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ZETTELS KLEINES ZIMMER

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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
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Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

09.12.2015 18:16
#101 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zum Punkt Abfall-These muss ich etwas erläutern:

Diese These mancher Reformer teile ich nicht. Nicht erst die Kirchengeschichte verlief ganz anders, und schon die Texte im Alten wie im Neuen Testament beschäftigen sich mit der permanenten Gefahr des Zurückfallens hinter die religionskritischen Erkenntnisse. Es ist dort auch nicht so einfach, dass etwa eine allzustrenge Linie des Prophetischen mit einer maßvollen weisheitlichen Menschenkenner-Linie stritte, sondern beides gehört zur Mitte der Bibel, im AT wie in den Evangelien. Jesus argumentiert mehrfach von der Weisheit her und nicht nur vom heilsgeschichtlichen Glauben her.

Es gehört zum Gottesvolk aus Menschen, dass es ein fortwährendes Ringen gibt. In der Tora, die im jüdischen Jahreskreis gelesen wir, immer aufs Neue, werden die Geschichten vom Murren in der Wüste sehr präsent; ist man endlich im Frühherbst vor dem Jordan angekommen, geht’s wieder zurück zum Sündenfall im Paradies und dem langen Text über das Murren in der Wüste mit der Versuchung nach Ägypten zurückzukehren.
Im Johannesevangelium verlassen die Jünger Jesus und der fragt die restlichen Zwölf: „Wollt nicht auch ihr gehen?“ Paulus fragte rhetorisch in einem Brief nach Korinth, wo es Streit gab, ob er mit dem Stock kommen solle.

Das will sagen: Es gibt keine ursprüngliche Reinheit. Es gab immer die Nöte. Es gibt auch in Zukunft keine reine Kirche. Auch das „religionslose“ Christentum Bonhoeffers und meine Sicht sind nicht einfach eine Flucht in eine Utopie. In gewisser Weise hat die protestantische Skepsis recht: Der Getaufte ist mit Christus ersäuft, aber dieses Aas kann schwimmen!

Ich glaube nicht, dass Sie mit dem Wort „elitär“ das treffen, was meine Hoffnung ist.
Es geht vielmehr darum: Leider leben wir von Minderheiten, gottseidank retten uns auch Minderheiten. Das biblische Wort „Erwählung“ dürfte nur im Herzen im Binnenraum wohnen als Ja zur Liebe Gottes, nach außen ist es ganz missverständlich und unbrauchbar; manche Juden sagten: Es ist de facto eine „Last“, eine Aufgabe, die man am liebsten abschütteln möchte.

Volle Übereinstimmung sehe ich mit dem, was Sie über die falschen Privilegien der Kirchen in Deutschland sagen. Das ist seit Benedikts XVI. Rede in Freiburg doch offensichtlich geworden, aber die kleine FDP konnte es nicht ändern, auch wenn sich viele wahre Christen gefreut hätten. Denn viele sagen: Die Kirche ist hierzulande spirituell so arm wie finanziell reich.

Herzlich
Ludwig Weimer

Simon Offline



Beiträge: 334

10.12.2015 00:04
#102 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

[quote="Dennis the Menace"|p128752]"Ihre Argumentation, lieber Herr Weimer, läuft doch - wenn ich das richtig sehe - darauf hinaus, den Oberbegriff "Religion" für das Christentum abzuschütteln, um sich damit sozusagen außer Konkurrenz zu stellen.

Das ist im Grunde die Begründung für jede Art vom Elitarismus: Wir gehören nicht dazu und dulden keinen Oberbegriff - der insofern auch für andere gilt - über uns.

Als selbsternannter sens Advocatus würde ich mal ganz frech so sagen:

Das ist ein Trick, um Vergleiche zu verhindern, die womöglich unangenehm sein können."


Darf ich auch - auch wenn ich nicht angesprochen bin - etwas zu dem vermuteten "Trick" sagen, dem Versuch des Christentums, sich hochnäsig über die "Religionen" zu erheben oder durch "Abschüttelung" eines "Etiketts" sich über sie hinwegzusetzen.
Herr Weimer hat sich an einer Stelle seines Texts schon gegen die erste Vermutung abzusichern versucht. Sie widerlegten ihn durch seine eigene Wortwahl.
Was soll man dazu sagen? - Man kann auf der Ebene der Logik argumentieren, dann ist das religionslose Christentum (Hochmut oder Trick hin oder her) keine Religion, per Definition! - Ratzinger verzichtet so weit ich das sehe auf Definitionen dieser Art, nicht aber auf den Anspruch einer - einzig wahren Religion - im bunten Reigen der Religionen und den Versuchen der Moderne die Wahrheit zu relativieren. - Ich fand im Internet eine Zusammenstellung von Zitaten aus Schriften Josef Ratzinger/Benedikt XVI. auf knappen 7 Seiten unter dem Titel: "Die Absolutheit des Christentums".- Hui, da steht statt "Abschüttelung" eines "Etiketts" im (religionslosen) Glauben - in Bezug auf Toleranz -: "Er (Der Glaube) sucht nicht den Konflikt, er sucht den Raum der Freiheit und des gegenseitigen Sichertragens. Aber er kann sich nicht durch standardisierte und als der Moderne angemessene Etiketten formulieren lassen." - Ja, da kann es "womöglich unangenehm sein".

"Man ist halt einfach nur was Besseres"[quote="Dennis the Menace"|p128752] - (Oh, das Beherrschen der Technik!)

Nein! - Nein, Teufelchen. Der Glaube verlangt es. Dem Glauben, der wahren Religion, ist es geschuldet. Nix ALDI über alles (vgl. ALDI-Schulen) Man muss nicht glauben. Ach Gottchen, die Zeiten sind vorbei. Aber man kann doch fragen, und hier (parallel) wird gefragt: Woher nimmt ALDI das Maß?

Ssssssimon

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

10.12.2015 00:21
#103 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Simon im Beitrag #102
Zitat von Dennis the Menace im Beitrag #100

"Man ist halt einfach nur was Besseres"

- (Oh, das Beherrschen der Technik!)

Nein! - Nein, Teufelchen. Der Glaube verlangt es. Dem Glauben, der wahren Religion, ist es geschuldet. Nix ALDI über alles (vgl. ALDI-Schulen) Man muss nicht glauben. Ach Gottchen, die Zeiten sind vorbei.

Daß die Zeiten des Glaubenmüssens vorbei sind, hätte ich bis vor kurzem auch gedacht, aber jetzt sieht es doch so aus, als ob die eine oder andere Gruppe Zeloten einem das doch wieder recht dringend nahelegen will. Mit Zwang natürlich nicht - da sind sie sich alle einig, daß man den Großen Bruder quasi aus freien Stücken lieben muß - aber doch mit dem Proviso, daß man auch rasch mal aus der Gesellschaft oder Welt ausgegrenzt werden kann, wenn man das passende Credo nicht auf Anhieb hersagen kann. - Und um auf die Titelfrage zurückzukommen, ich will so leben, daß ich mir statt spiritueller Vorgaben - sei es you-know-who, sei es eine von "bibelfest" und "auch mal in die Kirche gehen" faselnde säkular-demokratische Regierungschefin, sei es meinetwegen das sagenhafte religionsfreie Christentum - auch unbehelligt meinen glaubensfreien Glauben leisten kann.

adder Offline




Beiträge: 1.073

10.12.2015 05:45
#104 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #103
Daß die Zeiten des Glaubenmüssens vorbei sind, hätte ich bis vor kurzem auch gedacht, aber jetzt sieht es doch so aus, als ob die eine oder andere Gruppe Zeloten einem das doch wieder recht dringend nahelegen will. Mit Zwang natürlich nicht - da sind sie sich alle einig, daß man den Großen Bruder quasi aus freien Stücken lieben muß - aber doch mit dem Proviso, daß man auch rasch mal aus der Gesellschaft oder Welt ausgegrenzt werden kann, wenn man das passende Credo nicht auf Anhieb hersagen kann.


Das ist eine vorübergehende Sache. Weder die Anhänger des Großen noch die Apologeten derselben sind tatsächlich in der Lage, die freie westliche Welt zu zerstören, das muss die westliche Welt schon noch selbst tun. Intoleranz darf man nicht einfach hinnehmen, sondern muss ihr häufiger widersprechen. Natürlich interessiert es niemanden, was Peter, Chan und Ahmed im stillen Kämmerlein glauben. Aber was sie offen rumerzählen, was sie tätlich zeigen, das muss uns interessieren und das müssen wir kommentieren, wenn es unseren Werten widerspricht.

Zitat
Und um auf die Titelfrage zurückzukommen, ich will so leben, daß ich mir statt spiritueller Vorgaben - sei es you-know-who, sei es eine von "bibelfest" und "auch mal in die Kirche gehen" faselnde säkular-demokratische Regierungschefin, sei es meinetwegen das sagenhafte religionsfreie Christentum - auch unbehelligt meinen glaubensfreien Glauben leisten kann.



Unbehelligt muss ja nicht sein. Sie können eigentlich nicht verlangen, dass alle ihren Glauben nur heimlich leben und Sie nie mit Worten, Symbolen oder sonst etwas aus diesem Glauben konfrontiert werden. Um das Beispiel der bei mir gelegentlich klingelnden Zeugen zu bringen: die dürfen klingeln, die dürfen mir auch ein Gespräch über Religion anbieten und dabei sogar "Gott" und "Jesus" und was auch immer sagen. Die müssen aber auch akzeptieren, dass ich dann sage, dass mein Gott einen Hammer hat, oder dass ich meine Mitgliedsbeiträge beim Lupus Sanctus abgegeben habe, oder Satanist bin - und eben kein Interesse an diesem Gespräch habe. Tun die Zeugen auch (auch Mormonen, die ja immer mal wieder hier missionieren, akzeptieren meine Verweigerung sofort. So lobe ich mir das). Und die Zeugen machen auch keinen Aufstand, wenn sich jemand über sie oder ihre Propheten oder den Wachturm lustig macht - oder gar den gerade geschenkten Wachturm ins Altpapier schmeißt.

Aber weder unsere Religionsführerin im Kanzleramt, noch andere besonders religiöse Menschen unserer Zeit halten sich daran. Und das stört. Massiv.
Nicht der Zeuge oder Mormone, der mich einmal im Monat anspricht, aber ein "nein" akzeptiert. Und auch nicht der Herr Weimer, der mir hier auf der Seite ein Diskussionsangebot macht. Nicht einmal der Priester, der mich immer mal wieder zurück in den Schoß der Heiligen Kirche bringen will, indem er mit meiner Mutter (die noch fleißige Kirchgängerin ist) darüber redet, dass meine Seele verloren sei, wenn sie mich nicht zurückbekehrt.

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

10.12.2015 08:52
#105 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Simon im Beitrag #102
Man kann auf der Ebene der Logik argumentieren, dann ist das religionslose Christentum (Hochmut oder Trick hin oder her) keine Religion, per Definition!

Hmm - um richtig auf die Ebene der Logik zu kommen, müßten Sie freilich noch die Widerspruchsfreiheit der Definition nachweisen. Bloße Worte sind geduldig - "drinnen saßen stehend Leute, schweigend ins Gespräch vertieft" - und gerade ein Paradox heischt nach genauerer Aufklärung. Um ein Beispiel zu nennen: wenn ich von einem Dreieck mit drei gleichen Seiten und rechten Winkeln rede, dann klingt das vielleicht auf den ersten Blick absurd - in der euklidischen Geometrie gibt es das nicht, da sind diese postulierten Eigenschaften widersprüchlich - aber auf einer Sphäre können Sie das leicht aufmalen. D.h. wenn Sie das euklidische Parallelenaxiom weglassen, dann verschwindet der Widerspruch, und Sie haben immer noch eine brauchbare (nichteuklidische) Geometrie.

Daher hätte ich es gern hier auch etwas konkreter und stelle deshalb die Frage (an Sie und Ludwig Weimer): genau welchen Teil der gemeinhin bekannten und gelebten christlichen Religion muß ich mir wegdenken, um das "religionslose Christentum" zu erkennen?
Oder andersherum gefragt: welche Eigenschaft genau macht die Religionen zu "bloßen Religionen"?

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

10.12.2015 12:29
#106 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Lieber Fluminist!
Sie fragen, welcher Teil des heute praktizierten Christentums nur ‚Religion‘ sei und in meinem „sagenhaften religionsfreien Christentum“ weggedacht werden müsste.
Die universitäre katholische Religionstheologie neigt heute zur Relativierung der Unterscheidung, nicht wenige ihrer Vertreter sogar zu einem allgemeinen Religionspluralismus. Die Verunsicherung rührt zunächst aus der philosophischen Erkenntniskritik: Der Mensch vermöge nicht die ganze Wahrheit zu finden und damit auch keine Religion die Wahrheit des Göttlichen. Neben weiteren Gründen entstand die religionspluralistische These auch aus einem (vielleicht nur) katholischen Komplex: Christen werden eine Minderheit in der Welt; sind vielleicht die anderen Religionen doch nicht Fremde, sondern Nahverwandte?
Das frühe Christentum siegte über die römischen Götter, weil es vor allem drei faszinierende Werte verknüpfte und vorlebte:
1) den jüdischen Glauben an einen einzigen und personalen Gott,
2) die Logik einer universal gültigen philosophischen Vernunft und
3) einen neuen Lebensstil der Solidarität nach innen und außen.
Die griechischen Philosophen entgötterten die Welt, die biblischen Propheten und die frühen Kirchenlehrer haben mit der gleichen Aufklärung die Entdeckung des wahren Gottes und seines Auftrags zur Befreiung des Menschen verbunden und sie so von den Religionen unterschieden. Die Fortschreibung der Bibel in der frühesten Kirche war vom Leben der Glaubenden gedeckt, nämlich von den ersten drei Generationen.

Meine bei der Unterscheidung sich notwendig ergebende Kritik der Religion bedeutet keine Verurteilung einer fremden Religion, sondern dient – wonach Sie fragten - einer innerkirchlichen Kritik und Unterscheidung: dem Rückfall der Kirche auf die Stufe einer bloßen ‚Religion‘ zu wehren und den Hauptgrund für den Abfall vieler Gebildeter zu einer Ersatzreligion (Wissenschaft, Kunst usw.) zu erkennen: das Enttäuscht-worden-Sein durch das zu schwache Leben der Kirchen. Die großen Unterscheider waren Kierkegaard, Rosenzweig, Barth und Bonhoeffer. Es waren also Juden oder Protestanten, die Katholiken haben diese Autoren bisher zu wenig ernst genommen.
„Gott hat eben nicht die Religion, sondern die Welt geschaffen. […] Die Sonderstellung von Judentum und Christentum besteht gerade darin, dass sie, sogar wenn sie Religion geworden sind, in sich selber die Antriebe finden, sich von dieser ihrer Religionshaftigkeit zu befreien und aus der Spezialität und ihren Ummauerungen wieder in das offene Feld der Wirklichkeit zurückzufinden.“ (Franz Rosenzweig, „Das neue Denken“ (1925), in ders., Kleinere Schriften (Berlin: Schocken-Jüdischer Verlag, 1937), 389.)
Das Hauptthema ist sicher, warum der Glaube an einen transzendenten Gott, der doch nicht direkt in das Weltgeschehen eingreifen kann, hilfreich sein soll. Es lassen sich drei Formen von Monotheismus unterscheiden:
(1) Die faktische Verehrung von nur einem Gott, ohne andere Götter zu leugnen;
(2) den philosophischen Gedanken von einem All-Ein­heits-Gott;
(3) den reifen biblischen Monotheismus mit einem personalen Gott, der eine Geschichte mit den Menschen eingegangen ist.
Die dritte Art ist Israels Monotheismus. JHWH ist zugleich der Gott aller Welt und Israels Gott und Schutzgott der je eigenen Familie; andere Götter neben ihm zu haben, gilt als Abfall von ihm, Götzendienst. Die Götter sind Nichtse. Diesen Erkenntnisstand aus der Zeit im und nach dem Exil tragen die theologischen Redaktoren der hebräischen Bibel zurück bis zu Abraham, weil sie hier den Anfang des ganz Neuen in ihrer Glaubensgeschichte sehen.
Die Vollendung der Unterscheidung kommt erst nach 1000 Jahren und besteht in dem Erschrecken über das Kreuzesurteil für Jesus; dies konnte erst nach Ostern in den Konsequenzen verstanden werden. Das Hauptärgernis, das Jesus gegeben hatte, war die theologische Einsicht, dass Israel die verheißene Nähe Gottes und seines Reiches nicht „hintergehen“ darf durch eine Verlegung in die Zukunft - aus Angst vor der Nähe Gottes, die natürlich auch eine richterliche Komponente hat - , da erst das Setzen auf das Heute die Kraft zur Verwirklichung hervorlockt. Der Osterglaube der Jünger ist der Sieg Gottes über eine tote Heilsgeschichte, die Jesu Hinrichtung bedeutet hätte, weil seine Tötung darauf hingezielt hätte, die Sache Jesu auszulöschen.
Das Neue Testament ist eine Aufklärungsschrift über die Grenzen der Tempelreligion und der Funktionäre. Diese Aufklärung über die Machtspitze und das Elend der Feigen oder Ohnmächtigen schürfte tiefer als die Philosophie. Es ist interessant, wie in den Evangelien vom Verräter aus der Mitte her, Judas, von der Verleugnung des Simon Petrus und von der Flucht der Jünger erzählt wird – um die Leser zu mahnen - , während es heute Mode ist, Judas psychologisch total zu entschuldigen.
Die Aufgabe zur Unterscheidung verurteilt nicht fremde Religionen, sondern ist vor allem eine innerkirchliche, so wie es die Aufgabe der Propheten Israels und Jesu war, die gelebte falsche Form des Glaubens zu kritisieren. Wo gibt es auch in der Kirche neben dem Glauben Aberglauben? Wo setzt sie statt auf den Glauben und dessen Vernunft lieber und bequemer auf numinosen Zauber oder aber auf die Götter des Zeitgeistes?

Bei einer Unterscheidung kann es leicht zum Missverständnis Hier nur schwarz – Dort nur weiß kommen. Daher mache ich eine Grafik: Ein Kreis und eine Raute überschneiden sich zu einem großen Teil.

Diese Zeichnung ist eine schematische Hilfe für die Verhältnisbestimmung der zwei Größen, an denen die Unterscheidung vollzogen wird. Wenn ein Kreis die Welt der Religionen darstellt und die Raute den biblischen Glauben bzw. die jüdisch-christliche Offenbarung, dann werden die beiden weder vollständig kongruent sein noch ohne Berührung nebeneinander stehen können. Vielmehr entstehen drei unterschiedliche Flächen: Ein mittlerer Bereich, der kongruent ist, und auf beiden Seiten bleibt ein Stück unbedeckt und zeigt sich überschießend. Das Kongruente verkörpert das Gemeinsame von Religion und biblischem Glauben, der jeweilige Rest das jeweils Eigene. Wenn man nun im Eifer der Unterscheidung nur von dem Überschießenden des Jüdisch-Christlichen redet, aber den Großteil des Gemeinsamen von Religion und biblischer Offenbarung nicht miterwähnt, entsteht der falsche Eindruck des puren Gegensatzes oder eines eingebildeten Exklusivismus.

Gewiss gibt es einen Bereich am Religiösen, der für die Bibel unbrauchbar ist (z.B. Vielheit der Götter oder Menschenopfer und Angst vor Gott), aber es gibt eine Überschneidungsfläche. Wer sagt, das Herz aller Religionen sei letztlich eins, hat in einem gewissen Sinn recht. Die Offenbarung in Israel wäre gar nicht denkbar gewesen ohne diesen Nährboden der Religionen. Von Natur aus neigt der Mensch lieber zu einer Religion in allzumenschlichen Grenzen. Durch die Leistung Israels und Jesu aber gibt es den dritten und einsamen Bereich, in dem die Bibel über die Grenzen der natürlichen Religionen hinaus schreitet.
In den Religionen gibt es Splitter der Wahrheit, aber im Juden- und Christentum ist, so glaubt die Kirche, die ganze Wahrheit gesammelt vorhanden. Und dies ist gleichsam ein Sprung von der Quantität in die Qualität. Denn die gesammelten Splitter wurden durch eine lange Kette von gläubigen Generationen geläutert und gereinigt.

Ich habe für den Unterricht auch eine Tabelle angelegt. Sie profiliert bewusst nur die Unterschiede heraus, ohne auf die auch vorhandenen kongruenten Felder und Phänomene einzugehen, um das Spezifische der biblischen Offenbarungsreligion sichtbar machen zu können.

Religiös
- Jüdisch-christlich (durch Trennungsstrich getrennt)

Keine echte Transzendenz (Weltjenseitigkeit), sondern pantheistische Präsenz des Göttlichen in den Dingen - Transz. Gott und Welt

Die Welt wird gefürchtet/angebetet, oder sie wird abgelehnt als Ort der Leiden - Transzendenter Gott, der sich aber in der Welt aus Liebe ganz engagiert: Die Welt ist Schöpfung, zur Lust des Menschen, sie ist nicht ein geheimnisvolles Tabu, in das der Mensch „geworfen“ ist, von Gott nicht als Ort des Leides gedacht, sondern Grundlage für die Geschichte mit Gott

Polytheismus (viele Götter)
Lokalgötter und Ressortgötter. (Alle Volksreligionen waren territorial begrenzt; heute werden Religionen durch Auswanderer global)
Politik und Religion vereinigt oder Religion in dienender Kooperation - Monolatrie (Verehrung nur eines Gottes), Monotheismus (Erkenntnis des einen Gottes und der Nichtexistenz weiterer Götter)
- Weltjenseitiger und universal gegenwärtiger Gott
- Alle Lebensbereiche sind auf ihn bezogen.
- JHWH blieb für Israel der Gott, der vom Berg im Ausland je zu Hilfe eilen muss bzw. der in der offenen Wüste durch ein bestimmtes, entronnenes Volk zu allen Völkern sprach
- Trennung von Staat/Politik und Glaube/Kirche

Segen für menschliche Wünsche erbitten
Schafft Sieger und Schwache, also keine Antwort auf die Theodizeefrage - Willen Gottes erkennen und tun, Gehorsam, Alltagsheiligung
Die Antwort des Menschen auf Gottes Liebe ist die Nächstenliebe
„Heidenangst“, gefährliche Zauberkräfte

Der religiöse Mensch sucht im auf die Gottheit gerichteten Gefühl die Gottesbegegnung, er ist „fromm“.
Riten und Gefühle und Tabus dienen dem ‚richtigen‘ Kontakt mit den Göttern - Auch nach dem Sündenfall noch Kinder Gottes, Vertrauen zu Gott als Vater.
- Glauben und auch die Liebe verlangen Gerechtigkeit,
- Gesetze und Verbote dienen der Alltagsheiligung
Kontakt zur Gottheit entweder überall, in jedem Herzen, oder nur an heiligen Orten und nur durch Schamanen, Priester, Gurus - Mitglied im Volk Gottes, allgemeines Priestertum neben dem besonderen, Geschichte Gottes mit seinem Volk

Götter durch Opfer zum Helfen bewegen, notfalls Götter wechseln
„Da kann man nur noch beten“ als Trost Das Werk Gottes, die Erlösung, ist eine Zusammenarbeit mit dem Menschen und dieser ist ein notwendiger raumzeitlicher Vermittler
- Gott handelt durch Menschen, Helfer: Messias, Hl. Geist in Gemeinde
Einheitssuche mit kosmischen Kräften - Fähigkeit zur Selbstkritik, Prophet gegen König, correctio fraterna (brüderliche Zurechtweisung)
Götterbilder und Kulthandlungen im Zentrum - Wort Gottes, Erinnerung der Geschichte mit (bildlosem) Gott im Zentrum des Kults
Sexualität gehört zu den Göttern, die menschliche Sexualität dient ihnen - Sexualität gehört dem Menschen (Hoheslied!)
Außerzeitliche Mystik oder bloße Tugendlehre: Mehr Mut!, mehr Hoffnung! Mehr Vertrauen ins Leben! - Zeit als positiver Raum für Heilsgeschichte
- Echte Mystik der dramatischen Liebesgeschichte zwischen Gott und seinem Volk

Einheit von Religion und politischer Macht, Gottkönigtum
Die instrumentalisierte Religion zähmt den Menschen zum Dienst unter den politischen Machthaber - Keine Herrschaft des Menschen über den Menschen
- Prophet gegen König; Gotteskindschaft erlaubt die Rebellion gegen Kaiserkult und Diktatur
Neigung zu einem Fatalismus (nicht änderbares Schicksal gottergeben annehmen) - Einmaligkeit jeder Person
- Befreiung und Erlösung ganzheitlich, auch politisch
Weltverfallenheit oder Weltablehnung (Rad der Geburten) - Unglück gedeutet als Läuterung, Anlass zur Umkehr
Vertröstung auf ein Jenseits
Trost für Not durch Gebetsappelle an Götter - Theodizeefrage erlaubt (Ijob!)
- Berufung des Menschen: Hand für Gott, um in der Welt zu handeln
Rückwärtsgewandt: Götter-Urzeit - Zukunftszugewandt und doch Schon- im-Heute, begonnene Eschatologie
Schuld als Tragik - Willensfreiheit, Verantwortung
Meist kein echter Sündenbegriff, nur „Fehler“ bis zu „Verblendung“ - Sündenbewusstsein, Umkehr, Vergebung

(buddhistisch:) Welt als Illusion und Ort des Leidens - Welt als gute Schöpfung Gottes, neue Erde bei den Heilsgütern
Klassengesellschaft ( Kasten in Indien) - Bruderliebe, Ausgleich, Caritas
Selbstfindung als Selbsterlösung - Selbstwerdung durch Hilfe-Annehmen und Hinwendung im „Wir“ der Berufung
Opfergaben und Riten als Hauptsache - Sozialordnung und Versöhnung mit dem anderen rangieren vor dem Kult
Magie, Beschwörung, Versenkung, Kasteiung - Erlösung vom Opfer, Mahl als Gottesdienst, einmütig bitten, hören auf den Rat
Sich loslassen ist letztlich Selbsterlösung, Selbstbeglückungslehre, riesige „mind cure“ („Geist-Heilung“, William James) - Sich loslassen als um Hilfe bitten
Religion in Einheit mit Clan und Kultur - Erlösung aus dem Clan zum Individuum, zur Glaubensfreiheit
Götter haben ihr jeweiliges Territorium bzw. Ressort (Funktion), man wechselt zu den Göttern des Wohnlandes bzw. zu denen der Sieger - Universaler und transzendenter Gott, trinitarisch zugewandt und lebendig, aber anspruchsvoll
- Murren und Abfall sind wie ein ‚Ehebruch‘, denn das Gottesvolk ist ‚Braut‘ Gottes


Mit Grüßen
Ludwig Weimer

Simon Offline



Beiträge: 334

10.12.2015 12:45
#107 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Fluminist im Beitrag #105
Zitat von Simon im Beitrag #102
Daher hätte ich es gern hier auch etwas konkreter und stelle deshalb die Frage (an Sie und Ludwig Weimer): genau welchen Teil der gemeinhin bekannten und gelebten christlichen Religion muß ich mir wegdenken, um das "religionslose Christentum" zu erkennen?
Oder andersherum gefragt: welche Eigenschaft genau macht die Religionen zu "bloßen Religionen"?


Vielen Dank, verehrter Fluminist, für diese gedankliche Handreichung. Darf ich mir aus Ihrem Nachfragen den Teil auswählen: "genau welchen Teil der ... gelebten christlichen Religion muss ich mir wegdenken ...?" und gleich positiv (umgekehrt) mit einem Beispiel konkret darauf antworten? -
Ein katholischer Bischof aus einer kleinen Diözese - vom Pazifik aus gesehen - hinter dem Viktoriasée, ein Jugendfreund vom ersten Präsidenten des selbständigen Staates, der sich als Katholik u.a. durch seine "Ujamaa"-Unternehmung vor allem in den Dörfern konkret um das Allgemein-Wohl des jungen Staates und seiner Bewohner in Kultur und Sprache bemühte, schrieb in den 70-er Jahren ein kleines Büchlein, das er "Ujamaa und christliche Gemeinden" nannte. Er hatte vorher in seinen Ferien die ganze Welt bereist, um das Spezifische" christlicher Gemeinden (Pl!) vor Ort verwirklicht zu finden und kann deshalb seine Erwartungen folgendermaßen präzisieren - ich kann sie hier nur auszugsweise indirekt wiedergeben -: Er stellt sich ein Zusammenwirken aller (!) "religiös" verorteten sozialen Schichten ohne "Höherstellung", Bevorzugung oder Benachteiligung einiger vor. Den gewöhnlichen Arbeiter will er geschätzt wissen in seiner gesamten Person - nicht nur in seiner partiellen Leistungsfähigkeit - ebenso wie den/die Leiter der Betriebe. - Das mag als (bloßer) "Sozialismus" jener Zeit gelesen und gedeutet werden. Aber er formuliert z.B. weiter - wörtlich als seine Erwartung: "...dass das Sicheinlassen eines Mitglieds oder der ganzen Gemeinde auf das Alltagsleben nicht mehr mit dem Trachten nach wahrem, ewigem Leben im Streit liegt. Denn durch die Arbeit, durch die man den Lebensunterhalt für seine Brüder und sich selbst verdient, dient gleichzeitig dem Aufbau der Gemeinde und der Verherrlichung Gottes. ..." In solchem Trachten und Gelingen sähe er "den herkömmlichen Dualismus von Leib und Seele, Materie und Geist, natürlich und übernatürlich, zeitlich und ewig, menschlich und göttlich, irdisch und himmlisch, Natur und Gnade, Schöpfung und Erlösung, weltlich und religiös, profan und sakral" als "überwunden" an. Er will zum Ausdruck gebracht sehen, "dass der Sohn Gottes Mensch geworden ist und alles Geschaffene zu Gott hinführt und dass er durch seinen Tod und seine Auferstehung die ganze Schöpfung erlöst hat".
Dazu zitiert er die bekannte Stelle aus einer der Visionen des Propheten Sacharja (eine Stelle, die im 2. Teil des Buches steht und nach der Heimkehr der Verbannten aus Babylonien mit ihren neuen Erfahrungen, die Jesu Denken und dem des NT nahekommen, verfasst ist) :

Zitat:"An jenem Tag wird auf den Pferdeschellen stehen: Dem Herrn heilig. Die Kochtöpfe im Haus des Herrn werden gebraucht wie die Opferschalen vor dem Altar.
Jeder Kochtopf in Jerusalem und Juda wird dem Herrn der Heere geweiht sein. Alle, die zum Opfer kommen, nehmen die Töpfe und kochen in ihnen. Und kein Händler wird an jenem Tag mehr im Haus des Herrn der Heere sein.
(Sach 14, 20-21)"




Viele Grüße!
Simon

E d i t: Ich hatte vergessen, ausdrücklich zu erwähnen, dass besagter Bischof aus Tansania stammt. Aus einer kleinen armen Diözese, abgelegen vom Mainstream auch dortiger Verhältnisse, aber umso intensiver Ausschau haltend nach einer - genauer: nach der christlichen Lösung. Er bereiste wie gesagt alle Lande und hielt Ausschau nach echten christlichen Gemeinden, die die biblischen Verheißungen, die Sozialenzykliken, aber auch die alten Dogmen der katholischen Kirche in Form von gelebter Wahrheit beglaubigen könnten. Sein sehnlichster Wunsch war, mit dem im Lukas-Evangelium und in jeder Komplet der Kirche mit einem Gesang erwähnten Greis, namens Simeon, vor seinem Tode überzeugt mit-singen zu können: "Nun entlässt du, Herr, deinen Knecht nach deinem Wort in Frieden. Denn meine Augen haben dein Heil geschaut, das du bereitet hast vor dem Angesicht aller Völker." - Nun möchten Sie wissen, ob er noch lebt ... - Soviel kann man zumindest sagen, wenn sein sehnlichster Wunsch in seinem - und ebenso in unserm Leben keine Erfüllung findet oder finden kann, dann hat es ein einigermaßen denkender und williger Mensch tatsächlich schwer, an einen religionslosen oder irgendeinen "christlichen" Glauben zu glauben. Der Glaube an einen angeblich schon gekommenen Messias mit seinen Erfüllungen muss doch stark in Zweifel gezogen werden.

Simon

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

10.12.2015 18:26
#108 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Lieber Fluminist!

Nun komme ich am heutigen Tag endlich dazu, Ihre konkrete Frage auch konkret zu beantworten. Das Obige war unverzichtbare Einleitung.
Sie fragten, welcher Teil des heute praktizierten Christentums nur ‚Religion‘ sei und in meinem „sagenhaften religionsfreien Christentum“ weggedacht werden müsste. Das Wegrasieren macht es nicht ganz leicht, es geht teilweise um ein Austauschen. Und vor allem: dies nur für jenen Teil der Getauften, die nichts mehr anfangen können mit den alten religiösen Mustern. Die anderen wirklich Frommen im guten Sinn brauchen den religionslosen Glauben nicht.Ich schätze, in Europa sind es kaum 10 Prozent der Getauften.

Die andern 90 und ich aber bräuchten das religionslose Christentum. Zunächst: Sie müssen etwas, ja viel hinzunehmen, gleichzeitig mit dem Wegtun, also austauschen: Das sind vor allem als Kosequenz aus der Unterscheidung zwischen Religion und Glaube: die Wiederversöhnung mit dem jüdischen Ölbaum (Römerbrief 9-11), dann die Lebensform Gemeinde mit Versammlung nicht nur zur Kultfeier, mit einem Gespräch über die Zeitereignisse, um herauszubekommen, was sie als Christen jetzt tun müssen, dann die sich daraus und aus den Bedingungen der Personen sich ergebenden Projekte angehen (in Schulprojekten waren Christen meist gut), auch in Entwicklungsländern.

Und was kann/muss bei den religionslosen Christen weg? Z.B. der unsägliche Pseudosakralkitsch in Kirchen, Zentren und Wohnungen. Auch der Sprachkitsch der Priester muss weg (Sachen wie "Mach's wie Gott, werde Mensch"). Weg soll z.B. diejenige Form von Fürbitten, die Gott Vorschläge macht, welche andere das tun sollen, was man selber nicht tun will (Beten heißt in diesem Fall, sein Herz mit dem Wollen Gottes einigen - eine harte Arbeit - und dann hingehen und der Not abhelfen).
Wenn besondere Begabungen in einer sich sammelnden Gemeinde zusammenkommen, kann man auch miteinander Arbeiten oder sogar Wohnen, um den Auftrag, den man sieht, erfüllen zu können: das Evangelium so zu leben, dass auch kritische Fernstehende wieder einen Zugang finden können. - Aber nicht als Kloster, sondern als eine bunte Gemeinde, und um sie einen Freundeskreis. Religionslos bedeutetvor allem auch, dass diese Leute alles selbst finanzieren, jenseits von Staats- und Kirchensteuergeldern.

Soweit mal, mit Grüßen
Ludwig Weimer

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 13.525

10.12.2015 22:13
#109 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

In seinem wohl schönsten Album, nicht nur der letzten 15 Jahre, dem fulminanten Konzertmitschnitt "Life in London" von 2009, wendet Leonard Cohen sich nach dem Ende des dritten Songs mit einem kleinen Interludium ans Publikum:

"It's been a long time since I stood on a stage in London. It was about fourteen or fifteen years ago. I was sixty years old, just a kid with a crazy dream. Since then I've taken a lot of Prozac, Paxil, Welbutrin, Effexor, Ritalin, Focalin. I've also studied deeply in the philosophies of the religions but cheerfulness kept breaking through."

Und vorher singt er "The Future" von 1992 - ein Lied, das diesem Land als Hymne unserer Zeit so sitzt wie eine zweite Haut.

http://www.dailymotion.com/video/xe4vjr_...ive-in-lo_music

Give me back the Berlin wall / give me Stalin and St Paul
I have seen the future, brother: it is murder.

Things are going to slide, slide in all directions
Won't be nothing, nothing / you can measure anymore
The blizzard, the blizzard of the world has crossed the threshold
and it has overturned the order of the soul.

You don't know me from the wind / you never will, you never did
I'm the little Jew who wrote the Bible
I've seen the nations rise and fall
I've heard their stories, heard them all
but love's the only engine of survival.

Your servant here, he has been told / to say it clear, to say it cold:
It's over, it ain't going any further
And now the wheels of heaven stop / you feel the devil's riding crop
Get ready for the future: it is murder.

There'll be the breaking of the ancient Western code
Your private life will suddenly explode
There'll be phantoms / there'll be fires on the road...


Vielleicht ist der Gedanke an Luther & das Apfelbäumchen nicht die schlechteste Richtschnur, Was sie von dem alten Gleichmaß des antiken Stoizismus, dem sie so gleicht, unterscheidet, ist, daß sie nicht die prinzipielle Hoffnungslosigkeit in den Fokus nimmt, um sich daran zu messen.



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Simon Offline



Beiträge: 334

10.12.2015 23:16
#110 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

[/quote]

Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #108
Lieber Fluminist!
...
Die andern 90 und ich aber bräuchten das religionslose Christentum. Zunächst: Sie müssen etwas, ja viel hinzu nehmen, gleichzeitig mit dem Wegtun, also austauschen: Das sind vor allem als Kosequenz aus der Unterscheidung zwischen Religion und Glaube: die Wiederversöhnung mit dem jüdischen Ölbaum (Römerbrief 9-11), dann die Lebensform Gemeinde mit Versammlung nicht nur zur Kultfeier, mit einem Gespräch über die Zeitereignisse, um herauszubekommen, was sie als Christen jetzt tun müssen, dann die sich daraus und aus den Bedingungen der Personen sich ergebenden Projekte angehen (in Schulprojekten waren Christen meist gut), auch in Entwicklungsländern.

Und was kann/muss bei den religionslosen Christen weg? Z.B. der unsägliche Pseudosakralkitsch in Kirchen, Zentren und Wohnungen. Auch der Sprachkitsch der Priester muss weg (Sachen wie "Mach's wie Gott, werde Mensch"). Weg soll z.B. diejenige Form von Fürbitten, die Gott Vorschläge macht, welche andere das tun sollen, was man selber nicht tun will (Beten heißt in diesem Fall, sein Herz mit dem Wollen Gottes einigen - eine harte Arbeit - und dann hingehen und der Not abhelfen).
Wenn besondere Begabungen in einer sich sammelnden Gemeinde zusammenkommen, kann man auch miteinander Arbeiten oder sogar Wohnen, um den Auftrag, den man sieht, erfüllen zu können: das Evangelium so zu leben, dass auch kritische Fernstehende wieder einen Zugang finden können. - Aber nicht als Kloster, sondern als eine bunte Gemeinde, und um sie einen Freundeskreis. Religionslos bedeutetvor allem auch, dass diese Leute alles selbst finanzieren, jenseits von Staats- und Kirchensteuergeldern.




Vielen Dank, Herr Weimer, für ihren verdeutlichenden Text. Jetzt merke ich im Vergleich erst deutlich, was der tansanische Bischof auf seiner Suche Ende der 70-er Jahre nicht ganz so wie Sie benannte - aus verschiedenen Gründen vielleicht nicht so benennen konnte.

Am gravierendsten ist das Fehlen der Sicht, die Sie kurz mit der Chiffre "die Wiederversöhnung mit dem jüdischen Ölbaum" ins Wort heben. -

Zitat
..."dass diese Leute alles selbst finanzieren, jenseits von Staats- und Kirchensteuergeldern."


Das ist allerdings eine harte reale Selbstverständlichkeit. In anderen Ländern durch Not erzwungen. So auch für den afrikanischen Bischof so beinahe am Ende der Welt, den ich persönlich kennenlernen durfte. Für die Reisen zu den Gläubigen in seiner Diözese war er auf den Bettel angewiesen. Seine anderen Reisen waren auch nur durch Spenden ermöglicht.- Diese Tatsache wirft die Frage eines Ausgleichs zwischen den reicheren und ärmeren Gemeinden auf, was nicht mit einem religiösen oder allgemein ethischen Almosen zu verwechseln wäre. - Es ist nicht die gleiche Frage, die natürlich den jetzigen Papst überaus bewegen muss; er kommt aus einem Erdteil, in den ein verzerrtes und perverses "Christentum" im Rahmen der Macht des Kolonialismus eingeführt wurde und jetzt die negativen Früchte zeigt.

Simon

Fluminist Offline




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10.12.2015 23:43
#111 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Lieber Herr Weimer und lieber Simon,

vielen Dank für Ihre sehr ausführlichen Antworten, aus denen ich mir die Antwort auf meine Fragen allerdings doch noch selbst zusammensuchen muß und dabei vielleicht fehlgehe. Aus dem ersten Überblick hatte ich den starken Eindruck, daß Sie die, sagen wir einmal, spirituellen Systeme einteilen in den "jüdisch+christlichen Glauben" auf der einen Seite und die "Religionen" auf der anderen Seite, deren Unterscheidungsmerkmal (oder, wenn man das Wort "bloße Religion" ernst nimmt, Makel) nur darin besteht, daß sie eben nicht der jüdisch+christliche Glauben sind. Das ist aus Ihrer spezifisch christlichen Perspektive gewiß praktisch, aber es könnte genauso gut z.B. ein Buddhist Dhammapada, den Pfad der Weisheit und Lehre, in ganz ähnlicher Weise anpreisen und seinen Wert mit praktischen Beispielen belegen, und ihn gegen all die anderen "bloßen Religionen", einschließlich Christentum abgrenzen.
Eine solche Abgrenzung mag also für den Anhänger einer bestimmten Religion wichtig sein, aber in der Gesamtschau ist sie möglicherweise eher ein Hindernis, weil sie die auffälligen Parallelen zwischen den verschiedenen spirituellen Systemen leugnet und verdeckt.
Beispielsweise würde mich interessieren, wo Sie nun den Islam verorten, der, soweit ich sehen kann, doch sowohl von der Wurzeln als auch manchen Inhalten her viel mit dem jüdisch+christlichen Glauben gemein hat.

Was Punkt "2) die Logik einer universal gültigen philosophischen Vernunft" betrifft, ist das nun wirklich kein Alleinstellungsmerkmal. Nicht nur Buddhismus, Taoismus, Zoroastrianismus und viele andere Religionen haben ein ausgefeiltes und (jeweils aus ihrer Sicht) universal gültiges System philosophischer Vernunft zu bieten, sondern auch die "unreligiöse" Antike war hier schon bestens versorgt, z.B. mit der Stoa. Die hellenistische Philosophie hat ja umgekehrt auf die jüdischen Gemeinden gewirkt und wurde im Christentum, in z.T. popularisierter Form, mitverarbeitet.

Aus Ihrer letzten Antwort, lieber Herr Weimer, entnehme ich nun allerdings, daß Sie die Unterscheidung möglicherweise doch überhaupt nur im Gesichtskreis des Christentums machen und hier zwischen der organisierten, kirchlich-rituellen Form ("Religion") und einem mehr individuellen, auf den einzelnen Menschen bezogenen evangelischen Lebensentwurf ("religionsloses Christentum") trennen wollen. Das wäre insoweit verständlich und ist natürlich legitim, vor allem weil es dem oben genannten Buddhisten und auch unserem adder nicht zu nahe tritt. Aber dieses Experiment ist doch im Rahmen der Reformation und insbesondere unter den englischen Dissenters schon mehr als einmal gemacht worden?
Der extremste und auch konsequenteste Fall, der mir geläufig ist, sind die Quäker, die sich nach und nach ganz auf die spontane Erleuchtung jedes Einzelnen durch den Heiligen Geist zurückgezogen haben und jegliche kirchliche Organisation oder Amtseinsetzung ablehnen. Ist mir zugegeben sympathisch; allerdings sind ihnen durch konsequente Anwendung dieses Prinzips die spezifisch christlichen Glaubensinhalte etwas abhanden gekommen - sie sehen die Bibel nur noch als unverbindliches Inspirationswerk an und konzentrieren sich auf den Hl. Geist unter Vernachlässigung der beiden anderen Gottespersonen. In allerjüngster Zeit sind sie, soweit ich erkennen kann, ganz in die Öko- und Klimareligion abgedriftet. In letzterem Punkt folgt ihnen die deutsche evangelische Kirche und unter PP Franciscus neuerdings auch die katholische Kirche allerdings zügig nach.

adder Offline




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11.12.2015 05:30
#112 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #106
Ich habe für den Unterricht auch eine Tabelle angelegt. Sie profiliert bewusst nur die Unterschiede heraus, ohne auf die auch vorhandenen kongruenten Felder und Phänomene einzugehen, um das Spezifische der biblischen Offenbarungsreligion sichtbar machen zu können.

Segen für menschliche Wünsche erbitten
Schafft Sieger und Schwache, also keine Antwort auf die Theodizeefrage - Willen Gottes erkennen und tun, Gehorsam, Alltagsheiligung
Die Antwort des Menschen auf Gottes Liebe ist die Nächstenliebe
„Heidenangst“, gefährliche Zauberkräfte


Ich bin mir ziemlich sicher, dass es auch in heidnischen Religionen (römisch, germanisch-nordisch, keltisch) keine Angst vor gefährlichen Zauberkräften gab - ganz im Gegenteil wurde diese erst durch das Christentum geschürt. Im antik-paganen Europa wurden keine Hexen verbrannt, es gab nicht einmal die Zuschreibung "böser Magie" zu Menschen, sondern immer nur zu Nicht-Menschen wie Zwergen, Elfen oder Riesen.

Zitat
Götter durch Opfer zum Helfen bewegen, notfalls Götter wechseln
„Da kann man nur noch beten“ als Trost



Ein germanisch-nordisches Bloth, ein Opfer, wurde nicht erbracht, um die Götter zum Helfen zu bewegen, sondern weil es den Göttern zustand. Die große Ausnahme scheint dabei ein neun-jährliches Opfer in Uppsala gewesen zu sein; dort wurden nach Angaben christlicher Chronisten (Adam von Bremen und Snorri Sturluson, letzterer lebte in nach-heidnischer Zeit, ersterer beschrieb angeblich seine Gegenwart*) alle neun Jahre von jeder Art inkl. Menschen geopfert, um die Hilfe der Götter zu erflehen. Das ist aber alles sehr skeptisch zu sehen, da erstens die meisten Darstellungen der heidnischen Religionen Europas durch christliche Chronisten erfolgt sind (die römisch-heidnischen Chronisten wie Tacitus haben einen anderen Bias, und sind ebenfalls nur bedingt neutral) und zweitens gerade die sogenannte Opferstätte in Uppsala Zweifel an der Korrektheit der Angaben von Adam von Bremen und Snorri Sturluson weckt, da archäologische Funde in keiner Weise deren Schilderung stützt, sondern sogar beweisen, dass in Adams Zeit sogar schon christliche Runensteine in Uppsala aufgestellt wurden und dort eine Kirche gebaut wurde...

Zitat
Sexualität gehört zu den Göttern, die menschliche Sexualität dient ihnen - Sexualität gehört dem Menschen (Hoheslied!)



Also da wäre ich ja mal über Ihre Quellen erstaunt. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass die Römer oder die Heiden in Germanien und Skandinavien so gedacht hätten - dafür waren sie viel zu diesseitig orientiert.
Ganz im Gegenteil ist es doch wohl eher so, dass die Beschränkungen menschlicher Sexualität ihren Ursprung in Paulus haben?

Aber natürlich lenkt das ganze nur ab. Ich bin allerdings immer wieder von solchen Aussagen angefressen, da sie sehr einseitig nur das Hohelied der "richtigen" Religion singen.

Fluminist Offline




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11.12.2015 08:57
#113 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von adder im Beitrag #104
Unbehelligt muss ja nicht sein. Sie können eigentlich nicht verlangen, dass alle ihren Glauben nur heimlich leben und Sie nie mit Worten, Symbolen oder sonst etwas aus diesem Glauben konfrontiert werden. Um das Beispiel der bei mir gelegentlich klingelnden Zeugen zu bringen: die dürfen klingeln, die dürfen mir auch ein Gespräch über Religion anbieten und dabei sogar "Gott" und "Jesus" und was auch immer sagen. Die müssen aber auch akzeptieren, dass ich dann sage, dass mein Gott einen Hammer hat, ...

Mit "unbehelligt" meinte ich genau dieses. Wenn jemand seine religiösen Gefühle auslebt, auch öffentlich, aber in einer Weise, die meine eigene Glaubens- und Gewissensfreiheit und meine körperliche Unversehrtheit nicht antastet, dann sehe ich darin überhaupt keine Problem und verbuche das unter "unbehelligt".

À propos Hammer: rein ikonographisch-analogisch gesehen hat Thor ja das gleiche in der Hand wie das Lamm Gottes, nämlich ein (funktional uminterpretiertes und entsprechend leicht umgestaltetes) ägyptisches Henkelkreuz, Anch, das Symbol des Lebens.
Zitat von adder im Beitrag #112
Aber natürlich lenkt das ganze nur ab. Ich bin allerdings immer wieder von solchen Aussagen angefressen, da sie sehr einseitig nur das Hohelied der "richtigen" Religion singen.

Und in der nächsten Stufe ihr sogar den Titel "Religion" nehmen, damit schon auf rein terminologischer Ebene gar kein Zweifel mehr an ihrer postulierten Sonderstellung aufkommen kann. Ein sehr provinzielles Denken, das - wie man hätte hoffen können - der moderne Relativismus, was immer man sonst von ihm halten mag, in den Köpfen erfolglos hätte machen können oder sollen. Aber leider fühlen sich Viele in unitären Denkmustern wohler.

Im übrigen bin ich ganz mit Ihnen d'accord.

Johanes Offline




Beiträge: 2.388

11.12.2015 12:26
#114 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #77
Zitat von Peter Zeller im Beitrag #76
Ich weiß nicht, wie alt man sein muß, um sich noch an Sartre zu erinnern. Seine Philosophie war, daß der Mensch für sein Handeln selbst verantwortlich ist und die katholische Kirche hat ihn deshalb verfolgt, verleumdet und alles getan, um sein Reden in Deutschland zu unterbinden...


Sie meinen den Herrn, der 1974 Stammheim für ein Foltergefängnis hielt, weil er nicht imstande war, einen Besucherraum von einer Einzelzelle zu unterscheiden?
https://www.lettre.de/content/wolfgang-k...artre-stammheim

Oder jenen, der 1961 an Frantz Fanons "Les damnés de la terre" auszusetzen hatte, daß ihm dessen Vorschlag, alls "Kolonisierten der 3. Welt" sollten sich vom Komplex ihrer Erniedrigung "heilen", indem sie alle in Reichweite greifbaren Weißen erschlügen, längst nicht weit genug ging? (Ein Konzept, daß ihn schon gegen Stalin eingenommen hatte & ihn zum Bannerträger des Maoismus werden ließ.) Der Kravchenko als "CIA-Spion" porträtierte (die offizielle Moskauer Linie 1949) & der UdSRR anlässlich des Vietnamkriegs den Atombombeneinsatz gegen Amerika empfahl?

Manchen Leuten scheint das "Verdammtsein zur Freiheit" so wenig zu bekommen, daß schon ihre geräuschvolle Entscheidung dafür suspekt erscheint und nicht erst ihre Wendung, sich aus Grauen vor einem leeren Himmel doch lieber zu Füßen irdischer Tyrannen im Staub zu wälzen.


Nun, ich bin leider kein ausgewiesener Kenner der Philosophie und Literatur von Satre. Ich habe lediglich einige Stücke gelesen und in der Zeit um einen Jahrestag von ihn einiges über seine Philosophie gehört/gelesen.
Allerdings sehe ich es inzwischen generell kritisch, wenn das Lebenswerk eines Denkers auf eine einige Entdecktung oder einen einzigen Gedanken reduziert wird.

Soweit ich weiß gab es im Werk Satres mehrere Phasen. Wie deutlich man die voneinander trennen kann, weiß ich nicht. Der Existenzialismus, der ihn heute so berühmt gemacht hat, war eher kennzeichnend für das Frühwerk. Darauf folgte eine Schaffensperiode, in der Satre mehr von marxistisch-maoistischen Vorstellungen eingenommen war. Mit "die Wörter" soll Satre in seinem Spätwerk dann wieder zu einer völlig anderen, dritten Position gekommen sein.
Leider habe ich dieses Buch nie gelesen.

Dennoch bleibt Satre heute dafür bekannt, der prominenteste Vertreter des Existenzialismus (damit verwandt der Existenzphilosophie) zu sein.
Wer sich allerdings für diese Philosophie interessiert, wird natürlich auch erkennen, dass es neben Satre noch andere Vertreter gab, wie Camus, der seine eigene Philosophie aber als Philosophie des Absurden bezeichnet, oder den Psychiater Jaspers.
Der Existenzialismus ist sicherlich gar nicht so uninteressant und besonders in der Form, wie ihn Satre und Camus gegeben hat, für Atheisten sehr reizvoll.

Was den Literaten Satre angeht: Er kann unterhalten. Er regt auch zum Nachdenken an. Und er scheint besonders konservative kirchliche Kreise schockiert zu haben.

Der politische Satre dagegen blieb wohl vor allen für die Russell-Tribunale in Erinnerung.

Johanes Offline




Beiträge: 2.388

11.12.2015 12:37
#115 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Peter Zeller im Beitrag #61
Meine Bemerkungen zum Islam ruhen auf drei Säulen: 1. eine extreme Verkürzung 2. die Nachwirkung der Lektüre von V. S. Naipaul


Interessanter Literaturhinweis.

Zitat
3. weil man viele Parallelen findet zwischen der Kirche im MA und dem heutigen Islam, so daß eine gewisse Ähnlichkeit plausibel erscheint, wenngleich ich mir bewußt bin, daß eben diese Plausibilität verdächtig ist - was alles war nicht schon plausibel in Geistesgeschichte und Wissenschaft.



Wie gesagt, lieber Herr Zeller, ich meine doch einige Dinge geschrieben zu haben, die uns zum Zweifeln Anlass geben.

Vielleicht geht es hier auch nur um Detailfragen. Was ich doch sehr bezweifeln würde, ist, dass man Lehren aus den Mittelalter direkt übertragen kann auf heutige Zustände.

Zitat
Ich hatte den Eindruck, vllt täusche ich mich, daß manche hier meinen, der Mensch könne nur mit Religion ein guter Mensch sein.



Bei Argumenten in diese Richtung sind Sie bei mir allerdings falsch. Aus meiner Sicht gibt es zweifellos "Ungläubige" mit hervorragender Moral und umgekehrt Gläubige mit zweifelhafter Moral.

Zitat
An den Inhalt kann ich mich leider nicht mehr erinnern, ich weiß noch, daß es mir sehr gut gefallen hat. Cap widmet sein Buch seinen ‚Freunden und Förderern Arthur March, Erwin Schrödinger, Hans Thirring.’



Für die Verwaltung von größeren Literaturreferenzen gibt es sogar spezielle Programme, die man als virtuelle "Zettelkästen" verwenden kann.

Zitat
Ich meine, es war Steven Weinberg: Der Mensch ist von Natur aus gut; damit er schlecht wird, dazu braucht es Religion.



Ich meine, bei Weinberg hieß es: "Mit oder ohne ihr [der Religion, Joh.] würden gute Menschen Gutes tun und böse Menschen Böses. Aber damit gute Menschen Böses tun, bedarf es der Religion."
Quelle: https://de.wikipedia.org/w/index.php?tit...48309864#Zitate

Nun kenne ich den Kontext nicht, in dem Weinberg das geäußert hat, aber dieser Aussage würde ich mich so ohne Weiteres nicht anschließen.

Schönend Advent (ob nun sekular oder sakral) wünscht,

Johanes.

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 13.525

11.12.2015 16:00
#116 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Johanes im Beitrag #115
Ich meine, bei Weinberg hieß es: "Mit oder ohne ihr [der Religion, Joh.] würden gute Menschen Gutes tun und böse Menschen Böses. Aber damit gute Menschen Böses tun, bedarf es der Religion."
Quelle: https://de.wikipedia.org/w/index.php?tit...48309864#Zitate

Nun kenne ich den Kontext nicht, in dem Weinberg das geäußert hat, aber dieser Aussage würde ich mich so ohne Weiteres nicht anschließen.


Das vollständige Zitat des Vortrags auf der Tagung der AAAS, 16.4.1999 zum Thema "Cosmic Questions" lautet aber:

"Religion is an insult to human dignity. With or without it you would have good people doing good things and evil people doing evil things. But for good people to do evil things, that takes religion." ("Religion ist eine Beleidigung der Menschenwürde. Mit oder ohne ihr würden gute Menschen Gutes tun und böse Menschen Böses. Aber damit gute Menschen Böses tun, bedarf es der Religion.“) In Weinbergs Aufsatz "A Designer Universe?" nimmt die gleiche Conclusio einen Anlauf:

Zitat
"Frederick Douglass told in his Narrative how his condition as a slave became worse when his master underwent a religious conversion that allowed him to justify slavery as the punishment of the children of Ham. Mark Twain described his mother as a genuinely good person, whose soft heart pitied even Satan, but who had no doubt about the legitimacy of slavery, because in years of living in antebellum Missouri she had never heard any sermon opposing slavery, but only countless sermons preaching that slavery was God's will. With or without religion, good people can behave well and bad people can do evil; but for good people to do evil — that takes Religion." (In seiner Autobiographie erzählt FD, daß sein Leben als Sklave schliimer wurde, als sein Herr eine religiöse Erleuchtung überkam, die ihm die Sklaverei als Strafe für die Kinder Hams erklärte. Mark Twain beschrieb seine Mutter als herzensgute Frau, die sogar für den Teufel Mitleid empfand, die aber keinen Zwiefel an der Sklaverei hatte, weil sie in ihrem ganzen Leben im Misssouri vor dem Bürgerkrieg nie eine Predigt dagegen gehört hatte, aber unzählige Predigten, die die Sklaverei als Gottes Willen darstellten.)



http://www.physlink.com/Education/essay_weinberg.cfm

Und der nächste, der Sclußsatz, lautet:

Zitat
In an e-mail message from the American Association for the Advancement of Science I learned that the aim of this conference is to have a constructive dialogue between science and religion. I am all in favor of a dialogue between science and religion, but not a constructive dialogue. One of the great achievements of science has been, if not to make it impossible for intelligent people to be religious, then at least to make it possible for them not to be religious. We should not retreat from this accomplishment. (In einer Email der Veranstalter hieß es, daß das Ziel dieser Konferenz eine konstruktiver Dialog zwischen Wissenschaft und Religion sein sollte. Ich bin ganz für einen Dialog zwischen der Wissenschaft und der Religion, aber gegen jeden kreativen Dialog. Eine der großen Errungenschaften der Wissenschaft ist, daß, wenn es intelligenten Menschen schon nicht unmöglich geworden ist, religiös zu sein, es ihnen immerhin möglich ist, auf die Religion zu verzichten. Diese Errungenschaft sollten wir nicht aufgeben.)



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

11.12.2015 17:48
#117 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Lieber Fluminist!

Das Argument, die Entgegensetzung (es ist aber kein Entgegen, sondern ein Anderes oder sogar ein Ähnliches in einer geläuterten Form) eines religionslosen Christentums zu dem von mir unter dem Begriff ‚Religion‘ Zusammengefassten sei nur ein Fall und austauschbar durch andere Gegenüberstellungen, überzeugt mich noch nicht.
Die Bibel hat etwas, das revolutionärer ist, dem Grad nach. Walker Percy hat es indirekt ausgedrückt: In NY leben heute viele Juden, sie sind das älteste identisch überlebende Volk; wo ist in NY ein Hethiter? – Ich behaupte nicht eine absolute Einmaligkeit als Einzigkeit, weil ich weiß, dass Juden und Christen alles, was sie gut fanden, aus der Völkerwelt und von deren Denkern – wie Sie ja auch betonten – aufgesammelt und gereinigt verwendet haben. Architektonisch und bildnerisch waren die Juden nicht vorhanden, aber sie schufen Wortgebilde für ihre Gottes- und Menschenerfahrungen, die Weltliteratur wurden.
Ihr Beispiel der Quäker (ich liebe die Geschichte bei H. Claudius vom entwendeten Pferd, das ohne Gewalt selber wieder in seinen Stall heimkehrt) möchte ich durch ein innerkatholisches ergänzen.
François Fénelon (1651-1715), französischer Erzbischof und Schriftsteller, schloss sich den Reformgedanken der sogenannten Mystik des Quietismus an und wurde berühmt als Philosoph und Theologe. (Robert Spämann habilitierte sich über ihn, die Arbeit bekam eine Neuauflage: Reflexion und Spontanität. Studien über Fénelon. Kohlhammer, Stuttgart 1963, 2. A. Klett-Cotta, Stuttgart 1990).
Ich fasse knapp und deftig mein angelesenes Wissen über diesen Reformer zusammen: Keine Gebetsformeln mehr, weil Jesus gesagt habe „Betet allezeit“, kein Weihrauch, kein Weihwasser mehr. Dafür baute er ein Gästehaus, bewirtete die Besucher und geleitete sie eigenhändig mit einer Kerze zu ihrem Zimmer. Das Aufregendste: Aus ethischen Gründen Ablehnung eines Lohnes im Jenseits nach dem Tod, weil echte Liebe umsonst lieben will (siehe: pur amour – Debatte). Natürlich wurde er angefeindet. Er war aber die erste kath. Antwort auf die Frühaufklärung. Wenn man will: Religionsloses Christentum pur.
Sie fragen, wo ich den Islam verorte.
Meine Kirche hat beim II. Vatikanischen Konzil in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche den folgenden Satz über den Islam gewagt: „Der Heilswille umfasst aber auch die, welche den Schöpfer anerkennen, unter ihnen besonders die Muslim, die sich zum Glauben Abrahams bekennen und mit uns den einen Gott anbeten, den barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten wird.“ (LG Artikel 16)
Die Auffassung, dass Christen und alle Muslim denselben Gottesbegriff und den gleichen Abraham meinen, würde heute kaum mehr eine Mehrheit finden. Das gutgemeinte „mit uns“ des Konzilstextes ist fraglich geworden. Aber nur Spezialisten können sich Urteile über die sehr unterschiedlichen aufgespalteten Varianten des Islam erlauben, ich nicht. Was mir auffällt, ist:
Eine historisch-kritische Untersuchung des Koran ist kaum erlaubt, nicht einmal eine Übersetzung in eine andere Sprache wird legitimiert. Ist ein solcher Mythos um das Buch nicht eher ein Hinweis auf einen Offenbarungsbegriff unter Ausschluss der Ratio, während zum Glaubensbegriff im jüdisch-christlichen Sinn auch Vernunft und Wissenschaft gehören?
Von seiner Gründung her versteht sich der Islam als Einheit von Staat und Religion. Es gibt in ihm nicht die zwei Pole allgemeine Staatsgewalt und Religionsfreiheit des Einzelnen. Ist diese Form von Monotheismus nicht eher eine theokratische Staatsform, die dem hart errungenen Begriff von individueller Religionsfreiheit nicht entsprechen kann?

Der dem Willen Gottes korrespondierende Gehorsam im Islam ist der Überprüfung durch die Vernunft und damit der Religionskritik entzogen. Ist ein solcher Monotheismus nicht sehr unterschieden vom Wesen des biblischen Glaubens?
Von daher stellt sich die Frage: Ist der Islam von seinen als sakrosankt behaupteten Voraussetzungen her überhaupt in der Lage, in eine produktive Gleichzeitigkeit mit der säkularen Welt zu gelangen, ohne seine Identität zu gefährden?
MOHAMMED kannte vom Christentum nur heterodoxe Wandermönche und apokryphe Geschichten statt der echten Evangelien. Was er sah, war die Entfremdung zwischen Christentum und Synagoge (die sein Prophetentum nicht anerkannte, weshalb er sich nach seinem Sieg mit dem Köpfen aller Männer der heimischen Synagoge rächte). So konnte er sich zur Gründung eines neuen und wahren Gottesvolkes berechtigt fühlen.
Für mich ist der Islam deswegen in erster Linie eine Anfrage an die Urspaltung des Gottesvolkes, weil er ohne die Spaltung zwischen Juden und Christen gar nicht entstanden wäre.

Gruß, Ludwig Weimer

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

11.12.2015 17:56
#118 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Lieber adder!

Die Religionen, die auftraten, sind zu verschieden, um sie unter einen Begriff zu bringen, das ist so und Sie haben Recht. Ich finde es z. B. gar nicht gut, dass man die östlichen Weisheitslehren „Religion“ nennt, denn sie haben keinen Gottesbegriff und somit bedeutet bei ihnen ‚Transzendieren‘ einen ganz anderen Schritt, nämlich über das Unwissen über den Grund des Leidens hinauszuschreiten und sich erleuchten zu lassen.

Die christlichen Missionare sind ganz schön gescheitert dort. Mit Uhr und Astrolab und Vorhersage der Sonnenfinsternisse machten sie Eindruck, aber, wenn es stimmt, haben die Jesuiten anfangs die Kreuzigung Jesu verschweigen müssen, denn ein Weiser kann nicht so enden, wenn seine Lehre Weisheit ist, und sie haben die gedruckten Evangelien mit den Abschiedsworten Jesu beim Abendmahl enden lassen, argumentierten: In der zweiten Generation unserer Schüler können wir den Chinesen dann vielleicht die Kreuzigung zumuten.
Wer weiß um diese Problematik von all denen, die Rom anklagen wegen des damaligen „Ritenstreits“, der die Inkulturation stoppte? Es ging nicht um oberflächliche rituelle Dinge. Ich bin aber hier kein Historiker und Experte.

Steven Weinbergs Satz, den Sie zitierten (“Religion is an insult to human dignity. With or without it you would have good people doing good things and evil people doing evil things. But for good people to do evil things, that takes religion”) aus einer Rede auf der Konferenz "Cosmic Questions" der American Association for the Advancement of Science (im National Museum of Natural History in Washington, DC am 15. April 1999), erscheint mir als typisches Beispiel für die übliche Vermischung von Christentümern mit allen Religionen unter dem Oberbegriff “Religion” und er trifft daneben, weil er nicht weiß, dass z. B. der Katholizismus, zumindest seit einigen Jahrzehnten, einen ganz anderen Erbsündebegriff (schon falscher Begriff, es heißt in Wahrheit: Ursünde) hat als der Protestant und vor allem der Calvinist. Nämlich statt: Sündig und böse seit der Zeugung: Verwundet am Boden durch die Menschheitsgeschichte, aber nicht unfähig, sich helfen zu lassen aufzustehen. Und das ist doch realistisch!

Ich selber habe übrigens eine Neuinterpretation in einem Buch gemeinsam mit Gerhard Lohfink vorgelegt: „Erb“sünde sei das Noch-Nicht der vollen Freiheit der Gotteskindschaft bei den Religionen vor und neben der Bibel. Das ist eine positive Wendung, und die theologischen Kollegen haben es akzeptiert. Es gab keine Gegenstimme.

Mit Grüßen
Ludwig Weimer

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

11.12.2015 21:38
#119 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #117
Das Argument, die Entgegensetzung (es ist aber kein Entgegen, sondern ein Anderes oder sogar ein Ähnliches in einer geläuterten Form) eines religionslosen Christentums zu dem von mir unter dem Begriff ‚Religion‘ Zusammengefassten sei nur ein Fall und austauschbar durch andere Gegenüberstellungen, überzeugt mich noch nicht. (…)

Das, lieber Herr Weimer, wundert mich keineswegs, weil Sie um die fundamentale petitio principii nicht herumkommen; aber es lag ja selbstverständlich gar nicht in meiner Absicht, Sie zu überzeugen. Wie Sie richtig festgestellt haben, sind wir nicht hier, um uns gegenseitig zu bekehren. Ich war nur über den (gewiß absichtlich) überraschenden/verwirrenden Ausdruck "religionsloses Christentum" gestolpert und danke Ihnen sehr für die geduldige Klärung.
Die petitio principii als solche ist übrigens nicht weiter schlimm; dadurch, daß Sie aus dem biblischen Glauben allerlei Schönes und Gutes ableiten, können Sie diesen logischerweise nicht beweisen (und die "Religionen" nicht widerlegen; den Nachweis, das z.B. aus den buddhistischen Prinzipien ebenfalls viel Gutes und Schönes abgeleitet werden kann, können wir getrost dem Buddhisten überlassen), aber es geht ja hier wohl nicht um logische Wahrheit, sondern um eine andere Form von Wahrheit. "Was ist Wahrheit?", nicht wahr.
Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #117
Ihr Beispiel der Quäker (ich liebe die Geschichte bei H. Claudius vom entwendeten Pferd, das ohne Gewalt selber wieder in seinen Stall heimkehrt) möchte ich durch ein innerkatholisches ergänzen.
François Fénelon (1651-1715), französischer Erzbischof und Schriftsteller, schloss sich den Reformgedanken der sogenannten Mystik des Quietismus an und wurde berühmt als Philosoph und Theologe. (Robert Spämann habilitierte sich über ihn, die Arbeit bekam eine Neuauflage: Reflexion und Spontanität. Studien über Fénelon. Kohlhammer, Stuttgart 1963, 2. A. Klett-Cotta, Stuttgart 1990).
Ich fasse knapp und deftig mein angelesenes Wissen über diesen Reformer zusammen: Keine Gebetsformeln mehr, weil Jesus gesagt habe „Betet allezeit“, kein Weihrauch, kein Weihwasser mehr. Dafür baute er ein Gästehaus, bewirtete die Besucher und geleitete sie eigenhändig mit einer Kerze zu ihrem Zimmer. Das Aufregendste: Aus ethischen Gründen Ablehnung eines Lohnes im Jenseits nach dem Tod, weil echte Liebe umsonst lieben will (siehe: pur amour – Debatte). Natürlich wurde er angefeindet. Er war aber die erste kath. Antwort auf die Frühaufklärung. Wenn man will: Religionsloses Christentum pur.

Das ist ein sehr interessantes Beispiel, und es freut mich, was Sie hier am aufregendsten finden: denn sehen Sie, ich fand das auch sehr aufregend - ich habe zwar kein Gästehaus, aber mutatis mutandis bin ich zu ganz gleichen Schlüssen und gleicher Praxis gekommen, und zwar ganz religionslos, ohne Annahme eines Weltenrichters oder eines ewigen Lebens, die hier sogar eher hinderlich wäre (was mich besonders gefreut hat, weil ich, aus der skeptisch-antiplatonischen Ecke kommend, mit Ewigem nicht so schnell bei der Hand bin). Das pure religionslose Christentum braucht dann auch keine Bibel und keinen Christus mehr, und wir wären beisammen.
- Daß Sie mir bis zu diesem Ende folgen, erwarte ich gar nicht, aber aus meiner persönlichen Erfahrung möchte ich denjenigen, die sich vielleicht davor fürchten, ihren Glauben zu verlieren, weil sie ohne ihn nichts mehr hätten, ermunternd zurufen: es gibt ein schönes, ethisches, menschenfreundliches, caritatives Leben außerhalb, als vollständiger, freier Mensch ohne durch Sakramente oder Erlösungsvorgänge zu beseitigende angeborene Makel ("Erbsünde" u. dgl.) und ohne göttliche Aufträge und Sanktionen.
Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #117
Sie fragen, wo ich den Islam verorte.

Ja - ist er nun (ggf. verderbter) "jüdisch-christlicher Glaube" oder ist er "bloß Religion"?
Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #117
Eine historisch-kritische Untersuchung des Koran ist kaum erlaubt, nicht einmal eine Übersetzung in eine andere Sprache wird legitimiert. Ist ein solcher Mythos um das Buch nicht eher ein Hinweis auf einen Offenbarungsbegriff unter Ausschluss der Ratio, während zum Glaubensbegriff im jüdisch-christlichen Sinn auch Vernunft und Wissenschaft gehören?
Von seiner Gründung her versteht sich der Islam als Einheit von Staat und Religion. Es gibt in ihm nicht die zwei Pole allgemeine Staatsgewalt und Religionsfreiheit des Einzelnen. Ist diese Form von Monotheismus nicht eher eine theokratische Staatsform, die dem hart errungenen Begriff von individueller Religionsfreiheit nicht entsprechen kann?
Der dem Willen Gottes korrespondierende Gehorsam im Islam ist der Überprüfung durch die Vernunft und damit der Religionskritik entzogen. Ist ein solcher Monotheismus nicht sehr unterschieden vom Wesen des biblischen Glaubens?

In nicht unähnlicher Lage war die katholische Kirche vor 5-6 Jahrhunderten auch schon, bevor ihr die individuelle Religionsfreiheit schwer genug abgerungen wurde. Der Unterschied, den wir heute sehen, muß also nicht ursprünglich-prinzipieller Natur sein, sondern kann eine bloße Frage der praktischen Realisierung sein.
Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #117
Von daher stellt sich die Frage: Ist der Islam von seinen als sakrosankt behaupteten Voraussetzungen her überhaupt in der Lage, in eine produktive Gleichzeitigkeit mit der säkularen Welt zu gelangen, ohne seine Identität zu gefährden?

Diese Frage beschäftigt mich auch. Für die Kirche war das ein langer Weg (und ob die Identität am Ende nicht doch verlorengeht, ist vielleicht noch nicht so klar), beim Islam ist noch nicht einmal der Wille, sich auf diesen Weg zu begeben, zu erkennen.

Zu meiner Frage der Einordnung zurück: Ihrem Schlußsatz
Zitat von Ludwig Weimer im Beitrag #117
Für mich ist der Islam deswegen in erster Linie eine Anfrage an die Urspaltung des Gottesvolkes, weil er ohne die Spaltung zwischen Juden und Christen gar nicht entstanden wäre.

entnehme ich eine Einordnung als Häresie. Vielleicht wie die Zeugen Jehovas, Christadelphians, Mormonen u. ä.? Auf welcher Seite Ihrer Trennlinie stehen diese nun - biblischer Glaube oder doch nur bloße Religion?

Ludwig Weimer Offline



Beiträge: 292

12.12.2015 12:30
#120 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Ob ich den Islam nun als eine Religion gelten lasse oder als eine Häresie im Gefolge der Bibel?

Es kommt darauf an, um welche konkrete Ausformung des Islam es sich im Einzelfall handelt. Wenn ich den Ausdruck „Kalifatsreligion“ in Analogie zu Staatsreligion verwandte, meinte ich damit den IS und dass der IS etwas zu tun hat mit der Religion Mohammeds und nicht säkulare Despotie ist..
Eine „hairesis“ meint ein Stück vom ganzen Kuchen oder den Kuchen mit fehlendem Stück, erst wenn die Diskussion z. B. bei einem Konzil zeigt, dass eine bestimmte Deutung fehlerhaft ist, wird der Ausdruck verwendet. Häresie passt meiner Meinung nach auf keine rabiate oder moderate Variante des Islam; er war von Anfang an eine Neugründung gegen Judentum und Christentum (die sich im 3. Jh. trennten, wie man heute annimmt, also schon gegeneinander polemisierten).
Ich sage also lieber: Der Islam ist eine dritte Variante des aus dem Judentum stammenden Monotheismus.

Vielleicht weil Mohammed, vom eigenen Stamm nicht geachtet, von der jüdischen Synagoge nicht als Prophet akzeptiert, erfuhr, dass seine Vision blutsfremde Stämme vereinigen konnte, und dass diese Vereinigten in der militärischen Lage waren, aus ihrer Verarmung auszubrechen durch Beutekriege, gründete sich diese neue Religion sozusagen durch die Wirklichkeit der damaligen arabischen Welt. Mohammed wusste, dass er eine sakrale Mitte brauche und hielt daher an der uralten Kaaba als Wallfahrtsort fest. Mittlerweile hatten dort einige hundert Sippen ihre Götter aufgestellt, er ‚reinigte‘ das Heiligtum. Aber die Gebetsrichtung hieß noch: Jerusalem. Erst später wurde sie gen Mekka umgeortet.
Was mir noch auffiel: Mohammed benutzte eine Demütigung zum Gebet, die so unarabisch war, dass die Männer sich anfangs nur hinter Büschen auf den Knien mit dem Kopf bis zum Boden verneigten, weil sie sich schämten.

Manche hoffen, dass der Islam noch unterwegs ist zu einer Form mit Glaubensfreiheit und Menschenrechten (so deutet man ja den Weg des Christentums seit dem Mittelalter) und also jetzt noch in seinem Mittelalter sei. Sie vergessen aber, dass Re-form dort heißt: Zurück zur Scharia; während Reform im Christentum immer zugleich heißt: zurück zu den Quellen und Vorwärts-Reform. Denn das Christentum sieht die wahre Form der Kirche vorn, in der Zukunft, eschatologisch als Reich Gottes. Die wirklich glaubenden Muslim wollen hingegen zurück zum Kalifat.
In der Theorie kann vieles schön klingen. Wir müssen die Wahrheit an den praktischen Realisierungen ablesen.
Gruß
Ludwig Weimer

Peter Zeller Offline



Beiträge: 164

12.12.2015 17:47
#121 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Quelle: Philosophie Magazine No. 95 Dezember 2015/ Januar 2016 page 17

Im Französischen Philosophie Magazine (s.o.) steht ein Bericht über eine neue Studie, überschrieben mit ‚Religion macht die Kinder weniger altruistisch’. Die Studie wurde am 5. November in der Zeitschrift Current Biology veröffentlicht. Studienleiter ist der Franko-Amerikaner Jean Decrety vom Psychologie-Departement der Universität Chicago. Ziel der Studie war die Überprüfung der „allgemeinen Auffassung und der theoretischen Behauptung, Erbe einer religiösen Metaphysik, nach der die Religiosität eine kausale Verbindung und eine positive Assoziation zum moralischen Betragen besitzt – ein Gedanke, der so tief verankert ist, daß nicht religiöse Personen oft als moralisch verdächtig angesehen werden.

Untersucht wurden Eltern und Kinder aus nichtreligiösen, aus katholischen und aus muslimischen Familien in 6 Ländrn: Canada, China, Jordanien, Türkei, Vereinigte Staaten und Südafrika. Insgesamt wurden 1170 Kinder zwischen 5 und 12 Jahren untersucht.

Ergebnisse in Kurzform:

1. Relgiöse Eltern überschätzen die Moralität ihrer Kinder (am stärksten bei den Katholiken).
2. Religiöse Kindern schätzen ihre Umwelt als schlimmer ein als nichtreligiöse (am stärksten bei den Moslems). Religiöse Kinder haben weniger Empathie für ihre Kameraden.
3. Nichtreligiöse Kinder sind großzügiger als religiöse.

„Die Religion führt direkt zu größerer Intoleranz und zur Forderung nach härteren Strafen bei zwischenmenschlichen Beleidigungen.“

Das ist jetzt ein wissenschaftliches Faktum, und man kann endlich belegen, daß Religion die Menschen schlechter macht als sie wären – ohne Religion.

Daska Offline




Beiträge: 245

12.12.2015 19:27
#122 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Wie alt sind die Kinder?
Auf welcher Stufe der religiösen Entwicklung (z.B. nach Fowler) befinden sich die religiösen unter ihnen?
Sagt diese Studie mehr aus über den untersuchten Gegenstand,
über den Wissenschaftler, der sie durchgeführt hat,
oder über die, welche dieser Studie Glauben schenken?

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 13.525

12.12.2015 20:47
#123 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Peter Zeller im Beitrag #121
Die Studie wurde am 5. November in der Zeitschrift Current Biology veröffentlicht. Studienleiter ist der Franko-Amerikaner Jean Decrety vom Psychologie-Departement der Universität Chicago.


Current Biology. Man wird diese Zeitschrift in biologischen Fachpublikationen nicht sooo oft zitiert finden, aber wer auf das, "was sich tut" im Schnittbereich Evolutionstheorie, Kognitionspsychologie, überhaupt fächerübergreifende biologische Perspektive auf die angrenzenden Bereiche von Medizin bis Philosophie, ein Auge haben möchte, tut gut daran, mindestens 1x im Jahr die neuen Nummern durchzugehen. Die Stärke liegt zum einen in zusammenfassenden Überblicken über den bisherigen Forschungsstand der jeweils letzten Jahre (das zitiert man ja nicht in den Fachaufsätzen, sondern das kommt nachgeordnet), zum anderen in einer Offenheit, auf spekulative, unorthodoxe Denkansätze hinzuweisen, damit man sich den z.T. ziemlich esoterischen Wust schenken kann, durch den man sonst oft waten muss. Die zusammenfassenden Arbeiten von Tooby & Cosmides zur "evolutionären Erenntnistheorie" sind in CB publiziert worden. Dieser Charakter als Schwarzes Brett & Spielwiese, nicht als Geschäftsblatt für einen Berufsstand, zeigt sich u.a. daran, daß viele Aufsätze frei zugänglich sind. So auch diese Studie.

Jean Decety, et al. "The Negative Association between Religiousness and Children’s Altruism across the World", Current Biology, 25, 2951–2955, November 16.
http://www.cell.com/current-biology/pdf/...(15)01167-7.pdf

Zitat von Decety et al. (2015), 2952
Globally, children have been and continue to be predominantly raised in households where religion is discussed, and oftentimes it provides fundamental guidance for everyday living and moral behavior. Yet, little is known about how children’s altruistic tendencies are influenced by the religiousness of their households and how parents perceive their children’s moral dispositions. Religious values and beliefs are transmitted to children through repeated rituals and practices in their communities. If religion promotes prosociality, children reared in religious families should show stronger altruistic behavior. Importantly, most research on the link between religion and morality has focused on convenience populations: college students from western, industrial, educated, rich, and democratic societies. The early experience of religion and variations in the nature of the rearing environment critically influence children’s moral development from the standpoint of both psychology and economics [7]. Understanding the impact of religiosity on children’s altruism provides insights about how prosocial behavior is shaped by gene-culture coevolution.



Ein eher in Sachen Philosophie oder empirischer Sozialforschung ausgerichteter Leser könnte bei solchen Sätzen fragen, ob hier nicht klassische Fälle der petitio principii vorliegen. Beeinflusst die Religion das gesellschaftliche Verhalten oder umgekehrt? Verstärkt sich das im Lauf der Stufen des Aufwachsens? Wie groß ist der Einfluss der sich ablösenden peer groups? Werden Verhaltensmuster wirklich durch "wiederholte Rituale" bestimmt (& nicht durchs Verhalten von Eltern & assoziierten Onkels)? Daß die Arbeit in einer Biologie-Zeitschrift publiziert worden ist, legt nahe, daß die eher in Frage kommenden Organe sie abgelehnt haben. Nicht unbedingt aufgrund fachlicher Mängel, sondern wg. Relevanz & Anschlussfähigkeit. Und daß Sätze wie der letzte, über die Interaktion von Genen & Kultur, hineingeschrieben worden sind, um Relevanz in Sachen Biologie/Soziobiologie nahezulegen (CB hat die Soziobiologie im Sinn von E. O. Wilson oder Richard Dawkins sehr gefördert). Genau darüber sagt die Studie nämlich nichts aus: Die Offenheit bzw. Geschlossenheit ist unbeeinflusst von der Genetik, sie hngt allein von den Traditionen & der jeweiligen Gruppe ab. Die "Interaktion" zeigt sich beim Wechselwirken verschiedener Gruppen: a) ob Kooperation beiderseitigen Gewinn bringt & wie diese Strategien längerfristig verallgemeinert & gegen Mißbrauch abgesichert werden können & b) ob dies schon prinzipiell im genetisch bestimmten Grundverhalten angelegt ist oder gewissermaßen "gegen die Natur des Menschen" entstanden ist & daher, so dann die Schlußfolgerung, immer wieder durch Macht, "von oben", zementiert & durchgesetzt werden muss. (Der liberale Darwinismus, wie Larry Arnhart das nennt, kommt zu dem gegenteiligen Ergebnis. ie Ausrichtung ist: da diese Disposition ziemlich flächendeckend gleich ist & sich nicht groß wandelt, muß das kooperative Verhalten ziemlich tief in der Menschwerdung & für relativ kleine Sozialverbände ausgerichtet entwickelt worden sein.) Ansonsten bleibt der Schluß, daß manche Religionen offener sind (& mit Offenheit besser zurechtkommen) als andere. Das hätten wir uns schon fast selbst gedacht.



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

moise trumpeter Offline



Beiträge: 236

13.12.2015 18:52
#124 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Zitat von Peter Zeller im Beitrag #121

Quelle: Philosophie Magazine No. 95 Dezember 2015/ Januar 2016 page 17

Im Französischen Philosophie Magazine (s.o.) steht ein Bericht über eine neue Studie, überschrieben mit ‚Religion macht die Kinder weniger altruistisch’. Die Studie wurde am 5. November in der Zeitschrift Current Biology veröffentlicht. Studienleiter ist der Franko-Amerikaner Jean Decrety vom Psychologie-Departement der Universität Chicago. Ziel der Studie war die Überprüfung der „allgemeinen Auffassung und der theoretischen Behauptung, Erbe einer religiösen Metaphysik, nach der die Religiosität eine kausale Verbindung und eine positive Assoziation zum moralischen Betragen besitzt – ein Gedanke, der so tief verankert ist, daß nicht religiöse Personen oft als moralisch verdächtig angesehen werden.

Untersucht wurden Eltern und Kinder aus nichtreligiösen, aus katholischen und aus muslimischen Familien in 6 Ländrn: Canada, China, Jordanien, Türkei, Vereinigte Staaten und Südafrika. Insgesamt wurden 1170 Kinder zwischen 5 und 12 Jahren untersucht.

Ergebnisse in Kurzform:

1. Relgiöse Eltern überschätzen die Moralität ihrer Kinder (am stärksten bei den Katholiken).
2. Religiöse Kindern schätzen ihre Umwelt als schlimmer ein als nichtreligiöse (am stärksten bei den Moslems). Religiöse Kinder haben weniger Empathie für ihre Kameraden.
3. Nichtreligiöse Kinder sind großzügiger als religiöse.

„Die Religion führt direkt zu größerer Intoleranz und zur Forderung nach härteren Strafen bei zwischenmenschlichen Beleidigungen.“

Das ist jetzt ein wissenschaftliches Faktum, und man kann endlich belegen, daß Religion die Menschen schlechter macht als sie wären – ohne Religion.



Endlich der wissenschaftliche Beweis, atheistische Erziehung bringt hochmoralische, linksliberale Sozialarbeiter hervor, die mittels des Staates altruistisch das Geld verteilen, das die unmoralischen Religiösen zusammengerafft haben.

Peter Zeller Offline



Beiträge: 164

14.12.2015 07:38
#125 RE: „Wie wollen wir leben?“ Antworten

Es gibt wohl Menschen, die auf das Stichwort Altruismus hochallergisch in einer ganz bestimmten vorgefaßten Weise reagieren. Mit Denken hat das nichts zu tun.

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