), wer ist dann eigentlich auf diesem Planeten ohne Schuld? Sind wir hier nicht wieder ganz in der Nähe von Erbsünde und alttestamentarischen Vorstellungen von der Vertreibung aus dem Paradies?


Einen Schuldvorwurf wollte ich nicht machen. Peter Singer, der ja genau diese Fallbeispiele durchdiskutiert, würde Sie wohl schuldig sprechen. Allerdings auch mit den einschlägigen ceteris paribus-Klauseln (Sie können sich selbst nicht in den Ruin treiben, Sie können nicht allen gleichzeitig helfen usw.).
Ich denke, dass das Beispiel ganz gut zeigt, dass man Ihnen zustimmen kann. Eine Position, zu der ich auch immer mehr tendiere: Die derzeitig kursierenden Moralbegriffe ("Schuld", "Verantwortung", "Pflicht") sind leider nicht mehr zeitgemäß. Sie stammen aus einer anderen Epoche, sind aber der Komplexität unserer Zeit nicht gewachsen. Die Frage ist nur: Heißt das, dass wir sie verwerfen sollen? Oder heißt das, dass wir sie weiterentwickeln müssen. Ich votiere für letzteres.

Llarian Offline



Beiträge: 7.126

07.10.2013 14:59
#49 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat von stefanolix im Beitrag #33
Die Kolonialherrschaft, die Sklaverei und die Stellvertreterkonflikte in der Zeit des Kalten Krieges haben aber dazu beigetragen, dass große Teile Afrikas heute auf diesem deprimierenden Stand sind.

Nun sind erstaunlicherweise gerade die Länder, die einer starken Koloionalherrschaft ausgesetzt waren (beispielsweise Südafrika) genau die, denen es noch am besten geht. Sklaverei ist auch nicht von den Europäern gebracht worden, Sklaverei hat es in diesen Ländern schon immer (teilweise bis in die heutige Zeit) gegeben und wurde allenfalls von den Europäern genutzt. Auch die Stellvertertreterkonflikte können so recht nicht herhalten, denn die Kriege in Afrika waren selten blockorintiert, ganz im Unterschied zu den Kriegen in Asien (Korea, Vietnam), denen es heute, so sie denn zur westlichen Seite zu rechnen sind, deutlich besser geht als Afrika.
Es gibt eine ganz simple Ursache für die Not in Afrika und das ist die moderne Medizin. Der Kontinent trägt für seine Wirtschaftskraft und Landwirtschaft viel zu viele Menschen. Nun war die Medizin ja gut gemeint, hatte aber verheerende Folgen. Nur ist es bei Medizin recht schwierig den europäischen Schuldkomplex zu bedienen.

Zitat
Für mich kommt nur eine Unterstützung ohne Anerkennung eines Rechtsanspruchs in Frage. Ich argumentiere mit einer gewissen ethisch-moralischen Pflicht und mit dem Nutzen, den ich für Europa auf lange Sicht sehe.


Das ist, gerade in Kombination mit Kolonialismus, nix weiter als das Wiederaufkochen der Erbsünde, ein ziemlich überholtes Konzept, wenn man mich fragt. Wie weit soll das gehen ? Wiedergutmachung für Kathargo ? Ist ne ernsthafte Frage.

stefanolix Offline



Beiträge: 1.959

07.10.2013 15:15
#50 RE: Das Bootsunglück vor Lampedusa Antworten

Zitat von Llarian im Beitrag #49

Zitat von Stefanolix
Für mich kommt nur eine Unterstützung ohne Anerkennung eines Rechtsanspruchs in Frage. Ich argumentiere mit einer gewissen ethisch-moralischen Pflicht und mit dem Nutzen, den ich für Europa auf lange Sicht sehe.

Das ist, gerade in Kombination mit Kolonialismus, nix weiter als das Wiederaufkochen der Erbsünde, ein ziemlich überholtes Konzept, wenn man mich fragt. Wie weit soll das gehen ? Wiedergutmachung für Kathargo ? Ist ne ernsthafte Frage.



Obwohl ich den Kolonialismus mit erwähnt habe, bin ich für eine Unterstützung ohne das Konzept der »Erbsünde«. Unter anderem deshalb schrieb ich auch: »Ohne Anerkennung eines Rechtsanspruchs«. Eine indirekte Wiedergutmachung kann damit natürlich verbunden sein.

Südafrika geht es unter anderem deshalb besser, weil dort die klimatischen Bedingungen insgesamt besser sind als in vielen anderen Teilen Afrikas und weil die Kolonialherren dort im Vergleich mit anderen maßvoller vorgegangen sind.

Ein Erbe der Kolonialzeit sind in anderen Teilen Afrikas auch willkürlich gezogene Grenzen und willkürliche Privilegierungen bestimmter Volksgruppen, was dann nach dem Abzug der Kolonialmächte zu Konflikten führte.

Ob das Sterben in Somalia und Äthiopien wirklich an den Segnungen der modernen Medizin liegt, möchte ich noch in Frage gestellt lassen. Offenbar gehört zur modernen Medizin auch die Fähigkeit, die eigene Reproduktion zu kontrollieren.

Ja, Sklaverei gab es schon seit Jahrhunderten. Und dem Vernehmen nach sind die Araber über die gesamte Zeit die schlimmsten Sklavenhändler gewesen. Aber zur Geschichte gehört auch die Sklaverei in den USA und in den Kolonien europäischer Staaten.

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