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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
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Gorgasal Online




Beiträge: 4.095

30.04.2009 22:11
#226 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten

Zitat von Zettel
Zitat von Rayson
In Antwort auf:
Glauben bedeutet ja, immer, das eigentständige Denken einer vorgefundenen Lehre zu unterwerfen, also es, wenn vielleicht auch freiwillig, einzuschränken.

Das, lieber Zettel, ist - im besten Fall, also z.B. wenn von dir geäußert - eine Fehlinformation. Ich wüsste nicht, was ich, weil ich darauf vertraue, dass Jesus Christus Gottes auferstandener Sohn ist, irgendwo an Denken einzuschränken hätte.

Dieses Vertrauen, lieber Rayson, meinte ich auch nicht. Ich meinte die Glaubenssätze, die - wenn ich mich nicht irre - ein katholischer Christ zu glauben verpflichtet ist (genauer wohl: Er ist verpflichtet, sich um den Glauben zu bemühen). Daß Maria als Jungfrau gebar. Daß Christus auferstanden ist. Solche dogmatischen Glaubenswahrheiten meine ich.

Sind Sie als Kantianer nicht ebenso verpflichtet, den Kategorischen Imperativ einzuhalten? Zumindest soweit Sie sich weiterhin als Kantianer bezeichnen wollen? Und unterwerfen Sie damit nicht Ihr eigenständiges Denken dem vorgefundenen Kantschen Denken?

Wenn Sie jetzt entgegnen, dass Sie gerade aufgrund Ihres eigenständigen Denkens zum Kantianer geworden sind und deswegen dem Kategorischen Imperativ anhangen, dann sage ich: sehen Sie, genau so kann es einem Gläubigen auch passieren.

--
Ultramontan – dies Wort beschreibt vorzüglich die katholische Mentalität: mit einem kleinen Teil des Bewusstseins nicht Deutscher, nicht Zeitgenosse, nicht Erdenbürger zu sein. - Martin Mosebach, Spiegel 7/2009

Gorgasal Online




Beiträge: 4.095

30.04.2009 22:16
#227 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten

Zitat von Kallias
Zitat von str1977
Genannte menschenfeindliche Ideologien - ich würde noch Liberalismus und Anarchismus dazurechnen - sind sehr wohl ganz legitime Kinder der Aufklärungsideologie.
Was haben Sie denn gegen die Catholic Workers?

Sehen Sie die Catholic Workers als Beispiele für Anarchismus (oder Liberalismus) an?

Der Unterschied zwischen Anarchismus (der typischerweise mit einer fröhlichen Gewaltbejahung einhergeht) und Distributismus ist immens. Distributismus erscheint mir übrigens als eine gar nicht uninteressante wirtschaftliche Theorie, die problemlos in der freien Marktwirtschaft existieren kann und das mit Genossenschaften auch tut.

--
Ultramontan – dies Wort beschreibt vorzüglich die katholische Mentalität: mit einem kleinen Teil des Bewusstseins nicht Deutscher, nicht Zeitgenosse, nicht Erdenbürger zu sein. - Martin Mosebach, Spiegel 7/2009

str1977 ( gelöscht )
Beiträge:

30.04.2009 22:45
#228 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten

Zitat von Gorgasal
Zitat von Kallias
Zitat von str1977
Genannte menschenfeindliche Ideologien - ich würde noch Liberalismus und Anarchismus dazurechnen - sind sehr wohl ganz legitime Kinder der Aufklärungsideologie.
Was haben Sie denn gegen die Catholic Workers?

Sehen Sie die Catholic Workers als Beispiele für Anarchismus (oder Liberalismus) an?

Der Unterschied zwischen Anarchismus (der typischerweise mit einer fröhlichen Gewaltbejahung einhergeht) und Distributismus ist immens. Distributismus erscheint mir übrigens als eine gar nicht uninteressante wirtschaftliche Theorie, die problemlos in der freien Marktwirtschaft existieren kann und das mit Genossenschaften auch tut.


Danke, Gorgasal, fürs Beispringen.

Mit L. und A. habe ich oben genau die beiden Ideologien gemeint, die unter diesen Namen bekannt sind.

Mischformen waren davon nicht betroffen, denn sobald man mischt, muß man ja von seiner hohen ideologischen Warte herabsteigen.

Und was die Wirtschaftsform angeht: ich bin nun mal zwar prinzipiell für die Marktwirtschaft aber gegen die überhöhte ideologisierte Form des Kapitalismus und ganz besonders gegen eine Marktgesellschaft - der extremistische Liberalismus führt aber notwendigerweise dorthin.

Gruß,
str1977

Faschismus und Antifaschismus sind nicht dasselbe, genausowenig wie Libanon und Antilibanon. Aber beide sind aus Stein gemacht.

Liberalismus ist die Ideologie, die, wenn etwas zu verderben droht, nicht nur nichts unternimmt, sondern auch anderen von Gegenmaßnahmen abrät, um anschließend das verfaulte Resultat zum Ideal zu erklären.

The business of Progressives is to go on making mistakes. The business of the Conservatives is to prevent the mistakes from being corrected. (G.K. Chesterton)

Verfassungsfeinde ... in den Tschad!!!

Rayson Offline




Beiträge: 2.367

30.04.2009 22:54
#229 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten

In Antwort auf:
Dieses Vertrauen, lieber Rayson, meinte ich auch nicht. Ich meinte die Glaubenssätze, die - wenn ich mich nicht irre - ein katholischer Christ zu glauben verpflichtet ist (genauer wohl: Er ist verpflichtet, sich um den Glauben zu bemühen). Daß Maria als Jungfrau gebar. Daß Christus auferstanden ist. Solche dogmatischen Glaubenswahrheiten meine ich.


Dann darfst du solche Sätze aber nicht mit "Glauben bedeutet ja immer" anfangen. Christ ist, wer darauf vertraut (es glaubt), dass Jesus Christus Gottes Sohn ist, der von den Toten auferstanden ist (letzteres ist kein Dogma, das man glaubt, weil einem jemand das gesagt hat, sondern essentiell dafür, Christ zu sein). Im Apostolischen Glaubensbekenntnis finden sich zwar noch ein paar andere Dinge, aber erstens ist die Hälfte davon im Grunde nur Konsequenz dieses Vertrauens und zweitens wird niemand ernsthaft behaupten, jemand, der an das eben von mir Gesagte glaubt, an die Jungfrauengeburt aber etwas weniger inbrünstig bzw. gar nicht, wäre kein Christ, sondern irgend etwas anderes. Dein Satz hätte also vielleicht besser angefangen mit "Strenger Katholik zu sein, kann bedeuten".

Ich z.B. will trotz aller Skepsis auch nicht zwanghaft ausschließen, dass es keine Jungfrauengeburt gegeben hat - nur: Das Ob ist völlig unmaßgeblich für meinen Glauben. Was sollte es ändern, dass Jesus Erstgeborener war? Und wenn ich das NT so lese, was ja jedem Christen offen steht (wir sind nicht mehr im vorlutherischen Mittelalter), dann scheint Jesus selbst diese Frage auch nicht sonderlich gekümmert zu haben.

Hier wird also nix "unterworfen", im Gegenteil. Meinereiner war ja u.a. so frei, die Konfession zu wechseln, weil ich bestimmte Regeln nicht als begründet genug ansah, und dieser Weg wird sicher von nicht wenigen anderen auch beschritten. Was du als Glauben schlechthin zeichnest, ist ein Zerrbild, das wahrscheinlich auf mangelnder Innenansicht beruht.

In Antwort auf:
Erst in der Neuzeit wird das Individuum als eine selbständige Entität entdeckt.


Aber lieber Zettel, eben als diese selbständige Entität hat ihn das Christentum doch auch schon geschaffen. Was wäre denn die Gemeinschaft, ohne die der Einzelne nicht Christ sein kann?

In Antwort auf:
"Die säkulare Moderne" als einen Akteur gibt es nicht, lieber Rayson.


Na wunderbar. Ich mache mal einen Vorschlag: Entweder wir einigen uns, dass es "die säkulare Moderne" als einen Akteur ebenso wenig gab wie "das Christentum", dann können wir jedes Reden darüber sofort einstellen. Oder wir nehmen in Kauf, dass "das Christentum" ebenso wie "die säkulare Moderne" bestimmte Tendenzen begünstigt, die im Nachhinein nicht gerade als wünschenswert betrachtet werden können.

In Antwort auf:
Meines Erachtens ist es, lieber Rayson (und ich greife da das mit dem "besten Fall" auf ), irrig, überhaupt diese menschenfeindlichen, aufklärungsfeindlichen Ersatzreligionen mit der Tradition dre Aufklärung unter "säkulare Moderne" zu subsumieren, wenn man darunter nicht einfach nur eine zeitliche Epoche versteht, sondern eine geistige Bewegung.

Das war es ja, was mich an den Äußerungen des Bischofs Mixa so empört hat - daß er ausgerechnet diese Ersatzreligionen mit Atheismus in Verbindung brachte.


Tja, lieber Zettel, da kann ich nur sagen: Willkommen im Club! Unsereiner musste sich ja daran gewöhnen, dass die Machtpraxis von Päpsten und Bischöfen mit der christlichen Lehre in Verbindung gebracht wird. Vielleicht kannst du es dir nicht vorstellen, aber für uns Christen ist das genau so absurd wie für einen Atheisten der Gedanke, die modernen Massenmörder hätten etwas mit seiner Haltung zu Gott zu tun. Die Wut, die über Mixa hereinbricht, ist vielleicht in Wirklichkeit die Angst, dass der Gegner einen vergleichbaren Joker in der Hand hat. Mein Vorschlag wäre, das sehr nüchtern zu sehen. Christen sollten sich Gedanken machen, dass sie mit ihrem Glauben eine mächtige Waffe in der Hand halten, die zum Missbrauch einlädt. Und Atheisten sollten darüber nachdenken, was sie selbst an Gottes Stelle setzen bzw. welchen Bewegungen sie Raum geben, die sich selbst nur allzu gerne an Gottes Stelle setzen wollen. Die Unfähigkeit oder der Unwille (die ich keinem hier unterstelle, im Gegenteil, aber ich habe da Beispiele vor Augen), auch negative Konsequenzen des eigenen Bekenntnisses, das man doch selbst so hoch und rein einschätzt, zu akzeptieren und sich damit auseinanderzusetzen, wären auf der anderen Seite m.E. gerade nicht Kennzeichen eines selbständig denkenden, kritischen Inidividuums.

--
L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat)

Kallias Offline




Beiträge: 2.310

30.04.2009 23:36
#230 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten

Zitat von Gorgasal
Sehen Sie die Catholic Workers als Beispiele für Anarchismus (oder Liberalismus) an?

Der Unterschied zwischen Anarchismus (der typischerweise mit einer fröhlichen Gewaltbejahung einhergeht) und Distributismus ist immens.
Das sind ganz klar Anarchisten.

Fröhliche Gewaltbejahung ist sehr selten in der Geschichte des Anarchismus. Eigentümlich für den Anarchismus ist vielmehr, daß zwischen Staatsgewalt und sonstiger Gewalt kein prinzipieller Unterschied anerkannt wird. Beides wird abgelehnt.

Vorhin las ich, daß die Heiligsprechung Dorothy Days erwogen wird. Wenn es soweit ist, stifte ich eine Kerze, mindestens einen Meter lang. Eine heilige Anarchistin, das muß man sich mal vorstellen!

Gruß,
Kallias

Kallias Offline




Beiträge: 2.310

01.05.2009 10:07
#231 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten

Gehen wir auf Ihre Ausgangsfrage zurück, lieber Zettel: wie verhält sich die Religion zur Moral? Das Problem liegt in dem Allgemeinheitsgrad dieser Begriffe: Religion überhaupt, Moral als solche, auweia! Um mich der Frage zu widmen und nicht ihr auszuweichen, versuchte ich, so allgemein wie möglich zu bleiben, im Bewußtsein der Gefahr, an den Einzelfelsen Schiffbruch zu erleiden. Die Rettung liegt in der Empirie: was ich behaupte, sind nur Vermutungen, die bestenfalls im Großen und Ganzen zutreffen, mit enormen Abweichungen im Spezialfall.

Hinzu kommt, daß meiner Ansicht nach die moralische Ausrichtung der Menschen von vielen Faktoren beeinflußt wird, und die Weltanschauung nur einer davon ist, und wie ich meine, kein überragend wichtiger. Ferner meine ich nicht, daß Gläubige etwa moralisch besser wären als Atheisten oder umgekehrt. Insofern stimme ich der Bayle-Shaftesbury-These zu.

Dennoch dürfte es Unterschiede der Werte und der Motive geben, die von der Weltanschauung herrühren, und darum ging es mir bei meinen Unterscheidungen zwischen egoistischer und altruistischer Orientierung, Werten der Unabhängigkeit und der Bravheit, individualistischer und gesellschaftsbezogener Haltung.

Moralische Werte lassen sich bekanntlich auf sehr vielfältige Weise klassifizieren. Sie haben auf die zwei Etikette hingewiesen, die Nietzsche für meine Unterscheidung von Bravheit und Unabhängigkeit anzubieten hätte; Sie meinten vermutlich "Herren- und Sklavenmoral". Dem würde ich widersprechen, da der wesentliche Unterschied bei Nietzsche darin besteht, daß die Sklavenmoral gegen jedermann verpflichtet, während die Herrenmoral lehrt, daß man nur gegen seinesgleichen Pflichten habe. Die so verstandene "Herrenmoral" würde ich übrigens überhaupt nicht als Moral ansehen, und die Tugenden der Unabhängigkeit verpflichten nicht nur gegen Ranggenossen, sondern gegen alle; ein richtiger Gentleman ist aufrichtig gegen jeden, nicht nur gegen andere Gentlemen.

Ich habe eine Klassifikation der Werte und Motive gesucht, bei der sich der Unterschied der Weltanschauung am klarsten zeigt. D.h. die Unterscheidungen dienten nur der Beantwortung Ihrer Frage, sie sind nicht unbedingt als wesentliche Grenzziehungen innerhalb des Gebiets der Ethik anzusehen.

Was ist nun allgemein-religiös und wie wirkt es sich aus? Ich nehme an, daß der Bezug zur Transzendenz als höchstem Gut wohl den meisten Religionen gemeinsam ist und frage mich somit, was ein solcher Jenseitsbezug für die Moral bedeuten könnte, und zwar von allen Einflüssen abgesehen, die von den spezielleren Lehren dieser oder jener Konfession ausgehen mögen. (Der Verweis auf Dogmengläubigkeit z.B. führt nicht weit, da es sogar innerhalb des Christentums undogmatische Richtungen gibt, wie die hier schon erwähnten Quäker; für den Hinduismus dürfte gelten, daß es sowohl Dogmen gibt als auch keine. )

Der Ansatzpunkt ist nun der: Transzendenzglaube bedeutet Rangabwertung der Welt, insbesondere der Gesellschaft, und das sollte eigentlich einen Einfluß auf die moralische Haltung ausüben. Die Frage ist dann, welchen.

Nehmen Sie es mir bitte nicht allzu übel, wenn ich hier - nach Erledigung der methodischen Präliminarien - erstmal abbreche - ich will jetzt raus in den Mai! Fortsetzung folgt aber.

Gruß,
Kallias

str1977 ( gelöscht )
Beiträge:

01.05.2009 13:33
#232 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten

Zitat von Kallias
Zitat von Gorgasal
Sehen Sie die Catholic Workers als Beispiele für Anarchismus (oder Liberalismus) an?

Der Unterschied zwischen Anarchismus (der typischerweise mit einer fröhlichen Gewaltbejahung einhergeht) und Distributismus ist immens.
Das sind ganz klar Anarchisten.

Fröhliche Gewaltbejahung ist sehr selten in der Geschichte des Anarchismus. Eigentümlich für den Anarchismus ist vielmehr, daß zwischen Staatsgewalt und sonstiger Gewalt kein prinzipieller Unterschied anerkannt wird. Beides wird abgelehnt.

Vorhin las ich, daß die Heiligsprechung Dorothy Days erwogen wird. Wenn es soweit ist, stifte ich eine Kerze, mindestens einen Meter lang. Eine heilige Anarchistin, das muß man sich mal vorstellen!


Naja, ob das so eindeutig Anarchisten halte ich für sehr zweifelhaft. Wollen die Catholic Workers denn den Staat beseitigen? (Ich halte es bei all den genannten Richtungen mal für vorausgesetzt, daß sie ihre Ordnung (oder auch Un-Ordnung) durchsetzen wollen.) Außerdem verstehen sie sich ja wohl als Katholische Gruppe und daher können sie sich gar nicht von jedweder Autorität lossagen.

Aber wären alle Menschen gläubige (und wenn Zettel darauf besteht : fromme) Christen würde eine Anarchie ja funktionieren. Aber das verbuchen wir besser unter unter Utopie.

Thomas sagte so etwas wie, daß der Staat für Menschen gemacht ist und nicht für Engel.

Gruß,
str1977

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str1977 ( gelöscht )
Beiträge:

01.05.2009 13:58
#233 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten

Zitat von Rayson
Christ ist, wer darauf vertraut (es glaubt), dass Jesus Christus Gottes Sohn ist, der von den Toten auferstanden ist (letzteres ist kein Dogma, das man glaubt, weil einem jemand das gesagt hat, sondern essentiell dafür, Christ zu sein). Im Apostolischen Glaubensbekenntnis finden sich zwar noch ein paar andere Dinge, aber erstens ist die Hälfte davon im Grunde nur Konsequenz dieses Vertrauens und zweitens wird niemand ernsthaft behaupten, jemand, der an das eben von mir Gesagte glaubt, an die Jungfrauengeburt aber etwas weniger inbrünstig bzw. gar nicht, wäre kein Christ, sondern irgend etwas anderes. Dein Satz hätte also vielleicht besser angefangen mit "Strenger Katholik zu sein, kann bedeuten".


"Strenger Katholik" wäre dann aber nur die Konsequenz daraus, daß andere Konfessionen ihre Glaubenssätze nicht mehr ernst nehmen. Katholisch ist die Jungfrauengeburt nur in so fern, als man das gesamte Christentum (Bibel inklusive) als katholisch ansieht. Warum Protestanten angefangen haben, die Jungfrauengeburt zu bezweifeln (und dann "ökumenische Versionen" von Weihnachtslieder zu fabrizieren) ist mir unbekannt und unverständlich.

Aber im Grunde haben Sie recht, Rayson. Der Glaube an Jesus als den auferstandenen Messias ist konstitutiv fürs Christsein und das andere ergibt sich als Konsequenz aus dieser Tatsache oder aus der von Ihm verkündeten Botschaft. Dies gilt auch für die Jungfrauengeburt. Ich kann es ja selbst biographisch nachvollziehen, habe ich doch selbst mal nicht an dieses Ereignis geglaubt. Doch irgendwann habe ich micht gefragt: "Warum eigentlich?" Und da blieben - unter der Voraussetzung des Glaubens an Christus - keine Gründe die dagegen sprachen, wohl aber solche die dafür sprachen. Die Jungfrauengeburt ist nun einer jener Glaubenssätze, die nicht unbedingt notwendig sind im Sinne vom "Der Messias mußte Sohn einer Jungfrau sein", weshalb man auch gut Christ sein kann ohne überhaupt früber nachzudenken. Nur ist der Glaube eben keine wissenschaftliche Theorie wo man "unnötiges" weglassen könnte. Faktisch hatte Jesus entweder einen menschlichen Vater oder nicht. Nicht eine theologisch-soteriologische Konsequenz zwingt mich dazu an die Jungfrauengeburt zu glauben - nein, ich kann im Glauben dem Zeugnis der entsprechenden Quellen (Mt & Lk) vertrauen. Es ist der krude Materialist der gezwungen ist, die Jungfrauengeburt abzulehnen. Weil nicht sein kann was nicht sein darf. Nie! Nie! Nie!

(PS. Erstgeborener, Rayson, war Jesus auf jeden Fall.)

Zitat von Rayson
dass die Machtpraxis von Päpsten und Bischöfen mit der christlichen Lehre in Verbindung gebracht wird.


Gerade diese Woche halte ich Reden von christlicher Machtpraxis für ziemlich realitätsfremd.

Zitat von Rayson
Vielleicht kannst du es dir nicht vorstellen, aber für uns Christen ist das genau so absurd wie für einen Atheisten der Gedanke, die modernen Massenmörder hätten etwas mit seiner Haltung zu Gott zu tun.


Der Gedanke ist überhaupt nicht absurd. Ich verweise mal auf

Psalm 10,4: Überheblich sagt der Frevler: «Gott straft nicht. Es gibt keinen Gott.» So ist sein ganzes Denken.

Psalm 14,1: Die Toren sagen in ihrem Herzen: «Es gibt keinen Gott.» Sie handeln verwerflich und schnöde; da ist keiner, der Gutes tut.



Nur geht es eben nicht um eine formale Religionszugehörigkeit oder deren Fehlen sondern um die persönliche Einstellung eines Einzelnen. Auch hier mag das Augustinische "Manche die drinnen sind, sind draußen ..." gelten.

Die erste Wut, die von seiten von Atheisten über Mixa hereinbrechen mag verständlich sein, doch irgendwann ist es nicht mehr entschuldbar, sich dem Versuch, Mixa zu verstehen, zu verweigern. Selbst in seiner unscharfen Ausdrucksweise hat Mixa vom aggressiven und vom praktizierten Atheismus gesprochen.

Fällt denn jemand, der keine Religionshaßbücher schreibt und sich dem kategorischen Imperativ verpflichtet fühlt (aus welchen Gründen auch immer), in diese Beschreibung (der Psalmen und/oder Mixas) hinein?

In Antwort auf:
Und Atheisten sollten darüber nachdenken, was sie selbst an Gottes Stelle setzen bzw. welchen Bewegungen sie Raum geben, die sich selbst nur allzu gerne an Gottes Stelle setzen wollen. Die Unfähigkeit oder der Unwille (die ich keinem hier unterstelle, im Gegenteil, aber ich habe da Beispiele vor Augen), auch negative Konsequenzen des eigenen Bekenntnisses, das man doch selbst so hoch und rein einschätzt, zu akzeptieren und sich damit auseinanderzusetzen, wären auf der anderen Seite m.E. gerade nicht Kennzeichen eines selbständig denkenden, kritischen Inidividuums.


Eben. Wenn ich meine Gott abschaffen zu können und an seine Stelle den Menschen setze, muß ich auch damit zurechtkommen, daß der Mensch plötzlich die letzte Autorität hat. Und wie kann ich dann einem Menschen in seinen Handlungen noch kritisieren?

Das was Zettel als typisch modernen Individualismus betrachtet hat insofern eine Grundlage im Reellen als die Moderne den Menschen von allen Bindungen gelöst hat (bzw. diesen Anspruch hat). Das geht sicher über christlich-fundierten "Individualismus" hinaus, nur ist es auch gut?

Gruß,
str1977

Faschismus und Antifaschismus sind nicht dasselbe, genausowenig wie Libanon und Antilibanon. Aber beide sind aus Stein gemacht.

Liberalismus ist die Ideologie, die, wenn etwas zu verderben droht, nicht nur nichts unternimmt, sondern auch anderen von Gegenmaßnahmen abrät, um anschließend das verfaulte Resultat zum Ideal zu erklären.

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Gorgasal Online




Beiträge: 4.095

01.05.2009 15:44
#234 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten

Zitat von Kallias
Zitat von Gorgasal
Sehen Sie die Catholic Workers als Beispiele für Anarchismus (oder Liberalismus) an?

Der Unterschied zwischen Anarchismus (der typischerweise mit einer fröhlichen Gewaltbejahung einhergeht) und Distributismus ist immens.
Das sind ganz klar Anarchisten.

Huch?

Anarchismus ist eine politische Theorie ("der Staat ist unnütz bis böse"). Distributismus ist rein ökonomisch. Anarchismus ist mit verschiedenen ökonomischen Theorien vereinbar, von links wie Bakunin (hatten wir unlängst) bis rechts wie Friedman (der mittlere, David). Anarchismus und Distributismus sind eher orthogonal zueinander.

Die Catholic Workers haben meines Wissens nichts über Sinn und Unsinn des Staates ausgesagt. Und dass Anarchisten unter den Gründern waren (NB: Day hatte ihre anarchistischste Phase vor der Geburt ihrer Tochter und ihrer Konversion - eindrucksvoll, wie sehr einen eigene Kinder von radikalen politischen Ansichten abbringen können), sagt nun recht wenig über die Ausrichtung der Catholic Workers als Institution aus.

Zitat von Kallias
Fröhliche Gewaltbejahung ist sehr selten in der Geschichte des Anarchismus. Eigentümlich für den Anarchismus ist vielmehr, daß zwischen Staatsgewalt und sonstiger Gewalt kein prinzipieller Unterschied anerkannt wird. Beides wird abgelehnt.

Da haben Sie nicht unrecht, jedenfalls in der reinen Lehre. In praxi waren und sind Anarchisten manchmal schnell mit der Propaganda der Tat bei der Sache, siehe das erste Drittel des vergangenen Jahrhunderts, Sacco & Vanzetti und Barcelona. Aber ich gestehe Ihnen gerne zu, dass Sie größtenteils Recht haben (bevor wir eine Diskussion über die Repräsentativität von Sacco & Vanzetti führen ).

Und christliche Anarchisten: wohl eher Tolstoi. Mit dem ich mich aber noch nicht intensiv befasst habe.

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Rayson Offline




Beiträge: 2.367

02.05.2009 11:31
#235 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten

In Antwort auf:
Faktisch hatte Jesus entweder einen menschlichen Vater oder nicht. Nicht eine theologisch-soteriologische Konsequenz zwingt mich dazu an die Jungfrauengeburt zu glauben - nein, ich kann im Glauben dem Zeugnis der entsprechenden Quellen (Mt & Lk) vertrauen. Es ist der krude Materialist der gezwungen ist, die Jungfrauengeburt abzulehnen. Weil nicht sein kann was nicht sein darf. Nie! Nie! Nie!


In Letzterem stimme ich zu. Auch halte ich - wie gesagt - die Jungfrauengeburt nicht für ausgeschlossen, denn wenn man schon an das viel größere Wunder, nämlich die Auferstehung, glaubt, dann ist eine Jungfrauengeburt dagegen eine Kaffeepause... Allerdings wäre Gott als "Vater" für mich auch dann denkbar, wenn Maria vorher mit Josef Geschlechtsverkehr gehabt hätte, wogegen aber zumindest die zeitliche Abfolge der Schilderung spricht. Ich war eine Zeit lang auch extrem skeptisch gegenüber der Vorstellung und hatte mich auf die Varianten eingelassen, die dem Ganzen einen eher symbolischen bzw. theologischen Charakter zusprachen (schließlich war die Jungfrauengeburt als Mythos Bestandteil wohl auch anderer Religionen), aber nach der Lektüre seines Jesus-Buches komme ich nicht umhin, Klaus Berger, der sich vehement gegen diese Zweifel ausspricht, ein paar Punkte zu geben. Aber das ist eine innerchristliche Diskussion und eben nicht konstitutiv.


In Antwort auf:
(PS. Erstgeborener, Rayson, war Jesus auf jeden Fall.)


Nach "Aktenlage": ja, klar.


In Antwort auf:
Gerade diese Woche halte ich Reden von christlicher Machtpraxis für ziemlich realitätsfremd.


Ich meinte damit auch nicht die Gegenwart.

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str1977 ( gelöscht )
Beiträge:

02.05.2009 20:30
#236 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten

Zitat von Rayson
Auch halte ich - wie gesagt - die Jungfrauengeburt nicht für ausgeschlossen, denn wenn man schon an das viel größere Wunder, nämlich die Auferstehung, glaubt, dann ist eine Jungfrauengeburt dagegen eine Kaffeepause... Allerdings wäre Gott als "Vater" für mich auch dann denkbar, wenn Maria vorher mit Josef Geschlechtsverkehr gehabt hätte, wogegen aber zumindest die zeitliche Abfolge der Schilderung spricht. Ich war eine Zeit lang auch extrem skeptisch gegenüber der Vorstellung und hatte mich auf die Varianten eingelassen, die dem Ganzen einen eher symbolischen bzw. theologischen Charakter zusprachen (schließlich war die Jungfrauengeburt als Mythos Bestandteil wohl auch anderer Religionen), aber nach der Lektüre seines Jesus-Buches komme ich nicht umhin, Klaus Berger, der sich vehement gegen diese Zweifel ausspricht, ein paar Punkte zu geben. Aber das ist eine innerchristliche Diskussion und eben nicht konstitutiv.


Da kann ich jedem einzelnen Wort zustimmen.

In Antwort auf:
Nach "Aktenlage": ja, klar.


Ja, das mal vorausgesetzt. Ich sehe allerdings auch keine Quelle, die bestreitet, daß Jesus der Erstgeborene Mariens war (was ja für Dinge wie Darstellung im Tempel entscheidend ist).

In Antwort auf:
Ich meinte damit auch nicht die Gegenwart.


Okay. Belassen wir es dabei, daß auf beiden Seiten Machtausübung geschehen ist.

Gruß,
str1977

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Zettel Offline




Beiträge: 20.200

07.05.2009 00:40
#237 Sklavenmoral, Herrenmoral, Moral überhaupt Antworten

Lieber Kallias,

Zitat von Kallias
Gehen wir auf Ihre Ausgangsfrage zurück, lieber Zettel: wie verhält sich die Religion zur Moral? Das Problem liegt in dem Allgemeinheitsgrad dieser Begriffe: Religion überhaupt, Moral als solche, auweia!

Ja, da haben Sie sehr recht. Dennoch sind solche Fragen gerade in ihrer Allgemeinheit ja unabweisbar.

Es gab einmal die schöne Sitte der "Preisfragen", die von den Akademien der Wissenschaften gestellt wurden. Schopenhauer zum Beispiel hat für seine Beantwortung der Frage nach der Willensfreiheit den Preis der Königlich Norwegische Societät der Wissenschaften zuerkannt bekommen (nein, nicht gewonnen); das war 1839.

Man kann solche allgemeinen Fragen leicht mit allgemeinen Redensarten beantworten. Die Diskussion in diesem Thread - meines Erachtens einer der bisher bemerkenswertesten in diesem Forum - zeigt, daß man auf eine allgemeine Frage auch im konkreten Detail antworten kann; so wie damals Schopenhauer in seinem glänzenden Aufsatz. (Naja, nicht wirklich so ).
Zitat von Kallias
Um mich der Frage zu widmen und nicht ihr auszuweichen, versuchte ich, so allgemein wie möglich zu bleiben, im Bewußtsein der Gefahr, an den Einzelfelsen Schiffbruch zu erleiden. Die Rettung liegt in der Empirie: was ich behaupte, sind nur Vermutungen, die bestenfalls im Großen und Ganzen zutreffen, mit enormen Abweichungen im Spezialfall.

Mehr geht, glaube ich, nicht, lieber Kallias.

Ich hatte in meiner Biographie eine Phase, wo ich mich geradezu phobisch gehütet habe, etwas zu behaupten, dessen ich nicht völlig sicher war. Das war konsequent, aber lähmend. Es hat damals auch meine wissenschaftliche Produktivität auf fast null gebracht. Irgendwann habe ich, sozusagen über Nacht, den Entschluß gefaßt, auch das zu behaupten und zu vertreten, was ich nur für wahrscheinlich oder begründbar halte; mit dem Risiko, daß es sich als falsch erweisen kann. Das war wie eine Befreiung.
Zitat von Kallias
Hinzu kommt, daß meiner Ansicht nach die moralische Ausrichtung der Menschen von vielen Faktoren beeinflußt wird, und die Weltanschauung nur einer davon ist, und wie ich meine, kein überragend wichtiger.

Ich würde es umgekehrt sehen: Die moralische Ausrichtung ist das Primäre; die Weltanschauung muß oder sollte jedenfalls dazu passen.

Ich meine, daß die Moral, der ein Mensch folgt, weder von seiner Weltanschauung noch gar seiner Religion bestimmt wird. Sie entsteht in den ersten Lebensjahren. Maßgeblich sind Vorbilder - die Eltern, die Peers. Wenn jemand sieben oder acht Jahre alt ist, dann ist seine Moral im wesentlichen fertig. Dann sucht er sich irgendwann die passende Weltanschauung.
Zitat von Kallias
Ferner meine ich nicht, daß Gläubige etwa moralisch besser wären als Atheisten oder umgekehrt. Insofern stimme ich der Bayle-Shaftesbury-These zu.

Der These also, daß es eine natürliche, von der Religion unabhängige Moral gibt. Revolutionär in der Frühaufklärung, als Bayle sie vertrat. Im achtzehnten Jahrhundert aber schon, glaube ich, fast ein Allgemeinplatz.
Zitat von Kallias
Dennoch dürfte es Unterschiede der Werte und der Motive geben, die von der Weltanschauung herrühren, und darum ging es mir bei meinen Unterscheidungen zwischen egoistischer und altruistischer Orientierung, Werten der Unabhängigkeit und der Bravheit, individualistischer und gesellschaftsbezogener Haltung.

Moralische Werte lassen sich bekanntlich auf sehr vielfältige Weise klassifizieren. Sie haben auf die zwei Etikette hingewiesen, die Nietzsche für meine Unterscheidung von Bravheit und Unabhängigkeit anzubieten hätte; Sie meinten vermutlich "Herren- und Sklavenmoral".

Ja.
Zitat von Kallias
Dem würde ich widersprechen, da der wesentliche Unterschied bei Nietzsche darin besteht, daß die Sklavenmoral gegen jedermann verpflichtet, während die Herrenmoral lehrt, daß man nur gegen seinesgleichen Pflichten habe. Die so verstandene "Herrenmoral" würde ich übrigens überhaupt nicht als Moral ansehen, und die Tugenden der Unabhängigkeit verpflichten nicht nur gegen Ranggenossen, sondern gegen alle; ein richtiger Gentleman ist aufrichtig gegen jeden, nicht nur gegen andere Gentlemen.

Die universelle Moral ist vielleicht wirklich eine Erfindung (oder Entdeckung) des Christentums. Sie war der Antike fremd; daß man einem Sklaven gegenüber dieselben moralischen Pflichten haben könnte wie gegenüber anderen Menschen, wäre auch den Anhängern der attischen Demokratie nicht in den Sinn gekommen. Denn der demos, das waren ja nicht alle Menschen, sondern die Freien. Auch ein frommer Moslem dürfte noch heute nicht auf den Gedanken kommen, daß seine moralischen Verpflichtungen Ungläubigen gegenüber dieselben seien wie gegenüber Moslems.

In der Philosophie war, soweit ich sehe, Kant der erste, der eine wirklich universelle Moral zu formulieren versucht hat. Insofern war Nietzsche in diesem Punkt, wie in vielen, schlicht reaktionär Er hing am Feudalismus, an der Aristokratie. Hofnarr am Hof eines aufgeklärten absoluten Herrschers, das wäre die Position seines Lebens gewesen.

Aber bei Nietzsche geht es ja nicht nur um die Universalität der Moral. Die Sklavenmoral ist, wenn ich das nicht falsch verstanden habe, für ihn eine Moral des Mitleids; vor allem auch des do ut des . (Ich habe die unklare Erinnerung, das bei ihm gelesen zu haben - vielleicht in "Zur Genealogie der Moral", vielleicht anderswo). Die Herrenmoral ist eine Moral der Großzügigkeit, des Schenkens aus freien Stücken. Das war halt Nietzsches Traumgestalt - der edle, freie, herrische, aristokratische Mensch, der das Leben in vollen Zügen genießt, der keiner Niedrigkeit fähig ist. Dionysisch auch noch; der Freie schlechthin.
Zitat von Kallias
Was ist nun allgemein-religiös und wie wirkt es sich aus? Ich nehme an, daß der Bezug zur Transzendenz als höchstem Gut wohl den meisten Religionen gemeinsam ist und frage mich somit, was ein solcher Jenseitsbezug für die Moral bedeuten könnte, und zwar von allen Einflüssen abgesehen, die von den spezielleren Lehren dieser oder jener Konfession ausgehen mögen. (Der Verweis auf Dogmengläubigkeit z.B. führt nicht weit, da es sogar innerhalb des Christentums undogmatische Richtungen gibt, wie die hier schon erwähnten Quäker; für den Hinduismus dürfte gelten, daß es sowohl Dogmen gibt als auch keine. )

Der Ansatzpunkt ist nun der: Transzendenzglaube bedeutet Rangabwertung der Welt, insbesondere der Gesellschaft, und das sollte eigentlich einen Einfluß auf die moralische Haltung ausüben. Die Frage ist dann, welchen.

Ja, und wenn ich Ihre These richtig verstanden habe, dann sehen Sie in dieser Rangabwertung der Welt eine Rangerhöhung des einzelnen Menschen; zumindest die Chance dazu.

Das sehe ich (bisher) nicht. Aber vielleicht verstehe ich es, wenn Sie es ausführen.
Zitat von Kallias
Nehmen Sie es mir bitte nicht allzu übel, wenn ich hier - nach Erledigung der methodischen Präliminarien - erstmal abbreche - ich will jetzt raus in den Mai! Fortsetzung folgt aber.

Darauf freut sich

Ihr Zettel

str1977 ( gelöscht )
Beiträge:

07.05.2009 14:48
#238 RE: Sklavenmoral, Herrenmoral, Moral überhaupt Antworten

Zitat von Zettel
Ich hatte in meiner Biographie eine Phase, wo ich mich geradezu phobisch gehütet habe, etwas zu behaupten, dessen ich nicht völlig sicher war. Das war konsequent, aber lähmend. Es hat damals auch meine wissenschaftliche Produktivität auf fast null gebracht. Irgendwann habe ich, sozusagen über Nacht, den Entschluß gefaßt, auch das zu behaupten und zu vertreten, was ich nur für wahrscheinlich oder begründbar halte; mit dem Risiko, daß es sich als falsch erweisen kann. Das war wie eine Befreiung.


Ich würde sogar sagen, nur das zu behaupten dessen man völlig sicher ist, ist konsequent, lähmend und auch Selbstbetrug. Weil es diese völlige, voraussetzungslose Sicherheit nicht gibt, nicht geben kann.

Sehr gut, daß Sie diese Phase beendet haben (auch wenn ich mit Ihren Meinung oft nicht konform gehen kann, eine Meinung ist besser als keine Meinung).

In Antwort auf:
Zitat von Kallias
Hinzu kommt, daß meiner Ansicht nach die moralische Ausrichtung der Menschen von vielen Faktoren beeinflußt wird, und die Weltanschauung nur einer davon ist, und wie ich meine, kein überragend wichtiger.

Ich würde es umgekehrt sehen: Die moralische Ausrichtung ist das Primäre; die Weltanschauung muß oder sollte jedenfalls dazu passen.


Vielleicht ist es aber auch eine akademische Frage, denn ich denke nicht, daß die beiden Elemente trennbar sind (außer man betreibt Dissioziation):
- Richte ich mich auf irgendeine Art moralisch aus, habe ich doch auch keine weltanschauliche Aussagen getroffe (klar, noch kein irgendwie komplexes System).
- Treffe ich eine weltanschauliche Entscheidung, dann habe ich damit schon moralische Voreinstellungen genommen. Z.B. Wenn ich die Welt als schlecht und brutal und den Mensch als des Menschen Wolf betrachte, werde ich mich wohl nicht zum Krankepflegen in die Slums von Kalkutta begeben.

In Antwort auf:
Wenn jemand sieben oder acht Jahre alt ist, dann ist seine Moral im wesentlichen fertig. Dann sucht er sich irgendwann die passende Weltanschauung.


Also ich für meinen Teil kann sagen, daß es bei mir nicht so war.

In Antwort auf:
Zitat von Kallias
Ferner meine ich nicht, daß Gläubige etwa moralisch besser wären als Atheisten oder umgekehrt. Insofern stimme ich der Bayle-Shaftesbury-These zu.

Der These also, daß es eine natürliche, von der Religion unabhängige Moral gibt.Zitat:

Aber ist es denn so? Wo gibt es denn diese natürliche Moral unabhängig von Kultur und Zivilisation (als deren Teilbereich auch Religion zu zählen ist)? Und wie ließe sich das feststellen, da es doch praktisch keine Fleck gibt, der von Kultur etc. unbeleckt wäre?

Zitat:Die universelle Moral ist vielleicht wirklich eine Erfindung (oder Entdeckung) des Christentums. Sie war der Antike fremd;


Sie können ruhig Entdeckung sagen. Das Christentum behauptet ja nirgendwo etwas neues erfunden zu haben. Grade in religiösen Fragen ist Neuheit doch kein Qualitätsmerkmal.

In Antwort auf:
Insofern war Nietzsche in diesem Punkt, wie in vielen, schlicht reaktionär Er hing am Feudalismus, an der Aristokratie. Hofnarr am Hof eines aufgeklärten absoluten Herrschers, das wäre die Position seines Lebens gewesen.


Nein, Nietzsche war nur anderer Meinung als Kant. Es gibt keine Uhrzeiten für philosophische Meinungen und insofern ist das Wort "reaktionär" sinnlos. Er mag zwar eine Art Aristokratie vertreten, aber zurück zum "Feudalismus" (wenn es denn unbedingt dieses marxistische Unwort sein muß) wollte er nicht.

Gruß,
str1977

Faschismus und Antifaschismus sind nicht dasselbe, genausowenig wie Libanon und Antilibanon. Aber beide sind aus Stein gemacht.

Liberalismus ist die Ideologie, die, wenn etwas zu verderben droht, nicht nur nichts unternimmt, sondern auch anderen von Gegenmaßnahmen abrät, um anschließend das verfaulte Resultat zum Ideal zu erklären.

The business of Progressives is to go on making mistakes. The business of the Conservatives is to prevent the mistakes from being corrected. (G.K. Chesterton)

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Gorgasal Online




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25.05.2009 10:08
#239 RE: Kategorischer Imperativ Antworten

Huhu, Zettel!

Zitat von Zettel
Damit ich auch angemessen antworte, habe ich mir erst mal wieder den Band 4 der Gesammelten Werke mit den Schriften zur Ethik vorgenommen.


Wie weit sind Sie denn mit der Kant-Lektüre? Ich freue mich schon auf Ihre Erläuterungen! Zur Erinnerung noch einmal meine Fragen:

Zitat von Gorgasal
Wenn ich Sie und Kant richtig verstanden habe, dann brauchen wir, um eine Moral (wie ich sie verstehe) zu erhalten:
1. den Kategorischen Imperativ - bei dem mir noch immer nicht klar ist, warum ich ganz persönlich ihn befolgen soll -
2. das "Sollen" als Eigenschaft des Menschen (siehe oben, scheint mir für unsere Diskussion aber nicht überaus relevant zu sein)
3. das Postulat, dass die Gesetzgebung allgemein sein soll
4. und noch eine ausreichend verbindliche Definition von "Mensch" (Oder stellen Sie sich auf den Standpunkt, dass man die Frage, wer ein Mensch ist, bei der Begründung von Moral außen vor lassen kann? Das soll jetzt nicht anklagend klingen, das ist eine durchaus schlüssige Position.)

Und noch ein Nachtrag: brauchen wir noch einen Punkt 5?
5. einen Konsens darüber, was denn als "allgemeine Gesetzgebung" taugt.
Oder alternativ:
5'. eine zumindest für den Einzelnen klare Auffassung darüber, was als "allgemeine Gesetzgebung" taugt - mithin eine Moral.

--
Ultramontan – dies Wort beschreibt vorzüglich die katholische Mentalität: mit einem kleinen Teil des Bewusstseins nicht Deutscher, nicht Zeitgenosse, nicht Erdenbürger zu sein. - Martin Mosebach, Spiegel 7/2009

Zettel Offline




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25.05.2009 10:20
#240 Kant, die Moral, das Universum Antworten
Lieber Gorgasal, gelesen habe ich schon Manches. Aber mir fehlte bisher die Zeit, das auch alles aufzuschreiben. Ist ja doch etwas Anspruchsvoller als eine Bemerkung zum Kokain in Cola.

Kant hat den Vorteil, der in der Warteschlange auch wieder ein Nachteil ist, daß er vermutlich auch nächste Woche noch aktuell sein wird.

Heute Nachmittag gibt's erst einmal einen Artikel, in dem er vorkommt: Und zwar als einer der ersten Menschen, die den kühnen Gedanken gefaßt haben. daß die Spiralnebel eigene Milchstraßen sind; "Weltinseln", wie Kant sie nannte.

Herzlich, Zettel
ak Offline



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01.06.2009 01:08
#241 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten

Verehrter Zettel,

seitdem ich mich vor etwa einem Jahr bei Ihrem Forum angemeldet habe, habe ich Ihre Artikel mit groesstem Interesse verfolgt, nur fehlte mir bei denen, zu denen ich etwas beizutragen gehabt haette, jedes Mal die Zeit, auch tatsaechlich etwas beizutragen. Die in diesem Thread behandelte Frage, naemlich ob Moral der Religion bedarf, halte ich fuer ueberaus interessant, weswegen ich einige Punkte anfuehren moechte, obschon ich die zehn Seiten, die dazu schon geschrieben wurden, nicht lesen kann und daher nicht weiss, ob diese Punkte ueberhaupt noch der Erwaehnung wert sind.

Zunaechst einmal sei gesagt, dass ich Religion als keine geeignete Grundlage fuer Moral halte, zumal es genuegend Beispiele religioes begruendeter Untaten gibt. Dies wurde sicherlich schon zur Genuege diskutiert.

Die eigentliche Frage ist, ob uns die Vernunft allein eine solche Grundlage liefern kann. Ich bin davon ueberzeugt, dass dies der Fall ist, zumal es eine Bankrotterklaerung des Humanismus waere, benoetigte die Menschheit einer wohlwollenden, unser Handeln beeinflussenden Gottheit, um einander nicht zum Wolf zu werden. Ganz im Gegenteil denke ich, dass der freie Wille, im Sinne des kantschen "sapere aude", eine unabdingbare Voraussetzung ist, den jeweils anderen Menschen als ein den gleichen Widrigkeiten unterworfenes und mit den gleichen Faehigkeiten zur Sympathie ausgestattetes - und damit zur Solidaritaet zum Naechsten befaehigtes - Individuum zu erkennen. Gesteht der eine, auf Basis dieser Erkenntnis, dem anderen die gleichen Rechte zu, wie sich selbst, gewinnt er (und damit der andere auch - wegen des Zugestaendnisses der gleichen Rechte) die Menschenwuerde (selbst wenn der andere es aus verstaendlichen Gruenden - wie einer geistigen Behinderung - nicht (aus eigener Vernunft) kann).

Waeren wir eine Spezies, die hierfuer der goettlichen Intervention (Erloesung) bedarf, haetten wir keine Menschenwuerde. Allenfalls waeren wir Beguenstigte einer Gotteswuerde.

Vor einigen Jahren habe ich in einem Sonderheft von "Spektrum der Wissenschaft" einen Artikel gelesen, der auf moegliche evolutionaere Urspruenge kooperativen - und damit, weitergedacht, moralischen - Verhaltens hinweist. Dazu gibt es auch einen Artikel in Wikipedia. Wenn die hier vertretene These, was ich befuerworte, auf reales menschliches Verhalten uebertragbar ist, dann ist moralisches Verhalten auf evolutionaere Entwicklung zurueckfuehrbar und goettliche Fuehrung fuer selbiges nicht noetig. Es ist kausales Ergebnis natuerlicher Voraussetzungen und bedarf keiner goettlichen Fuehrung (Theismus). Allenfalls eine deistische Interpretation, nach der es einen urspruenglichen Weichensteller gegeben haben koennte, waere denkbar, aber was diese Frage angeht, haben Sie ja dankenswerterweise schon Ihre Ausfuehrungen zum Multiversum gebloggt.

str1977 ( gelöscht )
Beiträge:

01.06.2009 09:40
#242 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten
Zitat von ak
Zunaechst einmal sei gesagt, dass ich Religion als keine geeignete Grundlage fuer Moral halte, zumal es genuegend Beispiele religioes begruendeter Untaten gibt.


Das würde dann aber auch "die Vernunft" disqualifizieren, weil es genug mit der Vernuft begründete Untaten gab.

Andererseits ist das wiederum eine Vernunftüberlegung, wäre damit also ...

Untaten werden nicht von "der Religion" begannen oder von "der Vernunft" sondern von Menschen.

"Die Religion" gibt es ohnehin nicht, sondern viele verschiedene. Und die Frage ist auch immer, ob die verübten Untaten aus den Prinzipien einer Religion fließen oder diesen entgegenstehen.

"Die Vernunft" mag es zwar geben, doch ist man sich darüber auch nicht eins geworden.

In Antwort auf:
Die eigentliche Frage ist, ob uns die Vernunft allein eine solche Grundlage liefern kann. Ich bin davon ueberzeugt, dass dies der Fall ist,


Also auch eine religiöse Überzeugung.

In Antwort auf:
... zumal es eine Bankrotterklaerung des Humanismus waere,


Manche Unternehmen oder Gedanken sind halt so bankrott, daß sie ehrlicherweise um eine entsprechende Erklärung nicht umhin kämen.

In Antwort auf:
Ganz im Gegenteil denke ich, dass der freie Wille, im Sinne des kantschen "sapere aude", eine unabdingbare Voraussetzung ist, den jeweils anderen Menschen als ein den gleichen Widrigkeiten unterworfenes und mit den gleichen Faehigkeiten zur Sympathie ausgestattetes - und damit zur Solidaritaet zum Naechsten befaehigtes - Individuum zu erkennen.


Ja, aber führt denn nicht viele das "Sapere aude" zu ganz anderen, überhaupt nicht menschenfreundlichen oder mit dem freien Willen rechnenden Überlegungen?

So wichtig wie sie natürlich ist, allein die Vernunft kann es also auch nicht sein.

Gruß,
str1977

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Zettel Offline




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01.06.2009 10:47
#243 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten

Zitat von ak
Ganz im Gegenteil denke ich, dass der freie Wille, im Sinne des kantschen "sapere aude", eine unabdingbare Voraussetzung ist, den jeweils anderen Menschen als ein den gleichen Widrigkeiten unterworfenes und mit den gleichen Faehigkeiten zur Sympathie ausgestattetes - und damit zur Solidaritaet zum Naechsten befaehigtes - Individuum zu erkennen. Gesteht der eine, auf Basis dieser Erkenntnis, dem anderen die gleichen Rechte zu, wie sich selbst, gewinnt er (und damit der andere auch - wegen des Zugestaendnisses der gleichen Rechte) die Menschenwuerde (selbst wenn der andere es aus verstaendlichen Gruenden - wie einer geistigen Behinderung - nicht (aus eigener Vernunft) kann).

Damit haben Sie, lieber ak, den Kern der Kant'schen Moral sehr treffend zusammengefaßt. Ich habe Gorgasal dazu ja noch Antworten versprochen, und sie kommen auch. Da Sie schreiben, daß Sie wenig Zeit haben, werde ich Sie dann per Private Mail informieren, wenn es Ihnen recht ist.
Zitat von ak

Vor einigen Jahren habe ich in einem Sonderheft von "Spektrum der Wissenschaft" einen Artikel gelesen, der auf moegliche evolutionaere Urspruenge kooperativen - und damit, weitergedacht, moralischen - Verhaltens hinweist.

Darauf würde ich in dieser Diskussion auch noch gern eingehen. Dieses Forschungsgebiet ist ja sehr aktuell; und sicherlich gibt es da viele interagierende Aspekte. Unmoralisches Verhalten zahlt sich letztlich nicht aus. Moral hat auch eine funktionelle Seite.

Ich habe mich gefreut, wieder einmal etwas von Ihnen zu lesen!

Herzlich, Zettel

Gorgasal Online




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01.06.2009 11:32
#244 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten

Zitat von ak
Zunaechst einmal sei gesagt, dass ich Religion als keine geeignete Grundlage fuer Moral halte, zumal es genuegend Beispiele religioes begruendeter Untaten gibt.

Darauf hat schon str1977 geantwortet: insofern es genügend Beispiele "vernünftig" begründeter Untaten gibt, funktioniert das Argument nicht. Aber das hatten wir in der Tat schon ausgiebig diskutiert (oder eher: uns gegenseitig an den Kopf geworfen, gelernt hat da möglicherweise keiner etwas ).

Zitat von ak
Die eigentliche Frage ist, ob uns die Vernunft allein eine solche Grundlage liefern kann. Ich bin davon ueberzeugt, dass dies der Fall ist, zumal es eine Bankrotterklaerung des Humanismus waere, benoetigte die Menschheit einer wohlwollenden, unser Handeln beeinflussenden Gottheit, um einander nicht zum Wolf zu werden.

Zwei Punkte: erstens ist es kein Argument, dass nicht sein kann, was nicht sein darf - vielleicht ist der Humanismus ja in der Tat bankrott? Aber Sie hatten das ja auch gar nicht als Argument angeführt, nur als Illustration.

Zweitens: als einer der Quotenkatholiken hier erlaube ich mir, auf die katholische Ansicht hinzuweisen. Nach unserer Ansicht bedarf es im engeren Sinne keiner Gottheit, um uns vom Wolfsein abzuhalten - ein guter Teil der Moral ist auch Nicht-Gläubigen durch die Vernunft zugänglich. Insofern trennt uns vielleicht nicht so viel. Außer dass ich sehr große Schwierigkeiten mit "sola ratio" habe. Aber dazu mehr, sobald uns Zettel die kantianische Ansicht dargelegt hat.

Zitat von ak
Ganz im Gegenteil denke ich, dass der freie Wille, im Sinne des kantschen "sapere aude", eine unabdingbare Voraussetzung ist, den jeweils anderen Menschen als ein den gleichen Widrigkeiten unterworfenes und mit den gleichen Faehigkeiten zur Sympathie ausgestattetes - und damit zur Solidaritaet zum Naechsten befaehigtes - Individuum zu erkennen. Gesteht der eine, auf Basis dieser Erkenntnis, dem anderen die gleichen Rechte zu, wie sich selbst, gewinnt er (und damit der andere auch - wegen des Zugestaendnisses der gleichen Rechte) die Menschenwuerde (selbst wenn der andere es aus verstaendlichen Gruenden - wie einer geistigen Behinderung - nicht (aus eigener Vernunft) kann).

Mein kurzer Einwand, auf den ich auch noch von Zettel eine Antwort bekomme: erstens müsste klar sein, warum man alle Menschen gleich behandeln sollte. Diese egalitäre Haltung ist historisch keinesfalls naturgegeben, und ich würde die These aufstellen, dass sich dafür ein christliches Fundament ganz besonders eignet.

Und zweitens beruht das Argument darauf, was genau ein Mensch ist, selbst wenn wir uns auf eine Gleichbehandlung von Menschen geeinigt haben. Sind Behinderte Menschen? Juden? Frauen? (Letzteres, weil in Schweden unlängst richterlich festgestellt wurde, dass eine Abtreibung allein aus dem Grund, dass es sich um einen weiblichen Fötus handelt, kein rechtliches Problem darstellt - so weit ist die Frauenbewegung gekommen.)

Zitat von ak
Waeren wir eine Spezies, die hierfuer der goettlichen Intervention (Erloesung) bedarf, haetten wir keine Menschenwuerde. Allenfalls waeren wir Beguenstigte einer Gotteswuerde.

Siehe oben, das ist zumindest nicht orthodoxe katholische Position. Kann natürlich sein, dass andere Religionen genau so argumentieren.

Zitat von ak
Vor einigen Jahren habe ich in einem Sonderheft von "Spektrum der Wissenschaft" einen Artikel gelesen, der auf moegliche evolutionaere Urspruenge kooperativen - und damit, weitergedacht, moralischen - Verhaltens hinweist. Dazu gibt es auch einen Artikel in Wikipedia. Wenn die hier vertretene These, was ich befuerworte, auf reales menschliches Verhalten uebertragbar ist, dann ist moralisches Verhalten auf evolutionaere Entwicklung zurueckfuehrbar und goettliche Fuehrung fuer selbiges nicht noetig. Es ist kausales Ergebnis natuerlicher Voraussetzungen und bedarf keiner goettlichen Fuehrung (Theismus).

Das ist eine ernstzunehmende Fragestellung. Allein: überprüfbar ist das nicht (Zettel bezeichnet derlei Spekulation gerne als "wissenschaftlich unfruchtbar"). Und: meines Erachtens muss man, um eine evolutionäre Grundlage dafür zu finden, dass man alte und kranke Mitglieder der Spezies sowie Mitglieder konkurrierender Gruppen nicht über die Klinge springen lassen sollte, sich sehr hintenrum über verbiegen.

--
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Gorgasal Online




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01.06.2009 11:40
#245 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten

Zitat von Zettel
Unmoralisches Verhalten zahlt sich letztlich nicht aus.

Dafür können Sie viele Belege anbringen, und ich dagegen. Beispielsweise hat sich (aus meiner Sicht) unmoralisches Verhalten sehr ausgezahlt für:
- Stalin
- Mao
- Leopold II. von Belgien
- einen Haufen DDR-Bonzen

Und das jeweils nebst Mitarbeitern. Da war es typischerweise nur eine Frage, ob man vor oder nach dem bitteren Ende ablebte. Aktuelle Beispiele finden sich in jeder Nachrichtensendung.

Natürlich gab es recht viele Leute, für die sich dieses unmoralische Verhalten in der Tat nicht auszahlte. Aber inwiefern die überhaupt zählen, hat wie oben geschrieben weder die Vernunft noch die Evolution für mich befriedigend beantwortet. Ebensowenig, warum es erstrebenswert sein soll, dass die Geschichte nicht aus einer Abfolge Dritter Reiche besteht.

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Zettel Offline




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01.06.2009 12:23
#246 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten

Zitat von Gorgasal
Zitat von Zettel
Unmoralisches Verhalten zahlt sich letztlich nicht aus.

Dafür können Sie viele Belege anbringen, und ich dagegen. Beispielsweise hat sich (aus meiner Sicht) unmoralisches Verhalten sehr ausgezahlt für:
- Stalin
- Mao
- Leopold II. von Belgien
- einen Haufen DDR-Bonzen
Und das jeweils nebst Mitarbeitern.

Da habe ich mich, lieber Gorgasal, offenbar mißverständlich ausgedrückt. Es ging ja um evolutionäre Psychologie. Und darauf bezog sich meine Bemerkung: Daß sich in der Evolution unmoralisches Verhalten nicht auszahlt. Es ist nicht gut für die Weitergabe der eigenen Gene.

Herzlich, Zettel

Gorgasal Online




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01.06.2009 12:34
#247 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten

Zitat von Zettel
Es ging ja um evolutionäre Psychologie. Und darauf bezog sich meine Bemerkung: Daß sich in der Evolution unmoralisches Verhalten nicht auszahlt. Es ist nicht gut für die Weitergabe der eigenen Gene.

Das verstehe ich nun gar nicht. Vergewaltigungen erhöhen sicher meine Chancen auf Weitergabe meiner Gene. Das Argument, die Vergewaltiger würden von den Moralisten geschnappt, zählt ab dem Zeitpunkt nicht mehr, wenn die Vergewaltiger mehr Kinder gezeugt haben als die ehrlichen Familienväter, und das kann schnell sein.

--
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Zettel Offline




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01.06.2009 12:51
#248 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten

Zitat von Gorgasal
Zitat von Zettel
Es ging ja um evolutionäre Psychologie. Und darauf bezog sich meine Bemerkung: Daß sich in der Evolution unmoralisches Verhalten nicht auszahlt. Es ist nicht gut für die Weitergabe der eigenen Gene.

Das verstehe ich nun gar nicht. Vergewaltigungen erhöhen sicher meine Chancen auf Weitergabe meiner Gene. Das Argument, die Vergewaltiger würden von den Moralisten geschnappt, zählt ab dem Zeitpunkt nicht mehr, wenn die Vergewaltiger mehr Kinder gezeugt haben als die ehrlichen Familienväter, und das kann schnell sein.

Ich hatte, lieber Gorgasal, ja schon geschrieben, daß ich gern darüber mal im Einzelnen diskutieren würde und daß es ziemlich kompliziert ist.

Es geht ja nicht, in Ihrem Beispiel, darum, ob ein Vergewaltiger seine Gene weitergibt. Sondern evolutionsbiologisch geht es darum, ob eine genetisch verankerte Neigung zum Vergewaltigen über viele Generationen hinweg die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß dieses, nennen wir es mal vereinfachend so, "Vergewaltiger-Gen" weitergegeben wird.

Dabei spielen nun viele Faktoren eine Rolle. Der Vergewaltiger kümmert sich zB in der Regel nicht um die Aufzucht seiner Kinder, was deren Überlebenschancen mindert. Er wird möglicherweise aus der sozialen Gemeinschaft ausgeschlossen, so daß seine Chance sinkt, an Nahrungsmittel zu kommen. Und so fort. Die evolutionäre Psychologie versucht das im einzelnen aufzudröseln, aber es ist methodisch sehr schwer.

Noch schwieriger wird es, wenn man realistischerweise annimmt, daß es gar kein "Vergewaltiger-Gen" gibt, sondern daß an diesem Verhalten zahlreiche Gene (die zB die Aggressivität, die Selbstkontrolle und die Libido bestimmen) beteiligt sind.

Herzlich, Zettel

str1977 ( gelöscht )
Beiträge:

01.06.2009 13:05
#249 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten

Zitat von Gorgasal
Und zweitens beruht das Argument darauf, was genau ein Mensch ist, selbst wenn wir uns auf eine Gleichbehandlung von Menschen geeinigt haben. Sind Behinderte Menschen? Juden? Frauen? (Letzteres, weil in Schweden unlängst richterlich festgestellt wurde, dass eine Abtreibung allein aus dem Grund, dass es sich um einen weiblichen Fötus handelt, kein rechtliches Problem darstellt - so weit ist die Frauenbewegung gekommen.)


Ja, da sieht man letztlich die Aporie des "modernen" Feminismus: zwar will man sich für Frauen einsetzen, weiß dann aber nicht weiter wenn Frauen gegen Frauen vorgehen. In diesem Fall gibt es zwei Auswege:

-der klassische Feminismus, der ja durchaus oft gegen Abtreibung eingestellt war, würde die schwache (weil ungeborene) Frau gegen die starke (weil geborene) schützen

-der Alice-Schwarzer-Extrem-Feminismus unterscheidet einfach zwischen der Abtreibung von männlichen und weiblichen Menschen. Letzteres ist okay, da Männer ohnehin der Feind und rechtlos seien, letzteres nicht.

Aber dies nur nebenbei.

Zitat von Gorgasal
Zitat von ak
Waeren wir eine Spezies, die hierfuer der goettlichen Intervention (Erloesung) bedarf, haetten wir keine Menschenwuerde. Allenfalls waeren wir Beguenstigte einer Gotteswuerde.

Siehe oben, das ist zumindest nicht orthodoxe katholische Position. Kann natürlich sein, dass andere Religionen genau so argumentieren.


Ich würde sogar weiter gehen, Gorgasal. Ich wüßte keine Religion, die so argumentiert und auch nicht wie man so argumentieren könnte. Wenn eine Intervention von außerhalb die Menschenwürde antasten täte, wie sähe es mit der Menschenwürde von Arbeitnehmern aus? Oder nur derer von Menschen, die in einem nichtanarchistischen System leben? Mal von der historischen Tatsache abgesehen, daß der Begriff Menschenwürde aus der katholischen Theologie und Soziallehre stammt.

Gruß,
str1977

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Liberalismus ist die Ideologie, die, wenn etwas zu verderben droht, nicht nur nichts unternimmt, sondern auch anderen von Gegenmaßnahmen abrät, um anschließend das verfaulte Resultat zum Ideal zu erklären.

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str1977 ( gelöscht )
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01.06.2009 13:08
#250 RE: Zettels OsterfragerEi (5): Braucht Moral die Religion? Antworten

Zitat von Zettel
Zitat von Gorgasal
Zitat von Zettel
Unmoralisches Verhalten zahlt sich letztlich nicht aus.

Dafür können Sie viele Belege anbringen, und ich dagegen. Beispielsweise hat sich (aus meiner Sicht) unmoralisches Verhalten sehr ausgezahlt für:
- Stalin
- Mao
- Leopold II. von Belgien
- einen Haufen DDR-Bonzen
Und das jeweils nebst Mitarbeitern.

Da habe ich mich, lieber Gorgasal, offenbar mißverständlich ausgedrückt. Es ging ja um evolutionäre Psychologie. Und darauf bezog sich meine Bemerkung: Daß sich in der Evolution unmoralisches Verhalten nicht auszahlt. Es ist nicht gut für die Weitergabe der eigenen Gene.


Also wenn wir Mao und Henry Kissinger folgen, daß Macht das größte Aphrodisiakum ist, dann würde das Innehaben der Macht auch die Fortpflanzungsfähigkeit steigern und wäre dann evolutionär von Vorteil.

Zumindest wenn wir Evolution mit den Ideen des Sci-Fi-Autoren Dawkins identifizieren. Ehrlich gesagt habe ich keinerlei Interesse daran, meine Gene weiterzugeben.

Gruß,
str1977

Faschismus und Antifaschismus sind nicht dasselbe, genausowenig wie Libanon und Antilibanon. Aber beide sind aus Stein gemacht.

Liberalismus ist die Ideologie, die, wenn etwas zu verderben droht, nicht nur nichts unternimmt, sondern auch anderen von Gegenmaßnahmen abrät, um anschließend das verfaulte Resultat zum Ideal zu erklären.

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