Ich finde es durchaus bemerkenswert, daß gerade die Grünen sich so sehr mit sexuellen Themen beschäftigen. Sei es in der Schule oder ausserhalb. Gerade die Partei die vor noch nicht allzu langer Zeit ein sehr zweifelhaftes Verhältnis zur Pädophilie hatte und bis heute, soweit ich informiert bin, noch nicht alles von damals geklärt ist.
Das sehe ich genauso. Auch Raysons weiter oben getätigte Bewertung der Gesellschaft als "oversexed" teile ich. Allerdings fühlt sich mein Hang zur Fairneß momentan bemüßigt, mal eine kleine Lanze für die "sexuelle Befreiung" der 70er Jahre zu brechen. Diese haben wir weder dem Bürgertum noch m. W. dem klassischen Liberalismus zu verdanken, sondern mehrheitlich der pol. Linken, die diese bürgerlichen Freiheiten (sic!) buchstäblich erkämpft hat. Damit meine ich nicht nur, daß Homosexualität heute keinen Straftatbestand mehr darstellt, sondern auch daß unverheiratete Mütter heute nicht mehr geächtet werden usw. Daß ein Film wie "Die Sünderin" in der Adenauer-Ära einen veritablen Skandal erzeugt hat, kommt mir heute geradezu absurd vor, und ich bin sehr froh, heute nicht unter solchen (damals in Gesetz gegossenen!) kollektiven Verklemmtheiten leiden zu müssen.
Zitat von Doedingdaß unverheiratete Mütter heute nicht mehr geächtet werden... diese haben wir weder dem Bürgertum noch m. W. dem klassischen Liberalismus zu verdanken, sondern mehrheitlich der pol. Linken, die diese bürgerlichen Freiheiten (sic!) buchstäblich erkämpft hat... heute nicht unter solchen (damals in Gesetz gegossenen!) kollektiven Verklemmtheiten leiden zu müssen.
War das wirklich so? Würde mich interessieren, wie andere Foristen, die in dieser Zeit aufwuchsen, das in Erinnerung haben. Sowas liest man ja oft und ich muß mich dann, selbst unter Abzug aller verklärenden Nostalgie, immer fragen, ob ich in den Sechzigern woanders aufgewachsen bin? War das kleine damals noch sehr katholisch geprägte Dorf, alles sehr bäuerlich-konservativ, ohne pol. Linke, irgendwo in einem anderen Land? Nicht, daß solche Verhältnisse einfach waren, aber ich habe von einer generellen Verklemmtheit nichts mitbekommen und daß unverheiratete Mütter allgemein geächtet waren, fiel mir auch nicht auf. Gott sei Dank, denn ein nicht unbeträchtlicher Teil meiner Verwandtschaft war davon betroffen. Aber vielleicht trifft hier Raysons Satz zu:
Zitat von RaysonKatholiken sind nicht besonders unmenschlich, sondern sie verbinden nur eine extrem anspruchsvolle Moral mit extrem praktischen Lösungen. Solange man sich an die Spielregeln hält und alles über die Kirche abwickelt
Zitat von grildrig im Beitrag #77War das wirklich so? Würde mich interessieren, wie andere Foristen, die in dieser Zeit aufwuchsen, das in Erinnerung haben. Sowas liest man ja oft und ich muß mich dann, selbst unter Abzug aller verklärenden Nostalgie, immer fragen, ob ich in den Sechzigern woanders aufgewachsen bin? War das kleine damals noch sehr katholisch geprägte Dorf, alles sehr bäuerlich-konservativ, ohne pol. Linke, irgendwo in einem anderen Land? Nicht, daß solche Verhältnisse einfach waren, aber ich habe von einer generellen Verklemmtheit nichts mitbekommen und daß unverheiratete Mütter allgemein geächtet waren, fiel mir auch nicht auf. Gott sei Dank, denn ein nicht unbeträchtlicher Teil meiner Verwandtschaft war davon betroffen. Aber vielleicht trifft hier Raysons Satz zu:
Zitat von RaysonKatholiken sind nicht besonders unmenschlich, sondern sie verbinden nur eine extrem anspruchsvolle Moral mit extrem praktischen Lösungen. Solange man sich an die Spielregeln hält und alles über die Kirche abwickelt
Ich denke, man kann die unterchiedlichsten Geschichten über diese Zeit erzählen, ich denke aber nicht, dass sich die Menschen allzu verklemmt vorkamen. Sexualität war einfach privater, was ich mir heute eher zurückwünschen würde.
Beispiel: Der öffentliche Abschieds- oder Begrüßungskuss zwischen Ehepaaren war normal, extensives Knutschen aber verpönt. Nur: Der Usus wird in der Regel gar nicht so störend empfunden, wie das im Rückblick ohne Einblick manchmal vermutet wird. Außerdem hatte ein bisschen Heimlichtuerei durchaus einen Reiz, den es heute vielleicht nicht mehr gibt.
Entscheidend bei der sexuellen 'Befreiung' sehe ich aber nach wie vor weniger den Beitrag der Linken, sondern den Beitrag der Pharmaindustrie mit der Verbreitung der Pille.
Gruß, Martin
Noch ein kleiner Nachtrag: Der Beitrag von rechten und linken totalitären Regierungen mag eher der sein, dass man den so 'geknechteten' Menschen ein Ventil bei der sexuellen Freizügigkeit bietet.
War das wirklich so? Würde mich interessieren, wie andere Foristen, die in dieser Zeit aufwuchsen, das in Erinnerung haben. Sowas liest man ja oft und ich muß mich dann, selbst unter Abzug aller verklärenden Nostalgie, immer fragen, ob ich in den Sechzigern woanders aufgewachsen bin? War das kleine damals noch sehr katholisch geprägte Dorf, alles sehr bäuerlich-konservativ, ohne pol. Linke, irgendwo in einem anderen Land?
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Meine Großeltern haben ein Jahr nach der Geburt der ältesten Tochter geheiratet. Auf dem Land in Oberbayern. Vor dem II. Weltkrieg.
Wenn man Literatur aus der Zeit zwischen den Kriegen liest hat man auch nicht den Eindruck, daß es in Berlin oder anderen Großstädten allzu prüde zuging. Es helfen auch "Heimatdichter" wie Ludwig Thoma oder oskar Maria Graf. Beide haben einige Geschichten mit Alltagsbegebenheiten geschrieben. Vielleicht war die Adenauerzeit verklemmt. Das war davor aber nicht immer der Fall.
Oberbayern war natürlich auch streng katholisch, sprich die Menschen konnten beichten gehen.
Zitat von Martin im Beitrag #78Entscheidend bei der sexuellen 'Befreiung' sehe ich aber nach wie vor weniger den Beitrag der Linken, sondern den Beitrag der Pharmaindustrie mit der Verbreitung der Pille.
Dieser Beitrag sollte nicht unterschätzt werden. Die Linken und die 68er schreiben sich das gerne zu, aber der tatsächliche "Vater der sexuellen Befreiung" ist Carl Djerassi, ein Mann, ein Forscher, vor dem ich sehr großen Respekt habe. Auch wegen seiner streitbaren Thesen zur Fortpflanzung der Zukunft.
Zitat von Martin im Beitrag #78Entscheidend bei der sexuellen 'Befreiung' sehe ich aber nach wie vor weniger den Beitrag der Linken, sondern den Beitrag der Pharmaindustrie mit der Verbreitung der Pille.
Dieser Beitrag sollte nicht unterschätzt werden. Die Linken und die 68er schreiben sich das gerne zu, aber der tatsächliche "Vater der sexuellen Befreiung" ist Carl Djerassi, ein Mann, ein Forscher, vor dem ich sehr großen Respekt habe. Auch wegen seiner streitbaren Thesen zur Fortpflanzung der Zukunft.
Natürlich. Es liegt mir auch fern, die Generation der unmittelbaren Nachkriegszeit in ihrem Privatleben als prüde bezeichnet zu wollen. Lediglich das politische Umfeld scheint mir so gewesen zu sein. Aber ich glaube auch, dass man den Beitrag der Pille nicht ohne das dazugehörige politische Umfeld seinerzeit bewerten kann. Die sexuelle Emanzipation insbesondere der Frau, kann mMn nicht ohne die politische Emanzipation, die in großen Teilen auf den Feminismus jener Tage zurückgeht, gesehen werden. Und dieser politische Feminismus war nicht zuletzt, oft auch auch in Personalunion, eine linke Bewegung (Extrembeispiel: Ulrike Meinhof)*. Da ich heute anscheinend meinen leftie revival day habe, darf ich an dieser Stelle auch noch mal auf Zeit online verlinken
Dass die hier geschilderten gesetzlichen Rahmenbedingungen heute nicht mehr gelten, kann ich beim besten Willen nicht als Verlust begreifen. Und wie gesagt, ich wüsste nicht, wie diese Veränderungen und Liberalisierungen ursächlich dem Bürgertum zuzuschreiben seien.
* Nachtrag. Vermutlich ist Meinhof kein gutes Beispiel. Sie wurde zwar von der Schwarzer-Generation im Nachhinein vereinnahmt, aber bekennende Feministin war sie wohl nicht.
Zitat von Martin im Beitrag #78Entscheidend bei der sexuellen 'Befreiung' sehe ich aber nach wie vor weniger den Beitrag der Linken, sondern den Beitrag der Pharmaindustrie mit der Verbreitung der Pille.
Dieser Beitrag sollte nicht unterschätzt werden. Die Linken und die 68er schreiben sich das gerne zu, aber der tatsächliche "Vater der sexuellen Befreiung" ist Carl Djerassi, ein Mann, ein Forscher, vor dem ich sehr großen Respekt habe. Auch wegen seiner streitbaren Thesen zur Fortpflanzung der Zukunft.
Vielleicht sollte man bei dieser Gelegenheit auf Mariam Laus Bilanz "Die neuen Sexfronten. Vom Schicksal einr Revolution" (2000) hinweisen. Das ist nun keine nüchterne Aufwägung, sondern eine Streitschrift, aber ihr Resümee, "dass 68 nur Prüderie, sexuellen Missbrauch und sonst wenig Gutes über die Menschheit gebracht hätte" (Barbara Sichtermann damals in der "Zeit"), dürfte weitgehend zutreffen. Bei der "sexuellen Befreiung" dürften sich die Verdienste der APO samt Schwester_Innenfraktion gegenüber Beate Uhse & Hugh Hefner auf ~ 1:100 belaufen (Oswald Kolle war auch damals schon zum Fortlaufen. Eilig Fortlaufen.). Das Aufbrechen der legalen Verkrustungen kam ja nicht daher, daß ein paar "militante Panthertanten" ihren BH verbrannten, sondern weil der Wandel längst in der Mitte angekommen war, wo eben die politischen Entscheidungsträger saßen. Lau weist auch auf die gern kommunikativ beschwiegenen Fakten hin, daß die 68er ausgeprochen patriarchalische Usancen pflegten (von was sollten die Roten Eminenzen nochmal befreit werden?) & feministische Grundanliegen "in der Bewegung" erst zum Thema wurden, nachdem das unmittelbare Politprojekt der Roten Revolte ein Rohrkrepierer war & der Lange Marsch durch die Institutionen auf dem Programm stand. Das läßt sich punktgenau festmachen: 1969 wurde das erstmals thematisiert. Die vorhergehenden Flapsigkeiten wie "Wer 2x mit der Gleichen pennt" & Kunzelmanns Orgasmusschwierigkeiten gehörten ja in den Bereich Kabarett. 1969 war dann auf einmal Wilhelm Reichs "Die Funktion des Orgasmus" politische Programmschrift. Lau weist auch darauf hin, daß die linken Gallionsfiguren hier eben Reich, Foucault & Günter Amendt ("Sexfront!") waren*, bei denen die Angelegenheit explizit eine politisch-agitatorische: Klassenkampf im Bett, war, mit sofortigen Ausläufern hin zur Pädosexualität. Wenn mehr Leser ihre recht detaillierte Dokumentation in Sachen Kinderladen & Cohn-Bendit gelesen hätten, wäre der Rote Dany schon 2000 in der verdienten Inneren Emigration gelandet.
* Simone de Beauvoir wurde dann als Reaktion von der Schwesternschaft auf den Schild gehoben; "Das andere Geschlecht" taucht, zumindest in der deutschen Diskussion, nicht vor 1974 auf. Von "Schwulenbewegung" war da noch lang keine Rede; für das 68er-Urgestein (so ab 65/66 mit den ersten Protesten gegen den Vietnamkrieg, Notstandsgesetze, Maofans) zählten die nur insoweit zur revolutionären Hoffnung, weil sie "Ausgegrenzte" & "von der Gesellschaft Verstoßene" waren - wie jugendliche Straftäter, Freiheitskämpfer, "Irre", "Perverse", oder Studenten: eben die, bei denen Herbert Marcuse noch revolutionäres Potential verortet hatte, nachdem das Proletariat durch Kühlschrank & Kleinwagen hoffnungslos korrumpiert war. Deswegen ging es bei den ersten 68er-Demos 1966 nicht nur gegen Vietnam, sondern auch gegen "Jugendknäste"; in der Fokussierung von Foucaults "Verbrechen und Strafen" zeigt sich das, ebenso in R.D.Laings "Antipsychiatrie" oder Ken Keseys Kuckucksnest, die nicht zufällig genau zu der Zeit zündeten.
Dass die hier geschilderten gesetzlichen Rahmenbedingungen heute nicht mehr gelten, kann ich beim besten Willen nicht als Verlust begreifen. Und wie gesagt, ich wüsste nicht, wie diese Veränderungen und Liberalisierungen ursächlich dem Bürgertum zuzuschreiben seien.
Dieser Zeit-Artikel ist ein rechter Rundumschlag. (Auf Kinsey sollte man sich vielleicht auch nicht zu oft berufen. Wie man inzwischen weiß, war der Mann keineswegs redlich.) Es mag sein, daß die rechtlichen Rahmenbedingungen noch so waren, wie in dem Artikel beschrieben, aber das war in Aufweichung begriffen (lange vor den 68ern), so war z. B. meine Mutter (zum Unmut meines Vaters) selbständig berufstätig wie andere Frauen auch, es gab Ärztinnen und Lehrerinnen in unserer Stadt (auch mit Familie). Ich kann mich nicht erinnern, daß diese berufstätigen Frauen nicht respektiert oder als weniger kompetent als Männer angesehen worden wären. Was tatsächlich ein Makel war, waren uneheliche Kinder, und hier scheint es wohl wirklich einen Unterschied zwischen protestantischen und katholischen Gegenden gegeben zu haben. Ich habe auch in Erinnerung, daß die 68er ihren Anteil an freierer Sexualiät haben, was man damals als erfreulich empfand, nur scheint heute das Pendel in die andere Richtung zu schlagen, nämlich geradezu eine Fixierung auf das Sexuelle. Vielleicht war damals auch einfach die Zeit reif. Daß damals viele Frauen nicht berufstätig waren, lag wohl auch daran, daß viele ihre Aufgabe darin sahen, sich um ihre Kinder zu kümmern. Es gab keine Ganztagsschulen, keine Kantinen für Schüler, und so war es selbstverständlich, daß sich die Familie darum kümmerte, daß die Kinder ordentlich zu essen bekamen. Kinder, die nicht richtig versorgt wurden, weil die Mutter (möglicherweise alleinstehend) wegen bitterer Not arbeiten mußte, wurden als "Schlüsselkinder" bedauert. (Im übrigen hat der Staat damals den Familien nicht so viel abgeknöpft, so daß ein Einkommen oft ausreichte.) Ganz klar, daß diese Mütter der ZEIT ein Dorn im Auge sind. Natürlich sollen Frauen Karriere machen, wenn sie es denn wollen, und nicht weil die ZEIT oder die gute Alice, alternativ Bascha Mika es so will. Im Hinblick auf die Zeit vorher unterliegt die ZEIT aber einem Irrtum: Ich weiß aus der nächsten Verwandtschaft von einer Frau mit akademischer Bildung, die zur Zeit Hitlerdeutschlands ihren Beruf NICHT ausüben konnte, weil der Ehemann sonst seinen Posten als Beamter verloren hätte.
Zitat von Noricus im Beitrag #55Liebe Nola, die Praxis, auf die sie anspielen, wird auch von manchen Heterosexuellen geübt und fand in dieser Variante sogar Eingang in die hohe deutsche Tonkunst (Text und Melodie: Sido; der Titel ist hier nicht zitierfähig).
Da muß man nicht so tief steigen. Es handelt sich um eine der Dauerobsessionen im gesamten Œuvre von Norman Mailer, vornehmlich An American Dream (1975) und Ancient Evenings (1982).
Vielen Dank, lieber Ulrich Elkmann. Angesichts meiner literarischen Halbbildung war mir dies nicht bekannt.
Zitat von Martin im Beitrag #78Entscheidend bei der sexuellen 'Befreiung' sehe ich aber nach wie vor weniger den Beitrag der Linken, sondern den Beitrag der Pharmaindustrie mit der Verbreitung der Pille.
Dieser Beitrag sollte nicht unterschätzt werden. Die Linken und die 68er schreiben sich das gerne zu, aber der tatsächliche "Vater der sexuellen Befreiung" ist Carl Djerassi, ein Mann, ein Forscher, vor dem ich sehr großen Respekt habe. Auch wegen seiner streitbaren Thesen zur Fortpflanzung der Zukunft.
Vielleicht sollte man bei dieser Gelegenheit auf Mariam Laus Bilanz "Die neuen Sexfronten. Vom Schicksal einr Revolution" (2000) hinweisen. Das ist nun keine nüchterne Aufwägung, sondern eine Streitschrift, aber ihr Resümee, "dass 68 nur Prüderie, sexuellen Missbrauch und sonst wenig Gutes über die Menschheit gebracht hätte" (Barbara Sichtermann damals in der "Zeit"), dürfte weitgehend zutreffen.
Unbedingt! Und vielen Dank, lieber Ulrich Elkmann.
Zitat von Doeding im Beitrag #81Dass die hier geschilderten gesetzlichen Rahmenbedingungen heute nicht mehr gelten, kann ich beim besten Willen nicht als Verlust begreifen.
Ich auch nicht, lieber Andreas. Und meines Erachtens wäre es grundfalsch, aus Reaktanz gegen alles Linke oder als links Empfundene eine Rückkehr zu diesem Status quo ante herbeizusehnen.
Allerdings teile auch ich Raysons Diagnose der oversexedness unserer Gesellschaft. Während die Enttabuisierung der Sexualität und die Beseitigung der doppelmoralischen Prüderie zweifellos ein Segen waren, hat heutzutage die Thematisierung des Sexuellen schon fast wieder etwas Obsessives. Oder anders gesagt: Der verbale und mediale Exhibitionismus scheint mir so eine Art sozialer Code zu sein, mit dem man zeigen kann, dass man nicht zu den Spießern und den Verklemmten gehört. Man muss Sex einfach ganz toll und megawichtig finden, womit wir wieder beim Zwang zur Akzeptanz wären.
Die Fetischisierung des Redens über Sexualität zeigt, wie unentspannt die Gesellschaft mit diesem Thema (noch) umgeht. Könnte man das laienhaft als eine kollektive Neurose bezeichnen?
Zitat Vielleicht sollte man bei dieser Gelegenheit auf Mariam Laus Bilanz "Die neuen Sexfronten. Vom Schicksal einr Revolution" (2000) hinweisen. Das ist nun keine nüchterne Aufwägung, sondern eine Streitschrift, aber ihr Resümee, "dass 68 nur Prüderie, sexuellen Missbrauch und sonst wenig Gutes über die Menschheit gebracht hätte" (Barbara Sichtermann damals in der "Zeit"), dürfte weitgehend zutreffen. ...bei denen die Angelegenheit explizit eine politisch-agitatorische: Klassenkampf im Bett, war, mit sofortigen Ausläufern hin zur Pädosexualität. Wenn mehr Leser ihre recht detaillierte Dokumentation in Sachen Kinderladen & Cohn-Bendit gelesen hätten, wäre der Rote Dany schon 2000 in der verdienten Inneren Emigration gelandet.
* Simone de Beauvoir wurde dann als Reaktion von der Schwesternschaft auf den Schild gehoben; "Das andere Geschlecht" taucht, zumindest in der deutschen Diskussion, nicht vor 1974 auf. Von "Schwulenbewegung" war da noch lang keine Rede; für das 68er-Urgestein (so ab 65/66 mit den ersten Protesten gegen den Vietnamkrieg, Notstandsgesetze, Maofans) zählten die nur insoweit zur revolutionären Hoffnung, weil sie "Ausgegrenzte" & "von der Gesellschaft Verstoßene" waren - wie jugendliche Straftäter, Freiheitskämpfer, "Irre", "Perverse", oder Studenten: eben die, bei denen Herbert Marcuse noch revolutionäres Potential verortet hatte, nachdem das Proletariat durch Kühlschrank & Kleinwagen hoffnungslos korrumpiert war.
Dieser Beitrag erschien parallel zu meinem (weswegen ich ihn vorher nicht lesen konnte) und beleuchtet noch andere Aspekte. Dem ist in weiten Teilen zuzustimmen. Und wenn man in die GEW-Broschüre hineinschaut, geben die entsprechenden Kräfte keine Ruhe, die Gesellschaft in ihrem Sinne umzuformen.
Zitat von Doeding im Beitrag #81Da ich heute anscheinend meinen leftie revival day habe, darf ich an dieser Stelle auch noch mal auf Zeit online verlinken
Dass die hier geschilderten gesetzlichen Rahmenbedingungen heute nicht mehr gelten, kann ich beim besten Willen nicht als Verlust begreifen. Und wie gesagt, ich wüsste nicht, wie diese Veränderungen und Liberalisierungen ursächlich dem Bürgertum zuzuschreiben seien.
Vielen Dank für den Link auf den Zeit-Artikel. Selten findet man so viel Unsinn auf so wenig Zeilen komprimiert.
Beispiel: Kern des Streits ist die Frage, ob die staatsbürgerliche Gleichheit von Männern und Frauen, die schon 1919 die Weimarer Verfassung gewährt hat, auf alle gesellschaftlichen Bereiche ausgedehnt werden, also auch Familie und Erwerbsleben einschließen soll. [...] Zwar war die patriarchalische Ordnung mit dem Gleichheitsgrundsatz der Verfassung unvereinbar, dennoch dauerte es Jahre, bis das Ehe- und Familienrecht revidiert wurde.
Kommentar (1.Absatz): Eine Verletzung des Gleichheitssatzes liegt vor, »wenn die öffentliche Gewalt miteinander vergleichbare Fälle nach unterschiedlichen Grundsätzen behandelt.«
(2.Absatz)Ich kann mir nicht vorstellen, dass z.B. das BGB innert Monaten an die neuen Gegebenheiten anzupassen gewesen wäre.
Beispiel: [...] die Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern blieb bestehen [...]. Anfang der sechziger Jahre lag das Durchschnittseinkommen einer Frau bei 280 Mark, ein Mann bekam für die gleiche Arbeit 550 Mark.
Kommentar: Das halte ich für einen Satz bar jeglichen Sinnes.
usw. usw. Wenn Sie den Artikel nochmals etwas kritischer durchlesen wollen ...
Um Missverständnisse zu vermeiden: Mir ist klar, dass die Gesetzgebung bis weit in die 60er (und an einigen Stellen darüber hinaus) an vielen Stellen nicht mit mit dem GG vereinbar war und teilweise heute noch ist.
-- Political language – and with variations this is true of all political parties, from Conservatives to Anarchists – is designed to make lies sound truthful and murder respectable, and to give an appearance of solidity to pure wind – Eric A. Blair
Zitat von Doeding im Beitrag #81Dass die hier geschilderten gesetzlichen Rahmenbedingungen heute nicht mehr gelten, kann ich beim besten Willen nicht als Verlust begreifen. Und wie gesagt, ich wüsste nicht, wie diese Veränderungen und Liberalisierungen ursächlich dem Bürgertum zuzuschreiben seien.
Herzliche Grüße, Andreas
Lieber Andreas Döding,
gesetzliche Rahmenbedingungen sind für das reale Leben nur dann von Bedeutung, wenn sie von den potentiell Betroffenen wahrgenommen werden. Ich behaupte mal, dass die geschilderten Rahmenbedingungen damals auf das reale Leben praktisch keinen Einfluss hatten. Dass Frauen in einer Ehe die Hose anhatten gab es schon damals, berufstätig waren sie auch, und es wäre in diesem Zusammenhang eher interessant, wie oft Gerichte zu diesen Fragen bemüht worden sind.
Dass man es nicht als Verlust begreifen will, dass beispielsweise Entscheidungen zu Scheidungen nun vereinfacht worden sind, darüber kann man streiten. Ich sehe bei aller künstlichen Romantisierung keinen Vorteil in der Vielzahl Alleinerziehender und sogenannter Patchwork-Familien. Ich will nicht ganz an die Unvermeidlichkeit des Abgleitens zwischenmenschlicher und ehelicher Beziehungen glauben, ich unterstelle bei den meisten Trennungen egoistische Selbstverwirklichung, ob beruflich, sexistisch oder der gesellschaftlichen Stellung wegen. Ehe ist aber nun mal ein Vertrag. Die Vertragsbedingungen waren auch schon in den fünfziger Jahren bekannt.
Im Grunde würde ich eher fragen, ob sich der Staat in solche vertraglichen Verhältnisse einmischen sollte. Vielleicht wäre es besser, er würde nur einen formalen Vertrag einfordern, die Gestaltung aber weitgehend offen lassen. Ich würde den Hebel nur dort ansetzen, wo Ehen Förderung erfahren, die kann der Staat dann auch mit Verpflichtungen koppeln.
OT: In der FAZ erschien am 21.06.2000 folgender Leserbrief: "Stille Post"
Zitat Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.06.2000, Nr. 142, S. 9 ______________________ Zum Artikel von Ulrich Raulff "Das Geschlecht schlägt zurück" über die Ausstellung des Louvre "Sexuelle Strategien im Abendland" (F.A.Z. vom 30. Mai): Angesichts des Mottos dieser Ausstellung "posséder - détruire", das heißt "besitzen - zerstören", bemüht der Verfasser die Assoziation eines anderen Verbpaares, nämlich des "surveiller - punir" bei Michel Foucault, was bei ihm "übernachten - schlafen" heißt. Na, er wird Foucault weder auf Französisch noch auf Deutsch gelesen haben, denn selbst in deutscher Übersetzung kann ihm ein so blödsinniges Wortpaar wie "übernachten - schlafen" nie untergekommen sein. Wahrscheinlich hat er den Bezug zu Foucault bei einem Freund aufgeschnappt, vor dem er sich keine Blöße geben will, sie dann geistreich verwurstet, dann beim hastigen Schreiben jemanden, der des Französischen mächtig ist, angerufen und sich die Übersetzung telefonisch durchgeben lassen. Und so kam durch die "Stille Post" des Telefons bei ihm dann an: "übernachten - schlafen" statt "überwachen - strafen".
Ilse Gährs, Hamburg ______________________
Der Artikel, auf den sich das bezog, erschien am 30.05.2000 in der FAZ unter der Überschrift "Das Geschlecht schlägt zurück - Übernachten, schlafen, nur nichts lernen: Der Louvre zeigt "Sexuelle Strategien im Abendland"".
Zitat von Martin im Beitrag #89Dass man es nicht als Verlust begreifen will, dass beispielsweise Entscheidungen zu Scheidungen nun vereinfacht worden sind, darüber kann man streiten. Ich sehe bei aller künstlichen Romantisierung keinen Vorteil in der Vielzahl Alleinerziehender und sogenannter Patchwork-Familien. Ich will nicht ganz an die Unvermeidlichkeit des Abgleitens zwischenmenschlicher und ehelicher Beziehungen glauben, ich unterstelle bei den meisten Trennungen egoistische Selbstverwirklichung, ob beruflich, sexistisch oder der gesellschaftlichen Stellung wegen. Ehe ist aber nun mal ein Vertrag. Die Vertragsbedingungen waren auch schon in den fünfziger Jahren bekannt.
Danke für diesen Beitrag.
Er deutet an, was ich für einen wesentlichen Umstand halte: Dass man das eigene Selbstverständnis nur sehr schwer in Frage stellen kann und damit immer wieder zu (objektiv gesehen) Fehlurteilen kommen muß.
Das heutige Selbstverständnis zu Partnerschaft, Lebensgemeinschaft, Ehe, Verhältnis der Geschlechter ist wie es ist. Wir finden es Großteils gut, denke ich.
Scheidungskinder (ich kenne einige), vernachlässigte Kinder (wg.berufsbedingtem Zeitmangel), Identitätsprobleme, weil Toleranz keine Identität mehr zulässt, finde ich weniger gut.
Wie sich die Dinge über den Wandel der Zeiten und Sitten gegenseitig bedingen, wird mitunter eine kontroverse Fragestellung sein. Ich bin mittlerweile der Überzeugung abwertend von „Ewiggestrigen“ zu sprechen ist genauso verfehlt, wie abwertend von „Zeitgeistgläubigen“. Die Gesellschaft „kauft neue Dinge zu einem Preis“ und in allen Menschen steckt ein mehr oder minder starker Drang zum Erhalt des Status Quo. Daher sehen wir die neue Ware grundsätzlich gerne als wertvoller an, als den bezahlten Preis. Was immer der Grund für den Handel gewesen sein mag – und da mag es viele geben.
Ein Beispiel aus meinem eigenen, allernächsten Umfeld, wohnhaft in einer großen deutschen Stadt: Ich will nicht sagen, dass man gesellschaftliche Ächtung erfährt, wenn man sein Kind mit einem Jahr nicht in eine Krippe gibt, aber komisch angeschaut wird man schon von anderen Müttern wenn nicht. Ich kenne mindestens eine Mutter die die Situation stark belastet. Der Widerspruch zwischen, „unabhängiger, berufstätiger Mutter“, der Normalität dieses Rollenbilds und Ihrem Wunsch zuhause zu bleiben bei Ihrem Kind. Einfach exklusiv für es da zu sein. Das schönste der Welt. Wo genau liegt nun der Unterscheid zwischen diesem Zustand und dem Zustand wie er, mit umgekehrten Vorzeichen, vielleicht in den 50er Jahren öfters vorkam? – Für mich gibt es keinen.
Respekt ist der zentrale Punkt. Respekt vor dem Lebenspartner. Respekt vor seinen Bedürfnissen, seiner Persönlichkeit, seinen Wünschen und die daraus erfolgende gemeinsame Lebensgestaltung. In erster Linie ist das einmal völlig unabhängig von der Emanzipationsbewegung der 60er und 70er Jahre.
Es gab damals Menschen, die keinen Respekt vor ihren Lebenspartnern hatten, wie es heute solche Menschen gibt. Damals wie heute führte das zu Situationen, die über bestimmte Abhängigkeiten, zu unschönen Situationen bei Beteiligten führten. In meinen Augen haben sich eher die Leidtragenden geändert, als dass die Situation grundsätzlich eine bessere geworden wäre. Damals waren es vor allem die Frauen, denen man Entfaltungsmöglichkeiten nahm. Heute sind es eher Kinder denen die Familie abhanden kommt, Frauen die ein anderes Rollenbild für sich sehen als das vom Zeitgeist propagierte und Männer, die sich überfordert fühlen mit Erwartungen, die nicht zu vereinen sind.
Die Erziehung zu Respekt und Achtung ist tausendmal wichtiger als politische und zeitgeistige Vorgaben wie das Zusammenleben aussehen sollte, wenn man den Zustand eines freien und auskömmlichen Miteinanders herstellen will.
Die Erziehung zu Respekt und Achtung ist nach meiner Erfahrung ein Stiefkind unserer Zeit. Wie es vor meiner Zeit war, weiß ich nicht.
"Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit." - Montesquieu
Zitat von Uwe Richardusw. usw. Wenn Sie den Artikel nochmals etwas kritischer durchlesen wollen ...
Lieber Uwe Richard, ich glaube nicht daß das nötig ist, denn ich hatte keinesfalls vor, mir diesen Artikel, den ich vermutlich auch im Blindversuch als Zeit-Artikel erkannt hätte, zu eigen zu machen. Ihre Liste ließe sich fast beliebig fortsetzen.
Zitat Mir ist klar, dass die Gesetzgebung bis weit in die 60er (und an einigen Stellen darüber hinaus) an vielen Stellen nicht mit mit dem GG vereinbar war und teilweise heute noch ist.
Darum ging es mir, und der Artikel hebt ja nicht zuletzt, wenn man das ganze Zeit-Sprech einmal für den Moment diskontiert, darauf ab.
Zitat von Doeding im Beitrag #81Dass die hier geschilderten gesetzlichen Rahmenbedingungen heute nicht mehr gelten, kann ich beim besten Willen nicht als Verlust begreifen. Und wie gesagt, ich wüsste nicht, wie diese Veränderungen und Liberalisierungen ursächlich dem Bürgertum zuzuschreiben seien.
Herzliche Grüße, Andreas
gesetzliche Rahmenbedingungen sind für das reale Leben nur dann von Bedeutung, wenn sie von den potentiell Betroffenen wahrgenommen werden. Ich behaupte mal, dass die geschilderten Rahmenbedingungen damals auf das reale Leben praktisch keinen Einfluss hatten. Dass Frauen in einer Ehe die Hose anhatten gab es schon damals, berufstätig waren sie auch, und es wäre in diesem Zusammenhang eher interessant, wie oft Gerichte zu diesen Fragen bemüht worden sind.
Lieber Martin,
das kann ich naturgemäß nicht anhand eigener Erfahrungen verifizieren (bin Bj. 70). Aber hier im ausgesprochen ländlichen Sauerland gehen schon noch immer Geschichten rum von Suizidenten, denen die Beerdigung verweigert wurden und "Reste" z. B. der Überzeugung, eine Ehe sei, zumindest moralisch, eher durch die Frau aufrecht zu erhalten, egal wie der Mann sich daneben benimmt, bis hin zur Idee einer "schuldhaften" Trennung, erlebe ich noch immer, wenn ich den (übrigens keineswegs nur lebensälteren) Menschen zuhöre. Das ist natürlich nur ein subjektiver Eindruck.
Zitat von Doeding im Beitrag #93..das kann ich naturgemäß nicht anhand eigener Erfahrungen verifizieren (bin Bj. 70). Aber hier im ausgesprochen ländlichen Sauerland gehen schon noch immer Geschichten rum von Suizidenten, denen die Beerdigung verweigert wurden und "Reste" z. B. der Überzeugung, eine Ehe sei, zumindest moralisch, eher durch die Frau aufrecht zu erhalten, egal wie der Mann sich daneben benimmt, bis hin zur Idee einer "schuldhaften" Trennung, erlebe ich noch immer, wenn ich den (übrigens keineswegs nur lebensälteren) Menschen zuhöre. Das ist natürlich nur ein subjektiver Eindruck.
Herzliche Grüße, Andreas
Lieber Andreas,
na ja, wir liegen nicht nur ca. 20 Jahre auseinander, sondern sind auch in verschiedenen Gegenden aufgewachsen. Meine Eltern waren eine der ersten Stadtflüchtigen, so dass ich das Landleben einer katholischen Exklave im Südwesten erleben durfte. Über verweigerte Beerdigungen habe ich nichts gehört, und über allerlei Ehen und Fehltritte wusste man im Dorf Bescheid sozusagen der Vorgänger von facebook.Aber niemand hatte die Illusion, dass die Alternativen sooo rosig sind, man hat sich arrangiert und gestritten wie in anderen Lebenssituationen auch. Es gab auch Suizide (ich glaube, Erhängen im Weinberghäuschen gab es zwei mal), allerdings nicht unbedingt auf Beziehungsprobleme zurückzuführen. Nur, gibt es heute weniger Suizide (oder Tötungen), vor allem solche, die aus Lebenssituationen resultieren, die beispielsweise mit der höheren Scheidungs- oder Trennungsrate zu tun haben? Oder, wo sich Trennung anbahnt? Ich würde den Grad der Lebensqualität nicht daran festmachen wollen.
Bei den verschiedenen Vorstellungen von Ehe und Familie über die Zeiten, da habe ich immer das Gefühl, man vergisst die Kinder. Möglicherweise bin ich besonders sensibel für das Thema da meine Eltern sich Anfang der 70er scheiden ließen. Es hat halt was gefehlt im Nachhinein betrachtet. Und wirkt sich sicher bis heute aus.
Interessant finde ich, daß es Leute gibt, und sicher nicht wenige, die von der Herdenhaltung bei Bio- Rindern( welch blöder Ausdruck) begeistert sind, weil da nämlich die Kälbchen so lang bei der Mama Kuh bleiben, und gleichzeitig es ganz toll finden, daß Frau Dr. ihr Kind schon nach 6 Monaten in die Krippe gibt, der Beruf ist ja doch so wichtig.
Zitat von Doeding im Beitrag #93..das kann ich naturgemäß nicht anhand eigener Erfahrungen verifizieren (bin Bj. 70). Aber hier im ausgesprochen ländlichen Sauerland gehen schon noch immer Geschichten rum von Suizidenten, denen die Beerdigung verweigert wurden und "Reste" z. B. der Überzeugung, eine Ehe sei, zumindest moralisch, eher durch die Frau aufrecht zu erhalten, egal wie der Mann sich daneben benimmt, bis hin zur Idee einer "schuldhaften" Trennung, erlebe ich noch immer, wenn ich den (übrigens keineswegs nur lebensälteren) Menschen zuhöre. Das ist natürlich nur ein subjektiver Eindruck.
Herzliche Grüße, Andreas
na ja, wir liegen nicht nur ca. 20 Jahre auseinander, sondern sind auch in verschiedenen Gegenden aufgewachsen. Meine Eltern waren eine der ersten Stadtflüchtigen, so dass ich das Landleben einer katholischen Exklave im Südwesten erleben durfte. Über verweigerte Beerdigungen habe ich nichts gehört, und über allerlei Ehen und Fehltritte wusste man im Dorf Bescheid sozusagen der Vorgänger von facebook.Aber niemand hatte die Illusion, dass die Alternativen sooo rosig sind, man hat sich arrangiert und gestritten wie in anderen Lebenssituationen auch. Es gab auch Suizide (ich glaube, Erhängen im Weinberghäuschen gab es zwei mal), allerdings nicht unbedingt auf Beziehungsprobleme zurückzuführen. Nur, gibt es heute weniger Suizide (oder Tötungen), vor allem solche, die aus Lebenssituationen resultieren, die beispielsweise mit der höheren Scheidungs- oder Trennungsrate zu tun haben? Oder, wo sich Trennung anbahnt? Ich würde den Grad der Lebensqualität nicht daran festmachen wollen.
Gruß, Martin
Lieber Martin,
das ist jetzt etwas OT; ich hoffe, das stört weder Sie noch Noricus. Da wir gerade bei Suizid sind. Vor wenigen Tagen wurde ein bemerkenswerter Befund veröffentlicht, nämlich daß seit 1990 die Zahl der Suizide um fast ein Drittel zurückgegangen sind. Daß sich die Raten in Ost und West dabei angeglichen haben, scheint mir dabei noch am ehesten trivial zu sein. Dieses Ergebnis ist nicht nur sehr erfreulich, sondern v. a. erklärungsbedürftig. Dazu muß man wissen, daß Suizide zu weit über 90% im Rahmen einer diagnostizierten psychiatrischen Erkrankung erfolgen, v. a. Depression, Sucht und Schizophrenie. Die ätiologische Forschung hat hervorgebracht, daß Umwelteinflüsse bei allen drei Krankheiten eine bedeutsame Rolle (am wenigsten bei der Schizophrenie) neben erblichen Einflüssen spielen. Da sich die erblichen Anteile kaum geändert haben dürften (und sich die absoluten Zahlen wegen der Zuwanderung auch nicht auf demographische Faktoren reduzieren lassen), mag dieser Befund darauf zurückzuführen sein, daß sich die Lebensverhältnisse der Menschen zum Vorteil verändert haben, d. h. daß sie unter weniger "krankmachenden" Umständen leben.
Hieraus folgt aus meiner Sicht ein nicht geringes Legitimationsdefizit von 1.) meiner sowie der ärztlichen Kollegenzunft, die ja eine permanente Steigerung der Prävalenz psychischer Störungen beklagt/diagnostiziert, und wozu ich andernorts schon mal meine Skepsis bekundet hatte sowie (damit wohl verbunden) 2.) linker Demagogen, die uns seit Jahr und Tag erklären wie unglücklich wir wegen H4, Leiharbeit und "Smartphonezwang" sind bzw. gefälligst zu sein haben.
Bezeichnend aber wenig überraschend, daß dieser äußerst erfreuliche Befund in den Medien überhaupt nicht auf seine Ursachen hin beleuchtet worden ist.
Zitat von Doeding im Beitrag #96die uns seit Jahr und Tag erklären wie unglücklich wir wegen H4, Leiharbeit und "Smartphonezwang" sind bzw. gefälligst zu sein haben.
Bei Alvin Toffler hieß das 1970 "Der Zukunftsschock", bzw. im O-Ton Future Shock.
Ganz neu war die Angst vor E-mail (& Co.) auch schon damals nicht. Bei Anthony Trollope gibt es in einem der 6 Bände der "Palliser Novels", also zwischen 1864 & 1879, die Szene: "He handed her a slip of paper - one of those newly fangled electric telegrams. She drew back her hand instinctively, as if afraid that it might bite her."
Zitat von Doeding im Beitrag #96 Hieraus folgt aus meiner Sicht ein nicht geringes Legitimationsdefizit von 1.) meiner sowie der ärztlichen Kollegenzunft, die ja eine permanente Steigerung der Prävalenz psychischer Störungen beklagt/diagnostiziert, und wozu ich andernorts schon mal meine Skepsis bekundet hatte sowie (damit wohl verbunden) 2.) linker Demagogen, die uns seit Jahr und Tag erklären wie unglücklich wir wegen H4, Leiharbeit und "Smartphonezwang" sind bzw. gefälligst zu sein haben.
Lieber Andreas,
zu 2) Das sind doch Luxusprobleme! Die hätten unsere Großeltern respektive die Millionen wirklich Armer in der Dritten Welt gerne. zu 1) Meine Vermutung geht dahin, dass heute Verhaltensweisen als psychologisch, mithin krankhaft, angesehen werden, die noch vor wenigen Jahren bis Jahrzehnten eher als verschroben, seltsam, ggf. auch als "zu ertragen" bzw. "ist einfach so" galten. Jeder ist krank, die scheinbar Gesunden sind nur nicht ausdiagnostiziert, und eine Anpassungsstörung lässt sich doch immer rechtfertigen, nicht wahr? Ich möchte damit keinesfalls die Psychologenzunft herabsetzen, beileibe nicht. Jeder, der schon einmal eine Therapie gemacht hat, weiss, wie hilfreich das ist (hoffe ich). Und doch.... meine Psychologin sagte mir damals sinngemäß: "Lieber Krischan, Sie sind OK, mit dem Rest an Psychokram können Sie leben, ich möchte mich jetzt lieber wieder den wirklich herausfordernden Fällen widmen". Und die hatten professionelle Hilfe auch mal verdammt nötig.
Fazit: Nicht jeder Furz, der quersitzt, muss gleich zum Psychodoktor getragen werden.
Zitat von Uwe Richardusw. usw. Wenn Sie den Artikel nochmals etwas kritischer durchlesen wollen ...
Lieber Uwe Richard, ich glaube nicht daß das nötig ist, denn ich hatte keinesfalls vor, mir diesen Artikel, den ich vermutlich auch im Blindversuch als Zeit-Artikel erkannt hätte, zu eigen zu machen. Ihre Liste ließe sich fast beliebig fortsetzen.
Da bin ich aber froh, dass meine kleine Frotzelei bei Ihnen so gut angekommen ist.
Zitat Mir ist klar, dass die Gesetzgebung bis weit in die 60er (und an einigen Stellen darüber hinaus) an vielen Stellen nicht mit mit dem GG vereinbar war und teilweise heute noch ist.
Darum ging es mir, und der Artikel hebt ja nicht zuletzt, wenn man das ganze Zeit-Sprech einmal für den Moment diskontiert, darauf ab.
Mir schon klar, niemand will gesellschaftspolitisch in die bundesrepublikanischen 50er zurück. Der Zeit-Artikel rennt aber offensichtlich offene Türen ein, meine ich.
-- Political language – and with variations this is true of all political parties, from Conservatives to Anarchists – is designed to make lies sound truthful and murder respectable, and to give an appearance of solidity to pure wind – Eric A. Blair
Zitat von Doeding im Beitrag #96das ist jetzt etwas OT; ich hoffe, das stört weder Sie noch Noricus.
Selbstverständlich nicht, lieber Andreas. Ganz im Gegenteil: Ich danke Ihnen für den Hinweis auf diesen faz.net-Artikel, der mir sonst entgangen wäre.
Zitat Dazu muß man wissen, daß Suizide zu weit über 90% im Rahmen einer diagnostizierten psychiatrischen Erkrankung erfolgen, v. a. Depression, Sucht und Schizophrenie. Die ätiologische Forschung hat hervorgebracht, daß Umwelteinflüsse bei allen drei Krankheiten eine bedeutsame Rolle (am wenigsten bei der Schizophrenie) neben erblichen Einflüssen spielen.
Umwelteinflüsse können ja aber auch persönlicher Natur sein, oder? Der Hartz-IV-Empfänger, der sich als Opfer der Gesellschaft betrachtet, hat vermutlich eine geringere Neigung zur Depression als vielmehr zum Zorn. Es geht ihm nicht gut, aber schuld sind andere. Hartz IV ist für ihn keine persönliche Niederlage. Anders wird die Sache wohl bei dem aussehen, der Hartz IV als individuelles Scheitern ansieht, als ein "Ungenügen an der Gegenwart" (um aus dem Kopf Jean Améry, Hand an sich legen zu zitieren).
Dass es immer auch auf den Filter ankommt, durch den die Umwelteinflüsse in das Individuum gelangen, legt mE ein Vergleich zwischen afrikanischen und europäischen Ländern nahe. Meines Wissens ist die Suizidquote in Afrika nicht höher als in Europa. In einem afrikanischen Land liegt freilich die Sichtweise nahe, die persönliche Misere als Ergebnis des Kolonialismus und der Globalisierung anzusehen oder aber dafür korrupte Eliten sowie das Fehlen einer civil society und einer liberalen-rechtsstaatlichen-kapitalistischen Ordnung verantwortlich zu machen. In Europa mögen zwar auch ähnliche Erklärungen als Coping-Strategie (heißt das so?) zur Verfügung stehen ("Die Gesellschaft/Der Neoliberalismus etc. ist schuld."), sie sind aber wohl nicht so überzeugend wie in unserem südlichen Nachbarkontinent.
Zitat Hieraus folgt aus meiner Sicht ein nicht geringes Legitimationsdefizit von 1.) meiner sowie der ärztlichen Kollegenzunft, die ja eine permanente Steigerung der Prävalenz psychischer Störungen beklagt/diagnostiziert
Ich würde dies wohlwollend unter "Klappern gehört zum Handwerk" subsumieren.
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