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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
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Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

26.12.2015 11:04
#176 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Emulgator im Beitrag #166
Zitat von Fluminist im Beitrag #165
Zitat von Emulgator im Beitrag #164
Der Nichtglauben an einen personalen Gott geht bei Bormann und Komplizen ganz unumwunden mit einer Ignoranz gegenüber persönlichen Belangen der Menschen einher; das ist klar.

Das ist klar. Aber ebenso wie etwas nicht wahr ist, nur weil es in der Bibel steht, ist etwas anderes noch nicht falsch, nur weil Martin Bormann es geschrieben hat.
Demagogen aller Art machen ihre ideologischen Pillen mit einem Zuckermantel aus ersichtlichen Wahrheiten leichter schluckbar.
Man muß es vom anderen Ende anfassen: Nicht das Pantheon prägt die Gewissenshaltung zum Ausdruck, sondern die Gewissenshaltung wird durch das Pantheon ausgedrückt. Steht für mich der Mensch im Mittelpunkt, dann muß Gott personal sein. Steht für mich ein Naturprinzip im Mittelpunkt, dann ist Gott ein unpersonales Naturprinzip. Das sollte für Konfessionslose doch recht leicht zu verstehen sein, weil bei ihnen eher die Gewissenshaltung die Konstante ist und nicht die Religionszugehörigkeit oder das Glaubensbekenntnis. Entsprechend wird ja argumentiert: Die Kirche macht die schlechte Sache XY, deswegen glaube ich nicht mehr an Gott. Nur sollte man nicht bei der Negation stehenbleiben, sondern sich um eine eigene richtige Anschauung bemühen: Wenn ich YX eine gute Sache finde, wie sieht dann mein Gott aus?

Vielen Dank, das ist viel klarer. Die menschlichere Religion hat den menschlicheren Gott. Aber trifft es dann nicht der a-theistische* Humanist noch besser, der seine Ethik überhaupt nicht mehr aus der Idee eines übermenschlichen Gottes, sondern aus dem eigenen Menschsein ableitet?

Und wie läßt sich der (angenehm skeptische) subjektive Relativismus, der aus Ihren Worten spricht und den Gottesbegriff als Zweckkonstruktion (eben Ausdruck und Unterfütterung einer "Gewissenshaltung" oder Ethik) betrachtet, mit dem Alleingültigkeitsanspruch verschiedener Religionen vereinbaren?

A propos Gewissenshaltung: das Gewissen ist uns eine natürliche ethische Richtschnur, dafür, auf es zu hören, brauchen wir keine transzendenten Konstruktionen, sondern nur Übung in Ehrlichkeit uns selbst gegenüber. Damit ist schon viel getan. Nun könnte man einwenden, daß es in der Bevölkerung einen gewissen Anteil an Psychopathen gibt, die kein hinreichendes Gewissen haben; das stimmt; aber diese wenden ggf. auch explizit gemachte und organisierte "Gewissenshaltungen" zu ihrem Nutzen und werden zu Torquemadas u. dgl.
_____________________

* a-theistisch (auf den Gottesbegriff verzichtend), nicht antitheistisch (die Existenz von Göttern leugnend) wie z.B. oft Dawkins

Daska Offline




Beiträge: 245

26.12.2015 18:35
#177 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Diese Diskussion verfolge ich sehr gerne.
Darf ich rückfragen?
Ist Ihre Unterscheidung

Zitat
* a-theistisch (auf den Gottesbegriff verzichtend), nicht antitheistisch (die Existenz von Göttern leugnend) wie z.B. oft Dawkins


allgemein üblich? Ich war in der Tat der Meinung, ein Atheist glaube nicht an Gott?

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

26.12.2015 18:52
#178 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Daska im Beitrag #177
Diese Diskussion verfolge ich sehr gerne.
Darf ich rückfragen?
Ist Ihre Unterscheidung

Zitat
* a-theistisch (auf den Gottesbegriff verzichtend), nicht antitheistisch (die Existenz von Göttern leugnend) wie z.B. oft Dawkins

allgemein üblich? Ich war in der Tat der Meinung, ein Atheist glaube nicht an Gott?


Das wird meines Wissens meistens zusammengeworfen, und die manchmal ins Absurde (und der Qualität ihrer Argumentation eher Abträgliche) gleitende Bissigkeit prominenter Atheisten wie Richard Dawkins oder Christopher Hitchens trägt dazu bei, daß allgemein das Wesen des Atheismus in der Negativität gesehen wird.
Deshalb wollte ich hier genau unterscheiden und die positive, positivistische Seite betonen.

Daska Offline




Beiträge: 245

27.12.2015 09:24
#179 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #178
Zitat von Daska im Beitrag #177
Diese Diskussion verfolge ich sehr gerne.
Darf ich rückfragen?
Ist Ihre Unterscheidung

Zitat
* a-theistisch (auf den Gottesbegriff verzichtend), nicht antitheistisch (die Existenz von Göttern leugnend) wie z.B. oft Dawkins

allgemein üblich? Ich war in der Tat der Meinung, ein Atheist glaube nicht an Gott?

Das wird meines Wissens meistens zusammengeworfen, und die manchmal ins Absurde (und der Qualität ihrer Argumentation eher Abträgliche) gleitende Bissigkeit prominenter Atheisten wie Richard Dawkins oder Christopher Hitchens trägt dazu bei, daß allgemein das Wesen des Atheismus in der Negativität gesehen wird.
Deshalb wollte ich hier genau unterscheiden und die positive, positivistische Seite betonen.


Die Notwendigkeit, hier zu unterscheiden, sehe ich auch. Ich hinterfrage lediglich die Begrifflichkeit:
Wird jemand, der so denkt wie der, den Sie hier dem Antitheisten gegenüberstellen, nicht als funktionaler Atheist bezeichnet?

Peter Zeller Offline



Beiträge: 164

27.12.2015 12:04
#180 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Fluminist,

in Analogie zur Non-A-Non B-Hepatitis, die dann zur Hepatitis C wurde, könnte man von non-theistisch reden, wobei ich immer dachte das A in Atheismuus sei das Alpha privativum.

Gruß PCZ

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

27.12.2015 13:17
#181 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Peter Zeller im Beitrag #180
… wobei ich immer dachte das A in Atheismus sei das Alpha privativum.

Ist es. Man kann es aber dennoch auf zweierlei Art interpretieren, entweder als Abwesenheit des Gottesbegriffs in einer Ethik und Philosophie, die auf ihn verzichtet, oder als Programm, die Existenz eines oder mehrerer Götter zu leugnen und möglichst alle von dieser vermeintlichen Wahrheit zu überzeugen. Wenn man das erste konsequent betreibt, hält man das zweite bald für eine ebenso sinnfreie und überflüssige Übung wie andere theologische Spitzfindigkeiten.

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

27.12.2015 16:55
#182 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Ihre Frage war: Heute sei der "Begriff eines personalen Gottes mega out, eine Zumutung für denkende Menschen",

lieber Peter Zeller.

Nun komm ich nach den Festtagen zur Fortsetzung. Den ersten Teil, welchen Gottesbegriff ich habe, habe ich oben grob umrissen. Es fehlt noch die Antwort zu: Warum ist dieser 'Gott' nicht nur ein überholter Name für die Kraft im Universum, wie kann er denn personal sein?

Während meines Theologiestudium übernahm ich selber den Pantheismus unserer Klassiker und der Hegel-Philosophie. Nach einer sechswöchigen Griechenlandreise schrieb ich in mein Tagebuch: "Ich bin kein Christ mehr, sondern Panentheist." Diese Feinheit Pan-en-theist bedeutet: Nicht Austausch des Schöpfergottes durch die Materie, sondern Überzeugung von einer 'göttlichen' Geistmacht in jedem Atom der Materie. Ich will den weiteren Weg meiner Suche nicht schildern, sondern zur Sache "personaler Gott?" kommen.

Wie kam es zu diesem die Bibel bestimmenden Gottesbild? Die Nennung zweier Schritte aus diesem Prozess muss hier als Beleg genügen:
Die Wurzeln für einen solchen Gottesbegriff lassen sich in den sog. Vätergeschichten erkennen. Drei Sippen, die Jakobgruppe, die Isaaksippe und die Abrahamleute hatten jeweils eine Schutzgott-Erfahrung ("Gott Abrahams", "Gott Isaaks", "Gott Jakobs") und diese drei Götter wurden später identifiziert mit dem "Gott der Moseleute" und der Gotteserfahrung weniger weiterer Gruppen aus der Wüste (zu erkennen an den unterschiedlichen Palladien). Aber eben nicht mit allen anderen Götter-Erfahrungen der Umwelt Kanaans. Gemeinsam war die religionsgeschichtliche Einsicht: Dieser Schutzgott hat eine Beziehung zu einer Personengruppe und nicht zu Stein oder Baum oder Territorium oder politischer Macht (Ausnahme: Wallfahrtsberg. Unglaublicherweise blieb der Gott vom Berg Ausländer für Israel, zog nicht um in den Tempel von Jerusalem, sondern musste in Kriegsfällen jeweils aus der Ferne mit der Sturmwolke anreisen, um zu helfen).

Als sich eine Reihe Stämme um diese Gotteserfahrung gesammelt hatte (mit der Mitte: Gott befreite uns aus Ägypten, er ist also Herr der ganzen Weltvölker), wurden die Lade, ein Kasten, und das heilige Zelt (ursprünglich wohl Einzelheiligtümer von Gruppen) zum Mittelpunkt; in dem Kasten soll der Dekalog vom Sinai gelegen haben.
Der nächste Schritt geschah in der Bewältigung des mit der Gottesherrschaft rivalisierenden (aber zur militärischen Sicherung der Freiheit nötigen) Königtums und dessen pluralistischer Religionspolitik. Der Tempel war eigentlich eine Palastkapelle auch für die Götter der angeschlossenen Völkerschaften. Im Land galt vor allem ein territoriales Religionsverständnis: Baal existierte männlich und weiblich in vielen Formen, und wurde auf jeder Bergeshöhe, unter vielen Bäumen als Spender von Regen und Fruchtbarkeit verehrt, zuständig auch für die Sexualität und die politische Macht. Baal hatte gleichsam Blut und Boden Kanaans geheiratet.

Im 8. Jh. kam der Prophet Hosea auf die Idee, den Glauben Israels bildkräftig dem Baal entgegenzusetzen: Er heiratete eine Kultdirne oder vielleicht auch nur eines der meisten Mädchen, die dem Baal ihre Jungfräulichkeit geopfert hatten, und machte daraus ein öffentliches Zeichen: Israel sei abgefallen von seinem Gott, es lebe im Ehebruch, aber Gott würde ihm vergeben, wenn es umkehre. Hosea schuf den Gedanken: JHWH ist auch verheiratet, aber nicht mit dem Erdboden, sondern mit einer Personengruppe, eben seinem Volk, das anders, aufgeklärt und sozial vorbildlich leben soll. Damit war der jüdische Gott als Person, als enttäuschter, aber verzeihender Bräutigam begriffen, ein neuer Gedanke für Israel.
Es gab dann zu Ende des 7. Jhs und im frühen 6. Jh die großen Propheten Jeremia und Ezechiel, die diesen Gedanken des Hosea aufnahmen und die Krise mit der Deportation der Juden nach Babel ins Exil so bewältigten: Wir sind nicht umgekehrt, Gott liebt uns aber weiter, das Exil ist eine erzieherische Strafe. Damit geschah etwas höchst Seltsames in der Religionsgeschichte: Kein Wechseln der Besiegten zum Gott der Sieger.
Und viele Juden leben noch heute diesen Glauben (obwohl bei der Erklärung der Shoah diese Deutefigur versagen musste. Hier müssten nun die Christen einspringen: Wir waren schuld an eurem Leidenmüssen.)

Vielleicht ist durch die knappe Schilderung der Herkunft der Person-Auffassung die Frage besser beantwortet als durch eine philosophisch-dogmatische Begründung.

Ludwig Weimer

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

27.12.2015 18:00
#183 RE: „Wie wollen wir leben?" Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #176
Vielen Dank, das ist viel klarer. Die menschlichere Religion hat den menschlicheren Gott. Aber trifft es dann nicht der a-theistische* Humanist noch besser, der seine Ethik überhaupt nicht mehr aus der Idee eines übermenschlichen Gottes, sondern aus dem eigenen Menschsein ableitet?


Zitat von Fluminist im Beitrag #176
Und wie läßt sich der (angenehm skeptische) subjektive Relativismus, der aus Ihren Worten spricht und den Gottesbegriff als Zweckkonstruktion (eben Ausdruck und Unterfütterung einer "Gewissenshaltung" oder Ethik) betrachtet, mit dem Alleingültigkeitsanspruch verschiedener Religionen vereinbaren?
Zweckkonstruktion trifft es nicht ganz, weil eine verzweckte Ethik ja keine mehr ist. Ich weiß zwar, was Sie meinen, möchte den Gedanken zur Antwort aber weiterverfolgen. Wie fühlt es sich an, wenn das Verhalten in zwischenmenschlicher Begegnung davon bestimmt wird, was via einer Zivilreligion zum Zwecke eines politisch-gesellschaftlichen Wohlergehens gefordert wird? Man würde so leben wie die handelnden Personen einer Geschichte nach dem Stil des sozialistischen Realismus. Ich kann mir daher nicht denken, wie diese "Zweckkonstruktion", die die Wichtigkeit menschlicher Begegnung ausdrückt, etwas anderes sein kann, als etwas, mit dem man eben diese menschliche Begegnung haben kann. Um einen lebendigen, personalen Jesus kommt man also nicht herum.
Man kann sich freilich des Gottesbegriffs entledigen. Das entspräche einer Art "Enthellenisierung". In der jüngeren (protestantischen) Kirchengeschichte gibt es die Idee der Enthellenisierung und Entmythologisierung, wonach die eigentliche Botschaft Jesu (das Kerygma) durch heidnisch-griechische Konzepte verstellt sei und eigentlich nur auf jüdischen Gedanken fuße. An dieser Idee ist auszusetzen, daß die heidnisch-griechische Begriffswelt und Philosophie es ermöglicht hat, Gedanken schärfer auszudrücken, als es allein mit dem hebräisch-jüdischen Begriffen möglich gewesen wäre. Ausgerechnet so gelungen präzise Begriffe wie Kerygma, Atheismus und Antitheismus zeigen dies sehr schön. Eine Enthellenisierung --oder eben der Versuch, seine Gewissensgrundlage ohne theistisches Vokabular zu erklären-- wäre daher kein Gewinn für ein reines Christentum --oder einen reinen Humanismus--, sondern ein Verlust, weil man sich traditionelle und verstandene Ausdrucksmöglichkeiten "verbietet".

Daß ausgerechnet die Evangelisten selber --insbesondere Johannes-- keine Scheu hatten, sich der heidnischen Ausdrucksmittel zu bedienen, zeigt, daß der Allgemeingültigkeitsanspruch, der den Christen unterstellt wird, so nicht ganz zu halten ist. Richtig ist natürlich, daß man einen Glauben nur hat, wenn man ihn für richtig hält, und wenn er für mich richtig ist, weil ich Mensch bin, dann ebensoviel für jene, die ebensoviel Mensch sind wie ich (Mit "rassistischen" Religionen in die man nur geboren werden kann, mag es anders sein). Ja, das ist ein Allgemeingültigkeitsanspruch, wie ihn auch die allgemeine Erklärung der Menschenrechte für sich erhebt. Allerdings schämt man sich nicht der "Inkulturation", also der Möglichkeit, christliche Gedanken zu erklären und weiterzuentwickeln mit den Möglichkeiten einer (vormals) nichtchristlichen Kultur. Bedeutendstes (wenn auf rudimentäres) Beispiel ist hierbei die Areopag-Rede des Paulus (ab Apg. 17,22).

Zitat von Fluminist im Beitrag #176
A propos Gewissenshaltung: das Gewissen ist uns eine natürliche ethische Richtschnur, dafür, auf es zu hören, brauchen wir keine transzendenten Konstruktionen, sondern nur Übung in Ehrlichkeit uns selbst gegenüber. Damit ist schon viel getan.
Die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber ist leider an den kritischsten Stellen deutlich schwieriger als die Ehrlichkeit anderen gegenüber.

Zitat von Fluminist im Beitrag #176
Nun könnte man einwenden, daß es in der Bevölkerung einen gewissen Anteil an Psychopathen gibt, die kein hinreichendes Gewissen haben; das stimmt;
Es gibt in der Tat Fälle von Hirnläsionen, die wirklich zu gewissenlosen Verhalten führen. Solche Menschen können dann gar nicht mehr erklären, warum eine Tat gut oder schlecht sein soll, selbst wenn sie wollten. Das ist aber extrem selten. Für Kriminalität sind immer nur geistig Gesunde verantwortlich.

Peter Zeller Offline



Beiträge: 164

28.12.2015 06:39
#184 RE: „Wie wollen wir leben?" Antworten

Es ist nicht notwendig eine Gehirnläsion.

Gruß

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

28.12.2015 09:48
#185 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #182
Während meines Theologiestudium übernahm ich selber den Pantheismus unserer Klassiker und der Hegel-Philosophie. Nach einer sechswöchigen Griechenlandreise schrieb ich in mein Tagebuch: "Ich bin kein Christ mehr, sondern Panentheist." Diese Feinheit Pan-en-theist bedeutet: Nicht Austausch des Schöpfergottes durch die Materie, sondern Überzeugung von einer 'göttlichen' Geistmacht in jedem Atom der Materie.

Dieser Pan-en-theismus ist ja auch eher eine Sache für Philosophen, und er hat einen großartigen Vertreter in Alfred North Whitehead (dem neben dem alles überstrahlenden Bertrand Russell weitgehend vergessenen Hauptautor der Prinicipa Mathematica]). Die gegenwärtige analytische Philosophie nimmt diese Gedanken im Panprotopsychismus wieder auf (mit Vertretern wie Gregg Rosenberg und dem Münchner Jesuiten Godehard Brüntrup) und bietet einen hochinteressanten Ansatz für das Leib-Seele-Problem.

Allerdings ging es mir wie Ihnen - als Religionsersatz hat die Philosophie nur eine begrenzte Möglichkeit. Dennoch ist jedem nur anzuraten, den Heisenbergschen Becher bis auf den Grund auszutrinken.

Gruß Petz

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

Daska Offline




Beiträge: 245

28.12.2015 10:03
#186 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Für all jene, die wie ich das Gefühl haben, nicht alle Tassen im Schrank zu haben, weil in Ihrem Küchenschrank besagter Becher einfach nicht zu finden ist, geschweige denn wüssten, was der überhaupt sein soll, hier das recherchierte Zitat von Heisenberg: "Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott."

Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

28.12.2015 10:50
#187 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Daska im Beitrag #186
Für all jene, die wie ich das Gefühl haben, nicht alle Tassen im Schrank zu haben, weil in Ihrem Küchenschrank besagter Becher einfach nicht zu finden ist, geschweige denn wüssten, was der überhaupt sein soll, hier das recherchierte Zitat von Heisenberg: "Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott."

Und für alle Beckmesser sei noch hinzugefügt, dass es sich um ein zugeschriebenes Zitat handelt :)

Gruß Petz

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

28.12.2015 19:11
#188 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

"Im Kern dessen, was das Wesen der Dinge ausmacht, stoßen wir immer auf den Traum der Jugend und die Ernte der Tragödie. Das Abenteuer des Universums fängt mit dem Traum an und bringt zum Schluss eine Ernte tragischer Schönheit ein."
So schrieb Whitehead (Abenteuer der Ideen, Suhrkamp 1971,511).
Es scheint, er relativiert unsere Jugend-Einsichten und -Abenteuer? Denn S. 496 heißt es ebenfalls: "Die tiefste Definition der Jugend ist wohl, dass sie das von der Tragödie noch unberührte Leben ist."

Ich möchte ein wenig widersprechen. Ohne die radikalen Wege der Jugend gäbe es vielleicht keine Fort-Schritte. Wenn ich denke, wie alt, also wie jung die meisten unserer großen Theologen im Mittelalter waren, als sie ihre kühnen neuen Dinge schrieben! Der ältere Thomas hat aufgehört weiterzuschreiben und sagte, es sei doch nur alles Stroh. Und ich denke daran, wie bis in unsere kaum vergangene Gegenwart die alten Professoren die jungen neuen Denker nicht verstanden und die Habilitation verhindern wollten (so beim jungen Karl Rahner, so beim jungen Joseph Ratzinger). Was Leute aus der Naturwissenschaft erzählen, klingt mir ähnlich.

Nochmals eher gegen Whitehead, der sagt: "Die Kurzsichtigkeit der Jugend entspricht der Dürftigkeit ihrer Erfahrung" (497): Gewiss, freilich. Aber die Jugend ist doch die stets neue Möglichkeit von Natur und Geschichte, etwas Anderes zu erproben, das in der Ernüchterung der Alten keine Chance mehr hätte, keine Freiheit fände.

Die Tragödie auszutrinken kann nicht als das höchste Lebensziel bezeichnet werden. Nicht von Europas Aristoteles her , vielleicht von Buddha her. Und nicht einmal vom biblischen Kohelet her: "Ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe", heißt es da(9,4).

Ludwig Weimer

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.429

28.12.2015 20:17
#189 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Meister Petz im Beitrag #187
Und für alle Beckmesser sei noch hinzugefügt, dass es sich um ein zugeschriebenes Zitat handelt :)

sh. hier: https://charismatismus.wordpress.com/201...rs-wartet-gott/

Zitat
Eike Christian Hirsch 22. Juni 2015 um 16:40

Guten Tag,

Sie bringen in Ihrer verdienstvollen Sammlung auch ein angebliches Zitat von Werner Heisenberg, das eine Fälschung ist.

“Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch; aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott.“

Ich habe Heisenberg gut gekannt und habe mit ihm als Journalist über den Glauben gesprochen. Der Spruch, der Werner Heisenberg (1901-1976) zugeschrieben wird, ist eine fromme Fälschung, die den berühmten Physiker zum Glaubenszeugen machen soll. Er hat aber weder so gedacht noch so ausgeprägt bildhaft formuliert. Ein religiöses Bekenntnis war ihm fremd, wenn er mal auf Fragen der Religion eingegangen ist, etwa in seinen populären Büchern „Der Teil und das Ganze“ (S. 131 ff) und „Schritte über Grenzen“ (S. 335 ff).

Der Journalist Eike Christian Hirsch hat ihn 1971 zur religiösen Frage interviewt und das Ergebnis in seinem Buch „Expedition in die Glaubenswelt“ (S. 47 ff) wiedergegeben. Heisenberg konnte als ein mögliches Gegenüber in der Natur allenfalls eine Ordnung erkennen, im übrigen sprach er nur taktvoll und tolerant von der Religion. Seine Kinder weisen das Zitat zurück (etwa Dr. Maria Hirsch, Feldafing, Prof. Dr. Martin Heisenberg, Würzburg), weil sie darin ihren Vater nicht erkennen können.

Das Zitat, das ihm zugeschrieben wird, könnte von einem Fundamentalisten in den USA stammen, der eine Stütze des Glaubens fingieren wollte. Der Gedanke stammt jedenfalls aus der englischen Tradition, er findet sich zuerst in den „Essays Of Atheism“ von Francis Bacon (1601) und lautet: „A little philosophy inclineth man’s mind to atheism; but depth in philosophy bringeth men’s minds about to religion.“

Der Gedanke taucht wieder in Alexander Popes „An Essay on Criticism“ (1709) auf und wird dort um das Bild vom Trinken bereichert: „A little learning is a dangerous thing; drink deep, or taste not the Pierian spring: 
there shallow draughts intoxicate the brain, and drinking largely sobers us again.“ Mit „Pierian spring“ ist eine Weisheitsquelle aus der griechischen Mythologie gemeint.

Die ersten Worte werden bis heute als englisches Sprichwort zitiert, wobei jedoch aus „learning“ ein „knowledge“ wurde: “A little knowledge is a dangerous thing“. Dass die Fälschung aus dem Englischen stammt, zeigt sich auch daran, dass sie auf Deutsch in abweichenden Übersetzungen kursiert.
Mit freundlichen Grüssen

Dr. Eike Christian Hirsch, Hannover



& die Diskussionsseite in Sachen Heisenbergzitate bei Wikiquote gibt:

Zitat
Apparently the quote comes from Hildebrand, Ulrich. 1988. "Das Universum - Hinweis auf Gott?", in Ethos (die Zeitschrift für die ganze Familie), No. 10, Oktober. 72.200.216.231 16:59, 15 December 2015 (UTC)


https://en.wikiquote.org/wiki/Talk:Werner_Heisenberg



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

adder Offline




Beiträge: 1.073

29.12.2015 07:01
#190 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #189
Zitat von Meister Petz im Beitrag #187
Und für alle Beckmesser sei noch hinzugefügt, dass es sich um ein zugeschriebenes Zitat handelt :)

sh. hier: https://charismatismus.wordpress.com/201...rs-wartet-gott/

Zitat:Eike Christian Hirsch 22. Juni 2015 um 16:40
Ich habe Heisenberg gut gekannt und habe mit ihm als Journalist über den Glauben gesprochen. Der Spruch, der Werner Heisenberg (1901-1976) zugeschrieben wird, ist eine fromme Fälschung, die den berühmten Physiker zum Glaubenszeugen machen soll. Er hat aber weder so gedacht noch so ausgeprägt bildhaft formuliert. Ein religiöses Bekenntnis war ihm fremd, wenn er mal auf Fragen der Religion eingegangen ist, etwa in seinen populären Büchern „Der Teil und das Ganze“ (S. 131 ff) und „Schritte über Grenzen“ (S. 335 ff).



Danke, lieber Ulrich Elkmann, für diese nötige Aufklärung. Ich hatte schon befürchtet, dass ich eine Seite von Heisenberg, die ich noch nicht kannte, sehen müsste. Es stimmt schon: irgendwie passt dieser Spruch absolut nicht zu ihm, bzw. zu dem Bild, das von ihm bei mir angekommen ist.

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

29.12.2015 09:30
#191 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Ja, vielen Dank für den klarstellenden Beleg.

Das vorgebliche Zitat, erfunden von einem Fundamentalisten, ist so peinlich.
Ein echter Gott muss dem Menschen Freiheit geben, das heißt, er muss sich verstecken und verbergen.
Er muss sein, was wir aus Kindertagen kennen: Jemand hinter uns, der mit seinen Händen unsere Augen bedeckt und uns raten lässt, wer er ist. Aber das für immer.
Reinhold Schneider (Winter in Wien) und Romano Guardini (Tagebücher im Alter) haben das erfahren, grausam für sie, aber gut für die Wahrheit.
Gott darf nicht auf dem Grund lauern, er muss verborgen bleiben.

Religiöse Fundamentalisten halten das nicht aus. Schade, dass sie so eng sind und einen so kleinen Gottesbegriff haben.

Ludwig Weimer

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

29.12.2015 16:21
#192 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #191
Das vorgebliche Zitat, erfunden von einem Fundamentalisten, ist so peinlich.

Es taugt auch kaum als Argument für eine bestimmte Religion, denn was da nun genau in der Neige zum Vorschein kommt: der Gott, der aus dem flammenden Dornbusch spricht; der, der dem abgeordneten Erzengel Gabriel in die Feder diktiert hat, wie mit Ungläubigen zu verfahren sei; oder der allgegenwärtige, die Welt durchwabernde Geist des Panentheisten: das ist ja nun keineswegs so von vornherein klar wie der in der vermeintlichen Einzigartigkeit seines eigenen Glaubens festhängende Fundamentalist meint.

Es steckt aber auch ein Mißverständnis der Naturwissenschaft dahinter; denn für diese ist nicht das Verleugnen und Ablehnen eines primum mobile oder der Naturgeister charakteristisch, sondern vielmehr daß sie nicht mehr mit naiver Anmaßung diese durch Gebete, Beschwörungen oder Bestechungen zu außerordentlichen Wundertaten zu bringen versucht, sondern durch sorgfältige Beobachtung die regelmäßigen Gewohnheiten dieser Naturgeister zu erkennen sich bemüht und so deren spontane und ihrer Natur folgende Wirkung nutzbar macht.(*) Mit nicht zu verachtendem Erfolg, denn vieles, das uns nun durch naturwissenschaftliche Einsicht und technische Findigkeit alltäglich möglich geworden ist, hätte zu Dr Faustus' Zeiten noch als Zauberwerk gegolten.
Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #191
Schade, dass sie so eng sind und einen so kleinen Gottesbegriff haben.

Da sagen Sie es, was mir an den Fundamentalisten oft mangelhaft erscheint, allerdings auch gerade an den sogenannten Buchreligionen: daß sie einen so kleinen Gottesbegriff haben, den sie zwar einerseits mit abstrakten Superlativen ausstaffieren, andererseits aber ihn in ihrem Buch oder Innenleben suchen und nicht in der Welt, deren Vielfalt in jedem ihrer Elemente eine göttliche Offenbarung ist, die weit über jedes Buch hinausgeht. Der Drang nach Einheit und Einfachkeit führt sie zu einer Ablehnung der Welt, weil sie ihnen zu kompliziert ist, zu einer Abwendung von der Welt (wie der des Karthäusers in seiner Zelle; wie der des fanatischen Wahhabiten, der zum Preise seines einigen Gottes in seiner Monomanie die ganze Welt in Stücke zu sprengen willens ist), die in meinen Augen gerade in tragischer Verfehlung eine Abwendung vom in der Welt manifestierten Göttlichen ist.
Weil sie den verwirrenden Glanz der göttlichen Vielheit nicht zu ertragen vermögen, wenden sie sich in die traute Sargkammer einer wohlig-irrigen Idee.
Weil sie der Aufgabe, als frei kreatives agens der fortschreitenden Schöpfung zu wirken, nicht gewachsen sind, klammern sie sich an den Wortlaut archaischer Gesetze.

(*) Natura enim non nisi parendo vincitur. Francis Bacon, Novum Organum

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

29.12.2015 21:38
#193 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Lieber Fluminist,

es gab und gibt auch nichtfundamentalistische Christen und einer war wirklich ein ganzer Christ und zugleich ein Dichter und beschrieb unsere Frage des Schweigens der Natur über Gott so:

„Gott ist Geist, ist unsichtbar, und das Bild der Unsichtbarkeit ist ja wieder Unsichtbarkeit: so gibt sich denn der unsichtbare Schöpfer wieder in der Unsichtbarkeit, welche die Bestimmung des Geistes ist, und Gottes Bild ist eben die unsichtbare Herrlichkeit. (…) Da Gott unsichtbar ist, so kann ihm nichts Sichtbares gleichen; eben deshalb gleicht die Lilie Gott nicht, weil die Herrlichkeit der Lilie die sichtbare ist. (…)
Geist zu sein, das ist des Menschen unsichtbare Herrlichkeit. Wenn dann der Bekümmerte draußen auf dem Felde steht, umgeben von allen Zeugen, wenn jede Blume zu ihm sagt: Gedenke Gottes! so antwortet der Mensch: das werde ich schon tun, ihr Kleinen, ich werde ihn anbeten, das könnt ihr Armen nicht. Der Aufrechte ist also ein Anbetender. Der aufrechte Gang war die Auszeichnung, aber sich anbetend niederwerfen zu können, ist doch das herrlichere; und die ganze Natur ist wie die große Dienerschaft, die den Menschen, den Herrscher, daran gemahnt, Gott anzubeten. (…)
Anbeten ist nicht herrschen, und doch ist die Anbetung eben das, wodurch der Mensch Gott gleicht. (…) Will der Mensch Gott gleichen, indem er herrscht, so hat er Gott vergessen, so ist Gott fortgegangen, und der Mensch spielt Herrscher in seiner Abwesenheit. Und solcher Art war das Heidentum, es war das Leben des Menschen in Abwesenheit Gottes. Deshalb war das Heidentum doch wie die Natur; und das düsterste, was man von ihm sagen kann, ist: es konnte nicht anbeten – selbst jener edle, einfältige Weise, er konnte schweigen vor Verwunderung, aber er konnte nicht anbeten.“

(Søren Kierkegaard, Was wir lernen von den Lilien auf dem Felde und den Vögeln des Himmels, II: Wie herrlich es ist, Mensch zu sein)

Diese Stelle - die Übersetzung aus dem Dänischen ist von Hayo Gerdes - fiel mir ein, weil ich sie neulich beim Blättern vor Augen hatte.
Mit Grüßen
Ludwig Weimer

Emulgator Offline



Beiträge: 2.875

29.12.2015 23:24
#194 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #192
Es taugt auch kaum als Argument für eine bestimmte Religion, denn was da nun genau in der Neige zum Vorschein kommt: der Gott, der aus dem flammenden Dornbusch spricht; der, der dem abgeordneten Erzengel Gabriel in die Feder diktiert hat, wie mit Ungläubigen zu verfahren sei; oder der allgegenwärtige, die Welt durchwabernde Geist des Panentheisten: das ist ja nun keineswegs so von vornherein klar wie der in der vermeintlichen Einzigartigkeit seines eigenen Glaubens festhängende Fundamentalist meint.
Ja, im Existenzbeweis müssen natürlich die charakterisierenden Eigenschaften von dem Objekt vorkommen, dessen Existenz man beweisen will. So erwartet es jeder Mathematiker und so wird er von allen Gottesbeweisen, die auf dem Markt sind, enttäuscht.

Zitat von Fluminist im Beitrag #192
Da sagen Sie es, was mir an den Fundamentalisten oft mangelhaft erscheint, allerdings auch gerade an den sogenannten Buchreligionen: daß sie einen so kleinen Gottesbegriff haben, den sie zwar einerseits mit abstrakten Superlativen ausstaffieren, andererseits aber ihn in ihrem Buch oder Innenleben suchen und nicht in der Welt, deren Vielfalt in jedem ihrer Elemente eine göttliche Offenbarung ist, die weit über jedes Buch hinausgeht.
Das ist aber gerade ignatianisch: "Gott in allen Dingen". Kein Wunder, daß die Jesuiten Bildung und Wissenschaft wertschätzen!

Peter Zeller Offline



Beiträge: 164

30.12.2015 10:10
#195 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Hallo, Alle,

Zeit für meine persönliche Schlußbilanz: Am meisten gelernt habe ich von Fluminist und Emulgator und natürlich von Elkmann; Weimer beantwortet direkte Fragen nicht, sondern schüttet einen mit Texten zu, in denen er Fragen beantwortet, die nicht gestellt wurden - ein Trick seit Erfindung der Rhetorik - , und bei Simon fehlt mir die Stringenz der Gedankenführung.

Derzeit beschäftigen mich drei Dinge:

1. Ich habe Schwierigkeiten mit dem Supervenienzbegriff bei Chalmers.
Chalmers David J.: The Conscious Mind. In Search of a Fundamental Theory. 414 pages Oxford University Press New York 1997
Er unterscheidet natürliche und logische S., die er jeweils wieder unterteilt in lokale und globale S. Warum natürliche und log. S. völlig gegensätzliche Konsequenzen haben sollen, verstehe ich nicht.
Ursprünglich dachte ich, er meint Emergenz bzw. Fulguration (K. Lorenz), aber das kann es nicht sein.

2. Wolfram:
Wolfram Stephen: A New Kind of Science. 1197 pages+Index Wolfram Media Inc. Champaign Illinois USA 2002
Der wesentliche Gedanke scheint zu sein, daß wir nicht in Einzelfakten denken sollten, sondern in Programmen, wie er das am Beispiel der zellulären Automaten belegen will.

3. Die Analogie. Nach Jahrzehnten des Nachdenkens über den Beginn des Denkens kam ich zu dem Schluß, daß die Analogie ganz am Anfang stehen muß. Dies zeigten auch die antiken Texte (gr. + röm.). Außerdem fand ich im Magazin der Landesbibliothek von Vorarlberg:
G. E. R. Lloyd: Polarity and Analogy. Two Types of Argumentation in Early Greek Thought. Cambridge 1966
Polarität, also Polares Denken, war einer meiner Pfeiler in der Entstehung der Sprache. Nun finde ich:

Hofstadter Douglas Sander Emmanuel: Die Analogie. Das Herz des Denkens. 781 Seiten WBG Darmstadt 2014 (Surfaces and Essences: Analogy as the Fuel and Fire of Thinking Basic Books New York 2013)

Mein erster Eindruck: Das Buch ist geschwätzig; Hofstadter hat sich vom Coautor mit der Franz. Postmoderne anstecken lassen (hierzu Sokal+Bricmont).

Ich schreibe das, weil hier soviel verschiedener Sachverstand versammelt ist. Bei Desinteresse einfach ignorieren.

Gruß und auf ein Neues (mit dem ich persönlich gar nicht rechnen durfte)

Peter Zeller

Llarian Offline



Beiträge: 7.117

30.12.2015 11:53
#196 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Peter Zeller im Beitrag #195
Zeit für meine persönliche Schlußbilanz: Am meisten gelernt habe ich von Fluminist und Emulgator und natürlich von Elkmann; Weimer beantwortet direkte Fragen nicht, sondern schüttet einen mit Texten zu, in denen er Fragen beantwortet, die nicht gestellt wurden - ein Trick seit Erfindung der Rhetorik - , und bei Simon fehlt mir die Stringenz der Gedankenführung.

Lieber Herr Zeller, es steht Ihnen anheim sich bei Leuten zu bedanken, wenn Sie von diesen etwas gelernt haben, allein, ihre Beurteilung von mangelnder Stringenz oder der Unterstellung rethorischer Stilmittel mit gleichzeitiger Verneinung einer Diskussion sollten Sie sich demnächst schenken. Aus solcherlei Anwürfen entsteht nie etwas konstruktives uns sie sind hier auch nicht erwünscht. Wenn Sie mit den Antworten des Gegenübers nichts anfangen können, dann fragen Sie nach, stellen etwas sachliches dagegegen oder ignorieren Sie diese. Bewertungen braucht es nicht.

Peter Zeller Offline



Beiträge: 164

30.12.2015 12:05
#197 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Vielen Dank für den Hinweis, ich werde ihn beherzigen.

Unverändert habe ich ein Problem damit, die richtigen Worte zu finden, mein Sprachinventar ist immer noch sehr begerenzt, so daß es mir schwer fällt, das auszudrücken, was ich sagen will.

Zerknirscht
Peter Zeller

Peter Zeller Offline



Beiträge: 164

30.12.2015 12:10
#198 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Sowohl nach Angaben Russells (vgl. seine Autobiographie) wie auch Whiteheads hatte Russell den Löwenanteil an der Abfassung der Principia. Daß Whitehead als Erstautor fungiert, liegt daran, daß er Russells Chef war.

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.429

30.12.2015 17:21
#199 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Lieber Herr Zeller,

Zitat von Peter Zeller im Beitrag #195
Chalmers David J.


Entre nous soit dit: Chalmers ist in dem Resonanzraum, in dem die Diskussion über die Philsophie des Geistes sich entfaltet, über Jahrzehnte hinweg, so etwas wie der Bunte Vogel, von dem man hofft, es könnten ein paar Anregungen für die eigene Begriffsbildung abfallen - aber nicht so sehr, um seinen Standpunkt zu übernehmen. Die Supervenienz hat es ja auch nie geschafft, zu einem gängigen Begriff in dieser Diskussion aufzusteigen. Wenn ich diese Umreissung nehme:
http://www.informationphilosopher.com/kn...ervenience.html
handelt es sich schlicht um die gute alte Emergenz; die Philosophenpraxis besteht darin, einen eigenen Terminus zu prägen, um (im schlechten Fall) Originalität zu beanspruchen, wo keine vorliegt, oder (im besseren Fall) Mißverständnisse zu vermeiden, weil man Weiterungen oder Eingrenzungen vornimmt, die von der alten Begrifflichkeit nicht gedeckt werden - Charles Sanders Pierce hat das mit dem "Pragmatizismus" ab ~1900 so gehalten, um seine ziemlich formal geschlossene Philosophie zum einen von der alltagpraktischen Besonnenheit, zum andern von den ihm schrecklich unsystematisch scheinenden Überlegungen von William James oder F.S.C. Schiller abzugrenzen.

Mit der Wahl des Ausdrucks "Supervenienz" ist klar, daß Chalmers sich hier auf die Begrifflichkeiten & Überlegungen von Donald Davidson bezieht, wo es (so scheint das aus der Perspektive der eher neurologisch-empirisch gegründeten Neurophilosophen wie Dennett oder den Churchlands) reichlich wittgensteinisch & begriffsverschieberisch zugeht & sehr wenig praktisch-faktisch (scholastisch nachgerade, sagt der kleine Zyniker). Ein Satz wie Davidsons zweite Formalbegründung ("at least some mental events interact causally with physical events") ist aus deren Perspektive eher nicht hilfreich: mentale Ereignisse werden als Epiphänomene, nachgeordnete, gesehen, die aus der Aktivität von Synapsen & Hirnchemie resultieren; die Annahme, das könnte seinerseits, als kausales Agens, auf die biologische - chemische - physikalische Welt (in absteigender Subvenienz) wirken, scheint a) unnötig & b) bringt immer wieder die alten Gespenster des Dualismus zum Spuken.

Zitat
2. Wolfram



Wolframs ist das letzte Großprogramm eines umfassenden Ansatzes, das beim Start ein wenig Wiederhall gefunden hat (es ist ja kurz in der Fachpresse erwähnt worden) - gewissermaßen ein letztes Echo aus jenem 20. Jahrhundert, zu dessen Kennzeichen eben solche Universalweltentwürfe zählen; und das völlig ins Leere gesprochen war: also keinerlei gedankliche Aufnahme oder Anregung erfahren hat. Das teilt dieses Projekt mit Heisenbergs Weltformel oder den Einstein-Dirac-Gleichungen (oder, auf bescheidenerem Terrain, mit Turings Wellentheorie der Morphogenese ("The Chemical Basis of Morphogenesis") & für menschlich-gebaute Strukturen, mit Christopher Alexanders Pattern language[ und Buckminster Fullers Tensegrität: kein Mensch weiss, ob das profunde ist oder eine Auftürmung mehr oder weniger wilder Assoziationen ohne Konsequenz. Man weiß nur, daß einem beim bemühten Studieren & zeilengenauen Lesen sehr schnell wird. Am Ende ist ausschlaggebend, daß sich das als nicht anschlussfähig erweist. Aus den früheren "Weltformeln" hat sich noch nie eine Voraussage für die Eigenschaften neuer Bewohner des Teilchenzoos & deren Interaktionen ergeben; nach Alexanders invariant skalierbaren Rauten & Kreisbögen hat noch kein Architekt oder Stadtplaner ein ansprechendes Gebäude oder Viertel entworfen; & von Wolfram bleibt nur das Erstaunen, wie viele 1000de weitere zellulare Automaten es neben Conways Spiel des Lebens & Langtons Ameise - & dass die allermeisten keinerlei Funktion oder Zukunft aufweisen, wenn man sie in ihrem Biotop, i.e. auf dem Rechner, laufen lässt. Was sie mit einem ebensogroßen Anteil unter den Atomen & Makromolekülen im Hinblick die Hervorbringung von Replikatoren teilen: "Lebensmoleküle" sind "letztlich" nur Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff & Phosphor/Eisen & ebim Membranaufbau siehts unter den Lipiden ebenso schütter aus.)

Zitat
Hofstadter Douglas Sander Emmanuel: Die Analogie. Das Herz des Denkens. 781 Seiten WBG Darmstadt 2014 (Surfaces and Essences: Analogy as the Fuel and Fire of Thinking Basic Books New York 2013)

Mein erster Eindruck: Das Buch ist geschwätzig; Hofstadter hat sich vom Coautor mit der Franz. Postmoderne anstecken lassen (hierzu Sokal+Bricmont



Da wird eher umgekehrt 1 Schuh draus. Hofstadter hat das eingebaut: das geht bei ihm immer uferlos, angefangen mit Gödel, Escher, Bach; er hat immer rein in sich ausweitenden Analogien gedacht à la manière Theweleit (daher auch dieses Thema): das sind alles Bücher, in denen man liest, die man aber nicht durchliest. Das macht sie sehr anregend, aber als Grundlage fürs weitere Vorgehen wenig ergiebig. Die Rezensenten sind, ganz wie Sie bemerken, in aller Regel schnell angenervt ("That said, after 500-odd pages one despairs for a little more selection, a little less repetition ... This is an original and insightful account but one that answers fewer questions than its authors imagine" meint Martin Cohen im THES), nicht zuletzt, weil sich diese diskursive Disziplinlosigkeit nicht für eine knappe Summa eignet.



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Simon Offline



Beiträge: 334

30.12.2015 22:21
#200 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

:

Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #191
Schade, dass sie so eng sind und einen so kleinen Gottesbegriff haben.

"Da sagen Sie es, was mir an den Fundamentalisten oft mangelhaft erscheint, allerdings auch gerade an den sogenannten Buchreligionen: daß sie einen so kleinen Gottesbegriff haben, den sie zwar einerseits mit abstrakten Superlativen ausstaffieren, andererseits aber ihn in ihrem Buch oder Innenleben suchen und nicht in der Welt, deren Vielfalt in jedem ihrer Elemente eine göttliche Offenbarung ist, die weit über jedes Buch hinausgeht. Der Drang nach Einheit und Einfachkeit führt sie zu einer Ablehnung der Welt, weil sie ihnen zu kompliziert ist, zu einer Abwendung von der Welt (wie der des Karthäusers in seiner Zelle; wie der des fanatischen Wahhabiten, der zum Preise seines einigen Gottes in seiner Monomanie die ganze Welt in Stücke zu sprengen willens ist), die in meinen Augen gerade in tragischer Verfehlung eine Abwendung vom in der Welt manifestierten Göttlichen ist.
Weil sie den verwirrenden Glanz der göttlichen Vielheit nicht zu ertragen vermögen, wenden sie sich in die traute Sargkammer einer wohlig-irrigen Idee.
Weil sie der Aufgabe, als frei kreatives agens der fortschreitenden Schöpfung zu wirken, nicht gewachsen sind, klammern sie sich an den Wortlaut archaischer Gesetze."

Lieber Fluminist,

Sie sprechen in Ihrem Text von "Buchreligionen". Darin kommt der Allgemeinbegriff "Religion" wieder vor, und Sie leiten daraus Folgerungen ab. - Ich möchte betonen, dass der Begriff auf das Christentum - grundsätzlich gesehen - nicht mehr angewendet werden dürfte, und auch auf das Judentum nur sehr bedingt. Warum? Das Judentum, wie es in den kanonischen Büchern des AT als Lebensform eines Volkes geschichtlich greifbar ist, zeigt sich für die theologische Wissenschaft als ein permanenter Weg der Reinigung von Religion (biblische Aufklärung). So wie es L. Weimer in seinem Beitrag (vgl. oben) in wesentlichen Zügen bis hin zu Jesus von Nazareth, dem Christus/Messias dargelegt hat. Die biblische Aufklärung kulminiert in seiner Person (vgl. nur stellv. für vieles: strenger Monotheismus, Tempel- und Opferkritik; Kritik religiöser Unterscheidungen: rein - unrein, erlaubte und verbotene Speisen ...; Verschärfung der jüd. Sozialgesetze: vgl. Gebot der permanenten Bruder-Liebe und des tägliche einander Verzeihens; auf diesem Hintergrund das Verbot der Ehescheidung usw.). Das Neue Testament, die von der jungen Kirche ausgewählten (kanonischen) Schriften, spiegeln einerseits die religionskritische Haltung des Jesus v. N. im Kreise seiner Jünger wider, aber - und das ist das Bemerkenswerte dabei - ebenso die religionskritische Lebens- und Denkweise der christlichen Gemeinden, die als Frucht der Auferstehung Jesu wahrgenommen werden können. - Aus dem (wenn auch nur kurz skizzierten) Sachverhalt sollte man bei Juden und Christen nicht von zwei "(Buch)-Religionen" sprechen, und ebenso wenig von zwei verschiedenen. Die beiden Gebilde gehören zusammen wie die zwei Lungenflügel in einem Körper. Und nur weil die Christen, die - grob gesprochen - spätestens nach dem 2./3. Jahrhundert diese Zusammengehörigkeit nicht mehr wahrhaben konnten oder wollten und schon bald vergessen haben und sich gegenseitig feindlich auseinandergesetzt und bekriegt haben - deswegen (darüber ist auch schon viel nachgedacht worden) kam es nicht erst in unserer nahen Vergangenheit zu dem schrecklichen industriellen Genozid an den Juden (durch getaufte Christen! aus beiden chr. Konfessionen), sondern aus dem folgenschweren Vergessen konnte sich im 6. Jahrhundert u. a. der ISLAM mit einem eigenen Buch (Koran) und einem aller-"letzten Propheten" (Mohammed) als religiöse Streit-Macht unter Streitparteien etablieren. - Im Koran werden die Streitparteien "Besitzer des Buches" genannt. Von da aus schlich sich die Rede von den drei "Buch-Religionen" in unseren Sprachgebrauch ein. Fälschlicherweise auch noch als die "drei abrahamitischen Buchreligionen". - Juden und Christen beziehen sich beide in ihrem Glauben auf Abraham, aber eindeutig in der Linie über ISAAK, den "Sohn der Verheißung" (jenseits von allem Erwartbaren), dagegen die Muslim über Ismael, den Sohn menschlichen Kalküls. -

Nun aber zu den "Mängeln", die Sie "gerade an den sog. >Buchreligionen<" (insgesamt) feststellen.
Ihr Urteil ist treffend. Sieht man einmal von Mängeln im Leben des Islam ab, dann betrifft es zweifellos gerade das Christentum unserer Gegenwart. Es lebt nicht nach dem Schöpferwillen Gottes, den Franz Rosenzweig in das Motto gefasst hat: "Gott hat nicht die Religion, sondern die Welt erschaffen." Nietsches Mahnung vom "toten Christus" scheint irgendwo im Weltgebäude ungehört verhallt. Statt lebendige Gemeinden zu bilden und aus der Kraft der Gemeinschaft das öffentliche Leben mitzuprägen - in Erziehung und Bildung, Gestaltung, Technik, Politik, Wirtschaft, Recht ... - bettet sich das Gros der Christen in die Särge ihrer Individualität. Teils aus dem Grund, ihre freie Selbstbestimmung zu pflegen, teils aus Unwissenheit und Bequemlichkeit. ... Daran ist aber nicht das Christentum an sich schuld. Schon gar nicht Gott, quasi in seiner Ohnmacht oder ein in seinem Grab belassener (toter) Christus.

Ich darf noch anmerken, dass eben in Grottaferrata ein internationales Rabbiner-Treffen stattgefunden hat, das mit einer gemeinsamen "Erklärung über das Christentum" geendet hat. Es ist eine umfangreiche Antwort auf die Erklärung des 2. vatikanischen Konzils über die Religionen, "Nostra aetate", worin im Abschnitt 4 das Judentum in seiner besonderen Beziehung zum Christentum gewürdigt wird. Die Rabbiner bekräftigen u. a. dass das Christentum "ein Geschenk an die Nationen" sei und erklären sich unter Führung ihres Sprechers "eindeutig als Partner bei der Formulierung der wesentlichen moralischen Werte für das Überleben und Wohlergehen der Menschheit".

Mit besten Grüßen zum Neuen Jahr!
Simon

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